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« NUR EIN SCHWEIZER TRAINER GARANTIERT NACHHALTIGKEIT.»
Als Raeto Raffainer im Januar 2015 im Schweizer Verband als neuer Direktor der Nationalmannschaften eingestellt wurde, ging ein Rauschen durch den hiesigen Blätterwald. Ein 33-jähriger Jüngling, der noch einen Vertrag als Spieler bei den GCK Lions besitzt, aber verletzungshalber zur Untätigkeit verdonnert ist, soll das Vakuum schliessen, das durch eine diffuse Struktur und eine unglückliche Personalwahl entstanden war? Ein Mann ohne Führungserfahrung in der wichtigsten operativen Rolle im Verband? Spielte da der Zufall Regie? Oder wollten die mächtigen Klubs aus Zürich und Bern bloss eine Marionette installieren? Zuvor hatte Ueli Schwarz nicht nur als Direktor Leistungssport der Liga, sondern auch als Verantwortlicher der Nationalteams fungiert und sich des Verdachts des Interessenskonflikts ausgesetzt. Raffainer sollte alles besser machen. Dieser sagt heute: «Der Support der Klubs war entscheidend, dass ich diesen Schritt wagte.» Es sei eine «Once-in-a-LifetimeChance» gewesen, von der wohl die meisten Eishockeyspieler am Ende ihrer Aktivkarriere träumen.
Die ersten Monate im Amt verliefen für den Neuling zäh und schmerzhaft. Später
Raeto Raffainer brilliert im September 2021 am Halbjahreskongress der IIHF in St. Petersburg und wird im ersten Wahlgang ins Council gewählt. Ist der St. Moritzer der nächste Schweizer Präsident? sagte Raffainer dazu: «Für mich war es quasi ‹learning by doing›.» Zuerst musste er allerdings mit ansehen, wie die Nationalmannschaft an der A-WM 2015 unter dem kanadischen Trainer Glen Hanlon das Startspiel gegen Österreich verlor, den Turnaround doch noch schaffte und letztlich im Viertelfinale an den Amerikanern scheiterte. Es war – nach dem Verpassen des Minimalziels im Jahr zuvor – zwar eine leichte Steigerung. Die Euphorie aus dem Silberjahr 2013 hatte sich aber endgültig verflüchtigt. Dementsprechend ernüchtert war die Stimmung um die Auswahl und ihren neuen Chef. In einem Kommentar mit dem Titel «Kopflos in die Zukunft» schrieb die sonst für ihre Zurückhaltung bekannte «Neue Zürcher Zeitung» vor dem Start in die Saison 2015/2016 am DeutschlandCup: «Kaum jemand schaut hin. Länderspieltermine im November waren noch nie ein Renner. Doch mittlerweile bewegt sich die Auswahl, die doch eigentlich die zweitwichtigste des Landes sein sollte, ungebremst auf die Bedeutungslosigkeit zu. Das Aufgebot ist voller Lücken. Wer nur ansatzweise angeschlagen ist, sagt ab. Man verzichtet wegen Nackenschmerzen, aus Schonung oder weil der Grossvater verstorben ist. Die Palette der Entschuldigungen erinnert an die schwarzen 1990er-Jahre, als einst ein Spieler ein Aufgebot ausschlug, weil sich sein Hund eine Bänderzerrung zugezogen hatte.»
Die Ersten Monate Im Amt Verliefen F R Den Neuling
Der Schaden war hausgemacht. Denn nachdem Raffainer den glücklosen Hanlon im September entlassen hatte, suchte er zunächst vergeblich nach einem Nachfolger. Entsprechend hart ging die «Weltwoche» mit dem Funktionär ins Gericht:
«Ob der Jungdirektor nun den Durchblick besitzt, bleibt offen. Seine verunglückte Suche nach einem Nationaltrainer deutet eher darauf hin, dass er (bestenfalls) der Einäugige unter Blinden ist.»
Rückblickend kann Raffainer diese Kritik nachvollziehen. Gleichzeitig stellt er jedoch klar: «Die Trennung von Hanlon kam im dümmsten Moment. Denn im September stehen normalerweise alle gefragten Trainer unter Vertrag.» Gleichzeitig verfolgten Raffainer und Verbands-CEO Florian Kohler einen klaren Plan: «Swissness.» Nach Jahren der kanadischen «Fremdherrschaft» wollte man das Nationalteam wieder in die Hände eines Einheimischen geben.
Raffainers Shortlist umfasste vier Namen: Patrick Fischer (Lugano), Arno Del Curto (Davos), Kevin Schläpfer (Biel) sowie Gerd Zenhäusern (Fribourg). Die Idee war es, dass die Trainer die Aufgabe gemeinsam und im Nebenamt erledigen würden. Doch der Kandidatenkreis lichtete sich schnell. Zenhäusern fühlte sich noch nicht bereit für diese Aufgabe, Del Curto graulte es vor den repräsentativen Pflichten. Er wäre bereit gewesen, den Job im Nebenamt für ein Jahr zu machen, wollte aber Davos nicht verlassen. Fischer stand bei Lugano in der Verantwortung. Blieb noch Kevin Schläpfer. Auch er war vertraglich an seinen Klub gebunden, doch die Gelegenheit, Nationaltrainer zu werden, war für ihn wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen.
So wurde der Basler über Nacht in die Hauptrolle einer Soap-Opera katapultiert, die von der «Aargauer Zeitung» genüsslich als «Lindenstrasse des Hockeys» bezeichnet wurde. In Biel waren die Verantwortlichen betupft, dass sich der Verband erfrecht hatte, hinterrücks Kontakt zu ihrem Trainer aufzunehmen. Dabei hatte Schläpfer dem Verband signalisiert, dass er die Freigabe sicher erhalten würde – eine krasse Fehleinschätzung. So luden die Bieler zu einer Medienkonferenz, die zum filmreifen Spektakel wurde. Die Klubchefs verkündeten, dass Schläpfer beim Klub bleibe und nicht Nationaltrainer werden dürfe. Immerhin gewährten sie ihrem wichtigsten Angestellten «eine Lohnerhöhung als Zeichen der Wertschätzung». Für Schläpfer war dies nicht genug, um seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Als er sich erklären wollte, übermannten ihn die Tränen – und er vermochte erst im zweiten Anlauf zu sagen: «Es ist für mich fast unglaublich, dass ich dieses Angebot vom Verband erhalten habe.» Dass ihn sein Klub gleichwohl nicht ziehen liess, akzeptierte er schweren Herzens und lautstark schluchzend. Zynismus des Schicksals: 13 Monate später wurde Kevin Schläpfer in Biel entlassen. Erst auf die Saison 2019/2020 fand er einen neuen Job – als sportlicher Leiter beim ewigen B-Spitzenklub SC Langenthal.
Weil Schläpfer nicht konnte und die anderen nicht wollten, wurde die Klotener Symbolfigur Felix Hollenstein zur Interimslösung für den ersten Saisonzusammenzug. Doch weil sein Vater schwer krank war, nahm sich Hollenstein selber aus dem Rennen. Von der ausländischen
Fraktion liebäugelten die Kanadier Serge Pelletier und Larry Huras mit dem Job. Die Westschweizer Medien brachten die russische Eishockey-Legende Slawa Bykow ins Spiel.
Daraus wurde nichts. Denn ein anderer hatte mit dem Timing mehr Glück als Schläpfer: Patrick Fischer. Er stürzte mit dem HC Lugano bis auf den letzten Platz ab und kassierte am 22. Oktober 2015 den blauen Brief. Doch jedes Ende kann auch ein Anfang sein. Am 4. Dezember wurde der Zuger als neuer Nationaltrainer vorgestellt. Die «Neue Zürcher Zeitung» titelte
«Die vierte Wahl» – und kommentierte: «Nun also übernimmt mit Fischer ein Trainer die Nationalmannschaft, der selber noch kaum Erfahrung hat. Peter Zahner, der als CEO der ZSC Lions und Mitglied des Leistungssport-Komitees einer der Meinungsführer in der Liga ist, warnte wiederholt vor der Lösung mit Fischer. Der ehemalige SCB-Sportchef Sven Leuenberger ist ähnlich skeptisch. Raffainer und sein CEO Florian Kohler haben von Anfang an eine Schweizer Lösung favorisiert und damit den Kreis potenzieller Kandidaten unnötig eingeengt. Nun müssen sie damit leben, nur ihre vierte Wahl erhalten zu haben.»
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Auf jene Situation angesprochen, sagt Raffainer heute: «Es war ein hochriskanter Entscheid. Und ich wusste, dass Medien und Öffentlichkeit aufheulen könnten.
Auch als Stürmer ein Mann mit Durchschlagskraft: Raffainer (l.) zu seiner Zeit beim SCB im Zweikampf mit ZSCCenter Michel Zeiter.
Der Trainer und sein
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Förderer: Patrick Fischer (r.) geniesst die uneingeschränkte Rückendeckung von Raffainer. Es ist eine Verbindung von durchschlagendem Erfolg.
Fischer musste bei Lugano als Tabellenletzter gehen. Ihn in dieser Situation zum Nationaltrainer zu machen, musste zwangsläufig auf Widerstand stossen.»
Weshalb er so vehement auf eine Schweizer Lösung pochte, erklärt Raffainer heute so: «Wenn wir einen Ausländer engagieren, besteht immer die Gefahr, dass er nach seiner Zeit an der Schweizer Bande in seine Heimat zurückkehrt und wir seine Erfahrungen und sein Know-how verlieren. Wenn wir aber auf einen Schweizer setzen, bleibt dieses Wissen im eigenen Kreislauf. Auch wenn Fischer dereinst nicht mehr Nationaltrainer ist, werden wir in irgendeiner Form bestimmt noch von seinem Wissen profitieren können.» Nach diesem
Prinzip sind bis heute die Trainerposten in den Nachwuchs-Nationalteams besetzt.
U20: Marco Bayer. U18: Marcel Jenni.
U17: Patrick Schöb. U16: Thomas Derungs. Raffainer sagt dazu: «Nur Schweizer an der Bande der Nationalmannschaften garantieren Nachhaltigkeit.» In grossen Eishockeynationen wie Kanada, Schweden, Finnland, Russland oder Tschechien käme ein Ausländer nie (oder nur in Ausnahmefällen) zum Handkuss.
Die Liaison mit Patrick Fischer wurde aber nochmals auf eine harte Probe gestellt. 2016 in Moskau enttäuschte die Mannschaft auf der ganzen Linie. Der elfte Platz bedeutete einen Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten. Fischer geriet unter starken Druck – und erhielt von seinem Vorgesetzten einen eher antizyklischen Treuebeweis: Vertragsverlängerung um zwei Jahre. Heute meint Raffainer dazu: «Ich spürte, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Mannschaft krankte aber an einem extremen Ungleichgewicht zwischen Offensive und Defensive.» Also stellte er dem offensiven Freigeist Fischer in der Form des früheren schwedischen Weltklasseverteidigers Tommy Albelin quasi ein defensives Gewissen zur Seite. Es sollte ein Geniestreich gewesen sein. Mit Albelin, Weltmeister 1997 und zweifacher Stanley-Cup-Sieger, fanden die Schweizer die Balance wieder, blieben in der Vorrunde der WM 2017 zweimal ohne Gegentreffer und stiessen als Gruppenzweiter souverän ins Viertelfinale vor. Dort scheiterten sie an Schweden.
Apropos Schweden. Zwölf Monate später war es erneut der elffache Weltmeister, der die Schweiz in die Sommerferien verabschiedete – diesmal aber zum spätestmöglichen Zeitpunkt – im WM-Finale von Kopenhagen nach Verlängerung und Penaltyschiessen. Auf die Frage, ob er noch von jenem Spiel träume, antwortet Raeto
Raffainer: «Vor allem vom Direktschuss von Kevin Fiala in der Verlängerung. Müsste ich einen Spieler in diesem Moment für diese Szene auswählen, würde ich immer Kevin nehmen – mit seinen Abschlussqualitäten und der Erfahrung aus der schwedischen Liga. Doch an jenem Abend waren die Eishockeygötter gegen uns.»
Im Hinblick auf die kommenden Monate warnt Raffainer, der heute als Chief Sport Officer beim SC Bern engagiert ist, vor übertriebenen Erwartungen: «Die Schweiz hat alle Qualitäten, um an grossen Turnieren weit zu kommen. Aber gerade die WM 2018 zeigte uns, wie schmal der Grat ist.» Während Finnland im Viertelfinal gegen Schweden in der zweitletzten Minute 3:4 im Rückstand lag, das Ausscheiden in extremis mit sechs Feldspielern abwendete und danach bis zum WM-Titel stürmte, kassierten die Schweizer im Viertelfinal gegen Kanada den Ausgleichstreffer 0,4 Sekunden vor Schluss. Raffainer weiss genau: Um dorthin zu kommen, wo das Team im Mai 2013 und 2018 stand, muss alles zusammenpassen. Und er kennt auch das Rezept für den persönlichen Erfolg. Im vergangenen September schaffte er die Wahl ins Council des Internationalen Eishockeyverbandes. Es war sportpolitisch sein bisher grösster Sieg – aber kaum sein letzter. Nicht wenige trauen es dem früheren Ersatzspieler der GCK Lions zu, dereinst sogar das Präsidentenamt übernehmen zu können. Es wäre eine der speziellsten und schönsten Geschichten, die das Schweizer Eishockey je geschrieben hat.