Gewidmet all den Menschen, die an meiner Glaubensentwicklung mitgewirkt haben
❝Denn ich betrachte unser Gedächtnis nicht als
ein das eine bloß zufällig behaltendes und das andere zufällig verlierendes Element, sondern als eine wissend ordnende und weise ausschaltende Kraft. Alles, was man aus seinem eigenen Leben vergisst, war eigentlich von einem inneren Instinkt längst schon verurteilt gewesen, vergessen zu werden. Nur was ich selber bewahren will, hat ein Anrecht, für andere bewahrt zu werden. So sprecht und wählt, ihr Erinnerungen, statt meiner, und gebt wenigstens einen Spiegelschein meines Lebens, ehe es ins Dunkel versinkt.❞ Stefan Zweig: Die Welt von Gestern (2014, 13)
Prolog In diesem Buch beschreibe ich die Entwicklung meines Glaubens. Die Frage nach diesem meinem Glauben und vor allem die nach seiner Entwicklung habe ich mir lange nicht gestellt. Eines Tages aber doch, und das führte zu einer Entscheidung. Der Weg bis zu dieser Entscheidung war für mich teilweise unverständlich, vor allem, weil er ein sehr langer war. Darum habe ich beschlossen, ihn aufzuschreiben. Meine Hoffnung, dadurch klarer sehen zu können, wie es dazu kam, hat sich nur teilweise erfüllt. Trotzdem bin ich mit dem, was ich jetzt besser verstehe, zufrieden. Sicher ist mein Weg der Glaubensentwicklung ein sehr persönlicher. Er ist zudem speziell, weil meine religiöse Sozialisation sehr früh klösterlich geprägt war. Den Einfluss dieser Klosterschulerziehung hatte ich völlig unterschätzt. Ein entscheidender Grund, diese Gedanken niederzuschreiben, ist auch mein Alter. Je älter ich werde, also je kürzer meine Zukunft wird, desto mehr zieht es meine Gedanken in die Vergangenheit. Es ist mir klar, dass ich dabei nichts an den vergangenen Zeiten ändere. Und doch passiert etwas. Ich weiß aber nicht genau, ob es nur meine Sicht der Zeiten von früher ist, die sich ändert, oder ob das nicht auch seine Auswirkung hat auf mein Hier und Jetzt oder vielleicht sogar auf meine Zukunft. Vermutlich schon. Auf jeden Fall ist mir der Zusammenhang von Gegenwart und Vergangenheit wieder sehr deutlich geworden. Ebenfalls mit meinem Alter hängt der Umstand zusammen, dass ich mich vermehrt mit wesentlichen oder existenziellen Fragen beschäftige. Eine davon ist das Thema Glaube. Genauer: Mein Glaube und seine Entwicklung im Verlauf meines bisherigen Lebens. Und das führt mich notgedrungen in meine Vergangenheit zurück. Das Eintauchen in diese Vergangenheit hat etwas vom Aufräumen auf dem Estrich oder vom Stöbern in der Gerümpelkammer
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meiner Erinnerungen. Man betrachtet alte Gegenstände, man erinnert sich an Gelegenheiten, wo sie mal gebraucht wurden, wo sie wichtig waren. Man stellt sie bedächtig zurück oder beschließt, sie zu entsorgen. Längst vergessene Erlebnisse tauchen auf, Beziehungen werden wieder lebendig. Egal, ob sie sich mit schönen oder unschönen Gefühlen verbinden. Aus der heutigen Distanz bekommen sie einen anderen Stellenwert. Gerade das, was nicht so schön war, löst bei mir heute eher ein Glücksgefühl aus. Es wird mir dabei nämlich bewusst, dass es mir inzwischen viel besser geht als damals. Ich staune manchmal über mein Verhalten von früher. Vor allem über das, wo ich aus heutiger Sicht nicht richtig gehandelt oder entschieden habe. Gleichzeitig muss ich aber zugeben, dass ich es damals nicht besser wusste. Auch das tut mir heute gut, zu sehen, wie ich mich und wie sich die Zeiten geändert haben. Und zwar zum Positiven. Ein anderes Bild kommt mir in den Sinn, das die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit verdeutlicht. Es ist wie das Blättern in einem alten Fotoalbum. Man sieht sich und andere in einer Welt, die einmal unsere war, die es aber nicht mehr ist. Beim Betrachten alter Fotos werden Momente der Vergangenheit und alte Erlebnisse plötzlich wieder gegenwärtig. Vor etwa dreißig Jahren habe ich eine Abhandlung geschrieben, die den Titel hatte: «Religion und Glaube aus psychologischer Sicht» (1986). Wenn ich nur die Einleitung dieser Arbeit wieder lese, stelle ich fest, dass mich damals schon viele meiner heutigen Themen beschäftigt haben. Inhaltlich ging es mir damals darum aufzuzeigen, was Anselm Feuerbach, Sigmund Freud und Leopold Szondi zum Thema Glaube gesagt hatten. Dabei unterscheidet sich Szondi von den anderen beiden Religionskritikern dadurch, dass er im Glauben an Gott oder an eine höhere Macht eine gesunde seelische Fähigkeit sah. Das hat mir gefallen und gefällt mir heute noch.
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Prolog
Dieses Buch hier unterscheidet sich von dem oben genannten dadurch, dass ich das gleiche Thema ganz persönlich angehe. Ich hätte heute als Buchtitel also auch folgenden wählen können: «Religion und Glaube aus meiner Sicht». Mit meinen inzwischen achtzig Jahren stelle ich fest, dass sich mein Glaube sehr stark verändert hat, vor allem in den letzten zehn Jahren. Was ich mit dem Wort Glaube meine, werde ich später noch ausführlich darlegen. Glaube ist nicht für alle das Gleiche. Mit diesem Buch will ich meine Glaubensentwicklung überblicken und verstehen. Ein missionarischer Hintergedanke liegt mir fern. Ich möchte niemanden bekehren und von meinen Ansichten überzeugen. Da ich in Klosterinternaten aufgewachsen bin, war meine religiöse Erziehung klar vorgegeben, und lange war das, was ich für meinen Glauben hielt, unantastbar. Zweifel hatte ich ab und zu an der Kirche, nicht an meinem Glauben, der die Kirche mit einbezog. Erstaunt bin ich über mich, wie lange ich gebraucht habe, bis eine Entwicklung, die ich die Vertiefung meines Glaubens nenne, begonnen hat. Oder anders gesagt: Wie lange ich verschiedene sogenannte Glaubenswahrheiten für bare Münze nahm oder für selbstverständlich hielt, obwohl sie das erwiesenermaßen gar nicht sind. In den Augen der offiziellen Vertreter meiner katholischen Kirche, also der Kleriker und amtlichen Würdenträger, habe ich meinen Glauben verloren. Doch sie irren sich. Im Gegenteil. Ich habe für mich sehr viel gewonnen. Der Umfang meines Glaubens ist zwar kleiner geworden, hingegen hat er an Tiefe zugenommen. Anders gesagt: Mit dem Aufgeben des Glaubens an gewisse Lehren, also an gewisse Glaubensinhalte, hat die Intensität meines Glaubens, also meine Beziehung zu Gott, zugenommen. Darüber möchte ich später berichten. Ich trage niemandem etwas nach, höchstens mir selber. Und das deswegen, weil ich so lange brauchte, um mich von der Kirche zu
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emanzipieren. Die Menschen, die ein oder gar zwei Generationen jünger sind als ich, vollziehen diesen Schritt sehr viel schneller. Dafür mag es viele Gründe geben. Einer ist: Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, die vermutlich weitaus aufgeklärter und weniger autoritätsgläubiger war oder ist als die meine. Der Philosoph Sören Kierkegaard hat von sich gesagt: «Ich bin eigentlich Reflexion von Anfang bis Ende» (Wenzel 2013, 61). Ich bin froh, kann ich das von mir nicht sagen. Kierkegaard empfand nämlich dieses ständige Fragen nach dem «Wer bin ich?» als ein Martyrium. Mit meiner Selbstreflexion habe ich erst begonnen, als ich meine (Lehr-)Analyse (1970 bis 1975) machte. Da fing ich an, mir existenzielle Fragen zu stellen. Fünf Jahre habe ich da auf der Couch liegend drei Stunden in der Woche über mich nachgedacht, warum ich wohl dies oder jenes gemacht habe. Auf die so wichtige Frage, wer ich bin, fand ich keine schlüssige Antwort. Trotzdem war meine Analyse ein Erfolg, würde ich sagen. Auf jeden Fall von mehr Erfolg begleitet als in den vielen Jahren vorher, in denen ich als Mönch meditiert hatte. Diese tägliche Betrachtung, die ich damals sehr ernst genommen habe, war immer mehr auf Gott gerichtet. Ich muss heute sagen – auch wenn es paradox klingt –, Gott stand mir da ein bisschen im Wege. Zu einer gründlichen Selbstbetrachtung bin ich nicht gekommen. In meiner Psychoanalyse aber schon. Sie liegt jetzt Jahre zurück. Als Psychotherapeut habe ich selber inzwischen vielen Menschen dabei helfen können, über sich nachzudenken und sich mit sich selbst auszusöhnen. Dabei geht es oft darum, die Ursachen von Ängsten und Schuldgefühlen zu ergründen und die Verstrickungen von Beziehungen verständlich zu machen und aufzulösen. Jetzt, wo ich nur noch sehr reduziert meinem Beruf nachgehe, finde ich Zeit und vor allem empfinde ich das Bedürfnis, vermehrt nachzudenken und zu schreiben. Und das führt meine Gedanken immer wieder in meine Vergangenheit.
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Aus diesem Grund ist das Buch «Meine Erinnerungen an Krieg und Kindheit 1937–1948» (erschienen 2013) entstanden, in dem ich von meinen ersten Lebensjahren berichte. Womit ich mich nun beschäftige, ist die Zeit danach. Sie beginnt mit meinen ersten Erinnerungen an den Religionsunterricht und mit meinem Einritt in die Klosterschule Germershausen (Eichsfeld, Niedersachsen). Das war im Herbst des Jahres 1949. Von da ab bewegte ich mich nur noch in «kirchlichen Kreisen», was nicht ohne Auswirkung auf meinen Glauben blieb. Es tut mir grundsätzlich gut zu sehen, dass es mir heute weitaus besser geht als damals. Ich bin froh, ist es nicht umgekehrt. Mein Leben hat sich in eine Richtung entwickelt, in der Freiheit und Wohlbefinden zugenommen haben. Wenn ich so über mein Leben nachdenke, dann muss ich sagen: Es ging mir noch nie so gut wie heute. Ob ich beim Schreiben etwas verarbeite? Sicherlich. Es tut mir auch gut, mich heute mit dem zu vergleichen, der ich damals war. Auf keinen Fall möchte ich meiner damaligen Mitwelt, beispielsweise meinen Erziehern etwas nachtragen. Die Welt war, wie sie damals war, und ich war ein Teil davon. Es ist eigentlich nichts Außergewöhnliches passiert, auch wenn das heute so aussehen mag. Vielleicht ist es das, was mir guttut: mich besinnen auf die damalige Zeit und ihre Selbstverständlichkeiten, in denen ich lebte, und die ich für normal hielt, auch wenn sie aus meiner heutigen Sicht alles andere als normal sind oder waren. Eigentlich machen wir alle diesen Prozess durch, der von kindlichen Zwängen so langsam in die relative Freiheit des Erwachsenen führt. Oder ganz kurz mit den Worten einer englischen Schriftstellerin: «Ich schrieb über die Vergangenheit und entdeckte die Zukunft» (Winterson 2013, 246).
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Inhalt Prolog 7 Kapitel 1 Wie es anfing mit meinem Glauben 12 Kapitel 2 Klosterschüler in Germershausen – wo mein Glaube zu- und mein Selbstvertrauen abnahm 28 Kapitel 3 Klosterschüler in Münnerstadt – wo ich mich langsam erholte 59 Kapitel 4 Mein Leben als Mönch 90 Kapitel 5 So ging es nicht mehr weiter 137 Kapitel 6 Ein paar Schritte weiter – Glaube als Befreiung 153 Nachwort 168 Literatur 169
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