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BASEL
GIANNA MOLINARI
Basel
Einst dehnte sich hier die Erdkruste, Sediment sank ab, der Boden brach ein, Spalten und Verwerfungen im Gestein entstanden, eine Senke breitete sich aus. Beim Einsinken des Grabens wurde Gestein an den Rand geschoben, die Grabenschultern Vogesen und Schwarzwald erhoben sich. Durch die Senke suchte sich der Rhein seinen Weg. Und mit dem Wasser kamen Siedlungen, und es mauserte sich eine Stadt durch die Zeiten, wuchs und wuchs, einer Knolle gleich, schmiegte sich in die Kurve, blieb dort liegen, am Rheinknie. Die Erdkruste senkt sich weiter. Ein Sandkorn breit sinkt der Graben an gewissen Stellen Jahr für Jahr. Du wirst denken: Ein lächerlicher Durchmesser ist der Durchmesser eines Sandkorns. Aber rechnest du mit der Zeit und lässt drei bis vier Generationen heranwachsen, werden aus dem Sandkorndurchmesser zehn Meter, was bei weitem keinem Hochhaus entspricht, aber einem Haus. Haushoch in hundert Jahren also sinkt der Graben. Du zweifelst an dieser Rechnung? Ich habe in der Schule gelernt, dass die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre ein Erdbeben der Stärke sechs oder stärker zu erleben, zirka bei fünf Prozent liegt. Seit diesem Schultag warte ich auf diese fünf Prozent und das Beben. Warte darauf, dass Türen scheppern, obwohl kein Wind weht, und Gläser und Teller auf dem Tisch zittern, wie von Geisterhand bewegt. Ich dachte als Kind darüber nach, was ich aus dem einstürzenden Haus retten würde. Ich spielte das Gedankenspiel, was ich mitnehmen würde, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand retten könnte, schwankte jeweils zwischen dem Kaninchen und der Steinsammlung. Und ich entschied mich jedes Mal für dasselbe. Nicht zuletzt, weil ich dachte, dass Steine unter einem Haufen Steine unmöglich wiederzufinden wären. Das letzte grosse Beben in Basel, das stärkste Beben der Schweiz, riss im Jahre 1356 un6 zählige Häuser, Kirchen, Mauerwerke aller Art und alle fünf Münstertürme nieder. Ton-
nen von rotem Buntsandstein lagen in Brüchen. Zwei Münstertürme wurden wiederaufgebaut, die Stadt wiedererrichtet. Warum errichtet man auf wackligem Grund, wirst du dich fragen. Das fragst du dich zu Recht. Und auch ich warte ja seit jenem Schultag auf die fünfprozentige Wahrscheinlichkeit, auf das Aufbrechen des Erdreichs. Es ist ein Kommen am Rheinknie und ein Gehen und mittendrin der Fluss, mit stetig neuem Wasser. Du fragst dich, was kommt, was geht. Die Pest kam und ging. Der Rheinlachs verschwand, auf seine Rückkehr wird gehofft. Auch die Menschenschauen im Basler Zoo verschwanden. Die Fasnacht während der Spanischen Grippe und während der Covid19-Pandemie, Maulbeerbäume und Seidenwebereien, das Gorillaweibchen Goma, sie alle verschwanden. Das Bettelverbot ging, das Bettelverbot kam. Napoleon kam 1797 durch das St.-Alban-Tor, stoppte kurz im Hotel Trois Rois und verliess die Stadt nach wenigen Stunden wieder. Der Hafen kam, und mit dem Hafen kamen Containerschiffe, Containerburgen, Geschichten und Fernweh. Die Störche kamen und kommen noch immer jedes Jahr im Februar und fliegen im August Richtung Süden. Überhaupt die Tiere: Die Füchse kommen in der Nacht und gehen im Morgengrauen. Es kommt vor, dass einzelne Rehe bis nach Basel vordringen, auf einer grünen Achse aus Allschwil, Binningen, Bottmingen oder über die Landesgrenze vom Elsass her, und plötzlich stehen sie auf einer Verkehrskreuzung und sorgen für Chaos. Ruhiger, wenn auch nicht weniger gefährlich ist es für sie auf dem Friedhof Hörnli. Dort äsen sie in Gruppen, springen über Grabsteine, knabbern am Grabschmuck. Es gibt Ratten am Rheinbord und in der Kanalisation, Zander, Welse, Rotaugen im Rhein, etwa 8000 Tauben über den Dächern und auf den Plätzen der Stadt. Es gibt 30 Parks und Grünanlagen, insgesamt 26 500 Stadtbäume der Stadtgärtnerei, davon 5560 Linden, 3170 Rosskastanien und 2430 Platanen. Es gibt 18 969 Gebäude in der Stadt und acht Brücken über den Rhein, rund 350 Sitzbänke vom Typ Miramondo mit Lehne und 70 ohne Lehne, rund 520 historische Basler Bänke einfach und 75 historische Basler Bänke doppelt, 234 Abfallkübel, die 35 Liter fassen, 415 Abfallkübel zu 110 Liter und unterirdisch noch einmal 18 Abfallkübel für 1000 Liter, es gibt 17 freistehende und 59 eingebaute WC-Anlagen, 24 Trinkbrunnen Standard, 31 Basiliskenbrunnen und mehrere Hundert Steinpoller. Es gibt Unmengen Alpnacher Quarzsandsteine, die aneinandergelegt Gassen bilden und Strassen, die rutschfest sind und frostbeständig. Es sollen sich von ihrer Oberfläche Kaugummis gut entfernen lassen und Konfetti, hier besser als Räppli bekannt. Jedoch: Räppli sind nie ganz zu entfernen, Kaugummirückstände werden bleiben, auch Abdrücke von Essensresten. Flüssigkeiten dringen in die Poren des Gesteins, zeichnen die Strassen und Gassen der Stadt. Spuren werden bleiben. Du wirst denken: Eine lächerliche Spur, die Spur auf einem Alpnacher Quarzsandstein in einer kleinen Basler Gasse. Aber Archäologinnen werden darüber vielleicht einmal äusserst erfreut sein, über den Fund eines Räpplis oder über Reste eines Kaugummis aus dem Jahr 2022 in einer feinen Alpnacher Quarzsandsteinrille. Einen Alpnacher Quarzsandstein mit besonders schönen Spuren nehme ich in meine Sammlung auf. Und sollte die fünfprozentige Wahrscheinlichkeit eintreffen: Ich werde ihn retten.