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EINFÜHRUNG DES AUTORS

Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Ein Blick in die Geschichte des Schweizer Eishockeys liefert die ganze Bandbreite der Emotionen. Für einen ersten Höhepunkt sorgte ein Hotelvolontär namens Toni Morosani.

Tief im letzten Jahrhundert war das Schweizer Eishockey-Nationalteam populärer als die nationale Fussballauswahl. Die olympischen Triumphe von 1928 und 1948 (Bronze) sowie mehrere Europameister-Titel und WM-Medaillen zwischen 1928 und 1953 überstrahlten die Heldentaten der Fussballer bei Weitem. Aber dann folgte der Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Fast 30 Jahre lang versank das Schweizer Eishockey, von einem kurzen Zwischenhoch 1971 abgesehen, in einer tiefen internationalen Depression. 1973 stürzten die Schweizer gar zum zweiten Mal in die C-Gruppe ab, damals die niedrigste Leistungsstufe. Auf das Niveau von Australien. Der «Blick» schrieb: «Dann spielt doch gegen Hawaii.»

Von Einer Reise Nach

Hawaii Und

Der Rache Des Volont Rs

Immerhin verdanken wir unserem temporären Eishockey-Kellerdasein einige happige Triumphe: 20:0 gegen Australien, 15:0 gegen Korea, 9:0 gegen Dänemark. Den deutlichsten Sieg in der 112-jährigen Geschichte des Schweizer Eishockeyverbands feierten wir am 4. Februar 1939 gegen Jugoslawien: 23:0! Gegen das etwas grössere China begnügten wir uns 1994 mit einem 20:1. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Den tiefsten Absturz erlebte unser Nationalteam an den ersten Olympischen Winterspielen in Chamonix 1924. Jede zweite Minute kassierten wir ein Tor. Kanada – Schweiz 33:0. Aber Rache ist bekanntlich süss. Vier Jahre später, am 20. Februar 1928, rächte uns der 21-jährige Toni Morosani, damals Hotelvolontär, später Generaldirektor des Davoser Fünf-Sterne-Grandhotels Belvédère. Die in St. Moritz Olympiasieger gewordenen Varsity Grads aus Toronto machten auf ihrer Heimreise halt in Davos und sollen sich dort den einen oder anderen oder noch anderen Whisky genehmigt haben, weshalb im anschliessenden Freundschaftsspiel gegen den HCD der kanadische Goalie erstens etwas wacklig auf den Beinen stand und zweitens offenbar Sehprobleme hatte. Worauf der Puck vom Stock des erwähnten Hotelvolontärs ins Tor rollte. Der Jubel der Davoser echote von allen Bergen, denn nie zuvor in der 68-jährigen EishockeyWeltgeschichte hatte ein Europäer gegen Kanada in das 1,83 Meter breite und 1,22 Meter hohe Drahtgehäuse getroffen. Hoteldirektor Morosani musste die Geschichte des

Volontärs Morosani immer und immer wieder verkünden, doch die 1:6-Niederlage, die wackligen Beine und die Sehprobleme des kanadischen Torhüters schien er vergessen zu haben.

In der Neuzeit fordern die Schweizer auch nüchterne Topnationen. Ausgangspunkt des Hochs war die Heim­WM 1998 (und die Verpflichtung von Ralph Krueger als Nationaltrainer). Der Kanadier mit deutschen Wurzeln änderte Tonalität und Denkweise. Die Schweizer Nationalmannschaft begeisterte das ganze Land und erreichte sensationell die Halbfinals. Auch sonst brach der Bann. Denn die neue Generation verschaffte sich genauso in Nordamerika grössten Respekt und die Aussicht auf lukrative Verträge in der National Hockey League. Heute stellt die Schweiz in der besten Liga der Welt Spieler für eine ganze Mannschaft. Die Silbermedaillengewinne von 2013 und 2018 spiegeln die neue Leistungskultur auch auf WM-Niveau. Heute sagt Nico Hischier voller Selbstvertrauen: «Wir wollen Weltmeister werden.»

Doch eigentlich ist Französisch die Muttersprache des Schweizer Eishockeys. Drei Waadtländer Vereine gründeten 1908 den nationalen Verband und stellten auch die Mannschaft für die erste Weltmeisterschaft. Sie fand 1920 in Antwerpen statt und feierte vor Jahresfrist fast unbemerkt ihren 100. Geburtstag. Gründungspräsident Max Sillig, gleichzeitig Delegationsleiter, Kassier, Trainer, Captain und Stürmer, reiste mit acht Confrères an die Schelde. Sein Budget, 800 Franken für zehn Tage, entsprach ungefähr dem sportlichen Ergebnis: 0:29-Niederlage gegen Silbermedaillengewinner USA. Weltmeister wurde Kanada. Die Hegemonie des Eishockey-Mutterlandes dauerte bis Anfang der 1960er-Jahre.

Ab 1964 übernahm die Sowjetunion das Kommando. Erst drei Jahrzehnte später eroberten die Kanadier den Eishockey-Thron zurück. Darauf sitzen sie, zumindest nach dem eigenen Selbstverständnis, noch immer – wie es sich gebührt für den Erfinder des schnellsten Mannschaftsspiels. Dessen Wiege stand 1860 in Kingston Harbour. Für die allererste Profiliga zeichnete damals ein Mann namens J. L. Gibson verantwortlich. Seine Berufskollegen sind ihm noch heute dankbar. Eishockeyaner zählen zu ihren besten Kunden: Mr. Gibson war Zahnarzt. Doch auch zahnlose Spieler, deren es auf Glatteis viele gibt, kämpfen verbissen.

Ich wünsche Ihnen viel Spass beim Lesen dieses Buches.

Thomas Renggli

Schulterschluss: Die Eishockey-Nationalmannschaft symbolisiert das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl wie nur ganz wenige Institutionen des Landes.

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