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BUCHS (SG

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NEUCHÂTEL

NEUCHÂTEL

DOROTHEE ELMIGER

Buchs

Die Erinnerung an ein Bild, vor fünfzehn oder sechzehn Jahren geschossen: Die Dämmerung ist weit fortgeschritten, du befindest dich hoch oben in den Bergen. Die gewaltigen Gipfel im Hintergrund heben sich kaum mehr vom lichtlosen Himmel ab. Nicht viel ist zu erkennen von dem, was sich in deiner Umgebung befindet – Geröll, unsichere Wege, die im Nichts verlaufen. Du hast die Hände vors Gesicht geschlagen, weiss leuchtet der Blitz dich aus. Wie du so dastehst, spätadoleszent, unter dem Eindruck der einbrechenden Nacht und der Einsamkeit des kargen Tals: eine Allegorie auf die teenage angst, die existentielle Panik, die grosse Verlassenheit. Denkst du dir die Gemütszustände als Landschaften, als Orte, so will dir im Falle dieser angst immer gleich Buchs einfallen: dunkles Rheintal, ein schwach leuchtender SelectaAutomat am Bahnhof, Gleisfelder, bedrohlich steil aus der Schwärze aufragende Gebirgsketten, Uniformierte an den Gleisen, irgendwo der Rhein, ein reguliertes Band, das sich durch die Landschaft windet. Buchs als Grenzbahnhof, den die Züge Richtung Osten verlassen und der dir als Heimreisender die Schweiz ankündigt: Immer scheint es spät zu sein, wenn dein Zug aus Wien, aus Zagreb, aus Salzburg eintrifft. Vor Max Vogts kubischen Bahnhofsbauten aus den achtziger Jahren höchstens zwei, drei Lehrlinge mit Dosenbier aus dem Convenience-Shop. So fängt dieses Land also an, oder so hört es auf: als finsteres Tal in der Nacht mit Autobahn und monolithischen Futtertürmen – eine Ebene ohne echte Weite, eine begrenzte, ominöse Talung. Du erahnst Teile der stumm thronenden Drei Schwestern, den Schnee oberhalb der Baumgrenze. Und läufst du einmal in die Stadt, Buchs, hinein, folgst der schnurgeraden Bahnhofstrasse, weil du auf einen Anschluss wartest und auch weil du Aufschluss suchst, weil du der Stadt, über die du zugegebenermassen gar nichts weisst, doch gerecht werden willst, siehst du die Luxor Pub Bar mit grüner Mar10 kise, einen schiefergrauen Dodge vor dem Haus der Mode, siehst eine gerahmte Dar-

stellung über den Aufbau der «handgerollten Cigarre» im Schaufenster des Tabakfachgeschäfts. Den Denner siehst du, das in den Sechzigern gebaute Rathaus, später den Damen- und Herren-Coiffure-Salon Bijou, den Van Loi Asia Take-away, den Standort der alten Teppichfabrik, die noch 1964 einen Umsatz von sechs Millionen Franken erzielte, eine portugiesische Spezialitätenhandlung, die ganz kubische Herz-Jesu-Kirche aus den Sechzigern mit ihrem fünfstimmigen Geläut im Turm, und beinahe alles, beinahe jedes Gebäude, jedes Lokal erscheint dir so, als hätte es jemand vor einer Weile verlassen und seither nicht mehr oft angerührt. Dabei meinst du natürlich nicht, Buchs die Schuld dafür geben zu können, was du so fährlässig in Buchs hineinlegst, ohne viel über Buchs zu wissen. Vielmehr findest du dort, in Buchs, jedes Mal, bei jedem Halt, bei jedem Umstieg zuverlässig zum Ausdruck gebracht, was du sowieso schon kennst als Bewohnerin dieses Landes: die Furcht vor dem Verschwinden in der Provinz, die sich in nächtlichen Träumen wiederholenden Szenarien der verpassten Züge, der zersiedelten Landstriche ohne Eigenschaften, der ausfahrtlosen, namenlosen Raststätten. Kurz vor deiner Weiterfahrt, als du einmal noch einen Augenblick lang stehenbleibst vor der dreiachsigen Rangierlokomotive, die im Jahr 1909 in der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur gebaut wurde und dann in Buchs ein halbes Jahrhundert lang die Güterwagen rangierte, glaubst du plötzlich doch zu verstehen, dass dein Buchser Gefühl nicht ganz aus der Luft gegriffen ist: Es ist nicht so, dass dir an dieser Stelle und in diesem Moment einfällt, was du schon weisst, dass nämlich die unmittelbar bei Buchs verlaufende Schweizer Grenze im August 1938 geschlossen wurde, eine Tatsache, die das Tal in deinen Augen stets noch unheilvoller, die Fahrt über den Rhein, den Auftritt des Grenzwachtkorps noch 11beklemmender machte. Vielmehr liest du nun, vor der Lokomotive, dass hier im frühen 20. Jahrhundert einmal Züge passierten, die von Paris bis Istanbul verkehrten, dass hier alles Mögliche umgeschlagen und gelagert wurde, Früchte, Holz, Wein, Getreide von der Balkanhalbinsel, aus der Türkei, du liest, dass Steinegger’s Bazar an der Bahnhofstrasse 17 Reisekoffer verkaufte, Auswanderungsagenturen und Spediteure sich einst hier niederliessen, Könige und Kaiserinnen aus den an Buchs vorbeifahrenden oder in Buchs haltenden Zügen blickten. Vielleicht, denkst du, noch immer vor der alten Rangierlok stehend, ist diese Buchser angst, diese Verlorenheit im Rheintal also doch nicht allein die deine, sondern steckt schon lange drin in dieser Stadt, die einmal ein Platz von Bedeutung war, ein Ort, wie es heisst, von Welt, den man vom Schwemmgebiet zum betriebsamen Verbindungspunkt entwickelte und der dann wieder an den Rand rückte: Eins ums andere ersetzte man die Häuser jener blühenden Zeit, und die letzten Passagiere, deren Ankunft in Buchs die Aufmerksamkeit des Landes erregte, führten statt royaler Güter eilig gepackte Rucksäcke und Plastiktüten mit. Trotzdem: Wie es sich genau mit Buchs verhält, das kannst du nicht mit Sicherheit sagen. Schliesslich gehörst du zu jenen, die auch heute noch immer nur durchreisen, müde und mit schweren Beinen, willst immer gleich weiter, kannst sie gar nicht schnell genug verlassen, diese Stadt, Buchs, die dir so vertraut erscheint, als handelte es sich um eine deiner Ausgeburten, als wärst du eine ihrer Töchter.

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