Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-111-4 © Hubertus Grimm Lektorat: Nina Schiefelbein Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. FSC-Produktion
ÖKOSTROM mit
www.mitzkat.de
Hubertus Grimm
Das Sachsenkloster Roman über eine sächsische Familie im Zeichen der Eroberung Sachsens durch die Franken und der Gründung des Klosters Corvey
Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2021
Prolog Sachsen, Spätsommer 772 ie waren bis an die Zähne bewaffnet und schlugen jeden und brannten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Irminsul, das große sächsische Heiligtum auf der Iburg, hatten sie schon beim letzten Kriegszug zerstört. Jetzt ging es in jede Siedlung, zu jedem Hof, in jede Festung. Unterwerfung und Bekehrung oder Tod – das war die Losung. Wieder waren sie zunächst zur Eresburg gezogen. Von dort ging es Richtung Norden. Bei der Brunsburg wollten sie die Weserfurt nutzen, um auch zwischen Weser und Elbe das Schwert sprechen zu lassen. Doch die Furt lag ungünstig. Denn das Heer König Karls musste genau an der Stelle übersetzen, an der ein langgestreckter Bergrücken bis fast an die Weser reichte. Das erleichterte die Aufgabe der ansässigen Engern ungemein. Auf dem vorderen Teil eben dieses Bergrückens stand die Brunsburg, eine alte Fliehburg, die durch den steilen Abhang und zusätzlich durch hohe Wälle und Mauern gesichert war. Hier konnten die Frauen und Kinder untergebracht werden. Die Männer aber wurden zu den Waffen gerufen, um die heranrückenden Truppen beim Weserübergang zu bekämpfen. Sie bezogen sowohl Stellung im steil ansteigenden bewaldeten Bergrücken als auch auf der östlichen Weserseite, um dort diejenigen Franken zu empfangen, denen der Weserübergang gelang. Karl war über die Schwierigkeit des Geländes informiert, doch er scheute die Auseinandersetzung nicht. Jedes Jahr, seit er alleiniger König der Franken war, hatte er einen Krieg geführt. Und er war dabei stets erfolgreich gewesen. Nun hatte er sich fest vorgenommen, das Sachsenland endgültig zu erobern und das Christentum dorthin zu bringen. Die Sachsen jedoch liebten ihre Unabhängigkeit. Sie waren in mehrere Stämme untergliedert, und nur in Kriegszeiten wählten sie sich einen gemeinsamen Anführer. Sie beteten zu Wodan, Thor und Sachsnot und konnten nicht verstehen, dass es nur einen Gott
S
5
geben sollte, der auch noch so ganz anders als ihre Götter war. Ihre Kundschafter hatten ihnen längst vom anrückenden Heer der Franken berichtet, und so hatten sie die notwendigen Vorkehrungen getroffen. Nun standen sie auf den Hängen vor dem Weserübergang und auf der anderen Weserseite bereit, bewaffnet nur mit ihrem Kurzschwert, dem Sax, um den Franken den Übergang unmöglich zu machen. Zudem hatten sie aus Holz Barrikaden errichtet, so dass der Durchgang für die Franken so eng wie möglich werden sollte. Es war bereits Mittag geworden, und die Sonne stand im Zenit eines schönen Spätsommertages, als die sächsischen Aussichtsposten hoch oben aus den Wipfeln der Bäume das Heer König Karls meldeten, das sich schnell näherte. Auf ihren mächtigen Schlachtrossen steuerten die Franken zielgerichtet auf die Engstelle zu. Die Sachsen verharrten ruhig in ihren Stellungen und warteten auf das Signal ihres Anführers zum Losschlagen. Dieses erfolgte, als die ersten Franken den Durchlass passiert hatten. Die Sachsen rannten den Bergrücken hinunter und hieben im Nahkampf erbarmungslos auf die Franken ein. Doch der Reiterei der Eindringlinge hatten sie nichts entgegenzusetzen. Mit ihren mächtigen Pferden ritten die Franken die Sachsen über den Haufen und rammten ihnen ohne Gnade ihre Lanzen in die Leiber. Das Töten dauerte den ganzen Nachmittag, dann erkannten die Sachsen ihre ausweglose Situation und versuchten, durch die Furt auf die östliche Weserseite zu fliehen. Die Franken hatten die Furt jedoch bereits besetzt, und so konnten nur die wenigen Sachsen entkommen, die den Mut hatten, sich vom Strom der Weser mitreißen zu lassen. Als die Dämmerung hereinbrach, waren die sächsischen Kampfverbände vollständig aufgerieben. König Karl ließ sein Heer diesseits und jenseits der Weser das Lager aufschlagen. Oda war, sobald die Nachricht von den heranrückenden Franken ihre Siedlung unterhalb des Brunsberges erreicht hatte, von ihrem Mann, dem sächsischen Krieger Liutger in die Brunsburg gebracht
6
worden. Der Weg dorthin war für eine Hochschwangere sehr beschwerlich gewesen. Immer wieder hatte Oda auf dem steilen Anstieg eine Pause einlegen müssen. Doch Liutger hatte sie geduldig geführt, ihr gut zugeredet und sie schließlich wohlbehalten zur Brunsburg gebracht. Die anderen Frauen aus dem Dorf hatten sich ihrer angenommen, und Liutger hatte seine Frau noch einmal herzlich umarmt und geküsst, ehe er sich verabschiedete, um am bevorstehenden Kampf gegen die Franken teilzunehmen. Als Liutger die Brunsburg verließ, verkündeten die Posten, dass man die Franken gesichtet habe. Oda war kaum zur Ruhe gekommen, da setzten die ersten Wehen ein. Vor ihr lagen Stunden des Schmerzes und Stunden der Erwartung. Während sie all ihre Kraft für die Geburt ihres ersten Kindes einsetzte, kämpfte Liutger mit den Sachsen einen vergeblichen Kampf gegen die fränkische Übermacht.
7
8
1 Sachsen, Frühjahr 785 ngstlich kauerte Brun in der Speisekammer unter einem Tuch, das eigentlich die Milch abdecken sollte. Er hörte die lauten Rufe seines Vaters, der auf der Suche nach ihm war. Wenn der ihn erwischte, dann könnte es schmerzhaft werden, so viel stand fest. Mit Liutger war nicht zu spaßen, vor allem nicht, wenn es um die Tiere ging. Er hatte entdeckt, dass Brun die Schwänze von zwei Kühen im Stall zusammengebunden hatte. Diese hatten sich hierüber unaufhörlich durch laute Rufe beschwert und dadurch Bruns Vater auf den Plan gerufen, der eigentlich damit beschäftigt war, zusammen mit einem Nachbarn Reparaturen am Dach des kleinen Grubenhauses durchzuführen. Denn der Winter war hart, und immer wieder hatte es starken Schneefall gegeben, unter dem die Dächer der kleinen Ansiedlung nahe der Weser ächzten. In den letzten Tagen hatte aber eine Tauphase eingesetzt, die die Bewohner zu Ausbesserungsarbeiten nutzten. Jetzt kam Liutger in das Wohnhaus, und Brun hörte, wie sein Vater geräuschvoll die Tür hinter sich zuschlug. „Oda, wo ist der Bengel? Wenn ich ihn kriege, dann prügele ich ihn windelweich.“ „Hier ist er nicht. Was hat er denn wieder ausgefressen?“, fragte Bruns Mutter und legte beschwichtigend einen Arm auf die Schulter ihres Mannes. „Nur Blödsinn hat er im Kopf“, murrte Liutger, löste sich von seiner Frau und trat direkt wieder hinaus ins Freie. Brun überdachte kurz seine Situation, dann entschied er sich für Flucht. Da seine Mutter bestimmt am Feuer stand und über das Essen wachte, musste er nur schnell genug zunächst die Tür der Speisekammer und dann die Haupteingangstür durchqueren, und schon war er ohne jede Erklärung weg. Dabei hoffte er inständig, dass sein Vater nicht noch vor dem Haus auf ihn wartete. Er zählte ganz langsam bis zehn und spurtete los: Tür der Speisekammer auf, zwei Schritte zum Haupteingang, Haustür auf, kurzer Blick ins
Ä
9
Freie und dann rannte er, so schnell er konnte, zum Nachbarhaus, umrundete dieses zur Hälfte und bahnte sich dann den Weg hinauf zum Brunsberg. Von seiner Mutter hatte er noch einen Ausruf der Überraschung wahrgenommen, doch sonst hatte ihn niemand gesehen. Schnell gewann er an Höhe, und erst als er den Waldrand erreicht hatte, blieb er stehen, um zu verschnaufen. Er verbarg sich hinter einer alten Eiche, deren Stamm dicker war als er selbst. Von hier aus hatte er das ganze Dorf im Blick und konnte erkennen, dass sein Vater wieder die Arbeiten am Dach aufgenommen hatte. Glücklicherweise lag die schadhafte Stelle im rückwärtigen Bereich des Grubenhauses, so dass Liutger die Flucht nicht hatte mitbekommen können. Keine Spur entdeckte Brun von seiner Zwillingsschwester Brunildis, und das war gut so, denn sie würde ihn bestimmt bei seinem Vater verraten, wenn sie Bruns Davonlaufen beobachtet hätte. Das würde ein langer Tag hier draußen werden. Vor Einbruch der Dunkelheit sollte er keinesfalls ins Dorf zurückkehren, und selbst dann hatte er noch mit einer ordentlichen Tracht Prügel zu rechnen. Brun zog sich noch ein wenig weiter in den Wald zurück und kletterte schließlich einen Baum hinauf, der ihm früher schon als Rückzugsort gedient hatte. In den Ästen saß er, wenn er Sorgen hatte, wenn er sich mit seinen Spielkameraden aus dem Dorf gestritten oder mal wieder ein Problem mit seinem Vater hatte. Und manchmal kam er auch einfach nur hierher, um allein zu sein. Denn so gern er auch mit anderen spielte, scherzte und das Dorf und dessen Umgebung auf den Kopf stellte, so sehr genoss er gleichzeitig die Einsamkeit hier im Wald oberhalb seines Dorfes. Heute jedoch wurde es Brun nach einer Weile ungemütlich hier oben, denn der Wind pfiff empfindlich kalt um seine Ohren, die er in der Eile nicht mehr mit seiner Mütze aus Kaninchenfell hatte schützen können. Und langsam kroch auch die Nässe des Baumstammes in seine Hosenbeine, so dass er sich schließlich schweren Herzens dazu durchrang, doch schon früher nach Hause zu gehen. Im Dorf schien sein Vater noch immer auf dem Dach tätig zu sein,
10
einige andere Dorfbewohner standen am Teich zusammen, der die Mitte der kleinen Ansiedlung bildete. Doch was war das? Brun ließ seinen Blick über das Dorf hinaus schweifen. Von hier oben konnte er die gesamte Ebene überblicken, die sich zwischen seinem Dorf und der Weser befand. Durch diese Ebene verlief seit Urzeiten eine Handelsroute, die die Gebiete des sächsischen Stammes der Engern mit denen der Ostfalen verband. Sie mündete an einer Furt, an der man die Weser gut durchqueren konnte. So oft hatte Brun die Geschichte gehört, wie an dieser Stelle das fränkische Heer die Sachsen im Jahr seiner Geburt vernichtend geschlagen hatte. Seit dieser Zeit war das Leben hier anders geworden. Vor allem die sächsischen Götter waren den Franken ein Dorn im Auge, und jeder, der nicht ihrem Gott – einem einzigen Gott – huldigte, wurde verfolgt. Die Franken hatten wichtige Kultstätten der Sachsen zerstört und kamen regelmäßig – mal mehr, mal weniger gewalttätig – in deren Dörfer, um zu zeigen, dass sie jetzt die Herren des Landes waren. Doch längst nicht alle Sachsen hatten ihren Widerstand aufgegeben. Diejenigen, die die Besetzung ihres Landes nach wie vor nicht akzeptieren wollten, hatten sich um Herzog Widukind geschart. Immer wieder war es in den letzten Jahren zu blutigen Gefechten gekommen. Jetzt schien es Brun, als sähe er Reiter von der letzten Biegung hinter dem mächtigen Bergrücken aus direkt auf sein Dorf zuhalten. Und tatsächlich, je länger er hinschaute, desto näher kam der Trupp im schnellen Galopp. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Was sollte er tun? Um ins Dorf zu laufen, war es bereits zu spät. Die Reiter würden vor ihm da sein. Also entschloss sich Brun, zunächst auf seinem Beobachtungsposten zu verbleiben. Was er nun zu sehen bekam, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Tatsächlich waren es Franken. Und sie kamen nicht in friedlicher Absicht. Als sie das Dorf erreichten, hielten sie direkt auf den Teich zu. Ohne Vorwarnung stießen sie den dort versammelten Männern ihre Lanzen in die Leiber. Sie waren auf der Stelle tot.
11
Doch auch den wenigen übrigen Männer des Dorfes bleib kaum Zeit, sich zu wehren. Sie formierten sich zwar mit ihren einfachen Waffen, zumeist bestehend aus Hacken und Hämmern, doch gegen die mit Lanzen, Schwertern und Schilden gerüsteten Franken auf ihren Pferden hatten sie keine Chance. Als letzte blieben nur noch Bruns Vater und der Nachbar auf dem Dach übrig. Doch dort stellten sie ebenfalls eine leichte Beute dar. Der Anführer der Franken lenkte zusammen mit einem weiteren Krieger sein Pferd an den Rand des Daches, und beide warfen ihre Lanzen den hilflosen Sachsen mitten in die Brust. Brun glaubte zu sehen, wie sein Vater sich noch einmal aufrichtete, bevor er tödlich getroffen vom Dach fiel. Was würde mit seiner Mutter geschehen? Sie musste noch im Haus sein, so wie viele der anderen Frauen. Brun ergriff Panik, während er sah, wie die Franken nun von ihren Pferden abstiegen und systematisch die Häuser durchkämmten. Die Schreie der verzweifelten Frauen und Kinder drangen bis zu Brun hinauf. Was sollte er tun? Wo konnte er Hilfe holen? Ihm fiel die nahegelegene Brunsburg ein, doch die Fluchtburg war nur in Notzeiten bewohnt. Wussten die anderen Siedlungen in der Umgebung von dem Angriff der Franken? Oder war es nur eine Horde Wildgewordener, die aus reiner Lust am Töten sein Dorf überfallen hatten? Brun rührte sich noch immer nicht, da er wissen wollte, was mit seiner Mutter, seiner Schwester und den anderen geschah. Es dauerte eine Weile bis die Franken alle Frauen und Kinder aus den Häusern gescheucht und am Teich zusammengetrieben hatten. Dann wurden sie mit Stricken zu einer langen Schlange zusammengebunden. Brun wurde klar, dass die Franken alle Überlebenden mit sich nehmen und wegführen würden. Und so geschah es. Der Zug setzte sich in Bewegung und verließ das Dorf in westlicher Richtung. Währenddessen vollendete die Nachhut der Reiterschar ihr Zerstörungswerk und legte Lunte an die Hütten des Dorfes. Schnell vernebelte der starke Rauch Brun die Sicht, und so konnte er nicht mehr sehen, wie die Franken die Bewohner des sächsischen Dorfes
12
um die Windung des Bergrückens mit sich fortführten. Fassungslos blieb er in seinem Baum zurück, und dicke Tränen kullerten seine Wangen hinunter.
13
2
B
run brauchte lange, bis er sich gesammelt hatte und seine Situation überdenken konnte. Er hatte schon vorher Überfälle der Franken miterlebt. Seit der Schlacht an der Weserfurt vor dreizehn Jahren kontrollierten die Franken die sächsische Welt und bestimmten, was zu tun und zu lassen – und vor allem was zu glauben war. Doch nur wenige Sachsen konnten mit dem neuen Gott, den die Franken mitgebracht hatten, etwas anfangen. Ein „dreieiniger Gott“, wer sollte das verstehen? Und warum durfte es nicht mehrere Götter geben? Regelmäßig kamen merkwürdige Priester in die Dörfer der Sachsen und sprachen von diesem neuen Gott. „Liebe deinen nächsten wie dich selbst“, das betonten sie – aber wehe, man schaute sie auch nur missmutig an. Dann musste man damit rechnen, dass fränkische Soldaten ins Dorf kamen und das ein oder andere Haus niederbrannten. Brun erinnerte sich auch, dass vor einiger Zeit schon einmal ein Trupp berittener Franken in ihr Dorf gekommen und mehrere Frauen geraubt hatte. Allerdings waren die Frauen nach einigen Stunden wieder zurückgekommen. Was genau geschehen war, blieb Brun verschlossen. Denn die Frauen hüllten sich in Schweigen, einige sprachen anschließend nie wieder ein Wort. So wusste er inzwischen sehr genau, dass der Besuch von Franken im Dorf nichts Gutes bedeutete. Doch so schlimm wie heute war es nie gewesen. Nun war das Dorf zerstört, die Männer waren tot und alle anderen verschleppt. Nachdem auch die Nachhut verschwunden war, kletterte Brun, zitternd vor Kälte und Angst, von seinem Baum und machte sich auf den Weg zurück in sein Dorf. Die Hütten waren allesamt niedergebrannt. Die Tiere hatten, soweit sie den Angriff überlebt hatten, das Weite gesucht. Brun ging zu den Resten des Hauses seiner Familie, das nur noch aus verkohlten Holzbalken bestand. Der Gestank hatte ihn kurz zögern lassen, doch er wollte sich Gewissheit verschaffen. Langsam schritt er vorwärts und dann entdeckte er die zwei
14
Leichen, die einmal sein Vater und dessen Nachbar gewesen waren. Zwei Frielinge, wie alle Männer in ihrem Dorf, die stolz darauf waren, freie Sachsen zu sein. Der Anblick war ebenso fürchterlich wie der Gestank. Die beiden waren ebenfalls halb verkohlt. Was sollte er mit ihnen und den anderen Leichen anstellen, die verstreut in der Siedlung herumlagen? Bei den sächsischen Stämmen war es üblich, die Leichen zu verbrennen. Denn nur durch das Feuer gelangte ein tapferer Krieger nach Walhalla. Der König der Franken aber hatte die Feuerbestattung verboten. Er forderte Erdbestattungen und zwar so, dass die Körper in östlicher Richtung ausgerichtet in die Gräber gelegt wurden. Bruns Vater hatte den neuen Glauben stets abgelehnt und das Dorf verlassen, wenn ein Priester vorbeigekommen war. Also wusste Brun sehr genau, welche letzte Ehre er seinem Vater erweisen musste. Aber er wusste auch, dass er unmöglich alle Leichen verbrennen konnte. Schließlich fand er eine alte, angesengte Decke, die er an einem der schwelenden Feuer wieder in Brand setzte und damit seinen Vater und den Nachbarn so gut es ging anzündete und die beiden Männer dem Feuer übergab. Mehr konnte er nicht tun. In dem Holzhaus, das einmal seine Familie beherbergt hatte, waren die Flammen inzwischen erloschen und kalter Rauch stieg auf. Brun holte sich einen Stock und durchkämmte die Asche, in der Hoffnung noch irgendetwas Brauchbares zu finden. Doch offensichtlich hatten die Franken alles Wertvolle mitgenommen, der Rest war den Flammen zum Opfer gefallen. Ähnlich war es bei den anderen Häusern. Bruns einzige Ausbeute war ein Schafsfell, das er unter einem Balken hervorzog. Es könnte ihm immerhin etwas Wärme spenden. Dann fand er in einem Grubenhaus noch etwas Proviant. Ansonsten war das Vernichtungswerk der Franken radikal und komplett gewesen. Brun hatte seine Heimat verloren. Was sollte er nun machen? In ein Nachbardorf gehen und von den Vorkommnissen erzählen? Aber vielleicht waren die Franken ja auch dort gewesen. Sich in den Wäldern verstecken und abwarten,
15
was passierte? Aber es war noch immer Winter und ein dauerhaftes Überleben im Wald schwierig. Eigentlich stand sein Entschluss ohnehin schon fest. Bereits als er seinen Beobachtungsposten verlassen hatte, war ihm klar gewesen, dass er herausfinden musste, was mit seiner Mutter, seiner Schwester und den anderen Frauen und Kindern seines Dorfes geschah, wohin sie geführt wurden, was man mit ihnen vorhatte, ob sie am Leben blieben. Er hatte gesehen, dass die Franken ihre Gefangenen in südwestlicher Richtung in das Tal der Nethe davongeschleppt hatten. Wenn er sofort, noch vor Einbrechen der Dunkelheit, die Verfolgung aufnahm, könnte er leicht ihre Spuren entdecken, auch wenn kein Schnee mehr lag. Ein kalter Wind pfiff ihm direkt ins Gesicht. Wie gern hätte er jetzt seine Fellmütze gehabt. Doch es musste auch ohne sie gehen. Eingehüllt in die Reste des gefundenen Schafsfells, das einen scharfen Brandgeruch absonderte, und bewaffnet mit einem kräftigen Stock, verließ er sein Dorf, das nun nicht mehr existierte. Er drehte sich nicht einmal mehr um, denn er hatte genug gesehen und wusste, dass er nun alle Kräfte brauchte, um die überlebenden Dorfbewohner zu finden.
16
3
A
m Abend des zweiten Tages seiner Verfolgung hatte sich Brun am Fuße eines Berges unter einer dichten Hecke ein Nachtquartier gesucht. Die Gegend war ihm von früheren Besuchen mit seinem Vater bekannt, da hier die Sachsen jedes Jahr die Sonnenwendfeier begingen. Auf dem Berg stand eine alte Fliehburg der Sachsen – die Iburg. Sie lag mitten auf einem Bergsporn, von dem aus man einen hervorragenden Rundumblick hatte. Dorthin war der Trupp mit den Gefangenen gezogen. Wieder stellte sich Brun die Frage, wie er sich unbemerkt den Franken nähern konnte. Jetzt, da der Wald entlaubt war, hätte man ihn leicht entdecken können, wenn er zu dicht an die Burg herankam. Je länger er überlegte, desto weniger fand er eine befriedigende Lösung. Er konnte nur die Stämme und die Dunkelheit als Deckung nutzen. So verließ er sein Nachtlager und machte sich an den steilen Aufstieg. Immer wieder ging sein Blick nach oben, doch es war niemand zu sehen. Erst kurz bevor er die Burg erreichte, hörte er plötzlich eine Stimme. Es war ganz eindeutig die eines Franken, der ziemlich ungehalten schimpfte. Sofort verbarg Brun sich hinter einem Gestrüpp. Sekunden später zog nur wenige Meter entfernt der Franke eine der sächsischen Geiseln hinter sich her. Brun erkannte Imma, die nur ein paar Jahre älter als er war. Er war unbewaffnet, doch ihm war klar, dass er Imma zu Hilfe kommen musste. Die Absichten des Franken waren eindeutig. Vorsichtig folgte er den beiden. Und nach nur wenigen Schritten sah er auch schon, wie sich der Franke an Immas Kleidung zu schaffen machte. Dann stieß er sie unsanft zu Boden und legte sich auf sie. Das war Bruns Chance. Glücklicherweise fand er einen kleinen, aber spitzen Stein. Mit diesem in der Hand rannte er los und stürzte sich rücklings auf den Mann. Mit einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf fügte er dem Krieger eine schmerzhafte Wunde zu. Der Franke fiel zur Seite, so dass Imma sich befreien konnte. Brun nahm sie an die Hand und zog sie vom Tatort weg. So schnell und so lange sie
17
konnten, liefen sie durch den Wald, um sich möglichst weit von dem Franken zu entfernen. Erst als sie sich in relativer Sicherheit wiegen konnten, blieben sie stehen und suchten sich einen Platz, an dem sie sich ausruhen und besprechen konnten. Brun kam zuerst wieder zu Atem und fragte Imma im Flüsterton: „Seid ihr alle zusammen in der Burg gefangen?“ „Ja, alle, die aus unserem Dorf entführt wurden, sind dort oben in der Gefangenschaft der Franken. Allerdings fehlte heute Morgen Geva. Wir machen uns Sorgen, dass ihr in der Nacht etwas zugestoßen ist“, antwortete Imma. „Und meine Mutter und meine Schwester …?“, wagte Brun kaum zu fragen. „Sie sind bei den anderen Frauen. Ihnen geht es soweit gut. Doch sie sind wie die meisten sehr niedergeschlagen, da sie mit ansehen mussten, wie die Franken die Männer unseres Dorfes getötet haben. Es sind auch viele Frauen und Kinder aus anderen Dörfern dabei, die ebenfalls überfallen wurden. Aber wie kommst du eigentlich hierher? Du warst doch nicht bei den Gefangenen.“ Brun erklärte ihr in aller Kürze, warum er während des Überfalls nicht im Dorf gewesen war und wie er sich an die Verfolgung gemacht hatte. Nun wollte er wissen, was die Franken mit den Geiseln vorhatten. „Wir vermuten, dass sie uns zur Eresburg bringen werden, denn dort verbringt ihr König Karl den Winter. Was danach geschehen wird, wissen allein die Götter.“ „Aber warum haben sie das getan“, fragte Brun resignierend, „unser Dorf überfallen, die Männer getötet, die Häuser niedergebrannt und die Frauen und Kinder geraubt?“ „Karl will Herzog Widukind. Erst dann wird er Ruhe geben. Damit der Widerstand der Sachsen zerbricht und wir an den Gott der Franken glauben und unsere Götter verleugnen. Das haben wir jedenfalls aus den Gesprächen unserer Bewacher herausgehört. Allerdings wird gemunkelt, dass der Herzog außer Landes geflohen ist“, erläuterte nun Imma.
18
„Aber wenn ihr Gott so barmherzig sein soll, warum töten sie uns dann?“ „Einige fränkische Soldaten nutzen diese Zeit, um sich bei uns zu bereichern oder um persönliche Rache für die im Kampf Getöteten zu nehmen. Ob das ihr König und ihr Gott gutheißen, weiß ich nicht.“ „Was wollte der Franke eben von dir?“ „Er wollte seinen Spaß. Ich hoffe, er ist tot, sonst wird er sich bitterlich an mir rächen“, sagte Imma nun sehr ernst und sah dabei Brun in die Augen. „Ich glaube nicht, dass er tot ist. Dafür war der Stein zu klein und mein Schlag zu schwach. Was sollen wir jetzt tun?“ Imma wusste darauf auch keine Antwort und zuckte nur kurz mit den Achseln. Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich standen hinter ihnen drei Franken mit gezückten Schwertern. Ein Entkommen war unmöglich. „Aufstehen“, lautete der knappe Befehl. Während einer der Männer Imma und Brun mit seinem Schwert in Schach hielt, banden die beiden anderen mit kurzen Stricken Imma und Brun die Hände auf dem Rücken zusammen. Ohne weitere Worte wurden sie vorwärtsgeschubst, hoch auf den Bergsporn geführt und dann zur Iburg geleitet. Die Iburg war von den Sachsen in grauer Vorzeit errichtet worden, ein wichtiger Zufluchtsort für die Menschen im Nethegau, sobald Gefahr drohte. Von Süden und Osten war die Burg durch einen Steilhang geschützt, an den anderen Seiten war ein Wall um sie herum errichtet worden. Die Burg bot vielen Menschen Platz, und da auch die Wasserversorgung gesichert war, konnte man sich hier einige Zeit gut verschanzen. Das hatten die Sachsen auch jedes Mal getan, wenn die Franken zu ihren Kriegs- und Beutezügen in das Sachsenland gekommen waren. Schon König Karls Vater Pippin hatte die Iburg belagert und dort in der Nähe eine Schlacht gewonnen, war dann aber weitergezogen. Erst König Karl hatte die Fluchtburg endgültig genau wie die Eresburg und die Sigiburg in seinen
19
Besitz gebracht und beherrschte von hier aus nun das Umland. Brun und Imma wurden an den Wallanlagen vorbei durch den engen Durchlass geführt, der den einzigen Eingang in die Burg darstellte. Dort begegneten sie dem Anführer der Franken. Wieder saß er hoch auf seinem Schlachtross in voller Kriegsmontur. Verstohlen musterte Brun ihn von unten. „Die beiden haben wir auf unserem Spähgang aufgegriffen. Sie scheinen zu den anderen Sachsen zu gehören“, berichtete einer der Franken seinem Anführer. Er sprach Fränkisch, das dem Sächsischen aber zumindest so weit ähnelte, dass Brun den Sinn erfassen konnte. Der Anführer drehte sein Pferd in die Richtung der Ankömmlinge. Sein Blick war eiskalt. Nun schaute Brun ihn unverhohlen an, um genau erkennen zu können, wer seinen Vater getötet hatte: Vor ihm saß hocherhoben ein Mann mittleren Alters von großer Statur mit kräftigen Schultern und mit einem Gesicht, in dem sich trotz des rotblonden Bartes die Spuren eines wilden Lebens sichtbar abzeichneten. Aber das Beeindruckendste waren die Augen: Die Pupillen waren nicht rund, sondern schmale Linsen, die das Auge senkrecht durchzogen, wie die einer Katze. Das hatte Brun noch nie gesehen, und es wirkte unmenschlich. „Weiber und Kinder“, zischte er abfällig mit einer krächzenden Stimme, „ist das alles, was die Sachsen noch zu bieten haben?“ Brun merkte, wie das Blut in ihm hochstieg und sein ganzer Körper gegen den Mörder seines Vaters rebellierte. Mit einem kräftigen Ruck machte er sich von seinem Bewacher frei und sprang auf den hoch über ihm thronenden Franken zu. „Ihr Mörder! Hinterrücks bringt ihr unsere Männer um, und jetzt macht ihr euch darüber auch noch lustig. Ihr Feiglinge!“ Brun schrie die letzten Worte so laut er konnte, musste sich dabei aber schon einiger Franken erwehren, die ihn von hinten ergriffen und zurückzerrten. Kaum hatte er geendet, spürte er ein scharfes Zischen auf seiner Wange. Der Anführer der Franken hatte seine Peitsche hervorgeholt und ihn ohne Vorwarnung damit geschlagen.
20
„Wofür hältst du dich, Junge! Pass auf, dass es dir nicht so ergeht wie euren Kriegern. Euch muss man mit harter Hand anfassen. Das ist die einzige Sprache, die ihr verfluchten Sachsen versteht.“ Die letzten Worte hatte er mehr in Richtung seiner Soldaten gesprochen, und dann wendete er auch schon sein Pferd und verließ die Burganlage, indem er durch den engen Durchlass zwischen den Wällen davonritt. Bruns rechte Wange brannte und blutete wohl auch. Da seine Hände immer noch hinter dem Rücken gefesselt waren, konnte er die Wunde aber nicht genauer untersuchen. Was hätte es auch geändert? Der Mörder seines Vaters hatte sich ohne Skrupel an ihm vergangen und würde es jederzeit wieder tun. Brun kannte nun seinen Feind von Angesicht zu Angesicht und würde diese eiskalten Katzenaugen nie vergessen. Zusammen mit Imma wurde er in das Burginnere geleitet. Mit klopfendem Herzen hoffte Brun darauf, endlich seine Mutter und seine Schwester wiederzusehen. Doch diesen Gefallen taten ihm die Franken nicht. Die beiden Gefangenen wurden eine schmale Treppe hinuntergeführt, die in einem feuchten und dunklen Verlies endete. Ihre Begleiter zwangen sie, sich mit dem Rücken zur Wand niederzusetzen, nahmen ein Seil, zogen dieses durch Immas und Bruns Handfesseln und machten es anschließend hoch über ihren Köpfen an einem Wandhaken fest. Dann ließen die Franken sie allein. Brun versank in eine tiefe Trauer. Wie gern hätte er vor allem seine Mutter wiedergesehen, um ihr zumindest die Sorge um ihn zu nehmen. Denn wie sollte sie wissen, dass er noch am Leben war? Wie schrecklich musste das Geschehen der letzten Tage für sie gewesen sein? Sie hatte alles verloren, und die einzige Hoffnung, die ihr blieb, war, dass ihr Sohn den brutalen Angriff überlebt und sich gerettet hatte. Doch nun war auch Brun den Franken in die Hände gefallen. Zwei Tage blieben sie in ihrem Kerker. Dann wurden sie von den Franken herausgeholt und erkannten, dass schon alles für den
21