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« WIR HABEN KEINEN DEUTSCHLANDKOMPLEX.»

Nationaltrainer PATRICK FISCHER zwischen

Vergangenheitsbewältigung und Vorfreude auf die vielleicht aufregendste Saison seiner Karriere.

Patrick Fischer, wie fällt Ihre Bestandsaufnahme über den Zustand des Schweizer Eishockeys im Herbst 2021 aus?

In erster Linie ist es sehr positiv, dass die Meisterschaft trotz Covid pünktlich gestartet ist und die Fans zurück in den Stadien sind. Durch die Rückkehr von fünf Spielern aus der National Hockey League –Gaëtan Haas, Yannick Weber, Gilles Senn, Dennis Malgin und Mirco Müller – ist das Niveau in unserer höchsten Liga zweifellos gestiegen. Ausserdem erhalten die jungen Spieler Vorbilder, an deren Karrieren sie sich orientieren können. Von der erhöhten Leistungsdichte in der National League kann auch die Nationalmannschaft profi- tieren. Als Nationaltrainer blicke ich mit grosser Vorfreude einer Saison mit zwei Höhepunkten entgegen: den Winterspielen im Februar in Peking und der Weltmeisterschaft drei Monate später in Finnland.

Zuletzt schied Ihre Mannschaft an der WM zweimal im Viertelfinal aus – 2019 gegen Kanada, 2021 gegen Deutschland. Wie erklären Sie sich diese Rückschläge?

Wenn man die Turniere gesamtheitlich betrachtet, kann man nicht von Rückschlägen sprechen. Besonders im Vergleich mit den grossen Nationen erzielten wir weitere Fortschritte. Im vergangenen Frühling besiegten wir beispielsweise Tschechien 5:2 – und gegen die Russen hielten wir bis zehn Minuten vor Schluss ein Unentschieden. Früher hatten wir die Partien gegen Topnationen meistens schon verloren, bevor das erste Bully gespielt war. Heute verfügen wir über eine Mannschaft, die – unabhängig vom Gegner – ab der ersten Minute Druck erzeugen und das Spiel diktieren kann. Leider konnten wir diese Pace aber nicht immer bis am Schluss aufrechterhalten. Daran müssen wir arbeiten – und uns quasi auf den letzten Metern eines Spiels verbessern. Wenn uns dies gelingt, haben wir das letzte Puzzleteilchen ins grosse Bild eingefügt.

Aber vor allem das Viertelfinal-Out gegen Deutschland im vergangenen Frühling schmerzte sehr …

Das ist richtig. Aber gleichzeitig muss man auch die Fortschritte der Deutschen anerkennen. Sie befinden sich seit Jahren faktisch im Gleichschritt mit uns und belegen in der Weltrangliste nicht aus Zufall den fünften Platz. Wir gewannen an der WM 2018 die Silbermedaille, Deutschland feierte denselben Erfolg am Olympiaturnier in jenem Jahr.

Aber auch an den Winterspielen 2018 war Deutschland Endstation für Ihre Mannschaft. Was machen die Deutschen momentan besser als wir?

Sie haben ein Spiel, das uns nicht sonderlich behagt. Sie treten defensiv auf –konzentrieren sich eher auf das Zerstören der gegnerischen Aktionen. Das befördert uns in eine Rolle, die wir noch nicht gewohnt sind. Von einem Deutschland-Komplex würde ich aber nicht sprechen. Wir waren kaum zweimal die schwächere

Mannschaft. Wir waren zweimal weniger glücklich. Aber nochmals: Wir befinden uns faktisch seit rund zwanzig Jahren auf Augenhöhe mit den Deutschen – und haben uns gemeinsam mit ihnen sukzessive der Weltspitze angenähert.

Hohe Erwartungen: «Besonders im Vergleich mit den grossen Nationen erzielten wir weitere Fortschritte.»

Reflexion: Patrick Fischer scheut die Selbstkritik nicht.

Welchen Einfluss hat Corona auf den Eishockeysport?

Ich denke nicht, dass die Pandemie einen grossen Einfluss auf die sportliche Entwicklung hatte. In unserem Fall war die Enttäuschung über die Absage der Heim-WM 2020 natürlich gross. Aber ab folgendem Herbst ist alles mehr oder weniger normal weitergegangen – mit dem grossen Unterschied, dass keine Fans in den Stadien waren. Dies raubte dem Spiel grosse Emotionen.

Wie Sie sagten, stehen in den kommenden Monaten gleich zwei Höhepunkte bevor – die Winterspiele in Peking, die WM in Finnland. Wie setzen sie die Prioritäten?

Normalerweise hätten wir im ersten Zusammenzug der Saison ein «SichtungsKader» aufgeboten und auch Spieler nominiert, die erst künftig ein Thema sein können. Dies ist nun nicht möglich. Wir starten deshalb im November und Dezember quasi mit einem Mischkader – werden aber sicher keinen Spieler zweimal aufbieten. In einer solch dichtbefrachteten Saison muss man mit den Kräften gut haushalten.

Zum ersten Mal steigen Sie in Peking in ein Turnier, in dem alle NHL-Stars dabei sind. Was löst dieser Gedanke in Ihnen aus?

Das ist eine grosse Sache; und ich freue mich enorm. Wir können mit unseren besten Kräften antreten und spielen gegen die Besten der Besten – und dies auf Eisfeldern mit den kleinen, nordamerikanischen Massen. Dies wird zweifellos Tempo und Intensität erhöhen und zu spektakulären Partien führen.

Die Schweiz stellt mittlerweile eine halbe Mannschaft (aktuell 12 Spieler) in der NHL. Ist die Teilnahme der NHL in Peking für Sie Fluch oder Segen?

Unsere Chancen auf eine Medaille wären wohl grösser, wenn die NHL nicht dabei wäre. Trotzdem spiele ich hundertmal lieber ein Turnier, an dem die NHL dabei ist. Es sind solche Anlässe, für die man als Spieler und Trainer lebt und arbeitet.

Blicken wir nochmals zurück auf den WM-Silbermedaillengewinn 2018. Welche Erinnerungen kommen auf?

Das war ein grandioses Erlebnis – und eine wichtige Reaktion auf die Enttäuschung an den Winterspielen in Pyeongchang –, zumal wir praktisch nur ein Wimpernzucken von der Goldmedaille entfernt waren. Doch die vergangenen beiden WM-Turniere machten deutlich, wie nahe Erfolg und Misserfolg beieinander liegen.

Sowohl in der Slowakei als auch in Lettland standen wir schon fast mit anderthalb Schlittschuhen im Halbfinal.

Was unterschied Ihre Spielergeneration von der jetzigen – auf Stufe A-Nationalmannschaft?

Wir haben heute zweifellos ein breiteres und qualitativ besseres Kader. Vor allem gehen die Jungen mit viel mehr Selbstvertrauen zur Sache als wir damals. Und wir verfügen über die deutlich grösseren spielerischen Möglichkeiten. Während zu meiner Zeit in der Regel ein Block fast ausschliesslich defensive Aufgaben übernahm, haben wir heute vier Formationen, die das Spiel kreieren können und grosses Kreativpotenzial besitzen.

Wie sieht Ihre persönliche Zukunftsplanung aus?

Mein Vertrag läuft bis 2024, und ich bin extrem motiviert, mit der Nationalmannschaft den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Vor allem möchte ich auch meinen Beitrag leisten, dass die Juniorenauswahlen wieder näher an die Weltspitze rücken. Diese sind schliesslich die Basis für die Zukunft.

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