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Jacqueline Holzer Jean-Paul Thommen Patricia Wolf
Wie Wissen entsteht Eine Einführung in die Welt der Wissenschaft für Studierende und Führungskräfte
Versus · Zürich
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Zur Reihe «VERSUS kompakt» Die Bücher der Reihe «VERSUS kompakt» richten sich an alle, die sich mit geringem Zeit- und Arbeitsaufwand gründlich in ein Thema einlesen und das erworbene Wissen sofort umsetzen möchten. Das neue Format bietet gesichertes Fachwissen, von Experten geschrieben, auf knappem Raum und in gut verständlicher Sprache, mit zahlreichen Querverweisen, Anwendungsbeispielen und Praxistipps. Die einzelnen Bände setzen sich grundsätzlich aus drei Teilen zusammen: 쐍 Der erste Teil enthält eine Einführung, die einen Überblick über die wichtigsten Fragen und Probleme des Gesamtthemas geben soll. Zahlreiche 컄 Querverweise auf die Stichwörter im zweiten Teil erleichtern die Orientierung und geben Ihnen die Möglichkeit, zu einzelnen Themen und Sachverhalten die vertiefenden Informationen rasch und einfach zu finden. 쐍 Im zweiten Teil werden einzelne Themen, Modelle und Instrumente vertieft behandelt und mit Beispielen und Praxistipps veranschaulicht. Die einzelnen Stichwörter sind alphabetisch geordnet und werden jeweils auf einer Doppelseite erläutert. Hier helfen Ihnen die 컄 Querverweise dabei, die einzelnen Stichwörter zu vernetzen. 쐍 Ein dritter Teil enthält Fallstudien oder Beispiele. Auf der Website zur Buchreihe (www.versus-kompakt.ch) können Sie Formulare und Checklisten abrufen, downloaden und ausdrucken, um sie in der Praxis verwenden zu können. Folgende Symbole helfen Ihnen, sich im Buch zurechtzufinden: Bei der Lupe finden Sie vertiefende Texte. Dies können Beispiele, Exkurse, Regeln, Übungen oder Interviews sein. Bei der Glühbirne finden Sie Praxistipps, die Ihnen dabei helfen, das Gelesene umzusetzen. Beim aufgeschlagenen Buch finden Sie weiterführende Literaturtipps und -empfehlungen.
VERSUS kompakt
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Vorwort Wissenschaft schafft Wissen! Doch welches Wissen? Und wie kommt dieses Wissen zustande? Bei diesen Fragen setzt dieses Buch an. Wir möchten Studierenden und Führungskräften zeigen, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, um Wissen zu generieren. Diese Ansätze gehen von ganz unterschiedlichen Annahmen aus, die sich beispielsweise auf das Menschenbild, auf die Eigenschaften von Organisationen oder auf die Frage, wie Menschen handeln, beziehen. Solche Annahmen sind dann entscheidend für die Wahl der verwendeten Methoden, um zu Wissen zu kommen. Aber noch wichtiger: sie beeinflussen die Resultate, das heißt die Art des Wissens, das schließlich erzeugt wird. Dies erklärt auch, warum es sogar zu widersprüchlichen Aussagen in der Wissenschaft kommen kann. Das Buch soll deshalb Studierende unterstützen, die verschiedenen Ansätze und Perspektiven ihrer Disziplin zu verstehen, deren Unterschiede besser zu erkennen und sie schließlich auch beurteilen zu können. Führungskräften soll es zeigen, dass auch die Praxis sich bewusst sein muss, dass es unterschiedliches und zum Teil widersprüchliches Wissen gibt. Mit der Entscheidung, bestimmtes Wissen in der Praxis anzuwenden, fällt ein Manager gleichzeitig – natürlich meist implizit und unbewusst – immer auch eine Entscheidung über bestimmte Annahmen, wie sich zum Beispiel Mitarbeitende, Unternehmen oder auch Stakeholder verhalten. Sind es rational oder nicht rational Handelnde? Welche Rolle spielen Emotionen? Ist ein System, eine Organisation wichtiger als eine einzelne Person – oder ist es gerade umgekehrt? Je nachdem, wie man diese Fragen beantwortet, wird man ganz unterschiedlich handeln – und auch denken! Wir haben versucht, die Beantwortung dieser anspruchsvollen Fragen in einen leicht verständlichen Text zu bringen und mit vielen Beispielen zu erläutern. Wenn uns dies gelungen ist – darüber möge die Leserin oder der Leser entscheiden! – ist dies auch ein Verdienst des Teams des Versus Verlags, insbesondere von Judith Henzmann, die unsere Texte nicht nur sehr sorgfältig gelesen, sondern mit ihren wertvollen und präzisen Fragen wesentlich zur Qualität des Buches beigetragen hat. Es sei ihr deshalb an dieser Stelle ganz herzlich für ihr Engagement gedankt! Zürich, im Juni 2012 Jacqueline Holzer, Jean-Paul Thommen und Patricia Wolf
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Inhaltsverzeichnis Welt des Wissens im Überblick 1
Schafft Wissenschaft Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Weshalb sich (auch) als Praktiker mit Theorien beschäftigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Was ist Wissenschaftstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Worin liegt der Nutzen der Beschäftigung mit der Wissenschaftstheorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was ist Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Generierung wissenschaftlichen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Logische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Karl Poppers Falsifikationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 20 28 33
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Theorien zur Erklärung der Wissenschaftsgeschichte . . . . . . . . . 3.1 Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Forschungsprogramme von Imre Lakatos . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Paul K. Feyerabends «Anything goes!» als Anti-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Von der Regel zur Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Pierre Bourdieus strukturalistisch-konstruktivistisches Verständnis von Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sozialkonstruktivistisches Verständnis von Wissenschaft . 4.3 Radikal konstruktivistisches Verständnis von Wissenschaft: Niklas Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Rekonstruktion des Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Welche Verantwortung trägt der Wissenschafter? . . . . . . . . . . . . 64
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Das Denken geht weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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Welt des Wissens von A bis Z Abduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Akteur-Netzwerk-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Aktionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Arten der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Beobachtung 1. und 2. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Blinde Flecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Bourdieu, Pierre – Habitus, Feld, Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Duhem-Quine-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Empirische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Falsifikationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Feyerabend, Paul K. – Against Method . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Fleck, Ludwik – Denkkollektiv und Denkstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Hempel-Oppenheim-Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Kritischer Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Kuhn, Thomas S. – Wissenschaftliche Revolutionen . . . . . . . . . . . . . 110 Lakatos, Imre – Forschungsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Popper, Karl – Logik der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Positivismus und logischer Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Wissenschaftliche Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Welt des Wissens: Praxis Wissen schafft neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 1: Blinde Flecke der Manager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 2: Design Thinking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallstudie 3: Vergessen ist der Schlüssel zum Erfolg . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Autorinnen und Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
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Schafft Wissenschaft Wissen?
«Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muss mehrere haben, vier, viele. Er muss sie sich in die Tasche stopfen, wie Zeitungen, immer die neuesten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien, man muss wissen, dass es viele Theorien gibt.» Bertold Brecht Wie kommt wissenschaftliches Wissen zustande? Suchen wir Antworten auf diese Frage, begegnen wir unterschiedlichen Denkansätzen von verschiedenen Theoretikern aus der Philosophie, der Soziologie oder den Naturwissenschaften. Wir beschäftigen uns mit der Wahrheit, der Legitimation und der sozialen Konstruktion von Wissen, um letztlich einzusehen, dass wir nichts wirklich definitiv wissen. – Diejenigen also, die sich erhoffen, nach der Lektüre dieses Buches über die reine Wahrheit zu verfügen, müssen wir enttäuschen. Das Ziel unseres Buches ist es vielmehr darzulegen, dass es endgültige Wahrheiten selbst in den Wissenschaften nicht (mehr) gibt und dass nicht nur die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern wir alle unsere 컄 blinden Flecke haben. Denn je nach Kontext, in den wir eingebunden sind, akzeptieren wir zwar die gleichen Fakten, nur interpretieren wir diese anders. Oder wir akzeptieren andere Fakten als legitim. Dennoch ist es aus unserer Sicht für Praktiker wie auch Wissenschaftlerinnen äußerst gewinnbringend, sich mit der Frage, wie Wissen zustande kommt, zu beschäftigen. Wir lernen auf diese Weise, die eigenen Selbstverständlichkeiten und Handlungslogiken kritisch zu beleuchten, allenfalls zu hinterfragen und die eigenen blinden Flecke sichtbar zu machen. Zu diesem (Selbst-)Reflexionsprozess möchten wir Sie gerne einladen. Das Buch hat unterschiedliche Theorien zur Entstehung von wissenschaftlichem Wissen zum Inhalt, wie zum Beispiel Thomas S. Kuhns «Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen», Paul K. Feyerabends «Against Method», David Bloors «Strong Programme» – um nur einige zu nennen (컄 Kuhn, Thomas S., 컄 Feyerabend, Paul K.). Diese möchten wir Ihnen vorstellen. Unsere Perspektive bedeutet, dass wir bereits im Vorfeld einige Entscheidungen getroffen haben: Denn durch die Art und Weise, wie wir unsere Geschichte erzählen, stellen wir bestimmte Theorien in den Vordergrund, die wir
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in Abhängigkeit von unserer eigenen wissenschaftlichen Eingebundenheit für besonders wichtig halten – andere lassen wir aus. Das Buch ist ein Ergebnis stundenlanger, nicht immer einfacher Diskussionen, wie sie zwischen reflektierenden Wissenschaftlern nun mal stattfinden. Es ist auch ein kontingentes Resultat einer solchen Diskussion – das heißt ein Buch, das durchaus auch anders hätte geschrieben werden können. Bevor wir Ihnen gute Gründe liefern, weshalb es von großem Nutzen ist, sich als Praktikerin oder auch als Student der Betriebswirtschaftslehre mit Theorien bzw. mit der Wissenschaftstheorie auseinanderzusetzen (Kapitel 3), möchten wir kurz erläutern, wie das Buch aufgebaut ist. Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil erzählen wir unsere Interpretation der Geschichte zur Wissenschaftstheorie. Wir beschäftigen uns mit Fragen wie: Was ist 컄 Wissen (Kapitel 2)? Wie kommen Erkenntnisse zustande (Abschnitt 4.2)? Wissenschaftlicher Fortschritt ist das Ziel dieser Wahrheitsfindung und ist nicht immer einfach zu erreichen. Regeln helfen, dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Doch welche Regeln entsprechen am ehesten der Logik (컄 Induktion, 컄 Deduktion, 컄 Abduktion) und der Objektivität (컄 Wissenschaftliche Gütekriterien) (Abschnitt 2.2)? Es scheint auf den ersten Blick, dass die Deduktion aus dieser Diskussion als Sieger hervorgehen wird. Wir erweisen aus diesem Grunde Sir Karl Popper (컄 Popper, Karl) die Reverenz, der sich mit seinem 컄 kritischen Rationalismus in die Köpfe, wenn nicht sogar in die Herzen der Betriebswirtschaftler geschrieben hat – bis heute (Abschnitt 2.3). Thomas S. Kuhn auf der einen und Imre Lakatos (컄 Lakatos, Imre) auf der anderen Seite versuchen in ihren Schriften, die Probleme des 컄 kritischen Rationalismus zu lösen und schlagen verschiedene Wege vor. Kuhn bleibt gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt skeptisch und macht bewusst, dass das Wissen immer in einem bestimmten sozialen Kontext entwickelt wird. Abhängig vom Forscherkollektiv entstehen neue Wahrheiten, die sich auch ändern können. Objektives, gesichertes Wissen ist in dieser Theorie nur noch in Abhängigkeit vom Kontext, in dem die Wissenschaft arbeitet, möglich (Abschnitt 3.1). Imre Lakatos versucht, Poppers Ideen mit seinem Konzept der «Forschungsprogramme» zu retten (Abschnitt 3.2). Doch auch er gibt letztlich keine abschließende Antwort auf die Frage, weshalb sich ein bestimmtes Forschungsprogramm durchzusetzen vermag.
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Feyerabends provozierendes Programm «Wider den Methodenzwang» zeugt von der Einsicht, dass eine allgemein gültige Wissenschaftstheorie, die für sämtliche historische Beispiele zu verwenden ist, ein Wunsch bleibt (Abschnitt 3.3). Erst soziologische Arbeiten von Pierre Bourdieu (컄 Bourdieu, Pierre), Niklas Luhmann oder auch von Autoren der angelsächsischen Strömungen scheinen eine Möglichkeit zu bieten, der Heterogenität des wissenschaftlichen Forschens gerecht zu werden (Abschnitt 4). Ihre Vorstellungen lassen sich unter dem Stichwort 컄 Konstruktivismus zusammenfassen. Und schließlich beschäftigt sich der Text mit der – auch gesellschaftlich – wichtigen Frage, welche Verantwortung die heutigen Wissenschaftler zu tragen haben (Abschnitt 5). Der zweite Teil des Buches besteht aus Stichworten, die dazu dienen, einen schnellen Überblick über die für die Wissenschaftstheorie relevanten Themen zu erhalten. Im dritten Teil finden sich schließlich drei Fallstudien, die zeigen, welchen Nutzen die Beschäftigung mit der Wissenschaftstheorie bringt; die Theorien werden auf konkrete betriebwirtschaftliche Probleme angewendet. Und nun möchten wir Sie einladen, sich mit unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen auseinanderzusetzen, die hoffentlich dazu führen, dass Sie nach der Lektüre die eigenen Gewissheiten kritisch hinterfragen. Vielleicht gelingt es uns sogar, dass Sie am Schluss die Welt ein wenig anders sehen als bisher.
1.1
Weshalb sich (auch) als Praktiker mit Theorien beschäftigen?
«Alles viel zu theoretisch!» – Wissenschaftler hören diese Aussage oft, wenn sie versuchen, ihre Theorien an die Frau oder an den Mann zu bringen. Häufig formulieren diesen Satz Praktiker, die sich lieber auf ihre Erfahrung verlassen, als sich mit Theorien zu beschäftigen, die ihnen zu abstrakt, zu abgehoben erscheinen. Doch was ist denn eigentlich eine Theorie? Und was versteht man unter Praxis? Aus unserer Sicht lohnt es sich, sich dieser Unterscheidung kurz zu widmen. Praktiker sind es gewohnt, Handlungszusammenhänge, die sich in ihren Unternehmen ausdifferenziert haben, auf der Grundlage ihrer jahrelangen Erfahrungen zu interpretieren. Sie wissen, weshalb sie Erfolg haben, weshalb sich ein Misserfolg einstellt. Letztlich verfügen auch sie über implizite 컄 Hypothesen oder auch um «primäres
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Wissen» (Kieser/Ebers 2006, 45), wie gewisse Dinge laufen müssen und weshalb bestimmte Resultate eintreffen. Nur reflektieren sie diese nicht, sie bewältigen ihr Leben, ohne ihre eigenen Theorien bewusst anzuwenden. Nur wenn sich die Misserfolge häufen, kommen sie nicht weiter mit ihren impliziten Theorien. Sie beginnen darüber nachzudenken, wie sie ihr Handeln verbessern könnten, fangen an zu überlegen, welche systematisch-methodischen Verbesserungen zu allfälligen Erfolgen führen. Die Theorie, die sie in ihrem Handeln anleitet, machen sie nun explizit – eine Form von «theoretischer Praxis» also. Wissenschaftler, die Grundlagenforschung oder auch angewandte Wissenschaften betreiben, arbeiten nicht anders (컄 Arten der Forschung). Sie versuchen Geltungsansprüche zu formulieren, indem sie in Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand – zum Beispiel mit dem Unternehmen – Theorien entwickeln. Sie beobachten mittels geeigneten wissenschaftlichen Methoden Gesetzmäßigkeiten, die sie zu interpretieren und vielleicht sogar zu erklären versuchen – manchmal, wie etwa in der 컄 Aktionsforschung, auch in Zusammenarbeit mit den Praktikern. Die Wissenschaftler denken demnach über die richtigen Vorgehensweisen nach (컄 Methodologie), reflektieren die gewonnenen Resultate, machen diese Annahmen explizit, formulieren Definitionen und entwerfen entsprechende Theorien und Modelle, die sie wiederum in der «theoriegeleiteten Praxis» überprüfen (Kieser/ Ebers 2006, 46f.) (Abbildung 1). Abb. 1: Rekursives Theorie-Praxis-Modell
Handeln
Resultate
Implizite Hypothesen
Modell/Theorie
Explizite Hypothesen Reflexion
Wissenschaft Praxis
Quelle: Thommen 2013
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Weder in der Praxis noch in der Wissenschaft gibt es also ein Handeln ohne Theorie. Eine solche Theorie mag implizit sein, wie bei manchen Praktikern, oder explizit, wie bei den Wissenschaftlerinnen. Es geht letztlich um die Reflexion der eigenen Theorien, die man je nach Kontext anwendet. – Und davon handelt dieses Buch. Egal, ob Praktikerinnen oder angehende Wissenschaftler, sie alle haben dasselbe Interesse: Sie schaffen eine nutzbringende Verknüpfung zwischen Handeln, Theorie und Reflexion. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass sich Praktiker nicht mehr gegenüber den unterschiedlichen Theorien verschließen. Denn die Zeit der absoluten Wahrheiten ist zu Ende. Die heutigen Manager haben sich mit Problembereichen wie Komplexität, Dynamik, Wandel, Diskontinuität, Verlust an verbindlicher Orientierung und an Vertrauen, Informationsüberflutung und/oder Beschleunigung der Zeit zu beschäftigen, für welche die eigene Erfahrung nicht mehr ausreicht. Es ist notwendig, dass sich Führungskräfte aufgrund dieser Dynamisierung der Lebenswelten mit ihrer Eingebundenheit in Theoriekontexte, die sie anleiten – und auch beschränken –, auseinandersetzen. Sie sehen sich zu«Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.» nehmend gezwungen, die eigenen Handlungstheo(Lewin 1945) rien, wie sie eine Organisation führen und steuern, zu hinterfragen. Dieses Nachdenken birgt zwar die Gefahr, bislang etablierte Sicherheiten zu verlieren. Gleichzeitig ermöglicht es auch, neues 컄 Wissen und neue Theorien zu gewinnen und zukunftsorientiert zu handeln. Schließlich ist nichts so praktisch wie eine gute Theorie, wie es Lewin bereits 1945 formulierte. In der Praxis wie in der Theorie dreht es sich folglich um dieselbe Frage: Mit welchen Methoden kann neues Wissen bzw. neue Erkenntnis konstruiert werden, um auf die drängenden Probleme unserer Zeit Lösungen zu finden? Wir verstehen die Praxis auf der Grundlage von Theorien besser. Die Theorien helfen uns, Probleme besser zu beschreiben, zu analysieren und zu bearbeiten. Doch jede Theorie nimmt nur eine spezifische Perspektive ein, beleuchtet nur bestimmte Aspekte. Und es gibt zahlreiche Theorien, die sich allenfalls für ein bestimmtes Problem eignen, für andere Probleme aber nicht. So drängt sich die Frage für die Praktiker wie die Wissenschaftlerinnen auf: Welche Theorie ist für das jeweilige Problem am besten geeignet? Das Wissen um diese Pluralität führt aus unserer Sicht unvermeidlich zu einem erhöhten Reflexionsbedarf. Es ist nicht mehr die Frage wichtig, welche Theorie die einzig richtige ist, sondern, wel-
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che Theorien es uns ermöglichen, die Praxis auch anders zu sehen. Dementsprechend werden neue Handlungsoptionen für die Praxis erkennbar. Theorie und Praxis stehen also in einem wechselseitig gewinnbringenden Verhältnis zueinander. Reflektiert man den theoretischen Kontext, in den man immer – auch in der Praxis – eingebunden ist, hat man die Chance, die Konsequenzen, die man für die Praxis zieht, zu hinterfragen, zu analysieren, in Frage zu stellen. Die Praxis beeinflusst aber auch stark die Konstruktion von Theorien. Ja, wir können sogar so weit gehen zu behaupten, dass erst die Praxis zu einer Entwicklung von Theorien, von neuem Wissen führt. Und damit sind wir beim eigentlichen Gegenstand unseres Buches: der Wissenschaftstheorie. Beginnen wir als Erstes mit der Klärung der Frage, was denn Wissenschaftstheorie ist. Im Anschluss möchten wir die Gründe erläutern, weshalb es sich durchaus lohnt, sich auf die komplexe Materie der Wissenschaftstheorie einzulassen.
1.2
Was ist Wissenschaftstheorie?
Wie neues Wissens generiert wird, ist die fundamentale Frage der Wissenschaftstheorie. Sie versucht etwa Fragen zu beantworten, wie unwiderlegbares Wissen zustande kommt, welche Methoden geeignet sind, um neue «Wahrheiten» zu entdecken, oder welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Denkkollektiv (컄 Fleck, Ludwik) neu begründetes Wissen akzeptiert. Als Meta-Theorie, das heißt als eine Theorie, deren Forschungsgegenstand eine andere Theorie oder eine Menge anderer Theorien sind, liefert die Wissenschaftstheorie eine gute Grundlage, um sich der eigenen 컄 blinden Flecke – sei es als Manager, sei es als Wissenschaftler der Betriebswirtschaftslehre – bewusst zu werden. Die Wissenschaftstheorie setzt sich also als Teilgebiet der Philosophie mit den erkenntnistheoretischen Begründungen des wissenschaftlichen Wissens, der wissenschaftlichen Methoden und der Forschung auseinander (컄 Methodologie). Wissenschaftstheoretiker fragen demzufolge danach, ob und wie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn möglich ist. Die Entwicklungen der modernen Wissenschaft und die Zunahme ihrer Spezialisierung und auch Fragmentierung haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass das Forschungsgebiet der Wissenschaftstheorie selbst unterschiedliche Zugänge zur Frage, wie Wissen ent-
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Aussagen
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Arten
Aussagen über das bearbeitete Forschungs- bzw. Erkenntnisobjekt sind das Resultat wissenschaftlicher Arbeit. Dabei kann zwischen, deskriptiven, explikativen, normativen und technologischen Aussagen unterschieden werden. (Thommen 2012a, 1016ff.)
Deskriptive Aussagen
Deskriptive Aussagen beschreiben das Erkenntnisobjekt, das heißt einen bestimmten Ausschnitt der Welt, den der Wissenschaftler zu seinem Forschungsgegenstand gemacht hat. Es geht um die Beschreibung des Was und des Wie von Objekten, Strukturen und Prozessen in der Vergangenheit und in der Gegenwart, um ein möglichst exaktes Abbild der Realität der beobachteten und zu erklärenden Phänomene zu erhalten. Werden diese Beschreibung nach bestimmten Kriterien geordnet, so erhält man Systematisierungen und Klassifizierungen der beobachteten Objekte oder Phänomene. So werden zum Beispiel Unternehmen in Klein-, Mittel- und Großunternehmen eingeteilt. Zu den deskriptiven Aussagen gehören auch Realdefinitionen. Diese entstehen durch die Beschreibung und Charakterisierung eines Sachverhaltes oder eines Objekts aufgrund der in der Realität festgestellten wesentlichen Eigenschaften. Sie dienen als Grundlage für die wissenschaftliche Kommunikation und Forschung. Beispiel ist die Definition des Unternehmens als «ein offenes, dynamisches, komplexes, autonomes, marktgerichtetes produktives soziales System.» (Thommen 2012a, 39) Von den Realdefinitionen sind die Nominaldefinitionen zu unterscheiden. Bei Nominaldefinitionen geht es primär um Festsetzungen über die Verwendung von Begriffen (z.B. Kosten oder Aufwand). Sie machen deshalb keine (informativen) Aussagen über die Realität, sondern sind Konventionen über den Gebrauch bestimmter Begriffe. Explikative Aussagen Durch das Sammeln, Erheben und Auswerten von deskriptiven Aussagen werden die Voraussetzungen für das Aufstellen von Hypothesen geschaffen, welche erklärenden Charakter haben. Hypothesen beantworten die Frage nach dem Warum eines Sachverhaltes. Explikative Aussagen haben die Form «wenn, dann» und geben über bestimmte Kausalzusammenhänge Auskunft. Beispiel: Wenn Unternehmen sozialverantwortlich handeln, dann sind sie langfristig erfolgreicher als nicht sozialverant-
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wortlich handelnde. Werden diese Hypothesen im Laufe der Zeit verifiziert bzw. nicht falsifiziert, werden sie als Gesetzeshypothesen, Gesetzesaussagen oder ganz einfach als Gesetze bezeichnet. Werden mehrere Gesetze dann logisch miteinander verknüpft, entsteht eine Theorie. Normative Aussagen
Bei den normativen Aussagen handelt es sich um Wertungen, welche die oder der Forschende vornimmt. Sie werden auch als präskriptive Aussagen bezeichnet. Je nach Intensität der subjektiven Wertung können sie folgendermaßen abgestuft werden (Albert 1972, 184): 쐍 Resolutive Aussagen, das heißt Aussagen, die den Sinn haben, die Entscheidungen von Personen für ein bestimmtes Verhalten zu erklären. 쐍 Optative Aussagen, das heißt Aussagen, die Wünsche zum Ausdruck bringen. 쐍 Valutative Aussagen, das heißt Aussagen, die persönliche Stellungnahmen ausdrücken. 쐍 Imperative Aussagen, das heißt Aussagen, welche die Funktion haben, irgendwelchen Personen ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben. 쐍 Normative Aussagen, das heißt Aussagen, die bestimmte Verhaltensweisen (Stellungnahmen, Entscheidungen, Handlungen) als gerechtfertigt deklarieren. Diese Aussagen werden meist als Werturteile bezeichnet.
Technologische Aussagen
Technologische Aussagen geben auf die Fragen «Was ist möglich?» und «Wie, auf welche Art und Weise kann ein bestimmtes Ziel erreicht werden?» eine Antwort. Sie dienen somit unmittelbar der praktischen Verwertbarkeit und sind deshalb vor allem in der anwendungsorientierten Wissenschaft zu finden. Grundlage der technologischen Aussagen sind deskriptive und explikative Aussagen. Doch weisen diese – insbesondere die explikativen – einen hohen Abstraktionsgrad auf, denn Explikation bedeutet immer auch Verallgemeinerung. Deshalb ist eine Transformation dieser Aussagen in praktisch verwertbare Aussagen noch notwendig.
Holzer · Thommen · Wolf Welt des Wissens · A bis Z
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Beobachtung 1. und 2. Ordnung Begriff Wir alle beobachten unsere Realität, in erster Linie, um handlungsfähig zu sein und zu bleiben, aber auch, um über die Welt nachzudenken. Doch wie beobachten wir die Realität? Aus systemtheoretischer Sicht kann zwischen zwei verschiedenen Arten von Beobachtungen unterschieden werden, nämlich Beobachtung 1. und 2. Ordnung. Beobachtung 1. Ordnung Ein Beobachter 1. Ordnung sieht nur das, was er auch tatsächlich betrachtet, wofür er sich entschieden hat und was für ihn relevant ist. Dabei ist er sich meistens nicht bewusst, dass er eine Selektion vorgenommen hat, denn immer hätte er zum Beispiel auch andere Objekte, Prozesse, Interaktionen oder Eigenschaften betrachten können. Er ist also blind für das, was er nicht sieht, und er weiß auch nicht, für welche Ausschnitte der Realität er blind ist (sonst würde er sie sehen!). Man spricht deshalb von 컄 blinden Flecken. Beobachtung 2. Ordnung Ein Beobachter 2. Ordnung beobachtet den Beobachter 1. Ordnung beim Beobachten. Dabei macht er deutlich, was der Beobachter 1. Ordnung beobachtet und in sein Handeln und Denken einbezieht und was er ausklammert. Er zeigt, wie der Beobachter 1. Ordnung (Unternehmer, Führungskraft) das Unternehmen von seiner Umwelt abgrenzt (gestrichelte Linie in der Abbildung) und wie er seine für ihn relevante Umwelt definiert (Umwelt 1). Damit wird deutlich, dass es neben der definierten Umwelt (Umwelt 1) immer noch eine nicht beachtete, ausgeschlossene Umwelt (Umwelt 2) gibt. Konsequenzen
Der Beobachter 1. Ordnung sitzt in der Welt, in seinem System. Er nimmt deshalb eine Innenperspektive ein. Es ist zum Beispiel der Manager, der sein Unternehmen (Strukturen, Prozesse, Mitarbeitende sowie seine Umwelt) beobachtet (Abbildung) und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen für sein Handeln zieht. Es handelt sich um die Froschperspektive, die Inhalte und das Handeln stehen im Vordergrund. Der Beobachter 2. Ordnung sitzt außerhalb der vom Beobachter 1. Ordnung wahrgenommenen Welt, er hat die Außenperspektive. Er reflektiert aus der Vogelperspektive (Metaebene) die Grenzen, die der Beobachter 1. Ordnung sowohl zu seiner Umwelt als auch von seiner Umwelt zieht, das heißt, wie dieser seine Umwelt definiert (siehe Abbildung). Sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis ergibt sich daraus, dass es zwei Arten von Wissenschaft bzw. von Management
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Holzer_Wissen.book Seite 83 Donnerstag, 19. Juli 2012 4:39 16
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Beobachtung 1. und 2. Ordnung
Beobachter 1. Ordnung
Input
Output
Umwelt 1
Beobachter 2. Ordnung
Umwelt 2
gibt. Der Wissenschaftler arbeitet entweder in seinem System mit ganz bestimmten Theorien und Methoden (Wissenschaft 1. Ordnung) oder er fragt sich, welches die geeigneten Theorien oder Methoden sind, um ein bestimmtes Problem zu bearbeiten (Wissenschaft 2. Ordnung, die in der Regel als Wissenschaftstheorie bezeichnet wird). Im Management kann entsprechend zwischen einem Management 1. Ordnung und einem Management 2. Ordnung unterschieden werden. Management 2. Ordnung
Das Management 2. Ordnung beschäftigt sich mit den Unterscheidungen, die ein Unternehmen gemacht hat, das heißt mit den getroffenen Selektionen und Grenzen, die gezogen worden sind. Oder mit anderen Worten: Das Unternehmen muss sich immer wieder fragen, ob das gewählte Geschäftsmodell noch erfolgversprechend ist oder nicht.
Management 1. Ordnung
Das Management 1. Ordnung ist das Handeln in dem vom Management 2. Ordnung festgelegten Rahmen. Es ist das Handeln auf den gewählten Märkten und in den dafür geschaffenen Strukturen und Prozessen. Management 1. Ordnung handelt dann in einer Als-ob-Wirklichkeit – wohlwissend, dass es immer auch anders sein könnte!
Literaturtipps Backhausen, W. (2009): Management 2. Ordnung. Backhausen, W./Thommen, J.-P. (2007): Irrgarten des Managements.
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Holzer_Wissen.book Seite 84 Donnerstag, 19. Juli 2012 4:39 16
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Blinde Flecke Begriff Ursprünglich kommt der Begriff blinder Fleck aus der Biologie. Dort bezeichnet er ein Phänomen der Netzhaut, die eine Stelle aufweist, an welcher der Sehnerv austritt und dazu führt, dass wir gewisse Punkte in bestimmten Situationen nicht sehen können. Dieses Phänomen wurde dann vom Soziologen Niklas Luhmann auf Individuen und sozialkommunikative Systeme übertragen (컄 Systemtheorie). Bereiche blinder Flecke
Blinde Flecke können sowohl in der Wissenschaft als auch im Management auf drei Ebenen auftreten:
쐍 Beschreibung der Welt: Was nehmen wir wahr, was nicht? Was berücksichtigen wir, was nicht? Vielfach handelt es sich um einen bewussten Vorgang, indem Relevantes von Nichtrelevantem abgegrenzt wird. Oft ist man sich aber nicht bewusst, dass man etwas gar nicht gesehen hat. Vom Resultat her macht es auch keinen Unterschied, ob man bewusst oder unbewusst etwas ausgeklammert hat, denn in beiden Fällen wird das nicht Gewählte nicht mehr beachtet oder geht sogar verloren. (컄 Beobachtung) 쐍 Erklärung der Welt: Welche Verknüpfungen stellen wir her? Welche Kausalzusammenhänge glauben wir zu erkennen? Auf dieser Ebene geht es um die Interpretation von Phänomenen und Situationen. 쐍 Bewertung der Welt: Für welche Möglichkeit entscheide ich mich schließlich? Verantwortlich für die Wahl sind insbesondere Beschreibung: Wenn ein Unternehmen eine Umwelt- und Unternehmensanalyse macht, überlegt es sich, welche Aspekte relevant sind und welche nicht. Vielfach ist es sich aber dieser Wahl nicht bewusst oder es werden Aspekte nicht gesehen, die außerhalb des eigenen Tätigkeitsbereiches, zum Beispiel außerhalb der Branche liegen. Erklärung: Eine unbefriedigende Leistung eines Mitarbeiters kann ganz unterschiedlich erklärt werden: Ist er vielleicht überfordert? Sind die Anreize (z.B. Lohn) ungenügend? Hat er kein Interesse? Ist der Führungsstil ungeeignet? Ist es das Betriebsklima, die Unternehmenskultur? Bewertung: Schließlich muss ich mich für eine Erklärung entscheiden. Je nachdem, welche Erfahrungen ich mit diesem Mitarbeiter bereits gemacht habe oder welches Erklärungsmodell ich anwende, werde ich zu ganz unterschiedlichen Bewertungen kommen.
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Holzer_Wissen.book Seite 85 Donnerstag, 19. Juli 2012 4:39 16
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meine Absichten und meine Interessen, letztlich die Frage, was Sinn ergibt für mein Handeln. Diese drei Ebenen hängen eng miteinander zusammen, denn die Art und Weise der Beschreibung beeinflusst in starkem Maße mögliche Erklärungen und somit auch die zur Wahl stehenden Alternativen. Wann spielen blinde Flecke eine große Rolle? Blinde Flecke treten in vielen Situationen – sowohl in der Wissenschaft als auch im (Berufs-)Alltag – auf, aber sie sind unterschiedlich bedeutsam. Es gibt aber insbesondere zwei Situationen, in denen blinde Flecke besonders beachtet bzw. bearbeitet werden müssen:
쐍 Bei 컄 Innovationen geht es darum, dass etwas Neues entsteht, was vorher nicht da war bzw. nicht gesehen oder wahrgenommen worden ist. Blinde Flecke haben mich daran gehindert, eine Situation oder eine Technologie anders zu betrachten. 쐍 In Veränderungsprozessen (Change Management) geht es darum, dass Unternehmen die Organisation selbst, das heißt ihre Märkte oder Produkte, ihre Strukturen und Prozesse neu definieren bzw. gestalten. Dies gelingt oft nur dann, wenn die blinden Flecke überwunden werden, das heißt ganz anders in und auf die Welt geschaut wird, und das Unternehmen als Ganzes oder Teile davon (z.B. Produkte, Prozesse, verwendete Technologien) neu erfunden wird. Blinde Flecke in der Wissenschaft Auch der Wissenschaftler hat blinde Flecke. Er arbeitet immer mit und in einer bestimmten Theorie oder einem bestimmten Modell. Diese gehen implizit von bestimmten Annahmen aus, dessen sich der Wissenschaftler in der Regel nur zum Teil bewusst wird. Blinde Flecke werden vor allem deutlich, wenn es zu einem Paradigmenwechsel – im Sinne von Thomas S. Kuhn (컄 Kuhn, Thomas S.) – kommt. Dann verändern sich nämlich die grundlegenden Annahmen über das Forschungsobjekt.
Praxistipp Blinde Flecke können zwar manchmal in der Selbstreflexion erkannt werden, oft braucht es dazu aber die Außensicht. In der Praxis können diese Funktion Berater oder Coaches übernehmen, in der Wissenschaft kann interdisziplinäre Forschung oder der Austausch mit der Managementpraxis sehr anregend sein und helfen, blinde Flecke zu erkennen und zu überwinden.
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Holzer_Wissen.book Seite 86 Donnerstag, 19. Juli 2012 4:39 16
Bourdieu, Pierre – Habitus, Feld, Kapital
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Der französische Intellektuelle Pierre Bourdieu (1930–2002) gehört zu den Klassikern der Soziologie des 20. Jahrhunderts. Er hat mit seinen theoretischen Begriffen wie Habitus, Feld und Kapital eine Soziologie geschaffen, die in der Praxis eingebettet ist, ohne dass er dabei der Theorie oder der Empirie den Vorrang gegeben hätte (Barlösius 2011, 8). Habitus
Widmen wir uns als Erstes dem Begriff Habitus. Bourdieu definiert das Konzept wie folgt: «Der Habitus als ein System von – implizit oder explizit durch Lernen erworbenen – Dispositionen, funktionierend als ein System von Generierungsschemata, generiert Strategien, die den objektiven Interessen ihres Urhebers entsprechen können, ohne ausdrücklich auf diesen Zweck ausgerichtet zu sein.» (Bourdieu 2001, 113) Bourdieu umschreibt mit seinem Konzept des Habitus also die jeweiligen Denk- und Handlungsschemata der Akteure. In ihnen zeigen sich einerseits die Normen und Werte einer bestimmten Gesellschaft. Andererseits bringen soziale Akteure auf der Grundlage dieser Denk- und Handlungsschemata auch die jeweilige Praxis hervor. Die Denk- und Handlungsschemata sind das Resultat einer Sozialisation. Wir alle lernen von Kindheit an, in der Familie, in der Schule und später auch in der Arbeitswelt, wie wir bestimmte Dinge wahrnehmen (sollen) und wie wir in bestimmten Situationen zu handeln haben. Diese Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata erlauben es uns, auf Situationen adäquat zu reagieren (Joas 2004, 533).
Feld Der zweite Begriff, der für das Verständnis von Bourdieus strukturalistisch-konstruktivistischer Theorie entscheidend ist, ist der des Feldes. Damit sind die gesellschaftlichen Bereiche umschrieben, die das Produkt einer Arbeitsteilung sind. Felder sind denn auch ausgestattet mit Ressourcen und Spielregeln, die für alle Akteure gelten, die innerhalb dieses Feldes handeln (Iser 1983, 67). Innerhalb dieses Feldes konkurrenzieren die Akteure in einem eigentlichen Markt um soziale Positionen. Sie führen einen Kampf um Ressourcen und Macht und etablieren durch diesen Wettbewerb wiederum soziale Strukturen. Spezifisch für jedes Feld, so Bourdieu, ist, dass die Akteure über unterschiedliche Kapitalien verfügen. Diese verschiedenen Kapitalbestände definieren die objektiven Positionen der Beteiligten, aber auch die Kräfteverhältnisse und die daraus resultierenden Strategien der Akteure im Feld (vgl. Iser 1983, 67). VERSUS kompakt
Holzer_Wissen.book Seite 87 Donnerstag, 19. Juli 2012 4:39 16
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Kapital
Der Begriff des Kapitals ist nicht, wie es Ökonomen allenfalls annehmen könnten, auf das ökonomische Kapital zu beschränken. Bourdieu erweitert das Konzept des ökonomischen Kapitals, das direkt und unmittelbar in Geld konvertierbar ist, mit dem sozialen und kulturellen Kapital. Das soziale Kapital umfasst diejenigen Ressourcen, die den Akteuren aufgrund ihrer sozialen Netzwerke oder Organisationen zur Verfügung stehen. Das soziale Kapital eines Akteurs definiert sich also aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sei es eine Familie oder ein professionelles Netzwerk. Damit Netzwerke über längere Zeit auch Bestand haben, benötigen sie Pflege – und somit auch Zeit. Und will man auch in Zukunft von den Netzwerken profitieren, ist es durchaus lohnenswert, die Zeit für deren Pflege zu investieren. (Bourdieu 1992, 63f.) Das kulturelle Kapital schließlich beinhaltet das theoretische und praktische Wissen, das sich ein Akteur zeit seines Lebens aneignet. Legitimiert ist dieses angeeignete Wissen in Form von Abschlusszeugnissen entsprechender Bildungsinstitutionen. Zum kulturellen Kapital gehören aber auch Artefakte wie Gemälde, Schriften und Bücher, für deren Genuss ein spezifisches inkorporiertes Kulturkapital notwendig ist, um ein Kunstwerk zu genießen (Bourdieu 1992, 55f.). Beim letzten Kapital – das symbolische – handelt sich um Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung und sozialer Macht. Das symbolische Kapital verleiht einem Akteur, der in einem bestimmten Feld handelt, Ansehen, Reputation, Begünstigungen und auch besondere Positionen, kurz den Rang innerhalb der Gesellschaft (Bourdieu 1985, 22f.). In der Fallstudie 3 Vergessen ist der Schlüssel zum Erfolg wird ab Seite 141 die Theorie Bourdieus aufs konkrete Unternehmen angewendet.
Literaturtipps Bourdieu, P. (1985): Sozialer Raum und «Klassen». Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Bourdieu, P. (2001): Über einige Eigenschaften von Feldern. Bourdieu, P. (2008): Die feinen Unterschiede.
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