Leseprobe Hartmut Kreikebaum/Marcus Kreikebaum: Kehrtwende zur Zukunft

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2017 Versus Verlag AG, Zürich · www.versus.ch Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden · www.nomos.de Umschlagbild: Hartmut Kreikebaum Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich Druck: Comunecazione · Bra Printed in Italy ISBN 978-3-03909-274-1: Versus Verlag ISBN 978-3-8487-4010-9: Nomos Verlag


Inhalt Vorrede Lektionen aus der Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die Entwicklung der Subprime-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Entscheidung der Federal Bank gegen Lehman Brothers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Zur Rolle von Goldman Sachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Zusammenfassung der Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Kapitel 2 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Folgen der Finanzkrise für die USA . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Folgen der Finanzkrise für Deutschland . . . . . . . . . . 49 Die Folgen der Finanzkrise für Griechenland . . . . . . . . . . 56 Kapitel 3 Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Ordnungspolitische Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Pragmatische Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Ökologische Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5



Vorrede

Lektionen aus der Finanzkrise Die folgenden Texte bündeln die Gespräche, die ich mit meinem Vater in seinen letzten Jahren führte. Es sind seine Lektionen aus der Wahrnehmung der Finanzkrise und ihrer Folgen aus den Jahren 2008 bis 2015, oft in Form von kommentierten Artikeln und Texten, die er an mich weiterreichte. Ich war nicht der einzige Empfänger solcher Sammlungen. Stets fand man bei einem Besuch bei ihm etliche Stapel mit Artikeln vor, auf denen die Namen von Enkeln, Töchtern, Söhnen, aber auch Assistenten und Freunden verzeichnet waren. Mein Vater las nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Er integrierte die Interessen der anderen in seine Perspektive. Und so arbeitete er auch. Deshalb möchte ich diese Lektion voranstellen: Entgegen der landläufigen Meinung, dass das Verfolgen des Eigennutzes vernünftig sei, vertrat mein Vater die Position, dass uneigennütziges Handeln die bei weitem rationalere Alternative sei. Warum? Auch der Altruist folgt einem Kalkül. Doch dieses Kalkül beinhaltet die eigene Endlichkeit in der Gleichung. Der Altruist weiß: »Mir gehört nur, was ich verschenke« (Deichmann 2001). Altruistisch zu handeln, heißt, die eigene Sterblichkeit in die Gleichung mit aufzunehmen. Im Gegensatz dazu kennt der Egoist kein Jenseits. Im egoistischen Kalkül wird das Selbst als beständig vorausgesetzt. Jede Form von Besitznahme dient zur Verfestigung, Bereicherung und Expansion dieses Selbst. Nicht berücksichtigt wird, dass jede Form von Besitz bereits ein Verfallsdatum in sich trägt und mit Sorgen und Verlustängsten einhergeht. Diese Kosten müssen verdrängt werden, damit die Gleichung

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aufgeht. Der Egoist will alles »für immer« behalten, ja manchmal opfert er sogar die eigene Gesundheit für den Besitz. Und er muss bestrebt sein, in immer neuen Dingen und Aktivitäten seine Verwirklichung zu suchen. Wer hingegen seinen Verstand für die Nöte und Ängste von Menschen mit weniger Privilegien öffnet, merkt schnell, dass die eigenen Sorgen nicht wirklich so wichtig sind. Er bemerkt außerdem eine Wandlung in sich: Denn durch die Öffnung zum Anderen ändert sich die Perspektive auf das Eigene. Es wird zum teilbaren Vermögen und durch die Teilhabe zum Gemeinsamen. Neue Dinge können entstehen, neue Gedanken gedacht werden, wenn sich Menschen begegnen und einander helfen. Jede soziale Geste wird damit zu einer sinnvollen Investition in die Zukunft. Uneigennütziges Handeln ermöglicht, die eigenen Privilegien und die damit einhergehenden Begrenzungen zu erkennen, die eigene Komfortzone zu verlassen und seine kulturellen, sozialen und historisch tradierten Vorurteile und Ängste im Kontakt mit andern zu überwinden. Mit jeder neuen Begegnung erweitert sich auch der persönliche Zukunftshorizont. Deshalb kann der Altruist im Gegensatz zum Egoisten die fortwährende Wandlung – auch des eigenen Selbst – bejahen. Denn er weiß, dass er nur »im Plural« existiert (Arendt 1993, S. 9). Indem er sich ganz hineingibt, kann er sowohl mehr für sich als auch für das Ganze bewirken. In seiner Würdigung zum 65. Geburtstag von Hartmut Kreikebaum hob Hans-Ulrich Zabel die Verknüpfung zwischen wissenschaftlichen und ethischen Prinzipien als dessen »Pionierleistung« hervor. Was ist damit gemeint? Mein Vater lehnte ein rein auf ökonomistischem Kalkül beruhendes Wirtschaften ab. Er wusste, dass die »Selbstverstärkungstendenzen eines immer mehr belohnten und damit forcierten Eigennutzstrebens systematisch die Ethiksubstanz abbauen und Selbstzerstörungskräfte freisetzen« würden (Zabel 1999, S. 24).

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Vorrede: Lektionen aus der Finanzkrise


Dagegen setzte er auf eine Mischung aus wirtschaftlichen und lebenspraktischen Prinzipien und Regeln. Für ihn war ein längerfristig erfolgreiches, nachhaltig menschendienliches Wirtschaften nur möglich durch eine angemessene Mischung aus egoistischen und uneigennützigen Antrieben. Was aber tun, wenn diese Balance gestört ist, und zwar durch einseitiges, nur auf kurzfristigen Eigennutz orientiertes Verhalten, das nicht nur ökologische und soziale Knappheit erzeugt, sondern auch soziale Institutionen wie den Markt, den demokratischen Staat und die Familie aushöhlt und zerstört, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet? Hartmut Kreikebaum nannte den Altruismus, also die Uneigennützigkeit, ein unverzichtbares Mittel, um den selbstzerstörerischen Tendenzen der Marktkräfte Einhalt zu gebieten und sie auf das Gemeinwohl umzulenken. Das führt zu einer doppelten Forderung: nämlich sowohl wissenschaftlich wie auch lebenspraktisch nach Altruismuskomponenten zu suchen und diese auch umzusetzen. (Zabel 1999) Eine Quelle für uneigennütziges Verhalten stellen nach Hans-Ulrich Zabel diejenigen Prägungen des Menschen dar, die das menschliche Verhalten auf Lebensdienlichkeit ausrichten. Er nennt hier Stichworte wie sinnstiftende Sozialkontakte, Hilfsbereitschaft, Muße, Kooperation und Kommunikation. Eine »angemessene (Re-)Aktivierung« dieser Prägungen sei nicht nur »humanistisches Gebot der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse (…), sondern auch wesentlich für den Ethiksubstanzaufbau als unverzichtbares ökonomisches Erfordernis nachhaltigen Wirtschaftens«. (Zabel 1999) Was ich also von meinem Vater gelernt habe, ist, dass es vernünftig und sinnvoll sein kann, die egoistischen Antriebe in ihre Schranken zu weisen, sie zu disziplinieren und zu begrenzen. Irrational und teilweise sogar gefährlich wäre es hingegen, die altruistischen Antriebe zu vernachlässigen und nicht durch tägliche Praxis zu kultivieren. Denn der große Gewinn solcher Praxis liegt in der Möglichkeit zur fortgesetzten Umkehr in sich selbst. »Und welcher Mensch wäre so dumm, darauf zu

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verzichten?«, hätte mein Vater vielleicht mit einem Schmunzeln hinzugefügt. Ich danke Herrn Robert Drosten für die kontinuierliche Unterstützung beim Verfertigen dieses Manuskripts sowie Inge Kreikebaum und der ganzen Familie für ihre langjährige Geduld und Toleranz bei der Unterstützung des Autorenteams. Marcus Kreikebaum, Karolinenhof, im Dezember 2016

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Vorrede: Lektionen aus der Finanzkrise


Einleitung Das mündliche Abitur am Burg-Gymnasium in Altena/Westfalen im Jahr 1952 begann mit der Frage: »Was können wir aus der Geschichte lernen?« Der etwas überraschte Prüfling antwortete spontan: »Dass wir nichts aus ihr lernen!« Diese impulsive Antwort brachte einige Bewegung in die Prüfungsgruppe und erforderte eine differenzierte Stellungnahme. Die oben genannte Frage soll hier auf die jüngere Geschichte der Wirtschafts- und Finanzkrisen bezogen werden. Speziell betrachtet werden die Herausforderungen der Finanzkrise seit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Was lässt sich daraus für die Zukunft lernen, und welche Lernprozesse müssten einsetzen, um Krisen künftig besser zu begegnen oder sie gar zu vermeiden? Dem Lehman-Crash ging eine Reihe von Pleiten voraus, beginnend im 17. Jahrhundert bis zur New-Economy-Krise (siehe dazu detailliert Braunberger/Fehr 2008). Seitdem wird immer wieder nach den Ursachen für diese Krise gesucht. Gefragt wird sowohl nach dem Verschulden einzelner Personen als auch nach der Rolle der für die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlichen Institutionen und Regelsysteme. Eine Kritik entlang einer reinen Empörungsrhetorik sollte jedoch vermieden werden zugunsten einer objektiven Suche nach den eigentlichen Quellen der Krise. Dabei sollte betrachtet werden, welche entscheidenden Fehler zur globalen Krise führten, welche Treiber verantwortlich waren und wie eine Wiederholung der Fehler vermieden werden könnte.

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Es genügt aber nicht, den Schwerpunkt der Analyse allein auf die ökonomischen Aspekte zu legen. So haben beispielsweise die ökologischen und politischen Konsequenzen der atomaren Katastrophe von Fukushima ein Ausmaß angenommen, das weit über die betroffene Küstenregion Japans hinausweist. Unter der Überschrift »Die globale Allmende« wendet sich Konrad Mrusek in einem Leitartikel der FAZ vom 1. Dezember 2008 der Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie in der Krise zu. Nach Mrusek ist die Krise das »Ergebnis eines allzu kurzfristigen Kalküls mit Finanzkapital«. Mit Naturkapital könne man so nicht verfahren, sondern müsse unabhängig vorgehen. Der Autor schreibt: »Wenn Banken zusammenbrechen, kann die Politik ihnen Rettungsringe zuwerfen. Über Gletscher lässt sich nicht verhandeln, man muss ihr Abschmelzen beizeiten verringern.« Von der Atmosphäre sei nur als einer Art globaler Allmende zu sprechen. Alle Staaten müssten bei deren Schutz zusammenwirken. Die japanische Reaktorkatastrophe wurde durch ein nicht erwartetes Erdbeben ausgelöst. Ferner spielten erhebliche Managementfehler eine Rolle. Naturgewalten dieses Ausmaßes wurden als »Restrisiko« verniedlicht und damit als vernachlässigbar qualifiziert. Ähnlich wie vor rund fünfundzwanzig Jahren in Tschernobyl zeigte sich auch in Japan menschliches Versagen bei der Bewältigung eines unermesslichen Schadens als eine Hauptursache der Krisenfolgen. Gleiches gilt für die Therapie der Finanzkrise: Auch hier spielte menschliches Versagen politischer Instanzen eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Führungskräfte und Mitarbeiter von Kreditinstituten machten mit bei dem Spiel »Lügen und Betrügen«. Sie täuschten vielfach ihre Kunden über die vorhandenen Risiken der Geldanlagen. Die Folgen dieser Betrügereien sind bekannt. Millionen von Menschen wurden unter die Armutsgrenze getrieben, die Sterblichkeitsrate bei Kindern in der Dritten Welt nahm erheblich zu. Angesichts der Reputationsschäden einer ganzen Branche sowie des Misstrauens von Banken untereinander lässt sich von einem moralischen Bankrott

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Einleitung


sprechen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass neben den Banken das Verhalten von anderen Marktteilnehmern, zum Beispiel Investoren, Hausbesitzern, Maklern und Anlegern, wesentlich zur Entwicklung der Krise beigetragen hat. Für die vorliegende Arbeit wurde vorwiegend die jeweils aktuelle Berichterstattung der Tagespresse ausgewertet. Der Schwerpunkt liegt auf der Lektüre des Wirtschafts- und Finanzteils der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) und der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« (FAS), die von Beginn an umfassend über den Verlauf der Krise berichteten. Weitere Medienberichte, Buchpublikationen und Expertenwissen runden das Spektrum an Informationen ab. Einbezogen werden die für wichtig gehaltenen Berichte über das Handeln der Entscheidungsträger und die kritische Beurteilung des Geschehens durch Journalisten, Herausgeber und Kolumnisten. Als Experten zitieren wir die Chefökonomen großer Investmentbanken und Unternehmen. Nicht zu vergessen sind ferner Vertreter von Wirtschaftsforschungsinstituten und Rating-Agenturen. Wir betrachten dabei auch, wann und wie über die Krise berichtet und nachgedacht wurde, und bewegen uns damit auf einem Zeitstrahl, der dem aktuellen Geschehen im historischen Ablauf mit einiger Verzögerung folgt. »Nach der Krise ist vor der Krise« – falls diese Behauptung zutrifft, erscheint die eingangs gestellte Frage noch dringlicher. Der »Spiegel« vom 9. März 2009 stellte in seiner Titelgeschichte die Frage: »Warum finden die Finanzmärkte – trotz milliardenschwerer staatlicher Schutzschirme – nicht zurück zur Normalität?« (Brinkbäumer u.a. 2009) Die Autoren des Beitrags beantworteten sie mit der Feststellung: »Weil die Pleite der New Yorker Bank Lehman Brothers das Vertrauen zwischen den Banken ruiniert hat und die Welt kollabieren ließ.« Dieses Urteil ist nicht ganz richtig und auch nicht ganz falsch. Ein offensichtliches Misstrauen zwischen den Banken und beispielsweise ihren Kunden ist kein unbekanntes Phänomen. Eine neue Qualität gewann jedoch der rapide zunehmende Vertrauensschwund unter den Banken selbst. Dem war ein Fehlverhalten vorausgegangen, das zu Recht als »Jahrhundertfehler«

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bezeichnet wurde. Wir wollen im Folgenden zunächst die wichtigsten Ereignisse darstellen, die zum Bankrott der viertgrößten Investmentbank der USA führten (Kapitel 1 »Ursachen«). Anschließend widmen wir uns den Folgen und Reaktionen auf den Crash. Unser Fokus liegt dabei auf ordnungs- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen und den Reaktionen seitens der Akteure (Seiten 45–58). Im Kapitel 3 »Lösungsansätze« werden zunächst jene Maßnahmen vorgestellt, mit denen sich Staaten künftig besser gegen die Ereignisse schützen wollen, die zur Finanzkrise geführt haben (Seiten 59–81). Danach stellen wir dar, wie klein- und mittelständische Betriebe in Deutschland die Krise besser meisterten als in anderen Ländern und welche personalpolitischen Instrumente sie dabei einsetzten (Seiten 82–93). Im dritten und letzten Abschnitt führen wir die ökonomische und ökologische Krise eng und diskutieren die Bedingungen für eine notwendige »Kehrtwende zur Zukunft« (Kreikebaum 1988) erneut, aber aus heutiger Perspektive (Seiten 94–109). Dem Buchtext ist eine chronologische Darstellung der Ereignisse zur besseren Übersicht beigefügt.

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Einleitung



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