
8 minute read
AUS DEM DSCHUNGEL AN
Die Schweizer Bande
Weltmeister der Herzen. Die Schweizer EishockeyNationalmannschaft stürmte 2018 in Kopenhagen begeisternd zu WM-Silber. Trainer PATRICK FISCHER legte sein Meisterstück ab.
Fischer gibt es wie Sand am Meer: Helmut, Urs, Joschka, Helene, die Ski, die Chöre und die Bettwaren. Doch keiner ist in der Schweiz derzeit populärer als Patrick. Der 46-jährige Zuger schaffte mit der Eishockey-Nationalmannschaft vor drei Jahren innerhalb von drei Monaten eine der erstaunlichsten Wenden der Sportgeschichte: vom Totalversager an Olympia zum Heilsbringer an der WM. Den Titel verpasste seine Mannschaft nur um Haaresbreite. Im Finale gegen Schweden lag sie zweimal in Führung – und schien auch im Penaltyschiessen auf Erfolgskurs. Doch letztlich fehlte ihr ein erfolgreicher Schuss zum totalen Glück.
Denkt Patrick Fischer an jenes Spiel zurück, wird ihm bewusst, wie schmal der Grat zwischen Triumph und Niederlage im Eishockey ist: «In neun von zehn Fällen verwertet Fiala seine Riesenchance, die er in der Verlängerung vier Minuten vor Schluss auf dem Stock hatte. Wir wären Weltmeister gewesen. Doch so glitt uns das Spiel im Penaltyschiessen aus der Hand.» Aber auch vor Jahresfrist seien sie viel knapper an einer Medaille vorbeigeschrammt, als es heute aussehe: «Im Viertelfinale glichen die Kanadier erst 0,4 Sekunden vor Schluss aus. Hätten wir den Vorsprung über die Zeit gerettet, wären wir unter den Top 4 gewesen.»
Doch zurück nach Kopenhagen ins Jahr 2018. Die Schweizer Spieler nahmen die Silbermedaille an jenem Sonntag mit leeren Blicken und hängenden Köpfen entgegen. Fischer reflektierte das schwer Fassbare bereits kurz nach der letzten Parade des schwedischen Goalies Nilsson mit bemerkenswerter Nüchternheit: «An den Winterspielen in Pyeongchang verloren wir gegen Deutschland in der
Verlängerung und waren die Deppen. Jetzt sind wir Helden, weil wir das Finale erreichten. Aber wir sind weder Deppen noch Helden, sondern ehrliche Arbeiter.»
Fischer sprach klar und mit gefasster Stimme. Selbst nach dem dramatischen Ende wirkte er in seinem dunklen Sakko, mit der blauen Krawatte und den zurückgekämmten Haaren eher wie ein Banker nach Feierabend als ein Eishockeytrainer, der gerade das wichtigste Spiel seiner Karriere durchlitten hatte. Nur wenn er mit aufgerissenem Mund einen Schluck aus der Plastiktrinkflasche nahm, erinnerte er an einen Sportler.
In seinem Auftreten und der Kommunikation weist der Zuger auffällige Parallelen zu Ralph Krueger auf – zum Schweizer Nationaltrainer, der zwischen 1998 und 2010 den Positivismus auf dem helvetischen Glatteis kultivierte, selbst eine Kanterniederlage gegen Kanada zum Sieg erklärte und auch immer etwas als Verkäufer in eigener Sache auftrat. So sprach Fischer, der die Mehrzahl seiner 184 Länderspiele in der Ära Krueger absolvierte, vor den Winterspielen in Pyeongchang laut von einer Medaille. Es war eine Aussage, für die er nach dem Scheitern scharf kritisiert wurde. Von SCB-Manager Marc Lüthi etwa wurden ihm die fehlende Ausbildung und Erfahrung als Trainer vorgehalten – ein Einwand, der nicht völlig aus der Luft gegriffen war.
Seinen ersten Job als Trainer erhielt Fischer 2010 in der Junioren-Abteilung des HC Lugano. Eigentlich aspirierte er auf den Posten des Schweizer U20-Nationaltrainers. Aber nach der Entlassung von Philippe Bozon in Lugano wurde er quasi über Nacht als Co-Trainer an die Bande der ersten Mannschaft gespült. 2013 trat er offiziell als Headcoach in die Verantwortung. Im selben Jahr assistierte er in der Nationalmannschaft Headcoach Sean Simpson und gehörte zu den Silbermedaillengewinnern von Stockholm. Unter dem Anspruch, der «Nati» wieder mehr Swissness zu verleihen, erhielt er im Dezember 2015 seinen ersten Vertrag als Nationalcoach. Eine Personalie, die in den Medien kritisch beurteilt wurde. Fischer sagt heute dazu: «Ich verstehe, dass dieser Entscheid für einige schwer nachvollziehbar war.
Schliesslich war ich in Lugano entlassen worden. Aber ich spürte, dass mit diesen talentierten Spielern und einer offensiveren Spielweise vieles möglich ist.» Hätte der Verband allerdings nicht einen Strategiewechsel vollzogen, wäre er kaum zum Zug gekommen: «Es war mein Glück, dass Swiss Ice Hockey im Umbruch war – und die neue sportliche Führung auf frische Kräfte setzte.» Fischer weist jedoch darauf hin, dass in Lugano nicht alles schlecht gewesen sei: «In den ersten beiden Jahren lief es gut. Wir schlossen die Qualifikation jeweils mit einem Punktrekord ab und leiteten den Generationenumbruch ein. Ich war wohl der erste Trainer in der Resega seit John Slettvoll, der drei aufeinanderfolgende Saisons beginnen konnte.» Er sei Lugano für diese Chance heute noch unendlich dankbar. Gleichzeitig habe er in jenen Jahren als Assistent im Schweizer Nationalteam von Sean Simpson und Colin Muller sehr viel gelernt: «Vor allem der Weg zur Silbermedaille 2013 war ein überragendes Erlebnis.» Im Eishockey ein funktionierendes System und eine breite personelle Basis. Und nun stiess eine Generation von Spielern nach, die das offensive Element verstärkte. Plötzlich hatte die Schweiz rund ein Dutzend NHL-Spieler.» Es habe ihm ausserdem in die Karten gespielt, dass mit kreativen Verteidigern wie Diaz, Blum, Josi oder Gehring plötzlich eine viel optimistischere Spielweise möglich war. Gleichzeitig sagt Fischer, der frühere Goalgetter: «Das Toreschiessen ist Willenssache. Es geht darum, pausenlos an sich selber zu arbeiten.» könne man das Siegen nicht auf Knopfdruck lernen, es sei ein Prozess, den man verinnerlichen und erleben müsse.
Als er 2015 seinen Einstand als Nationaltrainer gab, habe er viel von der Arbeit seiner Vorgänger profitiert: «Wir hatten
Patrick Fischer war in seinem Leben oft im richtigen Moment am richtigen Ort –aber er besass auch immer wieder den Mut, vorwärtszugehen und Neues zu probieren. Mit über 30, einem Alter, in dem sich die meisten seiner Berufskollegen auf den Ruhestand vorbereiten, wagte er den Sprung in die NHL. Bei den Phoenix Coyotes brachte er es immerhin auf 27 Spiele und vier Tore. Vor allem machte er Bekanntschaft mit dem grössten Spieler der Geschichte, Wayne Gretzky, der damals Headcoach und Mitbesitzer der Coyotes war und den Transfer des Schweizers einfädelte. Noch heute steht Fischer mit Gretzky in Kontakt – und ist beeindruckt von dessen Aura: «Trotz seinem riesigen Erfolg und seiner Berühmtheit ist er eine ganz normale Person wie du und ich. Er ist ein absolut sympathischer Typ, der einen guten Humor hat und sehr offen ist.» Wayne Gretzky sei äusserst bescheiden und habe es vor allem geschätzt, dass er von Fischer ganz normal behandelt worden sei.
Dies ist einer der obersten Grundsätze von Patrick Fischer: «Ich versuche allen
Menschen gleich zu begegnen – frei von Vorurteilen oder vorgefassten Meinungen.» Von seinen früheren Trainern hat bei ihm Arno Del Curto den wohl stärksten Eindruck hinterlassen: «Ich bin ihm das erste Mal begegnet, als er beim HC Luzern meinen Bruder Marco trainierte.» Marco habe ihm damals gesagt: «Du, wir haben einen Trainer, der tickt nicht ganz richtig. Wie der uns übers Eis jagt, ist abnormal.»
Fischer lacht, wenn er diese Geschichte erzählt – und fügt sofort hinzu: «Arno hat mit seiner Intensität, Energie und Motivationskunst die Trainingslehre in der Schweiz auf ein neues Niveau gehoben.
In Davos trainierten wir oft drei- bis viermal pro Tag. Es ist erstaunlich, dass nicht schon früher andere diesen Weg gegangen sind.» Auf die Frage, wie er seine persönliche Beziehung zum St. Moritzer be- schreibt, antwortet Fischer: «Wir glauben beide ans Unmögliche. Und Arno wusste, wie er mit mir umgehen musste. Er konnte auch akzeptieren, dass ich das Eishockey im Ausgang manchmal vergessen habe.»

Im entscheidenden Moment fand Patrick Fischer den Fokus jedoch immer. Sonst hätte er es kaum zu Meisterehren mit Davos und Lugano sowie zu 183 Einsätzen mit der Schweizer Nationalmannschaft gebracht. Seine Weltoffenheit erschloss ihm immer wieder unerwartete Perspektiven. So spielte er gegen Ende seiner Laufbahn kurz für SKA St. Petersburg in der russischen KHL. Zu jener Zeit sagt er schonungslos ehrlich: «Finanziell war dies das beste Angebot, das mir je vorlag. Barry Smith, den ich aus Phoenix kannte, coachte das Team. Aber ich merkte schnell, dass ich für diese Topmannschaft nicht gut genug war.
Gewiefter Kommunikator: Fischer verschafft sich bei seinen Spielern Gehör.
Smith hätte alles umstellen müssen, um für mich Platz zu schaffen. Das wollte ich nicht. Deshalb lösten wir den Vertrag nach drei Monaten auf.»
Zuletzt kehrte Patrick Fischer zum EV Zug zurück und gab 2009 trotz weiterlaufendem Vertrag unvermittelt den Rücktritt bekannt: «Ich habe meine Ansprüche nicht mehr erfüllt – basta», kommentierte er damals seine Entscheidung. Patrick Fischer hatte genug vom Eishockey – und schien auch sonst mit seinem alten Leben aufräumen zu wollen.
Der Weg der Selbstfindung führte ihn auf erstaunliche Nebenpfade: Tai Chi, Yoga, Charakterlehre und eine Zwischenstation als professionellen Pokerspieler.
Ausserdem befasste er sich intensiv mit der indigenen Lebensweise in Südamerika, erstand Land im Dschungel von Peru und verbrachte in der Sommerpause jährlich einen Monat abseits der Zivilisation bei einem Indianerstamm: «Ich wollte die absolute Ruhe erleben und über mein Leben reflektieren.» Zu erreichen war er während dieser Zeit nur für seinen Sohn Kimi. Dieser war auch der Grund, weshalb es ihn nach Lugano zurückzog. Zwar war die Ehe mit seiner ersten Frau schon länger geschieden, doch Fischer suchte die Nähe zum Sohn. Mittlerweile hat er seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Zug verlegt.
Damit schloss sich ein Kreis. Patrick Fischer war in der Zentralschweiz quasi in den Eishockeysport hineingeboren worden. Er wuchs im Zuger Herti-Quartier –einen Steinwurf von der Eishalle entfernt – als jüngstes von drei Kindern auf. Vater Walter war in führender Position für eine amerikanische Firma tätig. In der Freizeit gehörte er zum erweiterten Betreuerstab beim EV Zug.
Patrick galt immer als Frohnatur, die die Menschen mit Charme und Schalk einnahm. Dies verhalf ihm auch im Eishockey zu Beliebtheit. Wo auch immer er spielte, gehörte er zu den Stimmungsmachern in der Garderobe. In Lugano bildete er mit
Marcel Jenni und Gian-Marco Crameri eine der erfolgreichsten Schweizer Sturmlinien der 1990er-Jahre. Doch wie seine beiden Sturmpartner wurde er aus dem Eishockey-Paradies vertrieben. Fischer war zu stark für das grosse Ego von Trainer Jimmy Koleff. Mit dem HC Davos gewann er später seinen zweiten Meistertitel als Spieler.
Wie gut Patrick Fischer als Trainer wirklich ist, wird sich in den kommenden Jahren weisen. Mit 46 Jahren steht er erst am Anfang seiner Karriere. Doch während seiner Zeit an der Schweizer Bande zeigte er eine beeindruckende Lernfähigkeit. Nach der missglückten Olympia-Mission 2018 in Südkorea – mit nur einem Sieg gegen das Heimteam – stand er offen zu seinen Fehlern. Es sei ein Versäumnis gewesen, dass man den Spielern im Vorfeld des Turniers eine Verschnaufpause gewährt und die Intensität im Training reduziert habe. Danach sei es der Mannschaft nicht mehr gelungen, den Motor wieder auf Touren zu bringen. «Wir hätten voll durchziehen müssen», meint Fischer rückblickend. Auch sonst sprach er die Mängel schonungslos an: vor allem im Power- und Boxplay. Und rückblickend würde er auch in der langfristigen Vorbereitung einiges anders machen: «Wenn wir im Herbst anders vorgegangen wären, hätte ich den Schlüsselspielern am Spengler Cup wohl freigegeben.»
Die Kurzanalyse seiner bisherigen WMTurniere fällt sehr präzise aus: «2016 scheiterten wir in der Vorrunde, doch wir erzielten acht Treffer mehr als im Jahr davor. Das gab mir die Gewissheit, dass wir auf dem richtigen Weg sind. 2017 spiel- ten wir eine ganz starke Gruppenphase, bezwangen Kanada und Tschechien, aber im Viertelfinale scheiterten wir an Schweden. Und was 2018 geschah, ist bekannt.»
Dieser Triumph sei für ihn nicht so überraschend gekommen, denn die Konstellation im Olympiajahr sei sehr gut gewesen: «Die grossen Nationen waren nicht top besetzt.» Überhaupt habe er das Gefühl, dass sie 2019 in Bratislava fast noch besser gespielt hätten als in Kopenhagen: «Aber uns fehlte das Schlachtenglück.»
Bleibt der Blick nach vorne auf die kommenden Grossereignisse. Was denkt Patrick Fischer, wenn er seine Spieler unverblümt von der Goldmedaille sprechen hört? «Mich freut das. Aber eigentlich ist das normal. Unser NHL-Spieler stehen jeden Tag gegen die besten der Welt auf dem Eis.» Die Mannschaft werde sich an den Winterspielen in Peking und an der WM 2022 in Finnland auf ihre eigene Reise begeben, eine Reise, die hoffentlich so lange wie möglich daure, sagt Fischer. Seine Reise führte ihn einst zu den Indianern in den südamerikanischen Dschungel. Und vielleicht kann er auch im Olympiajahr 2022 auf einen Schuss indigenen Medizinmann-Zauber hoffen.