Hermann Multhaupt
Leberwurst aus Bucheckern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-015-5 © Hermann Multhaupt Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. www.mitzkat.de
Hermann Multhaupt
Leberwurst aus Bucheckern Kindheit und Jugend an der Weser im und nach dem Krieg
Verlag Jรถrg Mitzkat Holzminden 2016
Inhalt Vorwort 7 Der Tag, an dem ich Adolf Hitler traf 9 Wanda und Iwan 13 Großvater und die „Landwacht“ 17 Nachts auf den Straßen 23 Die Flut kam um Mitternacht 33 Der Hülsenfänger 38 Der Hasenfuß 41 Julchen 43 Drei Geschichten vom Brot 46 Das Rubinenkreuz 49 Ein Kreuz mit dem Kreuz 55 Sammeln für den „Endsieg“ 59 Im Hausflur stand der Tod 64 Meinen Geburtstagskuchen 66 aßen die Amerikaner Bekanntschaft mit dem Kaugummi 75 Leberwurst aus Bucheckern 77 Das Schweinefleisch war trichinenfrei 84 Im Herbst rauchten die Kartoffelfeuer 87 „Corn“ – ein verhängnisvolles Wort 93 „Kino“ an den Küchenwänden 96
Erste Bekanntschaft mit „Rübezahl“ 98 Der Gang nach Canossa 105 Kein Sonnenplatz 108 Fantasie statt Plastik 111 Die Besteigung des Kilimandscharo 115 Der schönste Tag des Lebens 120 Muss auch der Pastor aufs Klo? 128 Konfessionszwist 133 Der Oratorianerkragen 140 Die Frau auf dem Dach 144 Unterwegs mit dem „Henkelmann“ 147 Mutters Sparbuch 150 Der Pelzmantel 153 Jüdische Schicksale 155 Pionier im „Wilden Westen“ 163 Der Verlust der Sprache 168 Das Haus 172 Das Grab auf dem Lagerfriedhof 181 Die Klostertante 183 Die ungleichen Brüder 191 Der Verlust der Straße 196 Wer ist schon Goethe? 199
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Der Autor im August 1938 mit seinen Kindermädchen
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Vorwort Erinnerungen, sagt man, verklären sich unter dem Anspruch der Geschichte. Sie erscheinen in einem neuen Licht, erhalten ein anderes Gewicht als die Realität der Ereignisse. So werden manche Erlebnisse zur „guten alten Zeit“, obgleich es diese Zeit nie so gegeben hat, wie man sie aus der Rückschau empfindet. Ähnlich wird es auch mit diesen Aufzeichnungen sein. Sie sind subjektive Notizen, die für mich eine Bedeutung erhalten haben, die sie bei kritischer Beurteilung möglicherweise nicht verdienen, die mir persönlich aber so wichtig erschienen, um im Wort festgehalten zu werden. Vieles habe ich persönlich erlebt, anderes ist mir zugetragen worden. Diese Berichte sind nicht zuletzt auch ein Dank an die Kindheit, die ich bei aller Schwere und Bedrohung der Zeit als eine gesunde empfunden habe.
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Der Tag, an dem ich Adolf Hitler traf
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s muss Anfang 1942 gewesen sein. Berlin war inzwischen schon häufiger Ziel englischer Bomber, und manche schöne Straße, vor allem um den Alexanderplatz, versank in Schutt und Asche. Eines Tages sagte meine Mutter: „Komm, wir wollen nach Berlin fahren. Wer weiß, wie lange wir es noch können. Ich möchte eine Freundin besuchen und das Institut noch einmal wiedersehen, in dem ich meine Ausbildung erhalten habe.“ Also fuhren wir in die Reichshauptstadt. An die Fahrt und den Aufenthalt habe ich nur wenige Erinnerungen, doch eines Tages kamen wir in die Nähe der Neuen Reichskanzlei. Der plötzliche Volksauflauf bedeutete, dass sich hier etwas Ungewöhnliches ereignen würde. Und in der Tat fuhren mehrere Mercedeswagen vor. Hitler und seine Begleitung schickten sich an, vom Flughafen „Tempelhof“ aus einen der Kriegsschauplätze zu besuchen. „Heil!“, schrien die Leute, „Heil Hitler!“, und sie streckten die rechte Hand empor. Ohne Vorwarnung kroch ich unter der Absperrung hindurch und lief auf das Auto des Führers zu. Meine Mutter schrie, aber ich hörte nicht auf sie. Einer der Schutzleute wollte mich zurückreißen, doch der Führer sagte: „Lassen Sie ihn, Sturmscharführer“, und an mich gewandt: „Na, was willst du denn, Kleiner?“ „Heil Hitler!“, rief ich.
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Einer aus Hitlers Begleitung wies mich zurecht: „Das heißt jetzt nicht ,Heil Hitler!‘, sondern ,Heil, mein Führer!‘ In Gegenwart des Führers spricht man seinen Namen nicht aus.“ „Ist schon in Ordnung“, sagte Hitler und lächelte. „Du hast meinen Vater in den Krieg geschickt!“, rief ich mit hochrotem Gesicht. Für einen Augenblick wurde es ringsum still. Ich hörte meine Mutter nach mir rufen, doch beachtete ich sie nicht. „Nun, viele Väter sind jetzt im Krieg“, erwiderte Hitler. „Wo ist er denn eingesetzt?“ „In Frankreich. Kannst du nicht machen, dass er wieder nach Hause kommt?“ Der Führer lächelte noch immer, dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann meine eigenen Gesetze nicht aufheben, mein Junge. Was für alle wehrtüchtigen Männer gilt, gilt auch für deinen Vater.“ Ich wusste nicht genau, was ,wehrtüchtig‘ war, und habe es mir später erklären lassen. Dann drängte die Begleitung Hitlers zum Aufbruch. Der Führer sah mein ernstes und wohl auch verzweifeltes Gesicht und sagte: „Du kannst mir ja zum Geburtstag schreiben. Aber nicht vergessen. Dann bekommst du ein Foto von mir. Und dein Vater – der kommt bestimmt zurück.“ „Ich kann noch nicht schreiben“, sagte ich. „Ich bin noch nicht in der Schule.“ Doch darauf erhielt ich keine Antwort. Der Führer tätschelte mir versöhnlich die Backe, dann bestieg er seinen Wagen, die Autos rauschten davon.
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An die nächsten Stunden erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass mich viele Gesichter anstarrten. Meine Mutter zerrte mich aus der Menge. Von nun an grüßte ich auf der Straße daheim immer stolz mit „Heil Hitler!“. Eine Tante schimpfte mich aus, sie mochte den Führer wohl nicht leiden. Schon vor der Einschulung übte ich die Worte „Führer“ und „Adolf Hitler“, wie sie in der Zeitung standen und andere Menschen sie gebrauchten. Vom ersten Schultag an rief ich im Chor der Mitschüler begeistert: „Heil Hitler, Fräulein Lehrerin!“ Die Lehrerin erwiderte den Gruß nur halblaut, und manchmal sagte sie auch nur: „Guten Morgen, Kinder!“ Dagegen war der Schulleiter wohl ein Freund des Führers wie ich. Er hatte ein kleines Buch in der Rocktasche. Wenn er es aufschlug und ganz schnell durch die Finger gleiten ließ, sah man auf den Bildern den Führer am Rednerpult die Hand zum Hitlergruß heben und senken. Wir hätten gern alle ein solches Büchlein gehabt. Dann schrieb ich zu Hitlers Geburtstag eine Karte, aber wohin? Man hörte im „Volksempfänger“, der Führer befinde sich derzeit in der „Wolfsschanze“, um den großen Kampf gegen Russland zu führen. Ich stellte mir unter der „Wolfsschanze“ eine Höhle vor, wo ein ganzes Rudel Wölfe versammelt war und wohin sicher keine Post ausgeliefert würde. Viel später hieß es dann einmal, der Führer sei kämpfend für Volk und Vaterland gefallen – wie viele ungezählte Soldaten. Auch der Vater eines Freundes aus der Nachbarschaft war darunter. Ich war sehr traurig. Als die Schule nach Monaten wieder geöffnet wurde
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und wir allesamt „Heil Hitler, Fräulein Lehrerin!“ riefen, wurden wir belehrt, dass es verboten sei, diesen Gruß weiterhin zu verwenden, und wir „Guten Morgen, Fräulein Lehrerin!“ sagen sollten. Ich konnte mich lange nicht daran gewöhnen. Schließlich war Hitler doch mein Freund gewesen, auch wenn ich nie ein Foto von ihm bekommen hatte. Ich wollte ihn doch wenigstens im Gruß in Ehren halten. Da die Ermahnungen der Lehrerin nicht fruchteten, musste ich schließlich eine Woche lang nachsitzen. So wurde mir die Erinnerung an Adolf Hitler ausgetrieben.
„Ich will mit in den Krieg.“
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