Zwangsarbeit im Kreis Höxter

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Ernst WuĚˆrzburger

Zwangsarbeit im Kreis HĂśxter


„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 1 des Grundgesetztes für die Bundesrepublik Deutschland

Für meine Schwester Gisela.


Ernst Würzburger

Zwangsarbeit im Kreis Höxter Fremdarbeiter • Displaced Persons • Heimatlose Ausländer

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2016


Impressum

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von

Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Kreis Höxter

Bündnis 90/Die Grünen Kreisverband Höxter UWG/CWG Kreisverband Höxter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://ddb.de abrufbar. © Ernst Würzburger Gestaltung: Verlag Jörg Mitzkat, Holzminden ISBN 978-3-95954-018-6 Holzminden, 2016 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.


Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS ZUM GELEIT VORWORT EINLEITUNG 1. ZWANGSARBEIT „Zwangsarbeiter“ – Schwierigkeiten der Abgrenzung Zwangsarbeit im Dritten Reich Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs „Fremdvölkische“ im Reichseinsatz Der „Polenerlass“ von 1940 „Fremdarbeiter“ aus Westeuropa Der „Ostarbeitererlass“ von 1942 Der „Reichseinsatz“ im Überblick Zwangsarbeit im Landkreis Höxter Die ersten Kriegsgefangenen „Polnische Gesindekräfte“ und Landarbeiter „Ostarbeiter“ – Russen und Ukrainer Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter Die Überwachung und Bestrafung der Zwangsarbeiter Polizeistrafen und gerichtliche Verfahren Arbeitsvertragsbruch und Konsequenzen Die Angst vor Seuchen Die medizinische Versorgung der Zwangsarbeiter Öffentliche Hinrichtung und „Sonderbehandlung“ „Durchschleusung“ von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen Ergänzende Informationen nach heutigen Stadtbereichen Kreisstadt Höxter Bad Driburg Beverungen Brakel Marienmünster

9 11 17 21 21 23 25 25 29 31 35 43 45 47 52 59 62 73 77 84 92 96 102 105 112 112 123 126 129 132

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Inhaltsverzeichnis Nieheim Steinheim Russische Kriegsgräber und polnisches Gräberfeld in Höxter Sowjetische Kriegstote Polnische Kriegstote Ukrainische Kriegstote Die Umbettung von Kriegstoten Zwangsarbeit im Landkreis Warburg Polnische Fremdarbeiter und Kriegsgefangene Westliche Kriegsgefangene „Ostarbeiter“ Die Überwachung der Zwangsarbeiter Arbeitsvertragsbruch und Bestrafungen Ergänzende Informationen nach heutigen Stadtbereichen Borgentreich Warburg Willebadessen Die Exhumierung sowjetischer Kriegstoter Anmerkungen 1. Teil

135 137 142 143 145 150 152 157 158 161 162 165 169 174 174 176 178 187 193

2. DISPLACED PERSONS „Vom Zwangsarbeiter zur Displaced Person“ UNRRA: Versorgung und „repatriation“ IRO: Alternative „resettlement“ Die Situation im Landkreis Höxter Die Krankenversorgung der DPs Das „Ausländerlazarett auf dem Räuschenberg“ Die Zwangsrepatriierung sowjetischer Staatsangehöriger Die DP-Kriminalität im Landkreis Höxter „Die Schreckensnacht von Fürstenau“ Das DP-Camp 157 in Höxter Verpflegung durch die Stadt Höxter Versorgung und Betreuung durch die UNRRA Selbstverwaltung und Lagerleben

201 201 203 207 210 217 218 220 222 231 237 237 240 244

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Inhaltsverzeichnis Aufbau der Grundschule „Begleiter des Elends“ Geburten und Hochzeiten Der Auflösung des DP-Camps entgegen Die „DP-Camps“ im Landkreis Warburg „Zusammenbruch“ Warburg und Dössel Einquartierungen polnischer Offiziere Einquartierungen im Amt Borgentreich Einquartierungen im Amt Peckelsheim-Dringenberg Die DP-Kriminalität im Landkreis Warburg Schlussbemerkungen Anmerkungen 2. Teil

246 250 251 254 262 265 269 274 277 279 285 288 291

3. HEIMATLOSE AUSLÄNDER 295 Vom DP zum heimatlosen Ausländer 295 „In deutsche Verwaltung übernommen“ 297 Das Bundesgesetz vom April 1951 301 Die Reduzierung der Wohnstätten 302 Die „Wohnstätte für Ausländer in Höxter“ 305 „Bevorstehendes Unheil abwenden“ 305 Auf dem Lastwagen nach Höxter 310 Abmeldung in Transitlager und Wohnsiedlungen 315 Seelsorge und Schulwesen 318 Vom „heimatlosen Ausländer“ zum amerikanischen Professor 320 Bis zur Räumung der Kaserne 324 Drei National-Komitees in Höxter 330 Karteikarten erzählen Lebensgeschichten 334 Die „Entschädigung“ von Zwangsarbeit 337 „Symbolische humanitäre Hilfe“ 337 „Ausgleichszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter“ 338 Anmerkungen 3. Teil 341

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Inhaltsverzeichnis ANHANG Czeslaw Parchatko: Zwangsarbeit auf dem Bauernhof Ukrainische Fabrikarbeiterin: „ Wir hatten immer Hunger“ Anmerkungen Anhang Literaturverzeichnis Abkürzungen der Archive Abbildungsnachweis

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ZUM GELEIT Wir leben seit Jahrzehnten in vergleichsweise politisch und gesellschaftlich stabilen Zeiten. Seit 70 Jahren herrscht Frieden. Unsere Gesellschaft fußt auf einer lebendigen, soliden Demokratie. Unternehmen und Betriebe florieren. Unser Gemeinwesen zählt zu den solidarischsten der Welt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hätte wohl niemand diese Entwicklung zu träumen gewagt. Noch zu nah waren Gräuel und Menschenverachtung, zu effektiv hatte der autoritäre Staat die Zivilgesellschaft manipuliert und zerstört. Auch wenn der 2. Weltkrieg offiziell im Mai 1945 endete, ging für viele Menschen das persönliche, durch die Kriegsereignisse verursachte Leid zunächst weiter. Zwei Millionen Gestrandete, ehemalige Zwangsarbeiter des Dritten Reichs, so genannte Displaced Persons, lebten noch im Herbst des Jahres in Deutschland. Viele hatten aus politischen Gründen Angst vor der Rückkehr in ihre Heimat und blieben vorerst in den westlichen Besatzungszonen. Sie fanden Unterkunft in ehemaligen Konzentrationslagern und Kasernen, in requirierten Städten und Ortsteilen. Zwar lebten die Menschen in den so genannten DP-Camps als freie Bürger und wurden von den Alliierten bzw. der jungen Bundesrepublik Deutschland beherbergt. Die Ressentiments der Bevölkerung um sie herum waren jedoch häufig ungebrochen. Das änderte sich nur langsam, da viele der Heimatlosen wichtige und geschätzte Arbeitskräfte insbesondere in der Landwirtschaft wurden. Das Leid der Zwangsarbeiter geriet in Vergessenheit, sollte vielleicht auch verdrängt werden wie viele andere Facetten der Kriegsjahre. Heimat- und Geschichtsforscher wie Ernst Würzburger stellen sich der Aufgabe, dieses dunkle Kapitel der Geschichte vor Ort zu erhellen und uns bewusst zu machen. Sie studieren unzählige Quellen, sortieren sie und tragen sie zu einem zeitgeschichtlichen Dokument zusammen. Sie machen uns Schilderungen, Erzählungen und Äußerungen zugänglich, die uns einen Einblick in die Denk- und Verhaltensweisen der damaligen Zeit geben. Das Besondere an dem Buch von Ernst Würzburger ist: Konkrete Quellen veranschaulichen, woraus sich das oft menschenverachtende Unrecht zusammensetzte. Es waren Entscheidungen und Handlungen vieler verschiedener Beteiligter. Parteifunktionäre, Behördenmitarbeiter, Bauern und Bürger auch in den Krei-

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Zum Geleit sen Höxter und Warburg. Ernst Würzburger schlüsselt die allgemeinen, großen Begriffe auf: „Nazi-Diktatur“, „Drittes Reich“ oder „Zwangsarbeit“ übersetzt er in kleine, konkrete Dinge. Er verringert die Distanz, die wohl jeder von uns zu den Begriffen aus den Geschichtsbüchern empfindet. Er bringt sie näher an den Leser heran. So nah, dass man sich mit ihnen beschäftigt und begreift: Nicht nur Unrecht, auch das Recht fängt im Kleinen, vor Ort, in der Nachbarschaft an. „Erinnern für die Zukunft“ – so lautet der Titel des nordrhein-westfälischen Konzepts zur historisch-politischen Bildung in Schulen. Er drückt aus, was auch das Werk Ernst Würzburgers erreichen will: die Ereignisse und Schicksale der NaziDiktatur im Bewusstsein halten und auf diesem Weg die Demokratie für die Zukunft stärken. Wir müssen den jungen Menschen die Möglichkeit geben, den Zugang zu Vergangenem zu finden, es für sie erlebbar und begreifbar machen. Die hier vorliegende historische Ausarbeitung ist dafür eine wertvolle Grundlage, für die ich Ernst Würzburger Respekt und Anerkennung zolle. Nicht zuletzt Schülerinnen und Schüler wird sie nachdenklich und aufmerksam machen. Sie werden Fragen stellen, sie werden mehr erfahren wollen, und sie werden über das Vergangene diskutieren. Debatten und der lebendige Austausch über die Vergangenheit sind die Grundlage für jede Demokratie.

Marianne Thomann-Stahl Regierungspräsidentin

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Detmold, im August 2016


Vorwort

Vorwort Vierzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde ich durch einen Zeitungsartikel mit dem Thema Zwangsarbeit im Kreis Höxter konfrontiert. Unter der Überschrift „Wie es an einem Sonntag vor 40 Jahren zum Blutbad in Fürstenau bei Höxter kam“ berichtete ein „ehemaliger Gendarmeriebeamter“ als Zeitzeuge über „polnische Zivilarbeiter, die bis Kriegsende in heimischen Bauernhöfen arbeiten mußten“ und sich danach organisierten, „um fast täglich in nächtlichen Stunden die ihnen bekannten Höfe zu überfallen und auszuplündern.“ Als in diesem Zusammenhang ein Pole in Fürstenau von einer Dorfwache getötet worden war, rächten sich zwei Tage später seine Landsleute, die in der General-WeberKaserne in Höxter untergebracht waren. „Etwa zwei Stunden mordeten die Polen und steckten elf Häuser und Scheunen an.“1 Nachdem ich einige Monate später auf dem städtischen Friedhof auf eine Grabanlage mit einem Gedenkstein mit polnischer Inschrift gestoßen war, wurde auf meine Veranlassung ein Schild mit der deutschen Übersetzung der Inschrift angebracht:„Selig sind die Toten, die im Herrn sterben. Unseren gefallenen und verstorbenen Landsleuten in der Fremde. Die Polen aus Höxter 1946“. Dies führte zu öffentlichen Protesten des erwähnten „ehemaligen Gendarmeriebeamten“, der die „Polen aus Höxter“ insgesamt in die Nähe von Mördern rückte und sich gegen das Anbringen eines Schildes mit einer deutschen Übersetzung aussprach. Unter der Überschrift „Wie man aus Opfern Täter macht!“ habe ich wegen der einseitigen Betrachtungsweise – das vorausgegangene Verbrechen der Zwangsverschleppung von Millionen von Menschen blieb entsprechend dem „Zeitgeist“ ausgeblendet – in einem Leserbrief „eine dokumentarische Aufarbeitung der Zeit von 1933 bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland für den heutigen Bereich der Stadt Höxter“ gefordert. Unterstützt wurde diese Forderung durch die damalige Ratsfraktion der Wählergemeinschaft Bürgernähe und Umweltschutz2 und die Friedensinitiative Höxter. Da die CDU-Mehrheitsfraktion im Rat der Stadt Höxter eine Aufarbeitung der NS-Zeit für Höxter auf die lange Bank schieben wollte, habe ich diese Aufgabe schließlich selbst übernommen. Das Ergebnis konnte 1990 unter dem Titel „Höxter: Verdrängte Geschichte. Zur Geschichte des Nationalsozialismus einer ostwestfälischen Kreisstadt“3 veröffentlicht werden. Darin gehe ich auf einigen

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Vorwort Seiten auch auf die ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in der Stadt Höxter sowie auf die „Schreckensnacht von Fürstenau“ ein. Nachdem die Geschichte der Zwangsarbeit während des Dritten Reichs bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts „das heute am wenigsten erforschte Massenphänomen in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ (Pegel) in Deutschland darstellte, nahmen die wissenschaftlichen Arbeiten in der Folgezeit allmählich zu. Zu nennen ist hier vor allem Ulrich Herberts 1985 erschienene Dissertation über Fremdarbeiter im Dritten Reich4. Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes gab es erste Ansätze öffentlichen Interesses. So beispielsweise die vielbeachtete Ausstellung „Ost – Gefangen und gezwungen“ in Essen5 oder eine Gedenkveranstaltung mit dem damaligen nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau im „Stalag 326“ bei Schloß Holte-Stukenbrock, in dem 65.000 russische Kriegsgefangene ums Leben gekommen sind.6 Wenige Jahre später sorgte das teilweise unwürdige Gezerre um die Entschädigungsforderungen der ehemaligen Zwangsarbeiter kurzzeitig für ein breiteres öffentliches Interesse, um danach wieder weitgehend dem kollektiven Vergessen anheim zu fallen. Erst in jüngster Zeit erfuhr das sperrige Thema zunehmendes öffentliches Interesse. So beispielsweise auch in Ostwestfalen-Lippe. Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs hat Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Besuch des Dokumentationszentrums „Stalag 326 Senne“ in Schloß Holte-Stukenbrock „eine stärkere Würdigung des Leids sowjetischer Kriegsgefangener angemahnt. Deren grauenhaftes Schicksal sei in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen.“7 Dem kam der Bundestag zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion nach. Abgeordnete des Bundestages gedachten der 27 Millionen Soldaten und Zivilisten, die dem Eroberungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands zum Opfer gefallen sind.8 Und im Freilichtmuseum Detmold war 2015 die Ausstellung „Geraubte Jahre“ zu sehen, bei der die Situation der Zwangsarbeiter in Lippe thematisiert wurde.9 Nach ersten Recherchen zur Geschichte der „Displaced Persons“ in der Stadt Höxter wurde allerdings schnell deutlich, dass diese nicht isoliert und ohne einen Rückblick auf die Situation der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen während der NS-Herrschaft geschrieben werden kann. Da es bisher über die Kriegsgefangenen und „ausländischen Fremdarbeiter“ neben wenigen lokalen Darstellungen oder kurzen Hinweisen in Ortschroniken keine zusammenfassende Studie über

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Vorwort deren Situation im Kreis Höxter gibt, bot es sich an, die Recherchen auf das Kreisgebiet auszudehnen. Da der heutige Kreis Höxter damals aus den beiden Landkreisen10 Höxter und Warburg (zur Abgrenzung werden sie dementsprechend auch durchgehend als Landkreise bezeichnet) bestand, verdoppelte dies teilweise die notwendige Archivrecherche. Dies führte allerdings zu dem Ergebnis, dass sich die insgesamt lückenhaften und verstreuten Quellen häufig ergänzen und sich daraus ein besseres Gesamtbild darstellen lässt. Nach einem allgemeinen Überblick über die Zwangsarbeit im Dritten Reich wird die Situation in den Landkreisen Höxter und Warburg dargestellt, wobei die Ausführlichkeit vom Umfang des Quellenmaterials abhängt. Nicht geleistet werden kann eine lückenlose Darstellung in den rund hundert Gemeinden. Diese Lücke schließen teilweise Chroniken oder Jubiläumsschriften, wobei die Erwähnung von Kriegsgefangenen und „Fremdarbeitern“ von einem beiläufigen Satz bis zu ganzen Kapiteln reichen kann. Dies erklärt sich aus der Unterschiedlichkeit der Autoren und deren Sichtweisen, der Anlässe oder der Zielsetzungen. Diese Quellen können als das angesehen werden, was heutzutage als „kollektives Gedächtnis“ verstanden wird. Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich dann mit den „arbeits- und bevölkerungspolitischen Hinterlassenschaften“ (Jacobmeier) des NS-Regimes, den „Displaced Persons“ (DPs). Während diese im Landkreis Höxter bis September 1946 zentral in der General-Weber-Kaserne in Höxter untergebracht waren, wurden sie im Landkreis Warburg überwiegend auf Privatquartiere zahlreicher Orte verteilt. Zu Beginn des Jahres 1950 wurden knapp 700 DPs aus andernorts aufgelösten Lagern in die Höxteraner Kaserne verlegt. Bei dieser Personengruppe handelte es sich überwiegend um einen „Restbestand“ von DPs, der weder repatriiert werden konnte bzw. wollte und auch keine Aufnahme in einem Drittland gefunden hat. Ein halbes Jahr später legten die Alliierten die Verantwortung für diese Personen in die Hände der inzwischen gegründeten Bundesrepublik Deutschland: Sie sollten, nun als „heimatlose Ausländer“ etikettiert, in den jungen Staat integriert werden. Über dieses in der Öffentlichkeit bisher völlig unbekannte Lager, das bis Januar 1952 bestand, informiert der abschließende dritte Teil. Neben der Frage nach den Wohn- und Lebensverhältnissen dieser Menschen stand insbesondere der Versuch im Vordergrund, den Verbleib der dort untergebrachten Menschen zu rekonstruieren.

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Vorwort Die vorhandenen Quellen (NRW-Landesarchive Rheinland in Duisburg und Ostwestfalen-Lippe in Detmold, Archiv des International Tracing Service ITS in Bad Arolsen, Kreisarchiv Höxter, Stadtarchive im Kreis Höxter) sind lückenhaft und teilweise zeitlich nicht präzise einzuordnen. Was die Anzahl der Zwangsarbeiter im Kreis Höxter betrifft, sind die Angaben oft ebenso widersprüchlich, wie dies bei der Gesamtzahl von zehn bis zwölf Millionen im Deutschen Reich eingesetzten Zwangsarbeitern in der einschlägigen Literatur zum Ausdruck kommt. Deswegen sind auch für den Kreis Höxter nur Annäherungswerte möglich. Hilfreich waren die beim ITS in Bad Arolsen überraschend umfangreichen Dokumente. Aufgrund eines alliierten Befehls hatten deutsche Behörden Nachweise über ausländische Militär- und Zivilpersonen zu erstellen. So hängt die Information im Einzelfall durchaus davon ab, wie belastet, kooperativ oder wie vergesslich beispielsweise ein Ortsbürgermeister war. Die zwischen Dezember 1945 und Januar 1946 erstellten Listen wurden in der Außenstelle Göttingen ausgewertet und dann dem ITS zur Verfügung gestellt. Mein erster Dank gilt den Mitarbeiter der vorgenannten Archive. Wegen seines besonderen Engagements sei hier Kreisarchivar Ralf-Oliver Kreie namentlich hervorgehoben. Bedauerlicherweise konnten die „Adelsarchive“ der zahlreichen Gutsverwaltungen nicht ausgewertet werden, da sie entweder nicht zugänglich, die zeitlich relevanten Bestände noch nicht erschlossen oder zur Thematik keine Akten (mehr) vorhanden sind. Von den heute noch bestehenden größeren Unternehmen, die von Zwangsarbeit profitierten, haben nur zwei auf meine Anfrage geantwortet und Interesse bekundet. Beide haben sich übrigens auch an den Druckkostenzuschüssen beteiligt. Die nicht unerheblichen Kosten für die auch zeitaufwändigen Recherchen (u.a. fünf Tage im Landesarchiv Duisburg) wurden vom Autor aufgebracht. Trotz des zeitlichen Abstandes von mehr als sieben Jahrzehnten konnte der Kontakt zu zwei noch lebenden Zeitzeugen hergestellt werden. Dabei handelt es sich um den Polen Czeslaw Parchatko, der im Alter von vierzehn Jahren als Zwangsarbeiter zu einem Bauern in Fürstenau vermittelt wurde und dort das Kriegsende erlebte, und um den Ukrainer Leonid Rudnytzky, der 1950 mit seinen Eltern als DP nach Höxter kam, hier zum „heimatlosen Ausländer“ umetikettiert wurde und in die USA auswandern konnte.

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Vorwort Wenngleich die Erinnerungen dieser beiden Zeitzeugen eine erfreuliche und wertvolle Ergänzung darstellen, gehörte eine Zeitzeugenbefragung nicht zur Konzeption dieser Arbeit; die Kontakte haben sich eher zufällig ergeben. Über die vielfältigen persönlichen Erfahrung und Schicksale von Zwangsarbeitern existiert inzwischen eine breite Palette so genannter „Erinnerungsliteratur“. Auszüge aus den niedergeschriebenen Erinnerungen des Polen Ceslaw Parchatko sowie einer ukrainischen Fabrikarbeiterin (die im Märkischen Kreis eingesetzt war) sind im Anhang abgedruckt. Bei zwei polnischen Einzelschicksalen handelt es sich um Nachkommen ehemaliger Zwangsarbeiter. Schon bei den ersten Recherchen im Stadtarchiv Höxter fand sich eine Anfrage der Polin Ewa Chrobak, deren Vater einige Fotos und Dokumente über seinen Aufenthalt im DP-Camp in Höxter hinterlassen hat. Trotz bürokratischer Schwierigkeiten gelang es, den Kontakt zu Ewa Chrobak in Polen herzustellen, die weitere Fotos zur Verfügung stellte. Aufgrund eines Aufrufs in der regionalen Presse, in dem um Hinweise zu Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern im Kreis Höxter gebeten wurde, meldete sich ein Höxteraner, dessen Vater als polnischer Kriegsgefangener nach Deutschland gekommen war, während seines Aufenthalts im DP-Camp in Höxter seine spätere Ehefrau kennenlernte und in Deutschland geblieben ist. Einige zur Verfügung gestellte Dokumente lieferten wertvolle Hinweise. Zeitaufwändige und durch Sprachbarriere erschwerte Recherchen im polnischen Internet führten zu einigen erfreulichen Ergebnissen. Eines davon war der Hinweis, dass sich der polnische Dichter Konstantego Idefonsa Galczynski im DPCamp in Höxter befunden hat. Schließlich fand sich noch eine polnische Lokalzeitung mit dem vielversprechenden Titel „Oboz w Höxter“. In diesem Blatt waren 2004 fünf Berichte über das „Lager in Höxter“ veröffentlicht worden. Wie sich zeigte, handelte es sich bei dem Autor Franciszek Kobusinski um einen ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen, der nach seiner Befreiung im Oflag Dössel im DP-Camp in Höxter Mitglied der polnischen Selbstverwaltung war. Seine Erinnerungen ermöglichen einen Blick in und nicht nur auf das Lager.11 Für Anregungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts habe ich wieder Fritz Ostkämper zu danken. Ein weiterer Dank gilt Ludwiga Bala, die mir bei der Herstellung von Kontakten nach Polen und bei der Übersetzung polnischer Texte behilflich war.

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Vorwort Schließlich danke ich noch dem Verleger Jörg Mitzkat, der es mir mit der Herausgabe dieses inzwischen dritten Buches ermöglicht hat, die mir wichtig erscheinenden Themen zur lokalen und regionalen NS-Geschichte zu veröffentlichen.

Ernst Würzburger Höxter, im Oktober 2016

„Ich glaube, daß eine über ihre Vergangenheit nur unvollständig informierte Gesellschaft nicht imstande sein wird, ihre Zukunftsprobleme angemessen zu lösen.“

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Wolfgang Jacobmeyer Historiker


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