Kurzvorschau – Die Eishelden

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Aller Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2021 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt

Autor: Thomas Renggli

Lektorat: Susanne Dieminger

Korrektorat: David Heinen

Layout & Satz: Thomas Uhlig/www.coverdesign.net

Umschlaggestaltung: Darja Hosmann

ISBN: 978-3-03922-130-1

www.weberverlag.ch

Der Verlag Werd & Weber wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Impressum
Vorwort von René Fasel 6 Einführung des Autors 8 Patrick Fischer: Aus dem Dschungel an die Schweizer Bande 12 Interview Patrick Fischer: «Wir haben keinen Deutschland-Komplex.» 18 Raeto Raffainer: «Nur ein Schweizer Trainer garantiert Nachhaltigkeit.» 22 Roman Josi: Das Eishockey-Genie in der Hauptstadt der Countrymusik 28 Nico Hischier: «An der WM kann es nur einen Anspruch geben: Wir wollen den Titel!» 34 Der Heilige Gral des Schweizer Eishockeys (Hall of Fame) 39 Nino Niederreiter: Spektakulär und treffsicher: Ein Churer jagt über das NHL-Eis 40 Arno del Curto: Zwischen Genie und Wahnsinn – der erfolgreichste Trainer der Schweiz 44 Ralph Krueger: «Die Schweizer Nationalmannschaft ist mein Hauptlebenswerk.» 56 Reto von Arx / Marcel Jenni: Eishockey nach Mitternacht 68 Paul di Pietro: Dem Lehrmeister eine Lektion erteilt 72 Als Wasser zu Eis wurde Die wichtigsten Meilensteine der Schweizer Eishockey-Geschichte 76 Sean Simpson: Der Mann, der dem Schweizer Eishockey Silber schenkte 96 Mark Streit: Wie ein Berner zum Schweizer Eisbrecher in Amerika wurde 104 Mathias Seger: Rekordsammler, Meisterverteidiger, Publikumsliebling 110 Slawa Bykow: Ein Schweizer namens Bykow 116 Von Rappenspaltern und einer ignorierten Entlassung 120 Die WM, die nie stattfand 124 René Fasel: Der Eishockey-Diplomat 128 Die Schweizer Eishockeyspielerinnen: Die coolste Girlgroup der Schweiz 134 Die Schweizer Schiedsrichter: Blitzableiter und Respektspersonen 138 Nachwort von Stefan Grogg 142 Über den Autor I Dank I Bildnachweis 144
INHALT

VORWORT von René Fasel

Als ich 1995 in Schweden meine erste Weltmeisterschaft als Präsident des Internationalen Verbandes erleben durfte, war die Eishockeywelt noch eine andere: Die A-Gruppe bestand aus zwölf Teams, die Taktik war geprägt von der «Mittelzonen-Falle» – und die Schweizer Nationalmannschaft befand sich im Fahrstuhl zwischen den Ligen. Das Turnier in Stockholm und Gävle endete für sie mit der sportlichen Höchststrafe: Abstieg nach Niederlage in den Relegationspielen gegen Österreich. Trainer Mats Waltin, der während der Saison für den entlassenen Hardy Nilsson als Coach eingesprungen war, musste gehen.

Es sollte bis heute der letzte Sturz aus der Beletage gewesen sein. Drei Jahre später kehrte die Schweiz an der Heim-WM in den Elite-Zirkel zurück; und das mit Pauken und Trompeten. Mit einer fast schon märchenhaften Effizienz und einem sensationellen Sieg gegen Russland stürmte das Team von Ralph Krueger bis in die Halbfinals und sorgte trotz frühsommerlichen Temperaturen im ganzen Land für eine riesige Euphorie. Es sind Gefühle, die das Schweizer Eishockeypublikum 2013 und 2018 nochmals erleben durfte: als unsere Nationalmannschaft in Stockholm und Kopenhagen bis in den Final vorstiess und zweimal erst an Schweden scheiterte. Was mich besonders freut: Mit Patrick Fischer war es ein Schweizer Trainer, der das Wunder von Kopenhagen fast möglich machte. Dies zeigt, dass wir in der Schweiz auch in Sachen Taktik und Ausbildung auf höchstem Niveau arbeiten.

BEREIT FÜR DEN GROSSEN COUP

Die verpasste Möglichkeit von 2018 war indirekt auch ein klares Zeichen – ein Zeichen, dass die Schweiz bereit ist für den grossen Coup. Sie hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich der Weltspitze angenähert: dank eines hervorragenden Nachwuchsprogramms im Verband, dank der wertvollen Ausbildungsarbeit der Klubs, dank des Durchbruchs der Schweizer Spieler in der NHL, dank des in allen Bereichen gewachsenen Selbstvertrauens.

Heute kommen unsere Eishockeyspieler nicht mehr an eine WM, um ehrenvoll im Viertelfinal zu scheitern. Heute sagen sie laut und unbescheiden: «Wir wollen Weltmeister werden.» Allerdings muss dafür alles zusammenpassen.

Im Frühling 2020 hätte die Schweiz an der WM in Zürich und Lausanne die Geschichte gerne umgeschrieben. Und alles war perfekt orchestriert: Die Schweizer Schlüsselspieler befanden sich fast ausnahmslos in Topform, aus der NHL signalisierten sämtliche Protagonisten ihre Zusage für die Teilnahme, schon zwei Monate vor Turnierstart hatten

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die Veranstalter 320 000 Tickets verkauft: Einem grossen Sportfest stand nichts im Wege – bis der Coronavirus «zuschlug». Es war ein Faktor, mit dem niemand gerechnet hatte – den ich in meinen 26 Jahren an der Verbandsspitze nie erlebte. Zwar war 2009 die Bedrohung durch SARS ein grosses Thema – doch so konkret wie nun wurde es damals nie. Im Jahr 2020 ist alles anders – und so blieb uns nichts anderes übrig, als den Weisungen der Schweizer Behörden zu folgen und das grosse Eishockey-Fest abzusagen, bevor es beginnen konnte.

Doch nun gehen die Blicke wieder nach vorne. 2026 soll die WM in die Schweiz zurückkommen. Erhält der Schweizer Verband im kommenden

Frühling den Zuschlag, ist dies für den ganzen Eishockeysport eine grosse Chance. Denn wir können ein Turnier der kurzen Wege und der perfekten Infrastruktur garantieren.

Doch zuerst warten andere Herausforderungen auf das Schweizer Eishockey – mit dem Olympiaturnier 2022 in Peking und der WM zweieinhalb Monate später in Finnland. Dieses Buch soll die Vorfreude auf diese Ereignisse zusätzlich verstärken. In den folgenden rund 150 Seiten lässt sich die ganze Faszination des Eishockeys am Beispiel der Schweizer Szene hautnah und authentisch erleben: Alte Glücksgefühle werden aufgefrischt, Erinnerungen an epische Niederlagen aber nicht verdrängt.

Dieses Buch ist ein Objekt der sportlichen Zeitgeschichte, das eine der schönsten Erfolgsstorys im Schweizer Sport der vergangenen 50 Jahren dokumentiert.

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Der Freiburger René Fasel war von 1994 bis 2021 Präsident des Internationalen Eishockeyverbandes.

EINFÜHRUNG DES AUTORS

Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Ein Blick in die Geschichte des Schweizer Eishockeys liefert die ganze Bandbreite der Emotionen. Für einen ersten Höhepunkt sorgte ein Hotelvolontär namens Toni Morosani.

Tief im letzten Jahrhundert war das Schweizer Eishockey-Nationalteam populärer als die nationale Fussballauswahl. Die olympischen Triumphe von 1928 und 1948 (Bronze) sowie mehrere Europameister-Titel und WM-Medaillen zwischen 1928 und 1953 überstrahlten die Heldentaten der Fussballer bei Weitem. Aber dann folgte der Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Fast 30 Jahre lang versank das Schweizer Eishockey, von einem kurzen Zwischenhoch 1971 abgesehen, in einer tiefen internationalen Depression. 1973 stürzten die Schweizer gar zum zweiten Mal in die C-Gruppe ab, damals die niedrigste Leistungsstufe. Auf das Niveau von Australien. Der «Blick» schrieb: «Dann spielt doch gegen Hawaii.»

VON EINER REISE NACH

HAWAII UND

DER RACHE DES VOLONTÄRS

Immerhin verdanken wir unserem temporären Eishockey-Kellerdasein einige happige Triumphe: 20:0 gegen Australien, 15:0 gegen Korea, 9:0 gegen Dänemark. Den deutlichsten Sieg in der 112-jährigen Geschichte des Schweizer Eishockeyverbands feierten wir am 4. Februar 1939 gegen Jugoslawien: 23:0! Gegen das etwas grössere China begnügten wir uns 1994 mit einem 20:1. Doch Hochmut kommt vor dem Fall. Den tiefsten Absturz erlebte unser Nationalteam an den ersten Olympischen Winterspielen in Chamonix 1924. Jede zweite Minute kassierten wir ein Tor. Kanada – Schweiz 33:0. Aber Rache ist bekanntlich süss. Vier Jahre später, am 20. Februar 1928, rächte uns der 21-jährige Toni Morosani, damals Hotelvolontär, später Generaldirektor des Davoser Fünf-Sterne-Grandhotels Belvédère. Die in St. Moritz Olympiasieger gewordenen Varsity Grads aus Toronto machten auf ihrer Heimreise halt in Davos und sollen sich dort den einen oder anderen oder noch anderen Whisky genehmigt haben, weshalb im anschliessenden Freundschaftsspiel gegen den HCD der kanadische Goalie erstens etwas wacklig auf den Beinen stand und zweitens offenbar Sehprobleme hatte. Worauf der Puck vom Stock des erwähnten Hotelvolontärs ins Tor rollte. Der Jubel der Davoser echote von allen Bergen, denn nie zuvor in der 68-jährigen EishockeyWeltgeschichte hatte ein Europäer gegen Kanada in das 1,83 Meter breite und 1,22 Meter hohe Drahtgehäuse getroffen. Hoteldirektor Morosani musste die Geschichte des

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Volontärs Morosani immer und immer wieder verkünden, doch die 1:6-Niederlage, die wackligen Beine und die Sehprobleme des kanadischen Torhüters schien er vergessen zu haben.

In der Neuzeit fordern die Schweizer auch nüchterne Topnationen. Ausgangspunkt des Hochs war die Heim­WM 1998 (und die Verpflichtung von Ralph Krueger als Nationaltrainer). Der Kanadier mit deutschen Wurzeln änderte Tonalität und Denkweise. Die Schweizer Nationalmannschaft begeisterte das ganze Land und erreichte sensationell die Halbfinals. Auch sonst brach der Bann. Denn die neue Generation verschaffte sich genauso in Nordamerika grössten Respekt und die Aussicht auf lukrative Verträge in der National Hockey League. Heute stellt die Schweiz in der besten Liga der Welt Spieler für eine ganze Mannschaft. Die Silbermedaillengewinne von 2013 und 2018 spiegeln die neue Leistungskultur auch auf WM-Niveau. Heute sagt Nico Hischier voller Selbstvertrauen: «Wir wollen Weltmeister werden.»

Doch eigentlich ist Französisch die Muttersprache des Schweizer Eishockeys. Drei Waadtländer Vereine gründeten 1908 den nationalen Verband und stellten auch die Mannschaft für die erste Weltmeisterschaft. Sie fand 1920 in Antwerpen statt und feierte vor Jahresfrist fast unbemerkt ihren 100. Geburtstag. Gründungspräsident Max Sillig, gleichzeitig Delegationsleiter, Kassier, Trainer, Captain und Stürmer, reiste mit acht Confrères an die Schelde. Sein Budget, 800 Franken für zehn Tage, entsprach ungefähr dem sportlichen Ergebnis: 0:29-Niederlage gegen Silbermedaillengewinner USA. Weltmeister wurde Kanada. Die Hegemonie des Eishockey-Mutterlandes dauerte bis Anfang der 1960er-Jahre.

Ab 1964 übernahm die Sowjetunion das Kommando. Erst drei Jahrzehnte später eroberten die Kanadier den Eishockey-Thron zurück. Darauf sitzen sie, zumindest nach dem eigenen Selbstverständnis, noch immer – wie es sich gebührt für den Erfinder des schnellsten Mannschaftsspiels. Dessen Wiege stand 1860 in Kingston Harbour. Für die allererste Profiliga zeichnete damals ein Mann namens J. L. Gibson verantwortlich. Seine Berufskollegen sind ihm noch heute dankbar. Eishockeyaner zählen zu ihren besten Kunden: Mr. Gibson war Zahnarzt. Doch auch zahnlose Spieler, deren es auf Glatteis viele gibt, kämpfen verbissen.

Ich wünsche Ihnen viel Spass beim Lesen dieses Buches.

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Schulterschluss: Die Eishockey-Nationalmannschaft symbolisiert das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl wie nur ganz wenige Institutionen des Landes.

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AUS DEM DSCHUNGEL AN

DIE SCHWEIZER BANDE

Weltmeister der Herzen. Die Schweizer EishockeyNationalmannschaft stürmte 2018 in Kopenhagen begeisternd zu WM-Silber. Trainer PATRICK FISCHER legte sein Meisterstück ab.

Fischer gibt es wie Sand am Meer: Helmut, Urs, Joschka, Helene, die Ski, die Chöre und die Bettwaren. Doch keiner ist in der Schweiz derzeit populärer als Patrick. Der 46-jährige Zuger schaffte mit der Eishockey-Nationalmannschaft vor drei Jahren innerhalb von drei Monaten eine der erstaunlichsten Wenden der Sportgeschichte: vom Totalversager an Olympia zum Heilsbringer an der WM. Den Titel verpasste seine Mannschaft nur um Haaresbreite. Im Finale gegen Schweden lag sie zweimal in Führung – und schien auch im Penaltyschiessen auf Erfolgskurs. Doch letztlich fehlte ihr ein erfolgreicher Schuss zum totalen Glück.

Denkt Patrick Fischer an jenes Spiel zurück, wird ihm bewusst, wie schmal der Grat zwischen Triumph und Niederlage im Eishockey ist: «In neun von zehn Fällen verwertet Fiala seine Riesenchance,

die er in der Verlängerung vier Minuten vor Schluss auf dem Stock hatte. Wir wären Weltmeister gewesen. Doch so glitt uns das Spiel im Penaltyschiessen aus der Hand.» Aber auch vor Jahresfrist seien sie viel knapper an einer Medaille vorbeigeschrammt, als es heute aussehe: «Im Viertelfinale glichen die Kanadier erst 0,4 Sekunden vor Schluss aus. Hätten wir den Vorsprung über die Zeit gerettet, wären wir unter den Top 4 gewesen.»

Doch zurück nach Kopenhagen ins Jahr 2018. Die Schweizer Spieler nahmen die Silbermedaille an jenem Sonntag mit leeren Blicken und hängenden Köpfen entgegen. Fischer reflektierte das schwer Fassbare bereits kurz nach der letzten Parade des schwedischen Goalies Nilsson mit bemerkenswerter Nüchternheit: «An den Winterspielen in Pyeongchang verloren wir gegen Deutschland in der

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Verlängerung und waren die Deppen. Jetzt sind wir Helden, weil wir das Finale erreichten. Aber wir sind weder Deppen noch Helden, sondern ehrliche Arbeiter.»

Fischer sprach klar und mit gefasster Stimme. Selbst nach dem dramatischen Ende wirkte er in seinem dunklen Sakko, mit der blauen Krawatte und den zurückgekämmten Haaren eher wie ein Banker nach Feierabend als ein Eishockeytrainer, der gerade das wichtigste Spiel seiner Karriere durchlitten hatte. Nur wenn er mit aufgerissenem Mund einen Schluck aus der Plastiktrinkflasche nahm, erinnerte er an einen Sportler.

In seinem Auftreten und der Kommunikation weist der Zuger auffällige Parallelen zu Ralph Krueger auf – zum Schweizer Nationaltrainer, der zwischen 1998 und 2010 den Positivismus auf dem helvetischen Glatteis kultivierte, selbst eine Kanterniederlage gegen Kanada zum Sieg erklärte und auch immer etwas als Verkäufer in eigener Sache auftrat. So sprach Fischer, der die Mehrzahl seiner 184 Länderspiele in der Ära Krueger absolvierte, vor den Winterspielen in Pyeongchang laut von einer Medaille. Es war eine Aussage, für die er nach dem Scheitern scharf kritisiert wurde. Von SCB-Manager Marc Lüthi etwa wurden ihm die fehlende Ausbildung und Erfahrung als Trainer vorgehalten – ein Einwand, der nicht völlig aus der Luft gegriffen war.

Seinen ersten Job als Trainer erhielt Fischer 2010 in der Junioren-Abteilung des HC Lugano. Eigentlich aspirierte er auf den Posten des Schweizer U20-Nationaltrainers. Aber nach der Entlassung von Philippe Bozon in Lugano wurde er quasi

über Nacht als Co-Trainer an die Bande der ersten Mannschaft gespült. 2013 trat er offiziell als Headcoach in die Verantwortung. Im selben Jahr assistierte er in der Nationalmannschaft Headcoach Sean Simpson und gehörte zu den Silbermedaillengewinnern von Stockholm. Unter dem Anspruch, der «Nati» wieder mehr Swissness zu verleihen, erhielt er im Dezember 2015 seinen ersten Vertrag als Nationalcoach. Eine Personalie, die in den Medien kritisch beurteilt wurde. Fischer sagt heute dazu: «Ich verstehe, dass dieser Entscheid für einige schwer nachvollziehbar war.

Ein Mann mit vielen Facetten – Patrick Fischer im Jahr 2007.
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«WIR SIND WEDER DEPPEN NOCH HELDEN, SONDERN EHRLICHE ARBEITER.»

Schliesslich war ich in Lugano entlassen worden. Aber ich spürte, dass mit diesen talentierten Spielern und einer offensiveren Spielweise vieles möglich ist.» Hätte der Verband allerdings nicht einen Strategiewechsel vollzogen, wäre er kaum zum Zug gekommen: «Es war mein Glück, dass Swiss Ice Hockey im Umbruch war – und die neue sportliche Führung auf frische Kräfte setzte.» Fischer weist jedoch darauf hin, dass in Lugano nicht alles schlecht gewesen sei: «In den ersten beiden Jahren lief es gut. Wir schlossen die Qualifikation jeweils mit einem Punktrekord ab und leiteten den Generationenumbruch ein. Ich war wohl der erste Trainer in der Resega seit John Slettvoll, der drei aufeinanderfolgende Saisons beginnen konnte.» Er sei Lugano für diese Chance heute noch unendlich dankbar. Gleichzeitig habe er in jenen Jahren als Assistent im Schweizer Nationalteam von Sean Simpson und Colin Muller sehr viel gelernt: «Vor allem der Weg zur Silbermedaille 2013 war ein überragendes Erlebnis.» Im Eishockey

ein funktionierendes System und eine breite personelle Basis. Und nun stiess eine Generation von Spielern nach, die das offensive Element verstärkte. Plötzlich hatte die Schweiz rund ein Dutzend NHL-Spieler.» Es habe ihm ausserdem in die Karten gespielt, dass mit kreativen Verteidigern wie Diaz, Blum, Josi oder Gehring plötzlich eine viel optimistischere Spielweise möglich war. Gleichzeitig sagt Fischer, der frühere Goalgetter: «Das Toreschiessen ist Willenssache. Es geht darum, pausenlos an sich selber zu arbeiten.»

könne man das Siegen nicht auf Knopfdruck lernen, es sei ein Prozess, den man verinnerlichen und erleben müsse.

Als er 2015 seinen Einstand als Nationaltrainer gab, habe er viel von der Arbeit seiner Vorgänger profitiert: «Wir hatten

Patrick Fischer war in seinem Leben oft im richtigen Moment am richtigen Ort –aber er besass auch immer wieder den Mut, vorwärtszugehen und Neues zu probieren. Mit über 30, einem Alter, in dem sich die meisten seiner Berufskollegen auf den Ruhestand vorbereiten, wagte er den Sprung in die NHL. Bei den Phoenix Coyotes brachte er es immerhin auf 27 Spiele und vier Tore. Vor allem machte er Bekanntschaft mit dem grössten Spieler der Geschichte, Wayne Gretzky, der damals Headcoach und Mitbesitzer der Coyotes war und den Transfer des Schweizers einfädelte. Noch heute steht Fischer mit Gretzky in Kontakt – und ist beeindruckt von dessen Aura: «Trotz seinem riesigen Erfolg und seiner Berühmtheit ist er eine ganz normale Person wie du und ich. Er ist ein absolut sympathischer Typ, der einen guten Humor hat und sehr offen ist.» Wayne Gretzky sei äusserst bescheiden und habe es vor allem geschätzt, dass er von Fischer ganz normal behandelt worden sei.

Dies ist einer der obersten Grundsätze von Patrick Fischer: «Ich versuche allen

«ICH WAR WOHL DER ERSTE TRAINER IN DER RESEGA SEIT JOHN
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SLETTVOLL, DER DREI SAISONS IN FOLGE BEGINNEN KONNTE.»

Menschen gleich zu begegnen – frei von Vorurteilen oder vorgefassten Meinungen.» Von seinen früheren Trainern hat bei ihm Arno Del Curto den wohl stärksten Eindruck hinterlassen: «Ich bin ihm das erste Mal begegnet, als er beim HC Luzern meinen Bruder Marco trainierte.» Marco habe ihm damals gesagt: «Du, wir haben einen Trainer, der tickt nicht ganz richtig. Wie der uns übers Eis jagt, ist abnormal.»

Fischer lacht, wenn er diese Geschichte erzählt – und fügt sofort hinzu: «Arno hat mit seiner Intensität, Energie und Motivationskunst die Trainingslehre in der Schweiz auf ein neues Niveau gehoben.

In Davos trainierten wir oft drei- bis viermal pro Tag. Es ist erstaunlich, dass nicht schon früher andere diesen Weg gegangen sind.» Auf die Frage, wie er seine persönliche Beziehung zum St. Moritzer be-

schreibt, antwortet Fischer: «Wir glauben beide ans Unmögliche. Und Arno wusste, wie er mit mir umgehen musste. Er konnte auch akzeptieren, dass ich das Eishockey im Ausgang manchmal vergessen habe.»

Im entscheidenden Moment fand Patrick Fischer den Fokus jedoch immer. Sonst hätte er es kaum zu Meisterehren mit Davos und Lugano sowie zu 183 Einsätzen mit der Schweizer Nationalmannschaft gebracht. Seine Weltoffenheit erschloss ihm immer wieder unerwartete Perspektiven. So spielte er gegen Ende seiner Laufbahn kurz für SKA St. Petersburg in der russischen KHL. Zu jener Zeit sagt er schonungslos ehrlich: «Finanziell war dies das beste Angebot, das mir je vorlag. Barry Smith, den ich aus Phoenix kannte, coachte das Team. Aber ich merkte schnell, dass ich für diese Topmannschaft nicht gut genug war.

Gewiefter Kommunikator: Fischer verschafft sich bei seinen Spielern Gehör.

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Smith hätte alles umstellen müssen, um für mich Platz zu schaffen. Das wollte ich nicht. Deshalb lösten wir den Vertrag nach drei Monaten auf.»

Zuletzt kehrte Patrick Fischer zum EV Zug zurück und gab 2009 trotz weiterlaufendem Vertrag unvermittelt den Rücktritt bekannt: «Ich habe meine Ansprüche nicht

mehr erfüllt – basta», kommentierte er damals seine Entscheidung. Patrick Fischer hatte genug vom Eishockey – und schien auch sonst mit seinem alten Leben aufräumen zu wollen.

Der Weg der Selbstfindung führte ihn auf erstaunliche Nebenpfade: Tai Chi, Yoga, Charakterlehre und eine Zwischenstation als professionellen Pokerspieler.

Ausserdem befasste er sich intensiv mit der indigenen Lebensweise in Südamerika, erstand Land im Dschungel von Peru und verbrachte in der Sommerpause jährlich einen Monat abseits der Zivilisation bei einem Indianerstamm: «Ich wollte die absolute Ruhe erleben und über mein Leben reflektieren.» Zu erreichen war er während dieser Zeit nur für seinen Sohn Kimi. Dieser war auch der Grund, weshalb es ihn nach Lugano zurückzog. Zwar war die Ehe mit seiner ersten Frau schon länger geschieden, doch Fischer suchte die Nähe zum Sohn. Mittlerweile hat er seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Zug verlegt.

Damit schloss sich ein Kreis. Patrick Fischer war in der Zentralschweiz quasi in den Eishockeysport hineingeboren worden. Er wuchs im Zuger Herti-Quartier –einen Steinwurf von der Eishalle entfernt – als jüngstes von drei Kindern auf. Vater Walter war in führender Position für eine amerikanische Firma tätig. In der Freizeit gehörte er zum erweiterten Betreuerstab beim EV Zug.

Patrick galt immer als Frohnatur, die die Menschen mit Charme und Schalk einnahm. Dies verhalf ihm auch im Eishockey zu Beliebtheit. Wo auch immer er spielte, gehörte er zu den Stimmungsmachern in der Garderobe. In Lugano bildete er mit

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In der Wüste: Fischer während seines NHL-Gastspiels bei den Phoenix Coyotes.

Marcel Jenni und Gian-Marco Crameri

eine der erfolgreichsten Schweizer Sturmlinien der 1990er-Jahre. Doch wie seine beiden Sturmpartner wurde er aus dem Eishockey-Paradies vertrieben. Fischer war zu stark für das grosse Ego von Trainer Jimmy Koleff. Mit dem HC Davos gewann er später seinen zweiten Meistertitel als Spieler.

Wie gut Patrick Fischer als Trainer wirklich ist, wird sich in den kommenden Jahren weisen. Mit 46 Jahren steht er erst am Anfang seiner Karriere. Doch während seiner Zeit an der Schweizer Bande zeigte er eine beeindruckende Lernfähigkeit. Nach der missglückten Olympia-Mission 2018 in Südkorea – mit nur einem Sieg gegen das Heimteam – stand er offen zu seinen Fehlern. Es sei ein Versäumnis gewesen, dass man den Spielern im Vorfeld des Turniers eine Verschnaufpause gewährt und die Intensität im Training reduziert habe. Danach sei es der Mannschaft nicht mehr gelungen, den Motor wieder auf Touren zu bringen. «Wir hätten voll durchziehen müssen», meint Fischer rückblickend. Auch sonst sprach er die Mängel schonungslos an: vor allem im Power- und Boxplay. Und rückblickend würde er auch in der langfristigen Vorbereitung einiges anders machen: «Wenn wir im Herbst anders vorgegangen wären, hätte ich den Schlüsselspielern am Spengler Cup wohl freigegeben.»

Die Kurzanalyse seiner bisherigen WMTurniere fällt sehr präzise aus: «2016 scheiterten wir in der Vorrunde, doch wir erzielten acht Treffer mehr als im Jahr davor. Das gab mir die Gewissheit, dass wir auf dem richtigen Weg sind. 2017 spiel-

ten wir eine ganz starke Gruppenphase, bezwangen Kanada und Tschechien, aber im Viertelfinale scheiterten wir an Schweden. Und was 2018 geschah, ist bekannt.»

Dieser Triumph sei für ihn nicht so überraschend gekommen, denn die Konstellation im Olympiajahr sei sehr gut gewesen: «Die grossen Nationen waren nicht top besetzt.» Überhaupt habe er das Gefühl, dass sie 2019 in Bratislava fast noch besser gespielt hätten als in Kopenhagen: «Aber uns fehlte das Schlachtenglück.»

Bleibt der Blick nach vorne auf die kommenden Grossereignisse. Was denkt Patrick Fischer, wenn er seine Spieler unverblümt von der Goldmedaille sprechen hört? «Mich freut das. Aber eigentlich ist das normal. Unser NHL-Spieler stehen jeden Tag gegen die besten der Welt auf dem Eis.» Die Mannschaft werde sich an den Winterspielen in Peking und an der WM 2022 in Finnland auf ihre eigene Reise begeben, eine Reise, die hoffentlich so lange wie möglich daure, sagt Fischer. Seine Reise führte ihn einst zu den Indianern in den südamerikanischen Dschungel. Und vielleicht kann er auch im Olympiajahr 2022 auf einen Schuss indigenen Medizinmann-Zauber hoffen.

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«DASS WIR ZU HAUSE SPIELEN KÖNNEN, IST EIN RIESENVORTEIL. UNSERE FANS WERDEN UNS EINEN EXTRA-BOOST GEBEN.»

« WIR HABEN KEINEN DEUTSCHLANDKOMPLEX.»

Nationaltrainer PATRICK FISCHER zwischen

Vergangenheitsbewältigung und Vorfreude auf die vielleicht aufregendste Saison seiner Karriere.

Patrick Fischer, wie fällt Ihre Bestandsaufnahme über den Zustand des Schweizer Eishockeys im Herbst 2021 aus?

In erster Linie ist es sehr positiv, dass die Meisterschaft trotz Covid pünktlich gestartet ist und die Fans zurück in den Stadien sind. Durch die Rückkehr von fünf Spielern aus der National Hockey League –Gaëtan Haas, Yannick Weber, Gilles Senn, Dennis Malgin und Mirco Müller – ist das Niveau in unserer höchsten Liga zweifellos gestiegen. Ausserdem erhalten die jungen Spieler Vorbilder, an deren Karrieren sie sich orientieren können. Von der erhöhten Leistungsdichte in der National League kann auch die Nationalmannschaft profi-

tieren. Als Nationaltrainer blicke ich mit grosser Vorfreude einer Saison mit zwei Höhepunkten entgegen: den Winterspielen im Februar in Peking und der Weltmeisterschaft drei Monate später in Finnland.

Zuletzt schied Ihre Mannschaft an der WM zweimal im Viertelfinal aus – 2019 gegen Kanada, 2021 gegen Deutschland. Wie erklären Sie sich diese Rückschläge?

Wenn man die Turniere gesamtheitlich betrachtet, kann man nicht von Rückschlägen sprechen. Besonders im Vergleich mit den grossen Nationen erzielten wir weitere Fortschritte. Im vergangenen Frühling besiegten wir beispielsweise Tschechien 5:2 – und gegen die Russen hielten wir

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bis zehn Minuten vor Schluss ein Unentschieden. Früher hatten wir die Partien gegen Topnationen meistens schon verloren, bevor das erste Bully gespielt war. Heute verfügen wir über eine Mannschaft, die – unabhängig vom Gegner – ab der ersten Minute Druck erzeugen und das Spiel diktieren kann. Leider konnten wir diese Pace aber nicht immer bis am Schluss aufrechterhalten. Daran müssen wir arbeiten – und uns quasi auf den letzten Metern eines Spiels verbessern. Wenn uns dies gelingt, haben wir das letzte Puzzleteilchen ins grosse Bild eingefügt.

Aber vor allem das Viertelfinal-Out gegen Deutschland im vergangenen Frühling schmerzte sehr …

Das ist richtig. Aber gleichzeitig muss man auch die Fortschritte der Deutschen anerkennen. Sie befinden sich seit Jahren faktisch im Gleichschritt mit uns und belegen in der Weltrangliste nicht aus Zufall den fünften Platz. Wir gewannen an der WM 2018 die Silbermedaille, Deutschland feierte denselben Erfolg am Olympiaturnier in jenem Jahr.

Aber auch an den Winterspielen 2018 war Deutschland Endstation für Ihre Mannschaft. Was machen die Deutschen momentan besser als wir?

Sie haben ein Spiel, das uns nicht sonderlich behagt. Sie treten defensiv auf –konzentrieren sich eher auf das Zerstören der gegnerischen Aktionen. Das befördert uns in eine Rolle, die wir noch nicht gewohnt sind. Von einem Deutschland-Komplex würde ich aber nicht sprechen. Wir waren kaum zweimal die schwächere

Mannschaft. Wir waren zweimal weniger glücklich. Aber nochmals: Wir befinden uns faktisch seit rund zwanzig Jahren auf Augenhöhe mit den Deutschen – und haben uns gemeinsam mit ihnen sukzessive der Weltspitze angenähert.

Hohe Erwartungen: «Besonders im Vergleich mit den grossen Nationen erzielten wir weitere Fortschritte.»

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Reflexion: Patrick Fischer scheut die Selbstkritik nicht.

Welchen Einfluss hat Corona auf den Eishockeysport?

Ich denke nicht, dass die Pandemie einen grossen Einfluss auf die sportliche Entwicklung hatte. In unserem Fall war die Enttäuschung über die Absage der Heim-WM 2020 natürlich gross. Aber ab folgendem Herbst ist alles mehr oder weniger normal weitergegangen – mit dem grossen Unterschied, dass keine Fans in den Stadien waren. Dies raubte dem Spiel grosse Emotionen.

Wie Sie sagten, stehen in den kommenden Monaten gleich zwei Höhepunkte bevor – die Winterspiele in Peking, die WM in Finnland. Wie setzen sie die Prioritäten?

Normalerweise hätten wir im ersten Zusammenzug der Saison ein «SichtungsKader» aufgeboten und auch Spieler nominiert, die erst künftig ein Thema sein können. Dies ist nun nicht möglich. Wir starten deshalb im November und Dezember quasi mit einem Mischkader – werden

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aber sicher keinen Spieler zweimal aufbieten. In einer solch dichtbefrachteten Saison muss man mit den Kräften gut haushalten.

Zum ersten Mal steigen Sie in Peking in ein Turnier, in dem alle NHL-Stars dabei sind. Was löst dieser Gedanke in Ihnen aus?

Das ist eine grosse Sache; und ich freue mich enorm. Wir können mit unseren besten Kräften antreten und spielen gegen die Besten der Besten – und dies auf Eisfeldern mit den kleinen, nordamerikanischen Massen. Dies wird zweifellos Tempo und Intensität erhöhen und zu spektakulären Partien führen.

Die Schweiz stellt mittlerweile eine halbe Mannschaft (aktuell 12 Spieler) in der NHL. Ist die Teilnahme der NHL in Peking für Sie Fluch oder Segen?

Unsere Chancen auf eine Medaille wären wohl grösser, wenn die NHL nicht dabei wäre. Trotzdem spiele ich hundertmal lieber ein Turnier, an dem die NHL dabei ist. Es sind solche Anlässe, für die man als Spieler und Trainer lebt und arbeitet.

Blicken wir nochmals zurück auf den WM-Silbermedaillengewinn 2018. Welche Erinnerungen kommen auf?

Das war ein grandioses Erlebnis – und eine wichtige Reaktion auf die Enttäuschung an den Winterspielen in Pyeongchang –, zumal wir praktisch nur ein Wimpernzucken von der Goldmedaille entfernt waren. Doch die vergangenen beiden WM-Turniere machten deutlich, wie nahe Erfolg und Misserfolg beieinander liegen.

Sowohl in der Slowakei als auch in Lettland standen wir schon fast mit anderthalb Schlittschuhen im Halbfinal.

Was unterschied Ihre Spielergeneration von der jetzigen – auf Stufe A-Nationalmannschaft?

Wir haben heute zweifellos ein breiteres und qualitativ besseres Kader. Vor allem gehen die Jungen mit viel mehr Selbstvertrauen zur Sache als wir damals. Und wir verfügen über die deutlich grösseren spielerischen Möglichkeiten. Während zu meiner Zeit in der Regel ein Block fast ausschliesslich defensive Aufgaben übernahm, haben wir heute vier Formationen, die das Spiel kreieren können und grosses Kreativpotenzial besitzen.

Wie sieht Ihre persönliche Zukunftsplanung aus?

Mein Vertrag läuft bis 2024, und ich bin extrem motiviert, mit der Nationalmannschaft den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Vor allem möchte ich auch meinen Beitrag leisten, dass die Juniorenauswahlen wieder näher an die Weltspitze rücken. Diese sind schliesslich die Basis für die Zukunft.

«UNSERE CHANCEN AUF EINE MEDAILLE IN PEKING WÄREN WOHL
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GRÖSSER, WENN DIE NHL NICHT DABEI WÄRE.»

« NUR EIN SCHWEIZER

TRAINER GARANTIERT NACHHALTIGKEIT.»

Als Raeto Raffainer im Januar 2015 im Schweizer Verband als neuer Direktor der Nationalmannschaften eingestellt wurde, ging ein Rauschen durch den hiesigen Blätterwald. Ein 33-jähriger Jüngling, der noch einen Vertrag als Spieler bei den GCK Lions besitzt, aber verletzungshalber zur Untätigkeit verdonnert ist, soll das Vakuum schliessen, das durch eine diffuse Struktur und eine unglückliche Personalwahl entstanden war? Ein Mann ohne Führungserfahrung in der wichtigsten operativen Rolle im Verband? Spielte da der Zufall Regie? Oder wollten die mächtigen Klubs

aus Zürich und Bern bloss eine Marionette installieren? Zuvor hatte Ueli Schwarz nicht nur als Direktor Leistungssport der Liga, sondern auch als Verantwortlicher der Nationalteams fungiert und sich des Verdachts des Interessenskonflikts ausgesetzt. Raffainer sollte alles besser machen. Dieser sagt heute: «Der Support der Klubs war entscheidend, dass ich diesen Schritt wagte.» Es sei eine «Once-in-a-LifetimeChance» gewesen, von der wohl die meisten Eishockeyspieler am Ende ihrer Aktivkarriere träumen.

Die ersten Monate im Amt verliefen für den Neuling zäh und schmerzhaft. Später

Er wurde über Nacht vom Spieler zum Direktor, er stand im steifen Gegenwind. Doch er bewies in der wichtigsten Personalie ein glückliches Händchen. Der St. Moritzer RAETO RAFFAINER schrieb die ungewöhnlichste Erfolgsgeschichte im Schweizer Eishockey.
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Raeto Raffainer

brilliert im September 2021 am Halbjahreskongress der IIHF in St. Petersburg und wird im ersten Wahlgang ins Council gewählt. Ist der St. Moritzer der nächste Schweizer Präsident?

sagte Raffainer dazu: «Für mich war es quasi ‹learning by doing›.» Zuerst musste er allerdings mit ansehen, wie die Nationalmannschaft an der A-WM 2015 unter dem kanadischen Trainer Glen Hanlon das Startspiel gegen Österreich verlor, den Turnaround doch noch schaffte und letztlich im Viertelfinale an den Amerikanern scheiterte. Es war – nach dem Verpassen des Minimalziels im Jahr zuvor – zwar eine leichte Steigerung. Die Euphorie aus dem Silberjahr 2013 hatte sich aber endgültig verflüchtigt. Dementsprechend ernüchtert war die Stimmung um die Auswahl und ihren neuen Chef. In einem Kommentar mit dem Titel «Kopflos in die Zukunft» schrieb die sonst für ihre Zurückhaltung bekannte «Neue Zürcher Zeitung» vor dem Start in die Saison 2015/2016 am DeutschlandCup: «Kaum jemand schaut hin. Länderspieltermine im November waren noch nie ein Renner. Doch mittlerweile bewegt sich die Auswahl, die doch eigentlich die zweitwichtigste des Landes sein sollte, ungebremst auf die Bedeutungslosigkeit zu. Das Aufgebot ist voller Lücken. Wer nur

ansatzweise angeschlagen ist, sagt ab. Man verzichtet wegen Nackenschmerzen, aus Schonung oder weil der Grossvater verstorben ist. Die Palette der Entschuldigungen erinnert an die schwarzen 1990er-Jahre, als einst ein Spieler ein Aufgebot ausschlug, weil sich sein Hund eine Bänderzerrung zugezogen hatte.»

DIE ERSTEN MONATE IM AMT VERLIEFEN FÜR DEN NEULING

Der Schaden war hausgemacht. Denn nachdem Raffainer den glücklosen Hanlon im September entlassen hatte, suchte er zunächst vergeblich nach einem Nachfolger. Entsprechend hart ging die «Weltwoche» mit dem Funktionär ins Gericht:

«Ob der Jungdirektor nun den Durchblick besitzt, bleibt offen. Seine verunglückte Suche nach einem Nationaltrainer deutet eher darauf hin, dass er (bestenfalls) der Einäugige unter Blinden ist.»

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ZÄH UND SCHMERZHAFT.

Rückblickend kann Raffainer diese Kritik nachvollziehen. Gleichzeitig stellt er jedoch klar: «Die Trennung von Hanlon kam im dümmsten Moment. Denn im September stehen normalerweise alle gefragten Trainer unter Vertrag.» Gleichzeitig verfolgten Raffainer und Verbands-CEO Florian Kohler einen klaren Plan: «Swissness.» Nach Jahren der kanadischen «Fremdherrschaft» wollte man das Nationalteam wieder in die Hände eines Einheimischen geben.

Raffainers Shortlist umfasste vier Namen: Patrick Fischer (Lugano), Arno Del Curto (Davos), Kevin Schläpfer (Biel) sowie Gerd Zenhäusern (Fribourg). Die Idee war es, dass die Trainer die Aufgabe gemeinsam und im Nebenamt erledigen würden. Doch der Kandidatenkreis lichtete sich schnell. Zenhäusern fühlte sich

noch nicht bereit für diese Aufgabe, Del Curto graulte es vor den repräsentativen Pflichten. Er wäre bereit gewesen, den Job im Nebenamt für ein Jahr zu machen, wollte aber Davos nicht verlassen. Fischer stand bei Lugano in der Verantwortung. Blieb noch Kevin Schläpfer. Auch er war vertraglich an seinen Klub gebunden, doch die Gelegenheit, Nationaltrainer zu werden, war für ihn wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen.

So wurde der Basler über Nacht in die Hauptrolle einer Soap-Opera katapultiert, die von der «Aargauer Zeitung» genüsslich als «Lindenstrasse des Hockeys» bezeichnet wurde. In Biel waren die Verantwortlichen betupft, dass sich der Verband erfrecht hatte, hinterrücks Kontakt zu ihrem Trainer aufzunehmen. Dabei hatte Schläpfer dem Verband signalisiert, dass er die Freigabe sicher erhalten würde – eine krasse Fehleinschätzung. So luden die Bieler zu einer Medienkonferenz, die zum filmreifen Spektakel wurde. Die Klubchefs verkündeten, dass Schläpfer beim Klub bleibe und nicht Nationaltrainer werden dürfe. Immerhin gewährten sie ihrem wichtigsten Angestellten «eine Lohnerhöhung als Zeichen der Wertschätzung». Für Schläpfer war dies nicht genug, um seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Als er sich erklären wollte, übermannten ihn die Tränen – und er vermochte erst im zweiten Anlauf zu sagen: «Es ist für mich fast unglaublich, dass ich dieses Angebot vom Verband erhalten habe.» Dass ihn sein Klub gleichwohl nicht ziehen liess, akzeptierte er schweren Herzens und lautstark schluchzend. Zynismus des Schicksals: 13 Monate später wurde Kevin Schläpfer in Biel entlassen. Erst auf die Saison 2019/2020 fand er einen neuen Job – als sportlicher Leiter beim ewigen B-Spitzenklub SC Langenthal.

Weil Schläpfer nicht konnte und die anderen nicht wollten, wurde die Klotener Symbolfigur Felix Hollenstein zur Interimslösung für den ersten Saisonzusammenzug. Doch weil sein Vater schwer krank war, nahm sich Hollenstein selber aus dem Rennen. Von der ausländischen

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«ES WAR EIN HOCHRISKANTER ENTSCHEID. UND ICH WUSSTE, DASS MEDIEN UND ÖFFENTLICHKEIT AUFHEULEN KÖNNTEN.»

Fraktion liebäugelten die Kanadier Serge Pelletier und Larry Huras mit dem Job. Die Westschweizer Medien brachten die russische Eishockey-Legende Slawa Bykow ins Spiel.

Daraus wurde nichts. Denn ein anderer hatte mit dem Timing mehr Glück als Schläpfer: Patrick Fischer. Er stürzte mit dem HC Lugano bis auf den letzten Platz ab und kassierte am 22. Oktober 2015 den blauen Brief. Doch jedes Ende kann auch ein Anfang sein. Am 4. Dezember wurde der Zuger als neuer Nationaltrainer vorgestellt. Die «Neue Zürcher Zeitung» titelte

«Die vierte Wahl» – und kommentierte: «Nun also übernimmt mit Fischer ein Trainer die Nationalmannschaft, der selber

noch kaum Erfahrung hat. Peter Zahner, der als CEO der ZSC Lions und Mitglied des Leistungssport-Komitees einer der Meinungsführer in der Liga ist, warnte wiederholt vor der Lösung mit Fischer. Der ehemalige SCB-Sportchef Sven Leuenberger ist ähnlich skeptisch. Raffainer und sein CEO Florian Kohler haben von Anfang an eine Schweizer Lösung favorisiert und damit den Kreis potenzieller Kandidaten unnötig eingeengt. Nun müssen sie damit leben, nur ihre vierte Wahl erhalten zu haben.»

Auf jene Situation angesprochen, sagt Raffainer heute: «Es war ein hochriskanter Entscheid. Und ich wusste, dass Medien und Öffentlichkeit aufheulen könnten.

Auch als Stürmer ein Mann mit Durchschlagskraft: Raffainer (l.) zu seiner Zeit beim SCB im Zweikampf mit ZSCCenter Michel Zeiter.

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Der Trainer und sein

Förderer: Patrick Fischer (r.) geniesst die uneingeschränkte Rückendeckung von Raffainer. Es ist eine Verbindung von durchschlagendem Erfolg.

Fischer musste bei Lugano als Tabellenletzter gehen. Ihn in dieser Situation zum Nationaltrainer zu machen, musste zwangsläufig auf Widerstand stossen.»

Weshalb er so vehement auf eine Schweizer Lösung pochte, erklärt Raffainer heute so: «Wenn wir einen Ausländer engagieren, besteht immer die Gefahr, dass er nach seiner Zeit an der Schweizer Bande in seine Heimat zurückkehrt und wir seine Erfahrungen und sein Know-how verlieren. Wenn wir aber auf einen Schweizer setzen, bleibt dieses Wissen im eigenen Kreislauf. Auch wenn Fischer dereinst nicht mehr Nationaltrainer ist, werden wir in irgendeiner Form bestimmt noch von seinem Wissen profitieren können.» Nach diesem

Prinzip sind bis heute die Trainerposten in den Nachwuchs-Nationalteams besetzt.

U20: Marco Bayer. U18: Marcel Jenni.

U17: Patrick Schöb. U16: Thomas Derungs. Raffainer sagt dazu: «Nur Schweizer an der Bande der Nationalmannschaften garantieren Nachhaltigkeit.» In grossen Eishockeynationen wie Kanada, Schweden, Finnland, Russland oder Tschechien käme ein Ausländer nie (oder nur in Ausnahmefällen) zum Handkuss.

Die Liaison mit Patrick Fischer wurde aber nochmals auf eine harte Probe gestellt. 2016 in Moskau enttäuschte die Mannschaft auf der ganzen Linie. Der elfte Platz bedeutete einen Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten. Fischer geriet

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unter starken Druck – und erhielt von seinem Vorgesetzten einen eher antizyklischen Treuebeweis: Vertragsverlängerung um zwei Jahre. Heute meint Raffainer dazu: «Ich spürte, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Mannschaft krankte aber an einem extremen Ungleichgewicht zwischen Offensive und Defensive.» Also stellte er dem offensiven Freigeist Fischer in der Form des früheren schwedischen Weltklasseverteidigers Tommy Albelin quasi ein defensives Gewissen zur Seite. Es sollte ein Geniestreich gewesen sein. Mit Albelin, Weltmeister 1997 und zweifacher Stanley-Cup-Sieger, fanden die Schweizer die Balance wieder, blieben in der Vorrunde der WM 2017 zweimal ohne Gegentreffer und stiessen als Gruppenzweiter souverän ins Viertelfinale vor. Dort scheiterten sie an Schweden.

Apropos Schweden. Zwölf Monate später war es erneut der elffache Weltmeister, der die Schweiz in die Sommerferien verabschiedete – diesmal aber zum spätestmöglichen Zeitpunkt – im WM-Finale von Kopenhagen nach Verlängerung und Penaltyschiessen. Auf die Frage, ob er noch von jenem Spiel träume, antwortet Raeto

Raffainer: «Vor allem vom Direktschuss von Kevin Fiala in der Verlängerung. Müsste ich einen Spieler in diesem Moment für diese Szene auswählen, würde ich immer Kevin nehmen – mit seinen Abschlussqualitäten und der Erfahrung aus der schwedischen Liga. Doch an jenem Abend waren die Eishockeygötter gegen uns.»

Im Hinblick auf die kommenden Monate warnt Raffainer, der heute als Chief Sport Officer beim SC Bern engagiert ist, vor übertriebenen Erwartungen: «Die Schweiz

hat alle Qualitäten, um an grossen Turnieren weit zu kommen. Aber gerade die WM 2018 zeigte uns, wie schmal der Grat ist.» Während Finnland im Viertelfinal gegen Schweden in der zweitletzten Minute 3:4 im Rückstand lag, das Ausscheiden in extremis mit sechs Feldspielern abwendete und danach bis zum WM-Titel stürmte, kassierten die Schweizer im Viertelfinal gegen Kanada den Ausgleichstreffer 0,4 Sekunden vor Schluss. Raffainer weiss genau: Um dorthin zu kommen, wo das Team im Mai 2013 und 2018 stand, muss alles zusammenpassen. Und er kennt auch das Rezept für den persönlichen Erfolg. Im vergangenen September schaffte er die Wahl ins Council des Internationalen Eishockeyverbandes. Es war sportpolitisch sein bisher grösster Sieg – aber kaum sein letzter. Nicht wenige trauen es dem früheren Ersatzspieler der GCK Lions zu, dereinst sogar das Präsidentenamt übernehmen zu können. Es wäre eine der speziellsten und schönsten Geschichten, die das Schweizer Eishockey je geschrieben hat.

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«AUCH WENN FISCHER DEREINST NICHT MEHR NATIONALTRAINER IST, WERDEN WIR IN IRGENDEINER FORM BESTIMMT NOCH VON SEINEM WISSEN PROFITIEREN KÖNNEN.»

DAS EISHOCKEY-GENIE IN DER HAUPTSTADT DER COUNTRYMUSIK

Der Berner ROMAN JOSI schreibt in der Musikhauptstadt Nashville Eishockeygeschichte. Die Amerikaner loben den Verteidiger in den höchsten Tönen, seine Nachbarin ist ein Superstar des Pop. Was macht den Schweizer Hockeyspieler so erfolgreich?

Eishockey in Nashville – das ist wie Countrymusik auf dem Mond. Irgendwie deplatziert. Die Menschen tragen Cowboyhut und Stiefel, die Bars heissen «Red Door Saloon», «Robert’s Western World» oder «Gold Rush». Die Musik spielt am Lower Broadway. Und im Centennial Park steht ein originalgetreuer Nachbau des Parthenons. Darin befindet sich eine 13 Meter grosse Athena-Statue –die angeblich grösste Skulptur der westlichen Welt.

Weltgeschichte muss in Tennessee, tief im republikanischen Süden der USA, reproduziert werden. Eishockeygeschichte schreibt hier ein Gastarbeiter aus Bern:

Roman Josi, 29-jähriger Verteidiger der NHL-Organisation Nashville Predators. Mit 61 Punkten in der Regular Season stellte Josi schon vor vier Jahren einen neuen Klubrekord für Verteidiger auf. Im vergangenen Winter steigerte er diesen Wert nochmals. Vor allem in der Weihnachtszeit war seine Ertragsquote schlicht phänomenal. Zwischen dem 16. Dezember und dem 6. Januar kam er auf 18 Skorerpunkte. Als erst achter Verteidiger in den letzten 20 Jahren punktete der Berner in mindestens zehn aufeinanderfolgenden Spielen. Sein Arbeitgeber hatte den Wert des Schweizers schon im vergangenen Oktober quasi in Stein gemeisselt und Josi

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vorzeitig für weitere acht Jahre an sich gebunden. Dafür erhält der Berner bis 2028 rund 72 Millionen Franken – oder neun Millionen pro Saison. Gleichzeitig garantieren die Predators, dass sie Josi während der gesamten Vertragsdauer nicht transferieren werden: ein Schwur für die Ewigkeit in einer Branche, in der das Wort von heute schon morgen oft nichts mehr zählt. Die Fachwelt ist sich nicht nur deshalb bereits heute einig: Eher früher als später wird Josi mit der James Norris Memorial Trophy für den besten Verteidiger der Liga ausgezeichnet. Dass er im Januar 2016 als zweiter Schweizer nach Mark Streit fürs

All-Star-Game nominiert worden war, hob ihn quasi in den Adelsstand. «Roman gehört zu den zehn besten Verteidigern der Welt», sagt der frühere Schweizer Nationalspieler und heutige ZSC-Sportchef

Sven Leuenberger. Als Nachwuchstrainer beim SC Bern verfolgte der Uzwiler Josis Karriere praktisch vom ersten Schlittschuhschritt an. «Seine aussergewöhnlichen Veranlagungen waren schon in jungen Jahren deutlich sichtbar», erinnert sich Leuenberger, «vor allem die Ruhe am Puck, die Übersicht und Abgeklärtheit hoben ihn von der breiten Masse ab.»

Josis Scouting-Report durch die kanadische Eishockey-Gazette «The Hockey News» liest sich wie das Prädikat summa cum laude für eine Dissertation: «Roman Josi hat eine grossartige Puck-Behandlung, herausragende läuferische Eigenschaften und gerät praktisch nie in Panik. Ausserdem verfügt er über ordentliche körperliche Voraussetzungen für die NHL. Er ist ein sehr produktiver Spieler und kann gewaltige Einsatzzeiten verkraften.»

FÜR ZSC-SPORTCHEF

SVEN LEUENBERGER GEHÖRT

ROMAN JOSI ZU DEN ZEHN BESTEN VERTEIDIGERN DER WELT.

Die Bezeichnung «ordentlich» ist in Josis Fall eine amerikanische Untertreibung. Mit einer Grösse von 185 Zentimeter und einem Gewicht von 88 Kilogramm müsste sich der Schweizer auch in einem Schwingkeller nicht verstecken.

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Bei allen Superlativen und Huldigungen steht Roman Josi mit beiden Beinen auf dem Boden. Amerikanische Kollegen bezeichnen ihn als «down-to-earth guy». Journalisten aus der Schweiz empfängt er mit offenen Armen, nimmt sich Zeit für eine persönliche Stadtrundfahrt und gibt Tipps für Nachtessen und Schlummertrunk. Wo die Grenze zwischen Gastfreundschaft und Unprofessionalität liegt, weiss er jedoch genau: «Den Trainern ist es egal, was die Spieler am Abend machen. Aber die Rechnung ist einfach: Bringst du deine Leistung nicht, dann bist du plötzlich in der dritten Linie – oder nirgendwo mehr. Es warten viele, die deinen Job wollen.» So richtet sich sein Freizeitverhalten vor allem nach dem Spielplan: «Mal geht man in ein Shoppingcenter oder ins Kino. Aber vor allem muss man viel schlafen», sagt er.

Sean Simpson, als Nationaltrainer 2013 Gewinner der WM-Silbermedaille, gilt nicht als Mann der öffentlichen Gefühlsausbrüche. Bei der Beschreibung Josis gerät der Kanadier indes ins Schwärmen: «In unserem Team von 2013 wuchsen alle Spieler über sich hinaus, aber Roman war noch eine Stufe höher.» Das spiegelte sich auch in den persönlichen Ehrungen wider: Roman Josi wurde als erster und bisher einziger Schweizer zum wertvollsten Spieler einer A-WM gewählt. «Roman verfügt über aussergewöhnliche spielerische Klasse. Was ihn aber erst zum uneingeschränkten Leader macht, sind seine menschlichen Qualitäten: Bei allem Erfolg ist er demütig und bescheiden geblieben», so Simpson.

Dabei hätten allein die Anstellungsmodalitäten in Nashville schon früh dazu verleiten können, die Bodenhaftung zu verlieren: Bei den Predators besass Josi schon vor seinem aktuellen Deal einen mit 28 Millionen Dollar dotierten Siebenjahresvertrag. Was 2013 für den damals 22-Jährigen ein Traumgehalt war, wurde von Szenekennern später als «Schnäppchen» für den Klub eingeschätzt. So oder so: Josi betrachtet sein Salär auch als «Lebensversicherung». Nach vier Gehirnerschütterungen weiss er, dass eine Eishockeykarriere schnell vorbei sein kann. Irritiert reagierte seine Grossmutter Gemma in Bern über die Gehaltserhöhung des Enkels. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass man mit Hockeyspielen so viel Geld verdienen kann.

Josi ist jung, erfolgreich und lebensfroh. Dies führte schon dazu, dass er in Nashville bei seiner Nachbarin anklopfte, als fröhliche Partyklänge durch die Wände drangen. Der NHL-Star machte sich gewisse Hoffnungen, als Spontangast eingeladen zu werden – und wurde vom Wachpersonal schnöde abgewiesen. Was Josi nicht wusste: Die Besitzerin der Wohnung ist die amerikanische Popsängerin Taylor Swift. Sie hat bereits 170 Millionen Tonträger verkauft und benutzt Eis nur zum Kühlen von Drinks. Doch Josi liess es sich nicht nehmen, ein Konzert seiner Nachbarin zu besuchen, und fand sich in einer neuen Welt wieder: «Ich war der einzige Mann in einer Halle voller vierzehnjähriger Mädchen.»

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Triumph mit dem SC Bern: Josi gewinnt 2010 seinen ersten Titel.
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Im Arbeitsalltag bewegt sich Josi unter harten Kerlen. Sein Betätigungsfeld ist das Glatteis der 17 100 Zuschauer fassenden Bridgestone Arena. Nach mageren Jahren sind die Tribünenränge mittlerweile praktisch immer voll. Erfolg macht sexy – er-

Spätestens seit der Saison 2019/2020 müsste es allerdings auch dem letzten Greenhorn klar geworden sein, wie wertvoll Josi für die Mannschaft ist. Falls nicht, so hilft ihm der frühere Nashville-Coach Peter Laviolette auf die Sprünge: «Roman

höht aber nicht unbedingt die Fachkompetenz des Publikums: «Die Arena ist cool, die Fans sind laut. Aber grosse Ahnung vom Hockey haben sie nicht», meint Josi frei von jeglichen Illusionen. Im Süden der USA ist der Sudden Death in der öffentlichen Wahrnehmung ein Fall für den Strafrichter – und nicht für den Wintersportler.

ist ein herausragender Schlittschuhläufer – er besitzt hervorragende Übersicht und antizipiert das Spiel wie nur ganz wenige.» Die Zeitung «Nashville Post» vergleicht den Schweizer mit der Baseball­Ikone Ty Cobb. Der Outfielder stellte in seiner Karriere zu Beginn des 20. Jahrhunderts neunzig Ligarekorde auf, liegt in

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Bärenstark: Roman Josi 2009 mit dem Berner Wappentier.

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