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beim Loslassen Margrith Bohren

Festhalten

Festhalten beim Loslassen

Für Jeannine, Sonia und meinen Vorkoster Urs Wyrsch

Festhalten beim Loslassen

Roman

Gedanken lassen uns abheben –Worte zwingen auf den Boden zurück.

Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden von der Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihr und vom Verlag mit Sorgfalt geprü ! . Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen.

Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autorin noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2024 Pro Libro / Weber Verlag AG, 3645 un / Gwatt

Pro Libro ist ein Imprint der Weber Verlag AG.

Texte: Margrith Bohren

Weber Verlag AG

Weber Verlag AG: Annette Weber-Hadorn, Verlagsleitung

Pro Libro Luzern: Dr. Hilmar Gernet, Verlagsleitung

Umschlagbild: Ruth Berther, «Sailing», Acryl auf Leinwand

Gestaltung und Satz: Daniela Vacas

Lektorat und Korrektorat: Dr. omas Goetz

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

ISBN 978-3-905927-89-4

www.weberverlag.ch

Inhalt 9 Nordostwärts

37 Dirk

67 Elle court, elle court, la maladie d’amour

89 Der dritte Mann

113 Genug ist nie genug

139 Spätlese

Nordostwärts

Zusätzliche Reiseunterlagen würden rechtzeitig eintreffen, stand auf dem Hochglanzprospekt mit einem Venedig-desNordens-Motiv, kurz und bündig, in Eile hingekritzelt ohne weitere Anmerkung, gezeichnet: Britta. Das sah ihr wieder einmal ähnlich, der wirblig Entscheidungsfreudigen aus dem Land der Leuchttürme und dem Wattenmeer.

Durchaus war beim letzten Gespräch, wie gewohnt kurz vor Mitternacht, der längst überfällige Besuch in der Hansestadt im Raum gestanden. Nicht allein die Reise nach Hamburg, auch die Ferientage, die geplanten und immer wieder vertagten, blieben Thema. Zum Gesprächsende verabschiedete sich Britta belustigt – sie bemühte gerne Fremdsprachen, wo es etwas um jeden Preis durchzusetzen galt – mit ihrem Motto «who hesitates misses» und ergänzte salopp, es sei nun an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Nägel mit Köpfen? Das war wohl eher gebohrt und gedübelt. Eine gängige Überrumpelung flott nach Britta-Böhme-Muster, damit war zu rechnen. Dass es gleich zu einem derartigen Handstreich kommen würde, war allerdings nicht abzusehen gewesen.

Die beigelegte Fahrkarte lautete auf die letzte Septemberwoche für den Nachtzug Zürich-Hamburg, Schlafwagen erster Klasse, Rückreisemöglichkeit innert Monatsfrist. Ärgern oder freuen? Charlotte entschied sich für verhaltene Vorfreude und nannte Britta beim abendlichen Anruf eine unkalkulierbar Verrückte. – «Wie schätzt du, wäre deine Reaktion ausgefallen, hätte ich ein ähnlich unausgegorenes Bravourstück durchgezogen? Eine Glanznummer war das nun nicht gerade. Ob ich

sie denn eigentlich noch alle hätte? Ich hätte wohl einen an der Waffel! Exakt das wären deine glasklaren Worte gewesen.»

Nun, Britta war eben Britta, und bei ihren Eskapaden wurde mit verschiedener Elle gemessen. Die eigenen Eseleien waren samt und sonders passend, nachvollziehbar, meist hanebüchen begründet. Die der anderen wurden schnell einmal als meschugge abgetan. Daraufhin hüstelte Britta – nein, nein, nicht verlegen – siegesgewiss, hustete sich angriffslustig in ein gurgelndes Lachen: «Jetzt reg dich aber ab! Seit bald einem halben Dutzend Jahren planen wir diese Reise, da wollen wir uns doch nicht an solchen Geringfügigkeiten reiben. Von Belang ist es nun eher, die Marschroute zügig zu klären.» Dieser beiläufige Nachtrag zur Planung des Reisewegs liess Charlotte aufhorchen.

Erstes Ziel war die Mecklenburgische Seenplatte, darüber bestand Einigkeit. Davor sei genügend Spielraum für die Elbestadt-Erkundung samt Umgebung vorgesehen. Eine dritte Woche verbleibe quasi zur freien Disposition. So lautete Brittas nebelhafte Formulierung. Charlotte hatte der vagen Bemerkung keine weitere Bedeutung beigemessen, vielmehr als blosses Wunschdenken der Freundin abgetan. Das erwies sich als fataler Fehler. Eigentlich wusste Charlotte aus Erfahrung, Brittas Anhänge durften nie, aber auch gar nie quergelesen werden. Mit ihnen verhielt es sich wie mit Kleingedrucktem: Es griff, sobald man alles im Trockenen glaubte. Für Britta war eine dritte Woche unwiderruflich gesetzt. Einwände dagegen standen mit dem Rücken zur Wand. In welche Richtung denn die Appendix-Tage konkret zielten, erkundigte sich Charlotte in leicht aufgebrachter Stimmlage. «Siebenbürgen natürlich,

das ahntest du doch, das lag schon vor Perlas Tod in der Luft, vielmehr auf der Hand.»

Da machte es sich jemand wieder einmal gar einfach. Zwar hatte Britta Siebenbürgen nicht erst nach dem Verlust ihrer Mutter immer wieder als eine Art Sehnsuchtsort erwähnt. Dahinter verbarg sich eine Geschichte, die weit in ihre Jugend zurückreichte. Oma Böhme, wie sie die ganze Familie respektvoll nannte – allein Dirk, ihr Schwiegersohn, machte eine unrühmliche Ausnahme –, war über ein halbes Leben eng mit Vesna, einer Schlesien-Vertriebenen, befreundet gewesen. Sie teilten ein gemeinsames Los: den schicksalhaften Verlust von Angehörigen, Freunden, die Ausgrenzungen und das kräftezehrende Bemühen, auf fremdem Boden Wurzeln zu schlagen. Den Willen, zu bestehen, hatten beide; sie taten es auf unterschiedliche Weise.

Perla Böhme, die geläutert Bodenständige, Sachliche auch, verstand ihre Flucht aus der Heimat bald einmal als Glücksfall und Chance. Vesna, die fantasievolle Schwärmerin, hingegen verpuppte sich immer wieder in einen Kokon von Trauer und Tristesse. Dann wurde sie von heissem Verlangen nach Rückkehr – irgendwann, irgendwie – übermannt. Zum Irgendwann, Irgendwie reichte es nie, obwohl die Möglichkeiten da waren. Perla meinte jeweils, wenn sie ihrer Freundin wieder einmal vergeblich die Reisebegleitung anbot, Vesna wolle in Wahrheit ihre eigens zurechtgezimmerte Lebensgeschichte nicht durch die Realität getrübt sehen. Manchen Menschen müsse man ihre Kümmernis nicht mildern, sie bedeute ihnen gleichsam Medizin. – Oft leiden Trauerweidenmenschen nicht an Trauer, sie weiden sich daran.

Und da gab es ja auch noch für gar kummervolle Stunden die wundersame Hinterlassenschaft aus der schlesischen Küche. Oma Böhme war eine geübte Köchin. Mit reichem Wissen, satter Erfahrung und vortrefflichen Zutaten kochte sie. Sie tat’s, wie sie alles zu tun pflegte: schnörkellos, akkurat, gründlich. Das Resultat war ausnahmslos meisterlich; was Perla anpackte, glückte. Sei’s am Herd, bei der Arbeit im Kontor von Jochen Böhme, bei gewichtigen Vertragsverhandlungen mit zahlungskräftiger Kundschaft und häufig beim Schlichten unter der rein männlichen Belegschaft. Ging es um behutsames Ausloten zwischen Einlenken und Beharrlichkeit, war Perla besonders gefragt. Über ihrer Küche jedenfalls glänzte ein ganzer Himmel von Kochsternen. Vesna war eine ebenso begnadete Köchin. Rührte sie in ihren Kochtöpfen, reichte es zu einer Extraportion Butter und Schmalz, vermengt mit Gemüt und Gefühl. Beim Kochen taute, lebte sie auf, fand zu seltener Heiterkeit, ja Ausgelassenheit zurück. Familie wie Freunde schätzten die geselligen Tafelrunden. An solch seltenen Tagen lag Lebensfreude pur in der Luft.

Angerichtet wurde deftig. Von der sämigen Kartoffelsuppe, die locker eine ganze Mahlzeit ersetzte, über den Presssack, den ganz gemeinen Schwartenmagen, geadelt durch fluffige Klösse. Zum Kaffee wurde Liegnitzer Bombe, eine Pfefferkuchen-Spezialität, gereicht, die Stücke mit der verführerischen Füllung aus edlem Marzipan und Rosinen verschwenderisch geschnitten. Das Schlüsselwort aber zur unübertrefflichen Schwelgerei lautete: Schlesisches Himmelreich. Die traditionelle Fleischspeise aus Schweinebauchspeck mit Backobst aus Äpfeln, Birnen, Zwetschgen und Marillen war ein schlichtes, sättigendes – göttliches – Gericht. Vesna lief in solchen Mo -

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