Christoph Reichardt/Wolfgang Schäfer Nationalsozialismus im Weserbergland
Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung e.V. Band 21
Christoph Reichardt, Wolfgang Schäfer
Nationalsozialismus im Weserbergland Aufstieg und Herrschaft 1921 bis 1936 Mitarbeit: Peter Siebert Herausgegeben vom Heimat- und Verkehrsverein Beverungen e.V.
Verlag JĂśrg Mitzkat Holzminden 2016
Dieses Buch wurde gefördert von: NRW-Stiftung Südniedersächsischer Landschaftsverband Heimat- und Verkehrsverein Beverungen Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dbb.de abrufbar ISBN 978-3-95954-016-2 Alle Rechte vorbehalten. Verlag Jörg Mitzkat Holzminden, 2016 www.mitzkat.de Umschlagbilder: Vorderseite: 1. Mai 1933 in Uslar (nachbearbeitet) Rückseite: Hermann Weidemann wird am 2. Mai 1933 auf einem Ochsen durch Hofgeismar geführt Gestaltung: L.Happel
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung 1. Einleitung
......................................................................................................................... 9
..............................................................................................................................11
2. Der Aufstieg des Nationalsozialismus 2.1. 2.2. 2.3 2.4.
.........................................................16
Ideologische Grundelemente .....................................................................................17 Die Wegbereiter ............................................................................................................19 Anfänge der NSDAP ....................................................................................................44 Resümee ..........................................................................................................................60
3. Politik und Gewalt in der Weimarer Republik 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.
„Der Feind steht rechts…“ .......................................................................................... 63 Von der Partei zur Massenbewegung .......................................................................76 Die Selbstzerstörung einer Republik ........................................................................95 Braun gegen Rot und Schwarz? Die Nazis und ihre Gegner ............................ 101 Resümee ....................................................................................................................... 146
4. Die Eskalation politischer Gewalt 4.1. 4.2. 4.3.
.......................................63
................................................................. 148
Erste Auseinandersetzungen im Weserbergland ................................................ 149 Ein „schweres Saalgefecht“ in Grebenstein ......................................................... 152 Akademien für den Bürgerkrieg? ............................................................................ 159
5. Die „Blutwahlen“ vom 31. Juli 1932 ............................................................. 165
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7.
Politische Auseinandersetzungen im Reichsgebiet ............................................ 165 „Runter von den Rädern! Umzingeln!“ ................................................................... 168 Ein Panzerwagen für den Bürgerkrieg? ................................................................. 172 Ein Propaganda-Aufmarsch im Solling ................................................................... 175 Konfrontationen in der Kurstadt ............................................................................. 177 Die Straßenschlacht in Beverungen und ihre Folgen ......................................... 182 Resümee ....................................................................................................................... 202
6. Agonie einer Demokratie 6.1. 6.2.
..................................................................................... 205
Erfolgreiche Verlierer? ............................................................................................... 205 Alle gegen den „Herrenreiter“? ............................................................................... 211
7. Die Machteroberung der Nationalsozialisten 1933 ....................... 222
7.1. 7.2. 7.3. 7.4.
Der Marsch in die Diktatur. Die ersten Schritte… .............................................. 223 Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 ............................................................. 230 Die Märzwahlen und ihre politischen Folgen ...................................................... 241 Der „offene Terror“ der Nationalsozialisten ......................................................... 244
7.5. 7.6. 7.7. 7.8
„Hitler-Frühling in Weserbergland“ ........................................................................ 261 Verfolgung, Resignation, Solidarität? ..................................................................... 277 Das Ende der bürgerlichen Parteien ...................................................................... 309 Das KZ in der Kleinstadt ........................................................................................... 311
8. „Die Volksgemeinschaft marschiert.“
......................................................... 321
8.1. Gemeinschaft und „Gemeinschaftsfremde“ ........................................................ 322 8.2. Bodenfelde 1933: ein Dorf im Gleichschritt? ...................................................... 331 8.3. Am Kälberstrick über die Lange Straße: der Fall Hugo Winkler ...................... 336 8.4. „Das war dein Vorzug“ Die Neutralisierung der Arbeiterklasse ....................... 339 8.5. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ............................................................................... 351 8.6. Erziehung durch Arbeit zur Arbeit?“ ...................................................................... 356 8.7. Heimatbewegung und Nationalsozialismus ......................................................... 365 8.8. Heldenkult im Dritten Reich am Beispiel „Ludwig Decker“ .............................. 372 8.9. Kirche unter dem Hakenkreuz ................................................................................ 380 8.10. Der „Kampf um die Jugend“ .................................................................................... 410 8.11. „Die Juden sind unser Untergang“ ........................................................................... 467 8.12 Proteste mit dem Stimmzettel: die „Neinsager“ .................................................. 488 8.13 Resümee ....................................................................................................................... 495
9. Portraits ............................................................................................................................... 497
9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6. 9.7. 9.8. 9.9. 9.10.
Dr. Lorenz Pieper: Der Vorkämpfer ........................................................................ 497 Karl Baumann: Der Demokrat ................................................................................. 500 Wilhelm Beye: Der Prediger .................................................................................... 502 Albert Körber: Der Standartenführer .................................................................... 504 Hans Grimm: Der Sympathisant ............................................................................. 507 Ludwig Decker: Das Opfer ....................................................................................... 511 Fritz Diedrich: Der „Täter“ ........................................................................................ 514 Maria Reese: Die Agitatorin ..................................................................................... 517 Leopold Rosenstein: Der Passant ........................................................................... 521 Hans Schimmelpfennig: Der Stratege .................................................................... 524
9.11. Richard Wagenknecht: Der Dissident ................................................................... 526 9.12. Wilhelm Henne: Der Rebell ..................................................................................... 528 9.13. Karl Poth: Der Tribun ................................................................................................. 530 9.14. Karl Driehorst: Der Fleckenvorsteher (von Manfred Driehorst) ..................... 532 9.15. August Knop: Der Drahtzieher ............................................................................... 535 9.16. Richard Haller: Der Steigbügelhalter ..................................................................... 537 9.17 Hermann Bartels: Der Architekt ............................................................................. 540 9.18 Albert Evers: Der Bauernführer .............................................................................. 542 9.19 Karl Scheidemann: Der Aufsteiger ......................................................................... 544 9.20 Wilhelm Spormann: Der Aufrechte ........................................................................ 546 9.21 Karl Arthur Pabst: Der Bekenner ............................................................................ 550 9.22 Hermann Weidemann: Der Stadtpolitiker ............................................................ 553 9.23 Johannes Diedrich: Der Ausgegrenzte .................................................................. 556 9.24 Theodor Roeingh: Der Abgeordnete ..................................................................... 560 9.25 Otto Kühnemund: Der Hirte .................................................................................... 563 9.26 Heinrich Oppermann: Der Senator ........................................................................ 566 9.27 Karl Schübeler: Der Beigeordnete .......................................................................... 569 9.28 August Sommer: Der Pfarrvikar .............................................................................. 572 9.29 Wilhelm Nägeler: Der Unpolitische ....................................................................... 576
10. Schlussbetrachtung ................................................................................................. 578 11. Quellen und Literaturverzeichnis 11.1. Archivalische Quellen .................................................................................................. 582 11.2. Zeitungen ...................................................................................................................................... 585 11.3. Literatur......................................................................................................................................... 586 11.4. Internetquellen ........................................................................................................................... 606 11.5. Fotonachweise ............................................................................................................................ 607
12. Ortsregister
.................................................................................................................. 608
Vorbemerkung Das vorliegende Buch entstand in den Jahren 2012 bis 2016. Ursprünglich planten wir eine Begleitpublikation zur Wanderausstellung „Bürgerkrieg im Wesertal“, die in den letzten Jahren in verschiedenen Museen und Schulen gezeigt wurde. Arbeitsverpflichtungen der Verfasser und Finanzierungsprobleme haben dazu geführt, dass sich die Fertigstellung unserer Studie verzögert hat. Wir haben in diesem Zeitraum den Themenrahmen wesentlich erweitert. Stand bei der Ausstellung die Straßenschlacht in Beverungen am 10. Juli 1932 im Mittelpunkt, so haben wir mittlerweile eine Reihe weiterer Konflikte im Weserbergland untersucht und uns zudem in stärkerem Maße den Jahren 1933 bis 1936 gewidmet, in denen das NS-Regime seine Macht festigen konnte. Der „Nationalsozialismus in der Provinz“ beschäftigt die Verfasser nicht erst seit gestern. Erste Recherchen zu diesem Themenkomplex fanden bereits in den 1970er Jahren statt, diese wurden jetzt durch weitere Archivstudien wesentlich erweitert. Dank schulden wir Archivaren und Bibliothekaren, deren engagierte Mitarbeit uns eine große Hilfe war. Recherchiert haben wir u.a. in verschiedenen Bundes- und Landesarchiven sowie in den Kirchenarchiven Bielefeld und Paderborn, in der „Dokumentationsstelle der katholischen Jugendbewegung“ in Hardehausen sowie in den Stadtarchiven Göttingen, Warburg, Brakel und Bad Driburg. Außerdem haben uns unterstützt: Gemeindearchivar HansJörg Langer (Wahlsburg) und die Stadtarchivare Dr. Daniel Althaus und Iris Heise (Uslar), Dr. Elke Heege (Einbeck), Ekkehart Just (Northeim), Michael Koch (Höxter), Stefan Schäfer (Hann. Münden), Dr. Hilko Linnemann und Dr. Matthias Seeliger (Holzminden) sowie Museumsleiter Helmut Burmeister (Stadtmuseum Hofgeismar). Wir bedanken uns außerdem bei Freunden und Heimatforschern, die uns durch Informationen, Dokumente, Fotos und Kritik geholfen haben: Axel Bust-Bartels, Detlef Creydt, Roland Henne, Anja Kohrs, Walter Decker, Hermann Grote, Jörg Nolte, Wilfried Spormann, Wolfgang Tölle,Gisela Wassmuth-Kahle sowie Peter Siebert, der uns seine umfangreiche Quellensammlung zur Verfügung stellte. Wir danken der NRW-Stiftung, dem Landschaftsverband Südniedersachsen, dem Sollingverein e.V. (Neuhaus), der Arbeitsgemeinschaft für Südniedersächsische Heimatforschung e.V., der Sparkasse Höxter, der Volksbank Paderborn-Höxter-Detmold sowie Gabriele Lösekrug-Möller (MdB) für die finanzielle Unterstützung von Ausstellung und Buch.
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1. Einleitung
Wahlplakat der SPD aus dem Jahre 1932
1. Einleitung
Einleitung Heinrich Mohnsam ist nicht alt geworden. Der 24jährige Kasseler Arbeiter starb am 17. März 1931 an den Folgen der Verwundungen, die er sich bei einer „Saalschlacht“ in Grebenstein (Kreis Hofgeismar) mit SA- und SS-Leuten zugezogen hatte. Der 18jährige SA-Mann Ludwig Decker aus Arenborn (Kreis Hofgeismar) verblutete am 10. Juli 1932 bei Straßenkämpfen in Beverungen (Kreis Höxter). Eduard Rüddenklau aus Hofgeismar und David Austermühle aus Ostheim (Kreis Hofgeismar) erlagen im März 1933 den schweren Verletzungen, die ihnen SA- und SS-Leute in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1933 zugefügt hatten. Machteroberung und Herrschaft der NSDAP erfolgten nicht heimlich und nicht leise, sondern in aller Öffentlichkeit und gewaltsam. Auf den ersten Blick war das abgelegene Weserbergland keine Hochburg der NS-Bewegung. Während sich in den katholischen Gebieten der Kreise Höxter und Warburg die Zentrumspartei bis 1933 als dominierende politische Kraft behaupten konnte, prägten die Organisationen der Arbeiterbewegung in den Industriestandorten der Kreise Einbeck, Hofgeismar, Holzminden und Uslar lange Zeit das politische und soziale Leben. Allerdings breiteten sich zu Beginn der 1930er Jahre auch zwischen Leine und Weser die NSDAP und ihre Bürgerkriegsarmee SA aus. In den Jahren 1931/1932 häuften sich in Deutschland Zusammenstöße zwischen Anhängern der politischen Rechten und der Linken. Die Kontrahenten versuchten nicht nur die Versammlungen und Aufmärsche der jeweils anderen Partei zu stören bzw. zu verhindern, sondern sie lieferten sich auch blutige Saal- und Straßenschlachten. Spätestens im Sommer 1932 befanden sich große Teile Deutschlands am Rande eines Bürgerkriegs. Auch im idyllischen Weserbergland forderten sie Todesopfer. Der Prozess der politischen Gleichschaltung der Region im Frühjahr/Sommer 1933 kulminierte teilweise auch in Nordhessen, Südhannover, Ostwestfalen und im braunschweigischen Weserdistrikt in Gewaltorgien. In dem konfessionell gespaltenen und hinsichtlich seines Wahlverhaltens und seiner Einwohnerstruktur sehr heterogenen Weserbergland bündeln sich viele Aspekte der deutschen Geschichte der Jahre 1919 bis 1936 wie in einem Brennglas. In unserer Untersuchung soll zunächst der Aufstieg der
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1. Einleitung
NSDAP von einer bedeutungslosen Splittergruppe zu einer Massenbewegung untersucht werden. Wie vollzog sich die Entwicklung des Nationalsozialismus, wo lagen seine ideologischen und organisatorischen Wurzeln, wer waren seine Unterstützer, wer die Gegner? In einem zweiten Arbeitsschritt gehen wir ausführlich auf die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in den Jahren 1931 bis 1933 ein. Welche Faktoren hemmten oder beschleunigten den politischen Aufstieg der Partei? Welches Verhalten zeigten die Nationalsozialisten und ihre Gegner vor und nach dem Januar 1933? In welcher Weise ging die endgültige Machteroberung vonstatten? Einen dritten Untersuchungsschwerpunkt bildet schließlich die Epoche der Machtkonsolidierung. Wie entwickelte sich das Alltagsleben im Weserbergland in den Jahren 1933 bis 1936 in der vielfach beschworenen „Volksgemeinschaft“? Wie konnten das NS-Regime seine zahlreichen Gegner neutralisieren und integrieren? Wie vollzog sich die Ausgrenzung bzw. Vernichtung der „Gemeinschaftsfremden“? Wie festigte das NS-Regime seine Macht im ländlichen Raum? Und nicht zuletzt: Unter welchen Bedingungen widersetzten sich einzelne Menschen, Gruppen oder Organisationen den Verhaltenszumutungen und dem Terror der nationalsozialistischen Diktatur? Räumlich konzentriert sich diese Darstellung vor allem auf den westfälischen Kreis Höxter, den heutigen Kreis Holzminden und westlichen Teil des Kreises Northeim (beide Niedersachsen) sowie den nördlichen Zipfel des Landkreises Kassel (Hessen). In dieser Gegend fehlen Großstädte, die Städte sind klein und zumeist ländlich geprägt, gleichwohl lassen sich auch im Weserbergland punktuell Unterschiede zwischen Kleinstadt und und Dorf ausmachen. Unsere Studie versucht, die Mikroebene vor Ort mit regionalen und nationalen Entwicklungen zu verknüpfen. Dabei haben wir immer wieder kleine lokale Fallstudien in unsere Untersuchung integriert. Zeitlich liegt der Fokus der Arbeit auf den Jahren zwischen 1930 und 1936, aber auch hier wird, wo es sinnvoll erscheint, der Zeitraum in beide Richtungen stark erweitert. Geschichte aber wird durch Menschen gestaltet! Der letzte Abschnitt dieses Buches ist „politischen Lebensläufen“ gewidmet. In kurzen biografischen Skizzen werden Personen vorgestellt, die in der Zeit des Nationalsozialismus im Weserbergland gelebt haben. Die meisten von ihnen tauchen an unterschiedlichen Stellen in den systematischen Kapiteln auf. Wir gehen den Lebenswegen von Menschen nach, welche die „nationale Revolution“ bewusst