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Zigeunerherz
Die See funkelte im Lichte des Vollmondes. Das Leben schien still zu stehen. Die Segel hingen schlaff an den Masten, schwerfällig schaukelte das Schiff auf der spiegelglatten Fläche. Der Mann am Steuer pfiff leise vor sich hin. Ein alter Seemannsbrauch – durch Pfeifen glaubte man, den Wind herbeirufen zu können. Es half nichts, der Wind blieb aus. Der Steuermann umschlang das Rad, die Ellbogen auf den seitlichen Griffspeichen abstützend, beugte sich vorneüber und schlief ein. Ab und zu zuckte er auf. Immer, wenn eine Woge ans Ruder schlug und das Steuerrad einen Ruck tat, oder wenn ihm einfiel, dass er Wache halten musste.
Windstille ist das Schlimmste für ein Segelschiff, dachte Matrose Jack, der sich an die Schanzkleidung lehnte und seine Augen in die Weite schweifen liess. Drei Tage Windstille ruinierten die Segel tatsächlich mehr als zwei Wochen scharfes Segeln. Durch das stetige Schwanken des Schiffes schlugen die locker hängenden Taue an die Segel, diese wiederum an die Masten, was zusammen mit der Feuchtigkeit von Tau oder einem nächtlichen Regen eine starke Abnützung zur Folge hatte.
Ja, Windstille ist das Schlimmste für ein Segelschiff. Aber es hat auch sein Gutes, überlegte der Matrose. Hätte sich das Schiff immer bei günstiger Brise mit zwölf Knoten pro Stunde seinen Weg durch die See gepflügt, wären ihm manche aus der Ruhe geborene Erkenntnisse entgangen.
Wie lange es ihn selber schon über die Weltmeere getrieben hatte, wusste Jack nicht mehr so recht. Auf den Schiffen konnte man immer tüchtige Burschen gebrauchen. Sie kamen und gingen. Jack hatte viele von ihnen gesehen. Einige davon hatte Neptun zu sich gerufen,
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Jakob Röthlisberger mit Emma. Weltenbummler: Urgrossvater Jakob Röthlisberger.
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andere blieben irgendwo in einem Hafen hängen. Jack segelte immer weiter. Freilich, zu seiner Zeit waren auch schon Dampfer unterwegs, aber die Reise mit dem Wind passte besser zu seiner Natur.
An den Namen Jack hatte er sich längst gewöhnt. Man sah ihm nicht mehr an, dass er eigentlich eine Landratte war, vom unteren Frittenbach bei Langnau im Emmental stammte und Röthlisberger hiess. Jakob Röthlisberger. Hätte jemand hier an Bord diesen Namen aussprechen wollen, dem hätte es wohl Risse in seine ausgetrockneten Lippen gesprengt.
Das Meer zog Jack in seinen Bann. Prachtvoll glitzerte die Fläche im Licht von Mond und tausend Sternen. Ein unerklärlicher Sog wirkte aus der Tiefe. Geheimnisvoll regte sich darin des Nachts unbekanntes Leben. Manchmal sprang ein Fisch, einmal schoss ein Hai vorbei, dessen Rückenflosse eine kleine, silberglänzende Schaumfurche in das Wasser schnitt.
Jack dachte an Emma. An ihre dunklen Augen, die ihn auf einmal an die Tiefe des Meeres erinnerten. Musste er um die halbe Welt
reisen, um das zu sehen? An jedem Hafen warteten die leichten Mädchen, fast überall liess er sich ein neues Tattoo stechen. Sein Körper war voll davon. Musste das sein, um zu begreifen, dass er am Ende einzig und allein Emma liebte? Vielleicht. Das Meer hatte ihn erweckt, die Frauen haben ihn wissend gemacht, die Stürme haben den Flaum von ihm gefegt.
Damals hatte es ihn einfach in die Ferne gezogen. Warum? Er wusste es nicht. Es gab keine Worte dafür. Emma liess ihn gewähren. Sie sah ihn an, mit Augen so dunkel und tief wie der Ozean. Er war hart zu ihr, oder wie es sein Urenkel Gölä rund hundert Jahre später in einem Lied singen würde: Er hatte eine Seele wie ein Winterkleid. Jack tat es leid, er wollte heim, zu Emma.
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Was wir über Jakob Röthlisberger wissen, ist bruchstückhaft. Mehr Mythos als historische Überlieferung. Sicher ist, dass aus seiner Ehe mit Emma sieben Kinder entsprungen waren. Eine davon hiess Frieda, die Grossmutter von Gölä.
Sicher ist auch, dass Deutschland am 1. August 1914 Frankreich und Russland den Krieg erklärte. Die Schweiz reagierte sofort und machte mobil. Ulrich Wille wurde zum General ernannt. Am 4. August wurde im Kanton Solothurn das Infanterieregiment 11 aufgeboten und damit das Füsilierbataillon 50. Auf der Schützenmatt in Solothurn gelobten die Soldaten, das Vaterland zu verteidigen. 5000 Schwurhände reckten in die Höhe, eine davon gehörte Füsilier Röthlisberger. Vier Tage später marschierte das Regiment in brütender Augusthitze über den Weissenstein zur französischen Grenze. Südlich von Ederswiler hoben die Soldaten Schützengräben aus und brachten sich in Stellung.2 Nach dem Krieg arbeitete Jakob in einer Ziegelei in Pieterlen. Das Herumstreifen und die Unabhängigkeit hatte er aufgegeben. Er starb 1929 im Alter von 49 Jahren. Sein Zigeunerherz hörte auf zu schlagen, der Wind zog weiter.
2 Das Bataillon wurde am 21. August abgelöst und ins Schwarzbubenland versetzt, danach in den Berner Jura und später in die Nähe von Fribourg zur weiteren Gefechtsausbildung. In den folgenden Kriegsjahren wurde das Bat. 50 in Basel, im Tessin und bei klirrender Kälte und Tiefschnee in Saignelégier und St-Ursanne eingesetzt. Danach waren sie in Grenchen, Delémont und Stein am Rhein stationiert. Feindkontakt hatten sie nicht, beschossen aber hin und wieder feindliche Flugzeuge, die die Grenze missachteten. Am 26. Juni 1915 nahmen sie in Solothurn an einem Defilee vor General Wille teil. Jeder Angehörige des Bat. 50 leistete im Ersten Weltkrieg durchschnittlich 500 Diensttage.
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Man wird den Eindruck nicht los, das genetische Erbe von Jakob Röthlisberger spiele bei Gölä eine ganz besondere Rolle. Die Verwandtschaft ist offensichtlich. Äusserlich sichtbar am tätowierten
Körper, innerlich spürbar am Freiheitsdrang und biografisch nachvollziehbar an vielen Reisen.
In früheren Zeiten hatten die Menschen ein feineres Gespür für ihre familiäre Herkunft. Die Kenntnis der eigenen Geschichte, der bewusste Umgang damit und der Respekt derselben gegenüber war in einigen Kulturen sogar Teil der Religion. Auch in der christlichen Tradition, die die Schweiz geprägt hat.
Zu wissen, woher man kam, bedeutete zu spüren, wer man war. Zu spüren, wer man war, bedeutete zu sehen, wo man hinwollte. Man verstand, dass, abgeschnitten von seinen Wurzeln, ein Mensch sich selbst und ein Volk seine Heimat verliert.
In Göläs Stammbaum gibt es noch mehr zu entdecken. Aus welchem Holz er geschnitzt ist, sehen wir nicht nur bei Jack, sondern auch beim alten Pfeuti, dem Wagner von Muri.
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