Leseprobe – Königsblau. Die Geschichte des FC Schalke 04

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Kรถnigsblau

Die Geschichte des FC Schalke 04


inhalt 1904 -1923 Mythos

1946 -1962 Neustart

1904: Schalker Jungen gründen Westfalia Schalke .................................... 10 1905: Ernst Kuzorra wird geboren ............................................................. 14 1906: Schalke gehört seit drei Jahren zu Gelsenkirchen ........................... 20 1907: Turnier an der Taubenstraße bringt 180 Mark ................................. 22 1908: Turner Krämer ist Gelsenkirchens erster Sportstar ......................... 26 1909: Heinrich Hilgert erster offizieller Vereinsvorsitzender ..................... 30 1910: Postkarte zeigt das alte Schalke ..................................................... 32 1911: Vereinslokal Haus Dittmar ist die erste Adresse des Clubs ............. 38 1912: Westfalia vereinigt sich mit TV Schalke 1877 .................................. 44 1913: TV Schalke beantragt neue Spielkleidung ....................................... 46 1914: Letztes Meisterschaftsspiel vor Kriegsbeginn ................................. 48 1915: Der Bankangestellte Robert Schuermann belebt Westfalia ............. 50 1916: Thomas Student wird Mannschaftskapitän ..................................... 52 1917: Christine Schuermann führt Schalker Fußballer .............................. 56 1918: Die Fußballknappen und der Bergbau ............................................. 58 1919: Fritz Unkel bietet Westfalia wieder Asyl .......................................... 60 1920: Zwei Zugänge aus England .............................................................. 64 1921: Meisterschaft in der A-Klasse ......................................................... 68 1922: Österreichischer Pokalsieger Wiener AF zu Gast ............................. 72 1923: Reinliche Scheidung vom Turnverein ............................................... 74

1946: Erstes Heimspiel nach dem Krieg .................................................. 178 1947: Abo als West-Meister gekündigt .................................................... 180 1948: Beinbruch beendet Laufbahn von Otto Tibulsky ............................ 184 1949: Klassenerhalt nach 9:0 gegen VfL Benrath ................................... 188 1950: Abschiedsspiel von Szepan und Kuzorra ....................................... 192 1951: Endlich wieder Nummer eins im Westen ....................................... 196 1952: Kapitän Klodt entscheidet das Stadtderby .................................... 200 1953: Albert Möritz will Nachwuchsarbeit fördern .................................. 208 1954: Staraufgebot zum ersten großen Jubiläum .................................... 210 1955: Final-K.-o. gegen KSC in letzten sieben Minuten ........................... 216 1956: Flutlichtdebüt zum Abschied eines Großen ................................... 220 1957: Wieder Heim-Kantersieg auf dem Weg zum Titel ........................... 224 1958: Siebte Deutsche Meisterschaft ..................................................... 228 1959: Landesmeister-Viertelfinale bei Atletico ........................................ 236 1960: Schulz-Wechsel endlich klar .......................................................... 242 1961: Skandal um Schwarze Kassen ....................................................... 246 1962: DFB-Bundestag beschließt Bundesliga .......................................... 250

1924 -1945 Meister 1924: Neue Autonomie, neuer Name, neues Lied ..................................... 78 1925: Szepan debütiert in Schalkes Erster Mannschaft ............................ 82 1926: Aufstieg in die Erste Liga ................................................................. 90 1927: Grundsteinlegung für die Kampfbahn .............................................. 92 1928: Erster ausländischer Trainer auf Schalke ...................................... 100 1929: Zum ersten Mal Westdeutscher Meister ........................................ 102 1930: Finanzobmann Willi Nier nimmt sich das Leben ............................ 104 1931: 70.000 strömen zum ersten Spiel nach einjähriger Sperre ........... 108 1932: Einzug ins Halbfinale gegen Frankfurt ........................................... 112 1933: Meistertrainer „Bumbas“ Schmidt tritt an ..................................... 118 1934: 2:1 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft ........................... 120 1935: Unternehmen Titelverteidigung erfolgreich ................................... 124 1936: Adolf Urban scheidet mit Nationalelf bei Olympia früh aus ........... 128 1937: Schalke schlägt Brentford FC 6:2 .................................................. 134 1938: Fritz Szepan übernimmt jüdisches Geschäft ................................. 140 1939: Kantersieg gegen Admira ist Endspiel-Rekord ............................... 146 1940: Schalke schlägt BVB zweistellig zu Null ......................................... 152 1941: Knappen verlieren Meisterschaftsendspiel nach 3:0-Führung ....... 158 1942: Uraufführung des Propaganda-Films „Das große Spiel“ ................ 162 1943: Adolf Urban fällt im Zweiten Weltkrieg .......................................... 166 1944: Letztes notiertes Spiel im Zweiten Weltkrieg ................................ 170 1945: Erstes Nachkriegsspiel gegen Stadtauswahl Wanne-Eickel ........... 174

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1963 -1977 Bundesliga 1963: Bundesliga-Premierensieg gegen Stuttgart ................................... 256 1964: Debakel in der Glückauf-Kampfbahn ............................................. 264 1965: Torhüter Gyula Toth läuft zum letzten Mal auf ............................... 270 1966: Sieg gegen Borussia Neunkirchen bringt Klassenerhalt ................ 274 1967: Günter Siebert wird Vereinspräsident ........................................... 278 1968: Stan Libuda ist wieder zurück ....................................................... 282 1969: Schäferhundbisse gegen Schalker ................................................ 288 1970: Klaus Fichtel Seriensieger bei WM in Mexiko ................................ 292 1971: Knappen verlieren 0:1 gegen Arminia Bielefeld ............................. 296 1972: Titelgewinn als Happy End einer super Saison .............................. 302 1973: Trainer entscheidet Justiz-Thriller .................................................. 308 1974: Erstes WM-Spiel im neuen Parkstadion ......................................... 310 1975: Premiere eines Markenzeichens ................................................... 316 1976: Schalke demütigt Bayern in München ........................................... 320 1977: Historischer UEFA-Cup-Besuch in Magdeburg .............................. 324


1978 -1991 Auf und Ab

2002-2015 Wir leben dich

1978: Schalker Fan-Club Verband gegründet .......................................... 330 1979: „Krebshilfe“ wird erste Werbung auf blauer Brust ......................... 338 1980: A- und B-Jugend stehen in Meisterschafts-Finals .......................... 344 1981: Die Knappen sind nur noch zweitklassig ....................................... 350 1982: Die Erste von drei Aufstiegsfeiern aus Liga zwei ........................... 356 1983: Olaf Thons erster Einsatz bei den Profis ........................................ 360 1984: Drama, Wahnsinn, 6:6 ................................................................... 366 1985: Knieverletzung bewahrt ZDF-Torwand vor Klaus Täuber ................ 372 1986: Karl-Heinz Neumann kokettiert mit Präsidentenamt ..................... 376 1987: Der Papst liest eine Messe im Parkstadion ................................... 382 1988: Mitglieder wählen „Geheimagent“ Zylka ........................................ 386 1989: Sieg gegen Blau-Weiß 90 Berlin sichert Klassenerhalt .................. 392 1990: Eichberg stellt „Luftschloss-Arena“ vor ......................................... 396 1991: Auftritt des ersten offiziellen Vereinsmaskottchens ...................... 400

2002: Trainer-Abschied mit Pokalsieg ..................................................... 468 2003: Pfeifkonzert für den Sieger des UI-Cups ....................................... 474 2004: 100 Schalker Jahre ....................................................................... 478 2005: Der S04 ist in der Königsklasse angekommen .............................. 486 2006: Manuel Neuer debütiert in der Bundesliga..................................... 492 2007: Derbyschlappe stoppt Traum vom achten Meistertitel .................. 498 2008: Schalkes Club-TV weitet Berichterstattung deutlich aus ............... 504 2009: Peter Peters übernimmt Finanzvorstand ....................................... 508 2010: Spanischer Weltstar wird ein Schalker .......................................... 512 2011: Taufe der Knappenschmiede.......................................................... 518 2012: Mitgliederversammlung verabschiedet ein Vereinsnovum ............ 524 2013: Clemens Tönnies zum sechsten Mal in Folge gewählt ................... 528 2014: Die Vereinsfamilie ehrt ihr Mitglied Nummer 125.000 .................. 532 2015: S04 weiht Erinnerungsort für Vereinsgründer ein ......................... 540

1992-2001 Eurofighter

Der FC Schalke 04 in Zahlen

1992: Udo Lattek will es noch mal wissen .............................................. 410 1993: Zweiter Amtsantritt von Manager Assauer .................................... 414 1994: Neue Satzung, moderne Strukturen .............................................. 420 1995: Erster Ligatreffer eines Knappen-Keepers...................................... 424 1996: Marc Wilmots beschließt Wechsel zum S04 .................................. 430 1997: Der UEFA-Cup-Triumph von Mailand ............................................. 434 1998: Grundsteinlegung der Arena ......................................................... 444 1999: Wahl der Jahrhundertelf ................................................................ 450 2000: Knappen präsentieren Zugang Andreas Möller ............................. 454 2001: Größtes Drama des deutschen Fußballs ....................................... 458

111 Jahre in Zahlen und Namen | Erfolge ............................................... 548 Meisterschaftsspiele 1904-2015 ............................................................ 550 DFB-Pokal ............................................................................................... 602 Supercup und Ligapokal ......................................................................... 626 Europapokalspiele und UI-Cup ................................................................ 630 Ranglisten ............................................................................................... 646 Finaltafeln ............................................................................................... 648 Kuriose Zahlen ........................................................................................ 662 Nationalspieler ....................................................................................... 664 Trainer .................................................................................................... 668 Vorsitzende ............................................................................................. 670 Das Spieler-Sammelalbum ...................................................................... 672 Autoren | Impressum ............................................................................. 698 Fotonachweise ........................................................................................ 700

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1924 bis 1945

1924 – BLAU UND WEISS, WIE LIEB‘ ICH DICH: DAS VEREINSLIED 1925 – EINER DER GRÖSSTEN: FRITZ SZEPAN 1926 – SCHALKES ERSTER TRAINER: HEINZ LUDEWIG 1927 – GLÜCKAUF-KAMPFBAHN: GRUNDSTEINLEGUNG DES ERFOLGS 1928 – „GUGGI AUS WEAN“: DICKKOPF MIT STARALLÜREN 1929 – TITEL MIT GEWICHT: WESTDEUTSCHER MEISTER 1930 – SELBSTMORD IM KANAL: WILLI NIER 1931 – ENDE DER SPERREN: DIE MASSEN STRÖMEN 1932 – FUSSBALL FILIGRAN: DER SCHALKER KREISEL BRUMMT 1933 – RAUBEIN MIT HERZ: „BUMBAS“ SCHMIDT 1934 – VERLIEBT IN VIKTORIA: DEUTSCHER MEISTER S04 1935 – EIN JAHR ANLAUF: MISSION TITELVERTEIDIGUNG 1936 – KNAPPEN IN DER NATIONALELF: TRÄNEN UND TRIUMPHE 1937 – JAHR DER SENSATIONEN: DOUBLE UND KANTERSIEG 1938 – DER S04 UND DIE NAZIS: WER FASZINIERTE WEN? 1939 – „IHR HOBT’S UNS RUINIERT“: S04 DEMÜTIGT HOCHMÜTIGE WIENER 1940 – GOLDENE BÜCHER, GOLDENE TORE: DAS DERBY 1941 – VOM 3:0 ZUM 3:4: ENDSPIEL-SCHMACH GEGEN RAPID WIEN 1942 – „DAS GROSSE SPIEL“: FILMREIFE PROPAGANDA 1943 – ENDE DER SCHONZEIT: ALA URBAN FÄLLT IM ZWEITEN WELTKRIEG 1944 – TRÜMMERWÜSTE: BOMBEN ZERSTÖREN LETZTE FUSSBALLTRÄUME 1945 – DER BALL ROLLT: „TEAM ASCHENKIPPE“ KICKT FÜR ZEMENT

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5. JANUAR: NEUE AUTONOMIE, NEUER NAME, NEUES LIED

„ „Blau und Weiß Auf der Jagd nach

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1924 „Blau und Weiß, wie lieb‘ ich dich / Blau und Wei-ha-heiß verlass mich nicht ...“ Samstags. 15.25 Uhr. VELTINS-Arena. Bier, Brezel und Bratwurst müssen beiseite. Der Anpfiff? Geschenkt! Den darfst du als SchalkeFan verpassen. Den ja. Aber nicht die Hymne. Den Hit. Den Moment, in dem sich für mehr als 60.000 Menschen Leidenschaft, Begeisterung und Vorfreude vereinen zu einem Lied. Zu DEM Lied. „... Blau und Weiß ist jaa der Him-mel nur, der Him-mel nu-hur/ Blau und Weiß ist unsre Fuuuß-ball-garni-tur ...“ Wecken kann man ihn in der Nacht, den S04-Fan, und darum bitten, das Schalker Vereinslied zu singen – vom Himmel und der Fußballgarnitur, über Mohammed und die so jungen und schönen Mädchen, bis hin zu den Tausend Freunden. Für einen in der Wolle gefärbten Schalker kein Problem. Für manchen frisch gewählten Präsidenten schon, der sich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als Vorsänger als nicht hundertprozentig textsicher erweist. Doch an einer anderen Frage scheitern alle: Wie ist dieses Lied eigentlich entstanden? Wer war der Autor? Wann und unter welchen Umständen hat er es geschrieben? Eine Spurensuche.

So viel ist auf Schalke bekannt: Musik und Text stammen von einem gewissen Hans J. König. Wer das ist? Fehlanzeige. Das Entstehungsjahr wird mit 1924 angegeben. Ein für den Verein geschichtsträchtiges Jahr: Am 5. Januar 1924 trennen sich Turner und Fußballer; die Vereinsfarben wechseln von Rot-Gelb zu Blau-Weiß. Das Vereinslied soll der Legende nach ebenfalls aus diesem Anlass gewählt worden sein. Erste Station: das Gelsenkirchener Institut für Stadtgeschichte. Nein, über einen Hans J. König liege in den Archiven nichts vor, lautet die Antwort. 1924 sei dieser König nicht im Gelsenkirchener Einwohnerverzeichnis zu finden. Und auch dies ist aktenkundig: Im Fußball-Magazin „kicker“ wird am 18. Juni 1935 das „Schalker Vereinslied“ abgedruckt. Das heißt zwar auch „Blau und Weiß“, allerdings hat es laut kicker fünf statt vier Strophen und bis auf die ersten beiden einen völlig anderen Text. Kostprobe aus der dritten Strophe: „Unsre Spieler Hand in Hand, hatten heut ‘nen schweren Stand, sollten sie dennoch siegen im Schweiß, halten sie noch höher in Ehr’n das Blau und Weiß.“ Ein Übermittlungsfehler? „Nein“, weiß Ernst Wellhausen. Der einstige Vereinsgastronom, der seit Ende der 1930er-Jahre kaum ein Heimspiel von Königsblau verpasst hat, kann sich ebenfalls an vom heutigen Text abweichende Zeilen erinnern: „Vor allem hat man damals nicht gesungen: Blau und Weiß, verlass mich nicht, sondern: Blau und Weiß verlass ich nicht!“ Doch warum sich das Lied verändert hat und wer dieser Hans J. König war, das weiß selbst das Schalker Urgestein nicht. Wer eine Suchmaschine mit den bekannten Strophen füttert, bekommt heute viele Verweise ausgespuckt, nicht wenige auf Schützenvereine wie Plettenberg-Grünetal 1924. Dieser, so besagt die Historie, sang bereits in den 1920er-Jahren das „Grüner Schützenlied“. Und zwar so: „Grün ach Grün, wie lieb ich dich, stolze Hoffnung, ein Trost für mich, Grün ach Grün ist Wald und Flur, Grün ach Grün ist auch der Schützen Garnitur ...“ Oder wie wäre es mit dem SV 1928 Veitshöchheim: „Grün und Schwarz, wie lieb‘ ich dich, Grün und Schwarz, das ist ein Gruß für mich ...“ Grün? Schwarz? Blau-Weiß? Schalke, Plettenberg-Grünetal, Veitshöchheim & Co. haben offenbar einstmals ein volkstümliches Lied für ihre Vereine okkupiert und umgedichtet. Für tiefgründige Details müsste man aber wohl studiert haben … >>

Gut aufgelegt: Willi Schulz (l.) und Georg Gawliczek (r.) mit der Single „Blau und Weiß“ neben Jukebox, Hans Bornemann, Hans J. König, Ernst Kuzorra und Hans Nowak.

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…, denkt sich auch Gregor Oertgen. Es ist der Student, der schließlich die richtige Fährte aufspürt. An der Bergischen Universität Wuppertal bringt er im Wintersemester 2013/2014 Struktur ins Farbenspiel. Auf Basis des Buchs „100 Schalker Jahre“ von 2004 widmet er sich für ein Germanistik-Proseminar der Entstehung des S04-Vereinslieds. Als Ursprung der Klaviatur habe ein Jägerlied aus dem Jahr 1797 gedient – „Lob der grünen Farbe“ von Ludwig von Wildungen. „Die innige Beziehung des Dichters zu dieser Farbe gründet in seiner Liebe zur Natur und zur Jagd“, schreibt Oertgen. Und manche der zwölf Strophen lassen ahnen, woher der Wind weht. Siehe … „Holdes Grün, wie lieb ich dich! Augenlust bist du für mich! Bist, so wahr ich Weidmann bin, aller Farben Königin.“ In späteren Jahren seien Abwandlungen aufgetaucht, wie das offensichtlich von der ersten Strophe inspirierte Lied „Holdes Grün, wie lieb ich dich (Brüder im Friedrichshain)“, das 1848 entstanden sein soll. In Strophe vier kommen wir der Sache schon näher … „Hätte ich ein Königreich, macht ich’s der Natur nun gleich, müßten alle Mädchen, jung und schön, grün, ach grün gekleidet gehen.“ Was aufhorchen lässt: Das Schalker Vereinslied soll doch 1924 entstanden sein, eine Quelle in abgedruckter Form präsentiert indes erst der kicker – elf Jahre später, als die vierte Strophe besagt … „Nur in Einigkeit hab’n wir’s vollbracht, dass wir hab’n die Deutsche Meisterschaft.“ Letztere erringt Königsblau bekanntlich 1934. So könne diese gedruckte Version in ihrer Gesamtheit auch erst nach dem Gewinn des Meistertitels entstanden sein, kombiniert der Student. Dass Autoren sich an bereits bekannten Liedtexten orientieren und diese dann umdichten, sei eine gebräuchliche Methode: das sogenannte Parodieverfahren. Oertgen: „Die Menschen fühlen sich durch die Ähnlichkeit des Urtextes mit dem neuen Text emotional angesprochen, was sie instinktiv mitsingen lässt.“ Und an diesem Punkt müsste eigentlich Hans J. König ins Spiel kommen. Doch wo findet man einen Parodisten? Nächster Anlauf: Duisburg. Dort residiert das Plattenlabel „AZ Records“, das die CD „Blau und Weiß“ herausgebracht hat – und zwar die „amtliche“ Version, die bei Heimspielen mehr als 60.000 Fans zu Fischer-Chören mutieren lässt. Über einen Hans J. König wisse er nichts, sagt Label-Chef Hans Müller. Doch über die Aufnahme von „Blau und Weiß“ kann er einiges erzählen. 1982 sei diese erfolgt, mit dem Zweitliga-Team um „Ennatz“ Dietz, Manni Drexler und Uli Bittcher. „Die Aufnahmen waren flott im Kasten. Die Jungs waren gut.“ Letzte Hoffnung: Anruf beim „Rheinischen Musikverlag“ in Frankfurt, der laut Müller die Rechte an „Blau und Weiß“ hält. Treffer! „1963 haben wir mit König einen Autorenvertrag abgeschlossen“, sagt eine Verlagssprecherin. Aus dem Kölner Raum stamme Hans J. König. Rechtsnachfolger des verstorbenen Urhebers seien seine Kinder Jacqueline und Thomas. Wann wurde der Titel geschrieben? Wer war König? Wann starb er? Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Der „Rheinische Musikverlag“ sei vom Verlag „Melodien der Welt“ übernommen worden, erklärt die Sprecherin, deshalb sei das Archiv kaum noch benutzbar. Sie hätte da aber noch die Adressen von Königs Kindern …

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Die wohnen in Köln – und können tatsächlich und schlussendlich das Rätsel um „Blau und Weiß“ lösen. Auf den Punkt gebracht: Der heute gesungene Text entstand 1959 bei einem geselligen Abend in einer Kölschen Kneipe namens „Hodeige“ an der Vorgebirgstraße. Das berichtet Jacqueline König, Tochter des 1992 im Alter von 61 Jahren verstorbenen Verfassers. „Mein Vater hat bei Hodeige in lockerer Runde mit Freunden über das Lied geplaudert.“ Da der feucht-fröhlichen Kneipenrunde der Text der seit den 1920er-Jahren in unterschiedlichen Versionen gesungenen Vereinshymne nicht mehr komplett geläufig ist, werden neue beziehungsweise veränderte Strophen gedichtet. Vier Jahre später, 1963, sichert Berufsmusiker Hans J. König die Rechte an „seiner“ Fassung ab. „Mein Vater war fußballverrückt“, erinnert sich die Tochter. „Bei Spielen liefen gleichzeitig Radio und Fernsehen.“ Und wie kommt ein Kölscher Jung ausgerechnet auf Blau-Weiß? „Meine Mutter hat mir erzählt, dass er schon immer Schalke-Fan war“, erklärt Jaqueline König. Bereits als Kind habe er für Königsblau geschwärmt. Für kurze Zeit habe ihr Vater in – ausgerechnet – Dortmund gewohnt und in dieser Zeit auch einige Schalker Heimspiele besucht. Musikalisch gehörte Königs Leidenschaft der „Conti-Combo“, in der er vor allem die Tasten bediente. „Die Gruppe war zehn Jahre lang recht erfolgreich“, sagt Jacqueline König. Und erfolgreich war und ist auch Königs Version von „Blau und Weiß“. Reichtümer, schränkt die Tochter ein, seien damit aber nicht zu verdienen. „Das wirft für uns nicht viel ab.“ Von unschätzbarem Wert ist Hans J. Königs Werk dagegen für den FC Schalke 04. Samstags. Um 15.25 Uhr. In der VELTINS-Arena. In dem Moment, in dem sich für mehr als 60.000 Menschen Leidenschaft, Begeisterung und Vorfreude vereinen zu einem Lied. Zu DEM Lied. „Tausend Feuer in der Nacht, haben uns das große Glück gebracht, Tausend Freunde, die zusammenstehn, zusammenstehn, dann wird der FC Schalke niemals untergehn ...“ <


1924

Flott im Kasten: die Neu-Aufnahme mit Bernard Dietz (2. v. r.)

Flott an den Tasten: Hans J. König – hier ausnahmsweise

und dem königsblauen Chor vom Schalker Markt.

am Xylophon – mit der „Conti-Combo“.

Mohammed war ein Prophet Ob das Vereinslied nun 1924 oder erst später entsteht, sei dahingestellt. Es dauert immerhin bis zum Jahr 2009, als die dritte Strophe einen Sturm im Wasserglas entfacht: „Mohammed war ein Prophet, der vom Fußballspielen nichts versteht, doch aus all der Farbenpracht, hat er sich das Blau und Weiße ausgedacht.“ Mit einem Mal stehen die Telefone in der Schalker Geschäftsstelle nicht mehr still, Medienanfragen stapeln sich: Zahlreiche Muslime sähen den Propheten Mohammed verunglimpft. Doch nicht mal im nach heutigen Erkenntnissen für „Blau und Weiß“ sinngebenden Lied „Lob der grünen Farbe“ von 1797 ist eine negative Färbung auszumachen, als es heißt: „Mohamed ist mein Patron, echte Schönheit kannt‘ er schon, er, dem aus der Farbenschaar nur die grüne heilig war.“ Nun ist Grün die Farbe des Islam und wird eben auch von Jägern bevorzugt. Ob Hymnen-Verfasser Hans J. König beim Farbwechsel zu Blau und Weiß Unwissenheit, eine Verdrehung der Tatsachen oder schlicht Humor unterstellt werden sollte, kann der 1992 verstorbene Autor nicht mehr beantworten. Als seine Zeilen 17 Jahre später für Empörung sorgen, beauftragt der S04 den Islamwissenschaftler Prof. Dr. Bülent Ucar mit der Analyse des jahrzehntelang unbeanstandeten Liedguts. Ergebnis: Im Vereinslied sei keine islamfeindliche Gesinnung zu erkennen. „Als muslimischer Islamwissenschaftler und islamischer Religionspädagoge freue ich mich vielmehr darüber, dass im Club des Reviers – meiner Heimat – der Prophet Muhammad (Friede sei auf Ihm) in diesem Vereinslied seit annähernd einem halben Jahrhundert erwähnt und bestätigt wird“, erklärt Ucar in seinem Gutachten und ergänzt: „Das Glas ist halbvoll, und auf Schalke sind und sollten alle Fans weiterhin zu Toleranz und Respekt im Umgang miteinander verpflichtet bleiben. Auch der Prophet war nach einhelliger Überzeugung aller Muslime nur ein Mensch, der nicht in die Zukunft gucken und damit ein Fußballexperte sein konnte. Er hatte schließlich wichtigeres zu tun!“

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1925

„Du warst einer „ der Größten, Fritz!

9. AUGUST: SZEPAN DEBÜTIERT IN SCHALKES ERSTER MANNSCHAFT

szepan Müsste man die Faszination, die vom FC Schalke 04 ausgeht, auf ganz wenige Ausnahmespieler reduzieren, er würde sicher zu ihnen gehören: Fritz Szepan gewinnt nicht nur sechsmal mit den Knappen die Deutsche Meisterschaft und einmal den Deutschen Pokal, er führt in 30 seiner 34 Länderspiele die deutsche Nationalmannschaft als Kapitän aufs Feld. Seine elegante, technisch versierte Spielweise macht den „blonden Fritz“ bei den zahlreichen Endspielen in Berlin zu einem Publikumsliebling. Doch nicht nur als Spieler steht Szepan für Schalke, das Vereinsleben prägt er auch nach seiner aktiven Laufbahn in verschiedenen Funktionen. Von 1949 bis 1954 ist er Trainer der Ersten Mannschaft, von 1964 bis 1967 kehrt er als Präsident zurück, ehe er 1974 im Alter von nur 67 Jahren stirbt. Mit seinem Namen verbindet sich indes ebenso eins der unrühmlichsten Kapitel der Clubgeschichte: 1938 übernimmt das Ehepaar Szepan ein Textilwarengeschäft am Schalker Markt, das die Eigentümer gegen ihren Willen im Rahmen der „Arisierung“ verkaufen müssen, weil sie jüdischen Glaubens sind.

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Wie viele der bekannten Knappen ist Fritz Szepan ein geborener Schalker. Seine Eltern kommen Ende der 1890er-Jahre nach Gelsenkirchen beziehungsweise in die Gemeinde Schalke, weil es dort Arbeit in der stürmisch aufstrebenden Montanindustrie gibt. Friedrich Hermann Sczepan, allgemein „Fritz“ genannt und meist „Szepan“ geschrieben, wird am 2. September 1907 als Sohn des aus dem ostpreußischen Kreis Neidenburg stammenden Bergmanns August Szepan – eines stattlichen Manns mit noch stattlicherem Schnurrbart bis hinter die Ohren gedreht – und dessen Frau Karoline geboren. Er ist das sechste von sieben Kindern des Paars. Die Familie ist, wie bei der Herkunft aus Masuren kaum anders zu erwarten, evangelisch. Mit seinen Freunden in Kindheitstagen teilt Fritz eine Leidenschaft, wie er einst erzählt: „An meinem ersten Schultag sehe ich eine Blechdose auf einem Bürgersteig. Ein Schlag, ein Schuss, die Blechdose flog fort – und ich bekam sofort eine von meinem Vater in den Nacken. Praktisch habe ich mit sechs Jahren Fußball gespielt. Die kleinen Jungens im Kohlenpott spielten alle Fußball. Da war ich auch einer derjenigen, der da mitwirkte.“ Später wird Szepan behaupten, dass es angesichts der räumlichen Nähe für ihn eine „Selbstverständlichkeit gewesen sei“, für Schalke 04 zu spielen. Doch der kleine Fritz schwärmt anfangs für einen anderen Verein. Gelsenkirchen 07 mit dem überragenden Dribbelkönig Michel Gogalla hat es ihm angetan. Doch als er sich „seinem“ Verein anschließen und mit den Schuhen seines Bruders mitkicken will, fängt der ihn auf dem Weg zum Sportplatz ab: „Wenn dir der Verein keine Fußballschuhe zur Verfügung stellt, soll er ohne dich spielen!“

„Um Himmels Willen, zum Boxen schon gar nicht, geh lieber zum Fußball! „ Einige Jahre später – der junge Fritz absolviert eine Lehre zum Klempner bei der Firma Küppersbusch – erfüllen ihm die Königsblauen den Schuhwunsch. Der 14-Jährige kommt erstmals in der Schalker Jugend zum Einsatz. „Von Zuhause gab es allerdings ein Verbot zu spielen. Also schlich ich mich jeden Sonntagmorgen um neun Uhr fort und bin zum Spiel gegangen. Man stellte mir dort alles, nur die Strümpfe habe ich mitgebracht. Aber meine Mutter merkte, dass ich später als sonst zum Mittagessen kam. Sie erfuhr es – und erteilte erneut ein Verbot.“ Karoline Szepan vom Gegenteil zu überzeugen, ist keine leichte Aufgabe. Gleich mehrmals wird Präsident Fritz Unkel vorstellig, um die Spielerlaubnis für das Talent zu erwirken. Schließlich lenkt Mutter Szepan ein – sofern Unkel den Sohn nach den Spielen wohlbehalten bei der Familie abliefert. Szepan selbst hat ebenfalls seinen Anteil am Meinungsumschwung. „Ich sagte meiner Mutter, dass ich zum Boxen gehen würde. Sie entgegnete: ‚Um Himmels Willen, zum Boxen schon gar nicht, geh lieber zum Fußball!’ So hatte ich erreicht, was ich erreichen wollte.“ Unkels Werben um Szepan kommt nicht von ungefähr. In seinem ersten Einsatz in der Ersten Jugendmannschaft schießt der Neue beide Tore zum 2:2 gegen den damals stärker eingeschätzten Nachwuchs des VfB Gelsenkirchen. Mit gerade 17 Jahren feiert er sein Debüt in der Ersten Mannschaft. Am 29. Juni 1925 bestreitet Fritz sein erstes Spiel für die Königsblauen bei Westfalia Herne. Szepan lässt in diesem Testspiel keine Fragen offen und nimmt den Zweiflern unter den Anhängern, die dem Jugendlichen noch nicht so viel zutrauen, den Wind aus den Segeln. Er markiert überragend vier Treffer bei dem 6:2 der Knappen über die Nachbarn.

Torreiche Derby-Premiere Die erste Begegnung zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund am 3. Mai 1925 in Herne ist ein ungleiches Duell. Die Königsblauen sind der dominierende Verein im Westen und sichern sich durch ein 4:2 den Titel des Ruhrgaumeisters der Kreisligen. Selbst der frühe Rückstand durch ein Tor von Willi Fischer bringt den Favoriten nicht ins Wanken. Nach der Pause gleicht Ernst Kuzorra aus, Gustav Kirstein legt

Ausgetanzt: Fritz Szepan verlädt Hüstens Keeper 1933

das 2:1 nach. Weitere Tref-

im Halbfinale um die Westdeutsche Meisterschaft.

fer von Kuzorra und Otto Wendt entscheiden das Spiel. Fischers verwandelter Foulelfmeter zum Endstand ist nur noch wichtig für die Statistik eines Derbys, das freundschaftlich abläuft. Zeitzeugen sprechen sogar von einer „tiefen Sympathie“ zwischen beiden Vereinen. Die große Rivalität entwickelt sich erst Jahre später, als der BVB, der 1943 erstmals gegen Königsblau gewinnt, zu einem ernsthaften Konkurrenten heranwächst.

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1925

Großer Sprung: Seit er 22 ist, spielt Szepan für die Nationalmannschaft.

„… indem er den Ball mit der Ferse über den Kontrahenten bugsiert, diesen umläuft und das Leder elegant stoppt. „ So nimmt die sportliche Entwicklung Szepans ihren Lauf, obwohl der Techniker von Beginn seiner Laufbahn bis zu ihrem späten Ende mit 43 Jahren mit einem Urteil leben muss, das ihm nicht behagt: Er sei für den Spitzenfußball nicht schnell genug. Ein Eindruck, dem auch Augenzeugen Jahrzehnte später nicht widersprechen. „Es gab sogar Stimmen im Verein, die das behauptet haben“, erzählt Szepan und klingt ein wenig in seinem Stolz verletzt. Doch mit seiner Spielintelligenz, Übersicht und Technik macht „die lahme Krücke“, wie er anfangs verspottet wird, dieses Defizit mehr als wett. Bereits als 22-Jährigen lädt ihn Bundestrainer Otto Nerz im Oktober 1929 zu einem Länderspiel ein. In der Partie gegen Finnland in Hamburg gelingt dem Schalker auf Anhieb das erste Länderspieltor. Auch in der nationalen Auswahl etabliert er sich in kürzester Zeit als Führungsspieler, der mit seiner unumstößlichen Meinung zu Aufstellung und Taktik nicht hinter dem Berg hält. Dies scheint sowohl Trainer Nerz wie seinem Nachfolger Sepp Herberger zu gefallen, denn sie machen den Schalker für gut fünf Jahre zum Kapitän der DFB-Auswahl. In seinem Verein wirkt Szepan nicht weniger auf die Spielstrategie ein. Im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1934 besitzt er einen großen Anteil daran, dass die Knappen gegen den 1. FC Nürnberg trotz Pausenrückstands noch mit 2:1 gewinnen. Die dazu notwendige taktische Umstellung nimmt Mittelläufer Szepan auf dem Spielfeld vor. „Geh du nach hinten, ich gehe nach vorn“, weist er Mittelstürmer Hermann Nattkämper in der 70. Minute an. Nürnbergs Halblinkem Sepp Schmitt will er kurz darauf auf dem Spielfeld angekündigt haben: „Du kannst dich darauf verlassen, ich mache bestimmt gleich ein Tor.“ In der 88. Minute köpft Fritz Szepan tatsächlich den Ausgleich. Ernst Kuzorra gelingt in der Nachspielzeit der Siegtreffer.

Eine solch dominante Position nimmt Szepan wohl auch ein, weil ihn familiäre Bande mit dem anderen starken Mann im Stadtteil einen. Am 27. August 1931 heiratet Szepan in Gelsenkirchen Elise Kuzorra, die Schwester seines wohl wichtigsten Mitspielers Ernst. Für die öffentliche Darstellung der Schalker Fußballstars ist die Verbindung der Familien Szepan und Kuzorra schon damals schlagzeilenträchtig – so ist das „Schwagerpaar“ weithin bekannt. Eine solche PR funktioniert natürlich nur, wenn die Leistungen stimmen. Hier lässt sich Szepan nichts zu Schulden kommen. Insgesamt gelingen ihm – obwohl eher der Ballverteiler im Mittelfeld – vier Tore in Endspielen um die Deutsche Meisterschaft. Sein Abstauber zum 2:0 gegen Admira Wien sichert 1942 den sechsten und vorerst letzten Titel. In den Alltag der Gauliga Westfalen baut der Stratege bisweilen Kabinettstückchen ein. Gern passiert er seinen Gegenspieler, indem er den Ball mit der Ferse über den Kontrahenten bugsiert, diesen umläuft und das Leder elegant stoppt. Beim Länderspiel in Schottland 1936 zieht er mit seinen Schalker Mitspielern Rudi Gellesch und Ala Urban den Kreisel auch in der Nationalmannschaft auf. Die Gäste verlieren trotzdem mit 0:2 im traditionsreichen Hampden Park in Glasgow. Doch sind die schottischen Anhänger von „snowball“, Schneeball, wie sie den Schalker wegen seiner hellblonden Haare nennen, begeistert. Gegen jüngere, schnellere Mannschaften organisiert er bei Bedarf Abseitsfallen, in die die Gegner in schöner Regelmäßigkeit tappen. Der Ruhm hält an, als der Blondschopf seinen Zenit schon lange überschritten hat. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestreiten die Spieler des FC Schalke 04 ihren Lebensunterhalt mit Freundschaftskicks, den sogenannten „Kartoffelspielen“, für die werden sie in Naturalien ausgezahlt. Die komplette Gage erhalten die Knappen auf den Dörfern allerdings nur, wenn Szepan und Kuzorra mitspielen. Dabei ist zweitrangig, dass das Duo altersbedingt nicht mehr das Niveau der großen Meisterjahre bieten kann. Den Zuschauern reicht es in Zeiten, in denen es Bildmaterial nur in der Wochenschau zu sehen gibt, die lebenden Legenden einmal zum Anfassen zu erleben. >>

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Zweites Standbein: Fritz Szepan 1971 vor seinem Tabakgeschäft.

Belastete Immobilie: das Textilgeschäft Szepan am Schalker Markt. Trotz Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg an neuem Standort bleibt die Vorgeschichte der unrühmlichen Übernahme.

Aber selbst Fußball-Ikonen müssen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Mit der zunehmenden Professionalisierung und der Entwicklung hin zum Massenzuschauersport wird es ab der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zunehmend schwieriger, die „normale“ Berufstätigkeit mit Spitzenfußball zu verbinden. Die Fußballvereine beziehungsweise deren Verantwortliche erkennen schnell, dass sie eine „Versorgung“ der Vertragsspieler gewährleisten müssen. Eine Bezahlung verstößt jedoch gegen die „Amateur-Richtlinien“ des deutschen Fußballsports. Also müssen für die Spieler Arbeitsplätze her, die deren Lebensunterhalt sichern und das Fußballspielen erlauben, also generell nicht zu strapaziöse Arbeitsstellen bei guter Bezahlung, etwa als Magazinposten bei den Werken in Schalke. So genial Szepan am Ball ist, im Berufsleben erweist er sich bei Weitem nicht als so erfolgreich. Nach seiner Ausbildung zum Klempner arbeitet er nicht lange bei Küppersbusch. Die Einnahmequellen wechseln regelmäßig. 1927 ist er Inhaber eines Tabakgeschäfts, um 1932 übernimmt er eine Gastwirtschaft am Schalker Markt, die er nur ein halbes Jahr führt. Nachdem Fritz Szepan in der Weltwirtschaftskrise mit dem Betrieb der Gastwirtschaft keinen Erfolg gehabt hat und 1933 erwerbslos wird, findet man für ihn mit der Einstellung in städtische Dienste eine Lösung. Er wird ab dem 1. Februar 1934 beim Stadtjugendamt mit der Beaufsichtigung der städtischen Sportplätze, Turnhallen und Sportkurse beauftragt. In dem Schreiben des Stadtjugendamts zur Einstellung Szepans wird ausdrücklich auf dessen Zugehörigkeit zum FC Schalke 04 hingewiesen. Mit dem gleichen Argument übernimmt ihn die Stadt Gelsenkirchen 1935 in ein Tarifangestelltenverhältnis, wobei nun zudem ausdrücklich vermerkt ist, dass er Nationalspieler ist.

Es gibt wenige Gründe zu vermuten, dass Fritz Szepan der Notstand der jüdischen Geschäftsinhaber nicht bekannt war. 86

Im August 1937 kündigt Szepan bei der Stadt. Seine neueste Geschäftsidee: eine Tankstelle. Doch wie fast immer, wenn er sich in diesen Jahren selbstständig macht, geht auch das schief. Wieder suchen Gönner nach einer sicheren Einnahmequelle. Im Haus der Schalker Vereinsgaststätte Thiemeyer am Schalker Markt befindet sich das recht große Textilgeschäft Julius Rode & Co, das den jüdischen Mitbürgern Sally Meyer und Julie Lichtmann gehört. Die Besitzer des Geschäfts leiden unter dem vom NS-Regime aufgebauten und im April 1938 weiter verschärften Arisierungsdruck, als die Vermieter des Ladengeschäfts, die Erbengemeinschaft Thiemeyer, den Mietvertrag kündigen. Meyer und Lichtmann befinden sich in einem Notstand und müssen zu einem Dumpingpreis verkaufen. Gleichzeitig legt die Schalker Vereinswirtin Henriette Thiemeyer, wie Fritz Szepan 1954 selbst angibt, dem Fußballer nahe, das Textilgeschäft zu übernehmen. Offiziell tritt Ehefrau Elise als Käuferin auf, da Szepan selbst keine Branchenkenntnis nachweisen kann. Aus der Notlage anderer zieht der Schalker also Profit: Im ersten Jahr nach Geschäftseröffnung verzehnfachen die Szepans ihr Einkommen. Es gibt wenige Gründe zu vermuten, dass Fritz Szepan der Notstand der jüdischen Geschäftsinhaber nicht bekannt war. Die Vorbesitzer werden 1942 nach Riga deportiert und ermordet. Ein Unrechtsbewusstsein offenbart er nicht – wie viele Deutsche in der damaligen Zeit. Als 2002 rund um die Arena AufSchalke Straßen nach verdienten Spielern der Vereinsgeschichte benannt werden, gehört Szepan zu den Spielern, denen diese Ehre zuteil werden soll. Doch nachdem die Abwicklung der Geschäftsübernahme 1938 noch einmal gründlich recherchiert wird, nehmen alle Beteiligten von der Idee „Fritz-Szepan-Weg“ Abstand. Jenseits des Aufbaus einer wirtschaftlichen Existenz zeigt sich Szepan eher kompromissbereit gegenüber den NS-Repräsentanten. So wird er etwa in den „Führerrat des Reichsfachamtes Fußball“ im „Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen“ (NSRL) berufen. Bei der letzten „Wahl“ im Dritten Reich am 10. April 1938 gehört er zu den deutschen Spitzensportlern, die in einer Anzeigenserie ihr „Ja“ zum Führer öffentlich verkünden.


1925 Haus und Geschäft werden im Zweiten Weltkrieg zerstört. In einem anderen Haus – Schalker Markt 5a – wird es wiedereröffnet. Doch die Causa ist nach dem Krieg in der Öffentlichkeit kein Thema mehr. Szepan verletzt sich mehrmals am Knie und kann nur noch sporadisch eingesetzt werden. 1949, noch vor der offiziellen Beendigung seiner Laufbahn im November 1950, übernimmt er auf Schalke das Traineramt vom Österreicher Ferdl Swatosch. Er bekleidet es immerhin fünf Jahre. Länger hielt in den ersten 111 Jahren auf Schalke nur Huub Stevens durch. Dabei knüpft Szepan einmal – als Oberliga-Meister 1951 – an alte Zeiten an. Positiv vermerkt wird zudem, dass er in dieser Zeit vor allem Nachwuchsspielern eine Chance zur Bewährung einräumt. Als der Coach ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1954 seinen Abschied ankündigt, weil „die Mannschaft ein neues Gesicht als Trainer“ brauche, ist dies nur die halbe Wahrheit. Sein Draht zu den erfahrenen Spielern ist alles andere als gut. Und das Umfeld munkelt, Szepans Arbeitseifer sei nicht immer der vorbildlichste gewesen. Immerhin, an seiner nächsten Wirkungsstätte gelingt ihm der ganz große Wurf. Rot-Weiss Essen führt er 1955 auf Anhieb zur einzigen Deutschen Meisterschaft der Vereinsgeschichte. Doch nach nur zwei Spielzeiten verlässt Szepan den Club aus der Nachbarstadt wieder.

Spieler, Trainer und Präsident – das hat noch kein Knappe vor und nach ihm geschafft.

Noch einmal kehrt er zu Schalke 04 zurück. Von 1964 bis 1967 übernimmt er als Integrationsfigur in der finanziell schwierigen Anfangsphase der Bundesliga das Amt des Vereinspräsidenten. Spieler, Trainer und Präsident – das hat noch kein Knappe vor und nach ihm geschafft. Beobachter attestieren dem Altmeister, sich in diesen Jahren ernsthafter und entschlossener engagiert zu haben, als es viele vorher für möglich hielten. Doch als 1967 mit dem jungen Günter Siebert – drei Jahre zuvor noch zweiter Schriftführer in Szepans Team – eine eloquente Alternative auf den Plan tritt, ist die Ära Szepan auf Schalke beendet. In den letzten Jahren plagen ihn vor allem die Beschwerden, die ihm bereits während seiner aktiven Zeit zu schaffen machten: Rheuma und Rückenprobleme. „Ich könnte vor Schmerzen die Wände hochgehen“, klagt er Besuchern sein Leid. Die Ehrung zum 65. Geburtstag kann er nicht persönlich entgegennehmen. Der Verein schenkt ihm einen 3000 D-Mark teuren Kuraufenthalt in der Schweiz. Doch der lindert die Leiden nur kurzfristig. Szepan gibt niemandem mehr gern die Hand, weil ihm dies höllische Schmerzen bereitet. Medikamente schädigen seine Nieren. Einer Operation folgen ein Lungeninfarkt und schließlich vermutlich ein Schlaganfall. Am 14. Dezember 1974 stirbt Fritz Szepan im Alter von 67 Jahren in einem Essener Krankenhaus. Als er drei Tage später auf dem Friedhof Rosenhügel in Gelsenkirchen begraben wird, sind mehr als 1000 Menschen auf den Beinen, darunter natürlich viel Fußball-Prominenz. Weltmeister Fritz Walter schämt sich seiner Tränen nicht. Und Bundestrainer Sepp Herberger sagt an seinem Grab: „Du warst einer der Größten, Fritz!“ <

Übung macht den Meister: Szepan 1938 in der Glückauf-Kampfbahn beim Training an der „Kopfbirne“.

Manndeckung unter Trainern: Borussia Dortmunds Coach August Lenz (l.) und S04-Übungsleiter Fritz Szepan bei einem Derby in der Glückauf-Kampfbahn.

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Historisches Werkzeug: Fritz Szepans FuĂ&#x;ballschuhe.

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1925

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28. SEPTEMBER: DER S04 IST NACH EINEM 2:2 GEGEN DEN AC MAILAND ENDLICH IN DER KÖNIGSKLASSE ANGEKOMMEN

119 Stundenkilometer: Hamit Altintop brettert den Ball zum 2:2 gegen den AC Mailand in die Maschen.

WUNDER, HELDEN, SENSATIONEN 486


2005

E E

s gibt Momente im Leben eines Fußballfans, die selbst das Herz des härtesten Hunds erweichen. Momente, die ihm Wasser in die Augen drängen, in denen das Gefühl von Stolz sich unaufhaltsam im gesamten Körper Bahn bricht. Einen solchen Augenblick erleben zahlreiche Schalker am 28. September 2005. An jenem Abend empfängt der S04 in der Königsklasse das Star-Ensemble des AC Mailand um Paolo Maldini, Andrea Pirlo und Kaka. Geballte Champions-League-Erfahrung gegen die Fast-Greenhorns in Königsblau. Klassischer Fall von David gegen Goliath. Aber dann … Mit stehenden Ovationen verabschieden die Fans ihre Helden Es läuft die 59. Minute einer intensiv geführten Partie, als Mailands Andrej Shevchenko zum 2:1 für den Favoriten einköpft. So- nach 90 Minuten in die Kabine, während die Mailänder sich noch weit, so normal. Plötzlich erheben sich ein paar, dann viele und ungläubig anschauen. Statt Fehler bei sich selbst zu suchen, tritt schließlich alle königsblauen Anhänger von ihren Sitzen. Singen. AC-Coach Carlo Ancelotti nach: „Poulsen ist ein Feigling, ein Spieler, Klatschen. Schreien. „Schaaalke! Schaaalke!“, hallt durch die Arena. der auf unfaire Weise angreift, wenn der Schiedsrichter ihn gerade Sie alle wollen sich nicht abfinden mit einem Ergebnis, das in keiner nicht sieht. Sein Spiel besteht aus Fouls, Angriffen und ProvokatioWeise widerspiegelt, was sich bislang auf dem Rasen ereignet hat. nen.“ Eine Behauptung, die der Däne so nicht auf sich sitzen lässt: Sie alle wollen ihrem Team beistehen und gemeinsam die Italiener „Ich habe nicht unfair gespielt, was ich von meinem Gegenspieler in die Knie zwingen. Denn Schalke überzeugt mit unbändigem Ein- nicht behaupten kann.“ Kaka soll Poulsen absichtlich einen Ellbogen satz, Leidenschaft und großartigem Kampf. Und das, obwohl das ins Gesicht gerammt haben. Schalkes Verantwortliche platzen fast vor Spiel nicht schlechter hätte beginnen können. Bereits nach 21 Sekunden zappelt der Ball im Netz hinter Torhüter Frank Rost. Clarence Stolz. Chef-Coach Ralf Rangnick resümiert: Seedorf erwischt den Gastgeber eiskalt. Die Schockstarre währt kurz, denn der Außensei- „Was den Kampfgeist betrifft, ist diese Leiter wagt es doch tatsächlich, sich zu wehren. Sören Larsen gleicht schon nach zwei Minu- stung kaum noch zu toppen.“ Frank Rost erten und 55 Sekunden aus. Definitiv kein Beginn für schwache Nerven. Schalke spielt sich klärt: „Wir haben es beherzigt, erst zu in einen Rausch, agiert mutig, energisch, couragiert und hellwach. Christian Poulsen nimmt fighten und damit ins Spiel zu finden.“ In der Kaka geschickt aus dem Spiel. Gleiches will Andrea Pirlo gegen Lincoln nicht gelingen. Tat ist die königsblaue Gala zwar nicht der Kevin Kuranyi, noch beflügelt von der Geburt seines Sohns Karlo einen Tag zuvor, holt sich erste, jedoch der erste überzeugende Aufden Ball mehr als einmal per Grätsche aus der eigenen Hälfte zurück, wirbelt zudem die tritt in der Champions League. Mailänder Abwehr ein ums andere Mal durcheinander. Besonders in der ersten Hälfte ist Die Wettbewerbs-Premiere hätte schlimvon den Italienern kaum etwas zu sehen. Und bei den Schalkern keimt ein Fünkchen Hoff- mer nicht verlaufen können: am 11. Septemnung: Hier geht heute was. ber 2001, als die Terroranschläge auf das Fast, allerdings nur fast wäre Shevchenko zum großen Spielver- World Trade Center in New York am frühen Nachmittag deutscher derber geworden, aber zum Glück dauern Spiele länger als 59 Mi- Zeit die freie Welt erschüttern. Ans Kicken denkt niemand mehr – nuten. Und so trägt sich bis zum Schlusspfiff noch ein weiterer außer der UEFA. Der europäische Fußballverband verschiebt die für Schalker in die Torschützenliste ein. Mit was für einem Hingucker: den Abend in der Arena angesetzte Partie zwischen dem S04 und Erst 120 Sekunden zuvor für Fabian Ernst eingewechselt, fasst sich Panathinaikos Athen nämlich nicht. Bis kurz vor Spielbeginn bekniet Hamit Altintop ein Herz und knallt den Ball mit 119 Stundenkilome- die Vereinsführung die UEFA, die Veranstaltung abzusagen, steht tern aus 30 Metern ins linke Toreck. Nur ein paar Wimpernschläge sogar mit dem Bundeskanzleramt in Kontakt. Doch die erhoffte zuvor hatten Altintop und Tomasz Waldoch noch auf der Bank ge- Nachricht bleibt aus. flachst. Waldoch war sich sicher: „Hamit, du machst heute ein Tor.“ So traben die Schalker, die am Nachmittag die schrecklichen BilHamit macht, und ganz Schalke bejubelt das 2:2, das gleichzeitig der an den TV-Geräten verfolgen, 90 Minuten über den Platz, die der Endstand ist. Gedanken überall, nur nicht bei der Sache. Ein Trauerspiel. Goran Vlaovic (75.) und Angelos Basinas (80.) sind fokussierter und besiegeln die königsblaue 0:2-Niederlage. Jörg Böhme will die Geschehnisse in den USA nicht als Ausrede für das „schlechteste Spiel seit zwei Jahren“ (O-Ton Andreas Möller) gelten lassen: „Wir waren heute einfach schwach.“ Und dennoch hat Geschäftsführer Peter Peters recht, als er sagt: „Es gibt Tage, die eignen sich einfach nicht zum Fußballspielen.“ Gelingen will Königsblau auch im weiteren Verlauf der ersten Champions-League-Saison nur wenig. Gut eine Woche nach der Auftakt-Pleite folgt die 2:3-Niederlage in London beim FC Arsenal, Ende September in der Arena ein 0:1 gegen den RCD Mallorca. Drei Spiele, drei Niederlagen, der Achtelfinal-Einzug ist bereits gut vierzehn Tage nach der Premiere so gut wie unmöglich geworden. >>

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Der erste Sieg in der seit 1992 als Nachfolgerin des Europapokals der Landesmeister eingeführten Königsklasse gelingt endlich im vierten Anlauf. Mit 4:0 fegt Königsblau über Mallorca hinweg. Reißen können die Schalker in der Gruppenphase dennoch nichts mehr. Nach einer weiteren 0:2-Niederlage gegen Panathinaikos und einem wertlosen 3:1-Erfolg gegen den FC Arsenal steht das Ausscheiden aus dem Wettbewerb fest – als Gruppenvierter. Auch der Start in die zweite Spielzeit misslingt vier Jahre später. 1414 Tage nach dem Aus gegen die Londoner tritt Schalke am 13. September 2005 bei der nur 131 Kilometer entfernten PSV Eindhoven an. Ein machbarer Gegner, und doch ist Manager Rudi Assauer bereits zur Pause bedient, Jan Vennegoor of Hesselink hat die Niederländer nach 34 Minuten in Front geköpft: „Das war mehr als katastrophal. Das weiß man doch, dass Eindhoven nur einen kopfballstarken Spieler hat. Und der macht das Tor frei rein, unmöglich! Das ist nicht zu verzeihen.“ Im zweiten Durchgang versucht der S04 zwar noch, die Niederlage abzuwenden, agiert aber zu harm- und ideenlos, um den Niederländern gefährlich zu werden. Assauer ist außer sich. „Diese Darbietung akzeptiere ich nicht!“, poltert er, und Hamit Altintop gesteht: „Das war nichts Halbes und nichts Ganzes. Das war gar nichts.“ Die Fans befürchten das Schlimmste, als zum zweiten Spiel ausgerechnet der große AC Mailand in Gelsenkirchen anrollt. Rangnick erklärt vor der Partie: „Weil wir Außenseiter sind, können wir nur gewinnen.“ In der Tat fühlt sich das 2:2 wie ein Sieg an, dessen einzigen Makel der Verlust von zwei Punkten darstellt. „Wir haben Blut geleckt“, versichert Frank Rost. Und reichlich Selbstvertrauen gesammelt für die kommende schwere Partie drei Wochen später gegen das von Christoph Daum gecoachte Fenerbahce in Istanbul. Denn Manager Andreas Müller stellt klar: „Wenn wir dort nicht mindestens einen Punkt holen, sind wir weg vom Fenster.“ Im mit 52.000 Zuschauern ausverkauften Sükru Saracoglu Stadion – darunter lediglich 900 Anhänger der Königsblauen – erwartet die Schalker ein Riesenspektakel. Beim Einlaufen empfangen die fanatischen türkischen Fans den Bundesligisten mit einer ohrenbetäubenden Kulisse und einer Choreografie, die warnen soll. Die vielen Schilder, die die Anhänger Sekunden vor dem Anpfiff in die Höhe recken, formieren sich zu einem Begriff: „Hölle“. Die betritt auch Rudi Assauer. Die Türken legen Gastfreundschaft an diesem Abend sehr seltsam aus. Auf der Tribüne fängt sich der Manager von einem Fenerbahce-Fan eine Ohrfeige: „Hätte ich geahnt, wie hier Gäste empfangen werden, wäre ich lieber zu Hause geblieben.“ Die Rangnick-Elf versucht, sich durch solche Psychospielchen nicht beeindrucken zu lassen, doch bereits der erste nennenswerte Angriff der Hausherren landet im Schalker Kasten. Fabio Luciano netzt nach 14 Minuten ein. Eine Art Weckruf für Königsblau, das fortan das Geschehen bestimmt, sich erinnert, was gegen Mailand möglich war und sich plötzlich Chance um Chance erarbeitet. Nur das Tor fehlt lange Zeit. Nach 59 Minuten werden die Gäste endlich für ihren Einsatz belohnt. Lincoln trifft aus 13 Metern ins rechte Eck, drei Minuten später schockt der Brasilianer die Heimelf sogar mit dem 2:1. Es entwickelt sich ein offener Schlagabtausch, ein echter Fußball-Krimi. Mert Nobre gleich für die Türken aus (73.), Kevin Kuranyi bringt die Schalker im strömenden Regen erneut in Front (77.), ehe Stephen Appiah nur zwei Zeigerumdrehungen später den 3:3-Endstand besorgt. In königsblauen Reihen regiert die Enttäuschung. Zwei Punkte aus drei Spielen, Platz vier. „Wir waren doch klar besser“, will Assauer sich mit dem Ergebnis nicht abfinden. Auch bei seiner zweiten Champions-League-Teilnahme scheint der Abschied lange vor dem letzten Gruppenspiel nah.

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Zwei Wochen später eröffnet sich die letzte Chance auf ein Weiterkommen. Istanbul ist zu Gast, und die „Bild“-Zeitung vermutet: „Dieses Spiel kann Schalkes Schicksal für Jahre entscheiden.“ Dass die Endspiel-Stimmung nicht in Endzeit-Stimmung umschlägt, dafür sorgen Kevin Kuranyi (32.) und Ebbe Sand (90.+1). Dank des 2:0 ist Schalke wieder im Geschäft, klettert von Platz vier auf zwei. Auch, weil Mailand überraschend mit 0:1 in Eindhoven verliert. Gruppe E wird zur Nervengruppe. Die ersten Fans kramen ihre Rechenschieber heraus, und in Büro, Straßenbahn und Supermarkt starten in diesen Tagen häufig Sätze mit: „Schalke kommt weiter, wenn …“ Schlichte Voraussetzung sind Punkte, weshalb ein Sieg gegen die PSV Eindhoven am 5. Spieltag Pflicht ist, auch, um vorzeitig den dritten Rang zu sichern, der immerhin noch die sanfte Landung im UEFA-Cup garantiert. Kurz gefasst: Der S04 erfüllt die Pflicht, schickt die Niederländer mit drei Gegentoren im Gepäck zurück. Alle Treffer (darunter je ein verwandelter Hand- und Foulelfmeter) erzielt Levan Kobiashvili und stellt danach ungläubig fest: „Bis jetzt habe ich noch nie zwei Tore in einem Spiel gemacht – und jetzt schieße ich plötzlich drei.“ Die Fans jubeln und träumen bereits vom Finale, singen: „Paris, Paris, wir fahren nach Paris!“ Frank Rost denkt erst einmal an den nächsten Schritt: „In Mailand das Achtelfinale zu packen, dieser Traum macht mich richtig geil!“ Gewinnt Schalke in Italien, ist es definitiv weiter. Komplizierter wird die Rechnung, sollte es auf eine Punkteteilung mit Mailand hinauslaufen, weil dann die direkten Vergleiche mit den Konkurrenten ins Spiel kommen. Folglich bräuchte Schalke mindestens ein 3:3. 7000 Fans begleiten ihr Team am Nikolaustag 2005 ins GiuseppeMeazza-Stadion, den Ort, an dem im Mai 1997 mit dem UEFA-CupSieg der größte Erfolg der Vereinsgeschichte gelang. Chef-Coach Rangnick ordnet den Schwierigkeitsgrad der Partie ein: „Wenn wir es schaffen, in Mailand zu gewinnen, wäre das fast noch ein größeres Wunder als 1997.“ Beherzt beginnen die Knappen, finden aber meist keine Lücke in der Abwehr um Paolo Maldini. Drei Minuten vor der Pause trifft Andrea Pirlo per Freistoß aus 25 Metern zum 1:0, Christian Poulsen, aufgrund seines Zwists mit Ancelotti und Kaka im Hinspiel permanent von Pfiffen eskortiert, stellt nur zwei Minuten später das Gleichgewicht wieder her. Ein Doppelschlag von Kaka (52./60.) bringt die Schalker nicht aus dem Konzept, die tapfer weiterkämpfen und sich mit dem 2:3 durch Lincoln (66.) belohnen. Die Schlussphase gerät zum Herzinfarktrisiko: Trifft der S04, ist er weiter. Die Elf packt die Brechstange aus, findet aber keinen Ansatz im Abwehrgestrüpp. Vier Minuten Nachspielzeit, die Mailänder wackeln. Der Schalker Anhang feiert bereits vor dem Abpfiff auf den Rängen seine engagierten Knappen. Schluss, Aus, es bleibt beim 2:3. Eindhoven gewinnt das Parallelspiel 2:0, der S04 rutscht in den UEFA-Cup. Wie sehr die Italiener flatterten, zeigt eine Szene nach Abpfiff. Die wandelnde Dynamitladung Gennaro Gattuso demonstriert, dass auch Gewinnen gelernt sein will, provoziert Poulsen wild gestikulierend und verbal: „Euch haben wir es gezeigt!“ Ruck, zuck ist eine wilde Rauferei im Gange, Alessandro Nesta schubst Rafinha, der immer besonnene Ebbe Sand muss sich aus Jaap Stams Klammergriff winden. Zwar spielen sich die Schalker an diesem Abend wieder einmal in die Herzen der Fans, doch regiert die Enttäuschung. Bei Assauer ist sie so groß, dass er nach Abpfiff jegliche Interviews verweigert. Rangnick: „Wir haben in Istanbul die entscheidenden Punkte liegen gelassen.“ Hamit Altintop gibt ein neues Ziel aus: „Dann gewinnen wir halt den UEFA-Cup!“ Das gelingt tatsächlich beinahe, erst im Halbfinale ist nach einem Remis und einer 0:1-Niederlage nach Verlängerung gegen den FC Sevilla Endstation. >>


2005 Ce sont les meilleures équipes Die Hymne der UEFA Champions League begleitet die Zeremonie vor jedem Spiel. Die Musik kann weder gekauft, noch legal aus dem Internet heruntergeladen werden und entstammt der Feder des britischen Komponisten Tony Britten. Er erhält 1992 den Auftrag, ein Schweigeminute: Kaum etwas ist unwichtiger

„Hölle“: Die Galatasaray-Fans bereiten

Stück ähnlich zu den Werken von Georg Friedrich Händel zu schrei-

am 11. September 2001 als ein Fußballspiel.

dem S04 einen heißen Empfang.

ben. Sein Werk wird vom Royal Philharmonic Orchestra aufgeführt und vom Chor der Academy of Saint Martin in the Fields gesungen. Der Text mischt Elemente der drei offiziellen UEFA-Sprachen: Englisch, Französisch und Deutsch.

Ce sont les meilleures équipes Es sind die allerbesten Mannschaften The main event Die Meister Die Besten Les grandes équipes The champions Une grande réunion Eine große sportliche Veranstaltung The main event Die Meister Die Besten Les grandes équipes The champions Ein Dorn im Mailänder Auge: Christian Poulsen.

Ils sont les meilleurs Sie sind die Besten These are the champions Die Meister Die Besten Les grandes équipes The champions

„Dann gewinnen wir halt den UEFA-Cup!“

Wieder im Geschäft: Kuranyi und Co. beim 2:0-Sieg gegen Istanbul.

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Da aller guten Dinge drei sind, übersteht Schalke in der Saison 2007/2008 zum ersten Mal die Gruppenphase der Königsklasse, obwohl mit dem FC Valencia und dem FC Chelsea zwei Hochkaräter in die Gruppe gelost wurden. Das Quartett komplettieren die Norweger von Rosenborg BK. Königsblau sichert sich in der Endabrechnung Platz zwei hinter dem FC Chelsea und überzeugt im Achtelfinale gegen den FC Porto. Nach dem 1:0-Sieg in der VELTINS-Arena pariert Manuel Neuer zwei Wochen später in einem dramatischen Elfmeterschießen gleich zwei Schüsse und sichert beim 4:1 das Weiterkommen. Die Losfee zaubert den FC Barcelona als Viertelfinalgegner herbei. „Für mich ein absolutes Traumlos, ein Highlight unserer Vereinsgeschichte“, schwärmt Manager Andreas Müller. Chef-Coach Mirko Slomka denkt zudem an die Fans: „Für sie wird es eine herausragende Partie, denn jeder Spieler von Barcelona ist ein Superstar.“ Genau das scheint das Problem in den Reihen seiner Mannschaft zu sein, denn gegen die katalanische Ansammlung von Ausnahmekönnern um Xavi, Andres Iniesta und Samuel Eto‘o regiert im Hinspiel in der Arena zunächst der Respekt. Barca nutzt diesen Fakt für sich und trifft bereits nach zwölf Minuten nach einem Abwehrfehler von Manuel Neuer in Person von Bojan Krkic. Nur langsam bekommen die Knappen ihre Nervosität in den Griff, wachen aber zu spät auf. Im Rückspiel lässt sich der S04 nicht beeindrucken und spielt von der ersten Minute an munter mit. Gerald Asamoah gelingt nach fünf Minuten durch einen Fernschuss fast die Führung, und auch Halil Altintops Versuch nach acht Minuten ist nicht ungefährlich. Die Schalker rackern, kämpfen und drängen auf den Führungstreffer. Kevin Kuranyi (14./18.) und wieder Asamoah (21.) verpassen aber, den Ball über die Linie zu hieven. Aus dem Nichts serviert Königsblau kurz vor der Pause die Einladung zum Gegentreffer. Marcelo Bordon lenkt eine Flanke von Krkic auf das eigene Gehäuse, der Rettungsversuch von Mladen Krstajic landet vor den Füßen von Yaya Toure, der nur noch abstauben muss (43.). Mit dem Tor erblühen die Katalanen und bereiten ihrem Gegner eine mehr als unangenehme, aber torlose zweite Halbzeit. Zweimal 0:1, denkbar knapp, doch deutlich genug. Schalke scheitert im Viertelfinale.

In der Spielzeit 2008/2009 ist die Teilnahme beendet, bevor sie richtig begonnen hat. Da der S04 die Bundesliga-Saison auf dem dritten Rang abschließt, muss er in der Qualifikation ran, deren Ausgang über den Startplatz im Konzert der Großen entscheidet. Doch Atletico Madrid mag nicht mit sich verhandeln lassen, Schalke verliert 0:1 daheim und 0:4 in Madrid, womit „nur“ der UEFA-Cup wartet. Dass das Team zwei Jahre später für Furore im gerade verpassten Wettbewerb sorgen soll, ahnt da noch niemand. Die Vize-Meisterschaft 2010 verspricht einen festen Platz im Millionenspiel. Die Gruppengegner Olympique Lyon, Benfica Lissabon und Hapoel Tel Aviv erweisen sich als machbar, Schalke dominiert, sammelt 13 Punkte und muss nur drei Gegentore hinnehmen. Im Achtelfinale passiert man den FC Valencia und schluckt schließlich, als für das Viertelfinale Titelverteidiger Inter Mailand aus der Lostrommel hüpft. Der Königsblauen Starstürmer Raul glaubt nicht, dass bei den Italienern im Hinspiel etwas Zählbares zu holen ist: „Unsere Chancen stehen 20 zu 80.“ Chef-Trainer Ralf Rangnick, gerade erst auf Felix Magath gefolgt, ist etwas mutiger: „Wir wollen ein Unentschieden oder eine Sensation.“ Seine Mannen entscheiden sich für Letzteres, schießen Inter vor 72.770 Zuschauern – darunter 4000 Schalker – mit 5:2 ab. Und das trotz Fehlstarts. Manuel Neuer wehrt nach 25 Sekunden einen Schuss per Hecht-Kopfball ab, direkt vor die Füße von Dejan Stankovic, dem aus 51 Metern ein Traumtor gelingt. Joel Matip gleicht für den S04 aus (17.), Mailand wehrt sich, Diego Milito: 2:1 (34.). Doch der Gast kommt zurück „wie nach einem Vollbad im Zaubertrank“ („Stuttgarter Zeitung“), Rangnick hat den Auftrag gegeben, gnadenlos zu stürmen. Edu (40.), Raul (53.), Andrea Ranocchia per Eigentor (57.) und wieder Edu (75.) lassen San Siro erbeben. Zum ersten Mal überhaupt gelingen einer deutschen Mannschaft im Europapokal fünf Treffer in Italien. Der Coach ist nach dem Triumph fast gerührt: „Das ist das Schönste, was ich je im Fußball erlebt habe.“ Und Raul, der immerhin eine lange Liste von Titeln vorweisen kann, gibt strahlend zu Protokoll: „Es ist unvergleichlich, was ich hier erlebt habe. Ein unvergesslicher Tag.“ Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ ordnet die Bedeutung des Abends ein: „Es ist keine Überraschung, nicht mal eine Sensation – es ist schlicht ein sportliches Wunder.“ Die Bild-Zeitung jubelt: „Der gewaltigste Sieg der Vereinsgeschichte.“ Der indes ohne einen positiven Ausgang des Rückspiels wenig wert ist. Doch auch dieses gewinnt der S04 mit 2:1 und zieht ins Halbfinale ein – der größte Erfolg in der Königsklasse. Zum Spielverderber wird erst Manchester United. Nach einer 0:2-Niederlage in der Arena plus einer 1:4-Auswärtspleite ist der Traum vom Triumph ausgeträumt. Vom sensationellen Erfolg in Mailand reden die Fans jedoch bis heute.

Magische Nacht 2.0: Wieder Mailand, wieder ein Triumph.

„Das ist das Schönste, was ich je im Fußball erlebt habe.“ Zu schön: die Knappen beim 5:2 über Inter.

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Zu stark: Ouvertüre vor dem 0:1 gegen Barca.


2005 Venceremos: Der S04 wird siegen bei Real Madrid, leider um ein Tor zu niedrig.

Nicht zu stoppen: Cristiano Ronaldo beschert den Knappen um Joel Matip eine historische Schmach.

„Schalke war grandios, machte sich über Madrid her, jagte Angst ein.“

Auch zwischen 2012/2013 und 2014/2015 bleibt die Königsklasse abonniert, dreimal geht die Reise bis ins Achtelfinale. 2013 ist gegen Galatasaray Istanbul (1:1 auswärts, 2:3 daheim) Schluss mit lustig. Und nur ein Jahr später erfährt Schalke, wie sich die Mailänder bei ihrer Klatsche 2011 gefühlt haben müssen. Real Madrid gibt sich im Achtelfinale die Ehre. Die Galaktischen erden Schalke schmerzvoll mit einem 1:6 in der Arena. Obwohl das Weiterkommen sich bereits nach dem Hinspiel erledigt zu haben scheint, reisen 6000 Anhänger nach Madrid. Wollen unbedingt dabei sein, wenn der S04 im legendären Estadio Santiago Bernabeu antritt. Die Plaza Major, der größte Platz Madrids, ist bereits Stunden vor der Partie fest in königsblauer Hand. Zusammen mit den Real-Fans feiern die Anhänger friedlich – die gemeinsame Liebe zu Raul verbindet –, geben Radio- und TV-Sendern Interviews und machen einmal mehr beste Werbung für Schalke im Ausland. 3000 Anhänger beteiligen sich vor dem Spiel an dem von den Ultras Gelsenkirchen angekündigten Marsch von der Puerta del Sol zum Stadion. Das kennen die Madrilenen, die bereits zahlreiche internationale Clubs in ihrer Stadt begrüßen durften, bisher nicht. Ungläubig bleiben sie stehen, zücken Kameras, klatschen Beifall, winken. Die Mannschaft belohnt die mitgereisten Anhänger immerhin mit einem Treffer. Tim Hoogland gleicht das 1:0 durch Cristiano Ronaldo (21.) nur zehn Minuten später mit einem sehenswerten Treffer aus 25 Metern aus. Am Ende zieht Real nach dem 3:1 weiter. Nur ein Jahr später stehen sich die Teams an derselben Stelle im Achtelfinale gegenüber. Doch diesmal ist ein Weiterkommen nicht ganz unmöglich, auch wenn nach dem 0:2 im Hinspiel nicht jeder so recht an ein Wunder glauben will. Am Flughafen auf seinen Tipp angesprochen, scherzt S04-Legende Klaus Fischer noch: „Die werden wir wegputzen.“

Doch tatsächlich: Die Vorstellung, die die ersatzgeschwächten Schalker gegen den Titelverteidiger abliefern, lässt ganz Europa genau hinschauen. Königsblau beginnt couragiert und verzeichnet früh erste Möglichkeiten durch Max Meyer (10.) und Marco Höger (12.). Der dritte Anlauf sitzt. Tranquillo Barnetta flankt in den Strafraum, Klaas-Jan Huntelaar lässt die Kugel passieren, Christian Fuchs vollstreckt – 1:0! Die 4000 mitgereisten Anhänger starten die Fiesta und lassen sich auch nicht von Cristiano Ronaldos Ausgleich (25.) in die Sangria spucken. Nicht mal, als der Weltfußballer in der Nachspielzeit der ersten Hälfte Huntelaars 2:1-Führung aus der 40. Spielminute egalisiert. Auch im zweiten Durchgang agieren die Schalker – unter ihnen mit Timon Wellenreuther, Max Meyer und dem früh eingewechselten Leroy Sane gleich drei 19-Jährige – couragiert und kämpfen um jeden Zentimeter Rasen. In Führung geht dennoch der Favorit. Karim Benzema umkurvt Fuchs und Wellenreuther und schiebt zum 3:2 ins leere Tor ein. Nur fünf Minuten später kippt die Stimmung. Youngster Sane versucht es einfach mal aus 16 Metern und knallt den Ball in den linken Winkel von Casillas‘ Gehäuse. 3:3 – Traumtor! Schalke nun im Rausch. Nur noch zwei Treffer bis zur Sensation. Das verwöhnte Heim-Publikum reagiert unruhig, pfeift die Madrilenen aus. Das 4:3 durch Huntelaar (84.) setzt noch mehr Adrenalin frei. Ein Tor bis zum Viertelfinale! Schalke rackert, Schalke kämpft, Schalke will um jeden Preis den fünften Treffer. In der 90. Minute liegt allen Königsblauen der Torschrei auf den Lippen, Huntelaar legt einen Ball per Kopf auf Benedikt Höwedes. Der Kapitän, von Krämpfen geplagt, zieht aus 14 Metern ab und – findet seinen Meister in Iker Casillas. Das Wunder, es bleibt diesmal aus. Schalke schrammt hauchdünn an der Sensation vorbei. Die europäische Presse überschlägt sich nach dem königsblauen Triumph mit Lob. Die spanische Zeitung „AS“ analysiert: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Real Madrid gegen Schalke ausscheiden würde, war vor dem Spiel ungefähr so groß wie die Gefahr, von einem herabstürzenden Klavier erschlagen zu werden. Und doch wäre es beinahe passiert.“ Der englische „Guardian“ stellt fest: „Schalke war grandios, machte sich über Madrid her, jagte Angst ein.“ Nach Abpfiff schüttelt es die Schalker. Gewonnen und doch verloren, das Aus auch diesmal im Achtelfinale. Die Spieler sind erschöpft, müde, enttäuscht. Als sie sich aufraffen, um sich bei ihren Anhängern für die grandiose Unterstützung zu bedanken, trauen sie Augen und Ohren nicht. Zahlreiche Real-Fans sind im Stadion geblieben, erheben sich von ihren Sitzen, spenden ehrlichen Applaus für die Elf, der es als erste überhaupt gelang, vier Tore in einem K.-o.-Spiel der Champions League im Bernabeu zu erzielen. Nach anfänglicher Enttäuschung überwiegen Stolz und Sehnsucht: Auf diese Bühne wollen wir unbedingt wieder. Ganz Schalke kann es kaum erwarten, seine Königsklassen-Geschichte fortzuschreiben. < 491


19. AUGUST: MANUEL NEUER DEBÜTIERT IN DER BUNDESLIGA

Der verlorene 492

Sohn


2006

Luft nach oben: Neuer (3. v. l.) im Klassenverband.

Festgekrallt: Manuel Neuer ist ab dem Duell gegen Bayern München 2006 Stammkeeper. Jungprofi: das Talent beim Signieren.

Judas, der Wortart: Substantiv, maskulin Gebrauch: abwertend

D

ies ist die Geschichte eines Verräters. So sehen es wenigstens große Teile der Schalke-Fans bis heute. Wer Manuel Neuer noch immer einen Judas schimpft, weiß sicher, dass der Namensgeber einst Jesus für 30 Silberlinge verkauft hat. Nun, eine 30 findet sich auch in der Schrift über den ehemaligen Messias: Etwa so viele Millionen Euro beschert den Königsblauen sein Transfer zum FC Bayern München. Der Preis für ein neues Leben. Eine Hand reißt den Schalker Torhüter aus allen Träumen. Sie gehört jemandem, der ihm mal zugejubelt hat. Als der Autokorso am 22. Mai 2011, dem Tag nach dem Pokalsieg, sich seinen Schleichweg durch die Gelsenkirchener Massen sucht, schlägt diese Hand dem 25-Jährigen ins Gesicht. Ein Akt der Gewalt, nicht zu tolerieren, doch mit höherer Deutungsebene. Ist der angekündigte Abschied für alle Anhänger etwa kein Schlag ins Gesicht gewesen? Konsterniert schaut der Profi seinen Kollegen Mathias Schober an und versucht, die Fassung zu bewahren. Der Tross rollt weiter, Neuer verzichtet auf eine Anzeige. Er kennt den Mann von früher. Und früher war alles anders.

Talent, das Wortart: Substantiv, Neutrum Etwas mehr als zehn Jahre ist es her, als ein Milchbart seine erste Schalker Ohrfeige verdauen muss. Die Trainer haben erkannt, dass dieses kleine Schlitzohr alles mitbringt, um alle zu überragen. Nur seinen Hormonen hat das noch niemand ausgerichtet. Neuer ist schlicht zu klein, um ein großer Keeper zu werden. Aber: „Manu war immer etwas Besonderes“, schwärmt Torwart-Ausbilder Lothar Matuschak. Und setzt sich massiv bei seinen Vorgesetzten dafür ein, den Blondschopf nicht auszusortieren. Mit Erfolg. Nach vielen internen Diskussionen schenken sie ihm mehr Geduld als anderen. Als die Pubertät dann doch noch den ersehnten Wachstumsschub schickt, hat das Talent es selbst in der Hand. Nimmermüde angetrieben, stramm beschossen und auf den harten Boden des Trainingsplatzes geschickt, wieder und wieder, wächst der Torhüter auch im übertragenen Sinn. Mit fünf Jahren tritt er dem Verein bei. Selbst mal als „Großer“ im Schalker Kasten zu stehen, das treibt ihn um, wenn der Opa ihm nach besonders tollen Paraden ein Scheinchen zusteckt, oder wenn er, platt von einer Einheit, abends im Bett die Gedanken schweifen lässt. Die Profis beobachtet der Teenager zwischen Schulklingel an der Gesamtschule Berger Feld und Anpfiff zum Jugend-Training. Und aus der Kurve. Neuer ist nicht nur Gelsenkirchener, sondern Bueraner. Seit Buer im Jahr 1928 die Eigenständigkeit verlor und Gelsenkirchen untergeordnet wurde, pflegen viele Einwohner aus dem Norden eine wechselseitige Abneigung mit dem Süden, säuberlich getrennt durch den Rhein-Herne-Kanal. Der junge Schnapper wird Mitglied der Schalke-Sympathisanten „Buerschenschaft“ und bei den Ultras Gelsenkirchen. Statussymbole des Heimatgefühls. Er meint das so. >> 493


Einer von uns: Manuel Neuer aus Buer.

Was muss es für ein Gefühl sein, plötzlich dort unten aufzulaufen, das S04-Wappen auf der Brust, vor seiner Kurve, seinen Jungs? Am 19. August 2006 kommt er der Antwort einen großen Schritt näher. Seit einem Jahr besitzt er einen Profivertrag, hat die Nachwuchsteams durchlaufen und vier Tage zuvor erstmals im Tor der deutschen U21-Auswahl gestanden. Schalkes Nummer eins, Frank Rost, muss eine Risswunde am Schienbein kurieren, Vertreter Christofer Heimeroth hat sich just zu Borussia Mönchengladbach verabschiedet, da schlägt am zweiten Bundesliga-Spieltag die Stunde des Manuel Neuer. Im Auswärtsduell bei Alemannia Aachen joggt ein ernst schauender, 1 Meter 93 großer Schlaks mit blondierten Haarspitzen Richtung Gehäuse, der nicht wenige Zuschauer stutzen lässt, wer das eigentlich ist. Gestatten: Neuer, zukünftiger Welttorhüter. Im Wissen um die nicht vorhandene Profierfahrung nehmen die Aachener den Debütanten erst mal unter Dauerfeuer. Doch teils mit Glück, überwiegend aber durch Können und grandiose Reflexe hält der 20-Jährige seine Kiste sauber. Schalke siegt mit 1:0 und gewinnt mit dem Neuen auch die nächste Partie gegen Werder Bremen 2:0, ehe der Platzhirsch wieder die Lichtung betritt. Doch dessen Schonzeit ist vorbei, nicht nur, was sein Schienbein betrifft. Bloß sechsmal läuft Rost noch auf, bis Chef-Coach Mirko Slomka sich auch ohne Verletzungsgrund für einen Wechsel entscheidet. Und er hätte sich kaum ein brisanteres Duell aussuchen können als das mit dem deutschen Double-Sieger. Bayern München gastiert am 5. November in der VELTINS-Arena. Und in der herrscht Eiszeit, während rundherum der Wald brennt. Obwohl die Knappen punktgleich mit dem FCB auf Tabellenrang vier stehen, hadert der Anhang mit den Vorstellungen der Vorwochen. Die großen Fangruppierungen beschließen einen stillen Protest: 19:04 Minuten wollen sie schweigen, bevor sie ihre Mannschaft wieder anfeuern. Es gibt schönere Kulissen für ein Heimspieldebüt, doch die Rede ist ja von Manuel Neuer, und über den sagen seine Trainer, er habe ein weiteres Talent: sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Selbst vor seiner Kurve, seinen Jungs. Diese bemerkenswerte Sonntags-Partie geht so oder so in die Geschichte ein. Peter Lövenkrands bringt den S04 nach 13 Minuten in Front, beinahe punktgenau mit Ende der Stille hämmert Levan Kobiashvili den Ball zum 2:0 ins Netz und zündet eine emotionale Explosion. Das Spiel endet 2:2. Königsblau hat einen Punkt und eine neue Nummer eins. Frank Rost flüchtet zwei Monate später zum Hamburger SV. 494

Familie, die Wortart: Substantiv, feminin Am Ende der Saison verstolpert Schalke den Zieleinlauf zum ersten Meistertitel seit beinahe 50 Jahren. An Manuel Neuer hat es weniger gelegen. Aussetzer, die bei Schlussmännern gleich schwerer wiegen und einem Neuling ohnehin verziehen werden sollten, präsentiert er zwar ebenfalls, die Statistik besagt indes: 13 von 27 Spielen ohne Gegentor. Die Bundesliga-Profis küren den Wunderknaben zum Keeper der Saison. Die Fanherzen fliegen ihm zu wie die Fußbälle. Dieser Torhüter ist einer von uns, wissen die Getreuen. Vereinsmitglied. Ihm muss niemand Schalke 04 erklären. Unter seinem Trikot lüftet er nach dem Abpfiff rituell ein „Buerschenschaft“-Shirt, lebt und spaziert in Buer, knarzt in Gelsenkirchen mit Kumpel Toni Tapalovic und Gerald Asamoah auf der Vespa ums Eiscafé Graziella. Heimat und so. Auf persönliche Vorbilder seiner Zunft angesprochen, nennt er stets Jens Lehmann und Edwin van der Sar, ihres Zeichens mitspielende Torhüter. Ersteren hat er alle zwei Wochen im Parkstadion bereits beim Aufwärmen studiert. Brüder im Geiste, getrennt allein durch die Tartanbahn. Akribisch arbeitet Neuer an der Feinjustierung seiner Gaben. Fängt er einen Ball, leitet er damit oft umgehend den nächsten Spielzug ein. Die Abwürfe geraten nicht nur weit, sondern punktgenau. Zu einem weiteren Stilmittel werden das Antizipieren gegnerischer Angriffszüge und damit auch Rettungsaktionen außerhalb seines umkreideten Habitats. Hierbei kommt ihm zupass, in Nachwuchszeiten oft im Feld gespielt zu haben. Dass solche Ausflüge im Misserfolgsfall gleich für kuriose Saisonrückblicke archiviert werden, nimmt er in Kauf. Die positiven Beispiele überwiegen.

Was muss es für ein Gefühl sein, plötzlich dort unten aufzulaufen, das S04-Wappen auf der Brust, vor seiner Kurve, seinen Jungs?


2006 Darüber wird noch zu reden sein: Manuel Neuer 2009 mit Eckfahne.

Feuertaufe: Nachwuchskeeper Neuer in Aachen.

Sternstunde: Parade gegen Porto.

Das finden auch Joachim Löw und Andreas Köpke. Teamchef und Torwart-Coach der Nationalmannschaft laden Neuer im August 2007 zu einem Schnupperkurs beim A-Team ein. Der Geadelte hat seinen noch drei Jahre gültigen Vertrag da bereits bis 2012 verlängert. In der Saison 2007/2008 läuft er in allen 34 Ligaspielen auf und faustet sich erstmals ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Mit Königsblau feiert er seine Premiere in der Champions League, was in einem dramatischen Achtelfinale gipfelt. Beim FC Porto hält Neuer am 5. März 2008 mit Glanzparaden lange den 1:0-Vorsprung aus dem Hinspiel. Als die Portugiesen doch noch treffen, muss letztlich das Elfmeterschießen über den Viertelfinalisten entscheiden. Der Keeper pariert zwei Schüsse und krönt seine „sensationelle Leistung“ („kicker“-Bestnote 1). Nichts kann den Weg dieses Jungen stoppen, sind sich alle Experten einig. Außer die Spielvereinigung Erkenschwick. In einem Test bricht sich Neuer im Juli 2008 den rechten Mittelfuß. Symptomatisch für die gesamte Spielzeit: UEFA-Cup-Aus in der Gruppenphase, Viertelfinal-K.-o. im Pokal, nach Platz drei im Vorjahr diesmal nur Bundesliga-Achter. Seine Saison-Highlights kommen spät, aber denkwürdig. Am 25. April siegt Schalke mit 1:0 bei den Bayern. Nach dem Schlusspfiff stürmt Neuer zur Eckfahne, reckt noch einen Finger gen Fankurve nach dem Motto: „Aufgepasst!“, schliddert auf dem Hosenboden zur Fahnenstange, reißt sie aus der Versenkung und schüttelt sie, auf dem Rücken liegend, wie wild. Ein später Kommentar aus tiefstem Herzen, nachdem acht Jahre zuvor Münchens Keeper Oliver Kahn den Ausgleich in Hamburg derart zelebriert hat, und Königsblau schließlich zum Vier-Minuten-Meister degradiert war. Manuel Neuer stand beim unseligen Duell gegen die Spielvereinigung Unterhaching in der Nordkurve. Darüber wird später noch zu reden sein. Vier Tage vor dem Liga-Abpfiff ist aber erst mal Andreas Köpke am Telefon und lädt Neuer zur Asienreise der Nationalelf ein. Sein erstes Mal beim 7:2 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate gerät im Juni zur Fingerübung für die U21-Europameisterschaft. Sein letztes Mal in dieser Auswahl endet im Triumph: Mit dem Team um Mesut Özil, Sami Khedira, Dennis Aogo und seinen Schalker Kumpel Benedikt Höwedes gewinnt Neuer als Stammtorhüter den Titel in Schweden.

Held, der Wortart: Substantiv, maskulin Beflügelt vom Erfolg, setzt er seinen Plan fort, noch besser zu werden. Nächstes Jahr steht die WM in Südafrika an, und den deutschen Kasten blockiert Leverkusens Rene Adler. Die Medien fragen nun öfter in München nach, ob dieser Neuer denn nichts wäre. Dort reift die Erkenntnis, dass der 2008 in den Ruhestand gegangene Kahn durch Michael Rensing nicht wirklich adäquat zu ersetzen ist. Neuer fokussiert sich auf Schalke. Nach dem verschenkten Jahr unter Chef-Trainer Fred Rutten hält Felix Magath die Zügel in der Hand, straff, versteht sich. Als Zuckerbrot-Allergiker lässt er die Peitsche knallen und treibt seinen Kader durch eine hoch ansehnliche Saison. Der Schlussmann verpasst keine Bundesliga-Minute, der S04 wird Vize und findet seinen Meister in: Bayern. Es könnten diese Wochen im Frühjahr 2010 sein, die eine Lunte legen zu des Torwarts Herzen. Die Gedanken sind frei, und wer Manuel Neuer kennt, weiß, wie Fleiß und Ehrgeiz ihn befeuern. Schalke landet fünf Punkte hinter: dem FCB; hat das mitentscheidende Heimduell am 29. Spieltag verloren: gegen den FCB; war zehn Tage zuvor daheim im PokalHalbfinale gescheitert: am FCB. An der Säbener Straße hinterlegt der Rekordmeister nun offen sein Interesse in Person von Christian Nerlinger. Man behalte Neuers Entwicklung im Auge, lässt der Sportdirektor wissen. Der Hauptdarsteller betont derweil, die kommende Saison auf jeden Fall im S04-Dienstanzug zu bestreiten und macht Schalkes Fans ein weiteres Mal stolz. Einer von uns. Und Deutschlands Bester. Durch die blau-weiße Brille betrachtet, sowieso. Mit Groll müssen die königsblauen Anhänger feststellen, dass ihr „Manu“ am gesetzten Rene Adler wohl nicht vorbeikommen wird, als das Schicksal sich Bahn bricht – und des Adlers Rippe. Mitten in der WM-Vorbereitung wird Manuel Neuer zum Stammkeeper und nun endgültig in einem Atemzug mit der Weltelite genannt. Das Team liefert in Südafrika spektakuläre Vorstellungen wie das 4:1 gegen England (mit Wembley-Gedenk-Tor, dessen Wertung er durch einen reaktionsschnellen Abwurf mitverhindert) und ein 4:0 über Argentinien (mit Coach Diego Maradona). Neuer und Co. unterliegen erst Spanien im Halbfinale mit 0:1. Den 3:2-Sieg gegen Uruguay im Spiel um Platz drei sieht Schalkes Torhüter nur von der Bank aus, da Hans-Jörg Butt zum Abschluss ran darf. >>

Fängt er einen Ball, leitet er damit oft umgehend den nächsten Spielzug ein. Die Abwürfe geraten nicht nur weit, sondern punktgenau.

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raul royal 28. JULI: SPANISCHER WELTSTAR WIRD EIN SCHALKER

GERADE MAL EIN PAAR HUNDERT FANS VERLIEREN SICH AN DIESEM, UNTER ANDEREN UMSTÄNDEN GEWÖHNLICHEN, MITTWOCH AUF DER TRIBÜNE. DIE VELTINS-ARENA IST EIN WENIG MEHR GEWÖHNT, DOCH DIE SPONTAN AUFGETAUCHTEN ANHÄNGER ERLEBEN AN JENEM NACHMITTAG, WIE IHR STADION IN DIE PALAST-KATEGORIE AUFSTEIGT. ES IST 15.21 UHR, ALS DER REGENT DEN RASEN BETRITT, SEINEN RASEN, DENN FÜR ZWEI JAHRE WIRD AUF SCHALKE VIELES ANDERS SEIN ALS ZUVOR. GESTATTEN: RAUL GONZALEZ BLANCO, GENANNT: RAUUUUUUL!

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2010

E

r hat noch nicht einmal vor den Ball getreten, da bekommt der Neue schon Kohle auf die Hand. Im Wortsinn. Flankiert von zwei Bergleuten der Zeche Auguste-Victoria aus Marl, erhält der von Real Madrid gekommene Stürmerstar seine erste Trophäe in Gestalt eines Kohlestücks. Raul lächelt verschmitzt, vielleicht auch verlegen. Die Präsentation eines prominenten Zugangs im Stadion kennt der Señor aus Madrid. Mit dem Unterschied, dass die Ränge dort voll besetzt sind, wenn der Präsident mal wieder ein Wahlversprechen mit einer Schubkarre voller Scheine in die Tat umgesetzt hat. Womöglich weiß der 33-Jährige auch deswegen nicht, wohin mit seiner Mimik. Oder ist es ihm trotz seines Starstatus’ unangenehm, derart im Mittelpunkt zu stehen? Man ist geneigt zu sagen: selbst schuld. Als der Sohn eines Schlossers im weniger vorzeigbaren Madrider Vorort San Cristobal aufwächst, hat er möglicherweise Träume, aber sicherlich keine Ahnung, dass er mal ausziehen und sich aufschwingen wird zu einem der größten Fußballer der Welt dort draußen. 16 Jahre lang soll er für das mächtige Real Madrid spielen; 228 Tore in 550 Ligapartien erzielen; als Ensemblemitglied des „weißen Balletts“ sechs Meistertitel sammeln, dreimal die Champions League gewinnen, zwei Weltpokale herzen, mehr als 100 Länderspiele für Spanien abreißen. Und nun Schalke. Selbst für jemanden, der so weit gereist ist, hat Königsblau sicher die eine oder andere Überraschung parat und, wie man heute weiß, sogar einen weiteren Titel. Doch davon kündet noch nichts in diesem Moment mit seinen verfälschenden ersten Eindrücken. Ein wenig verloren schaut es aus, wie der Weltstar in der Arena durch ein Spalier von kurzbehosten Kindern den blauen Teppich entlang schreitet. Bei einer Pressekonferenz auf dem Rasen nimmt Raul auf dem Podium im Mittelkreis seinen Platz ein. Neben ihm sitzen Trainer und Manager und Vorstand Felix Magath sowie der Aufsichtsratsvorsitzende Clemens Tönnies. Ein Dolmetscher transferiert Magaths Erwartungen in die Landessprache des Spaniers, der spätestens jetzt weiß, dass seine Persönlichkeit und Erfahrung auf wie neben dem Platz künftig zu Schalkes Prosperität beitragen mögen.

Im Konzert der madrilenischen Größen ist Rauls Geige seit vielen Vorstellungen geschrumpft. Von der Ersatzbank aus muss er zusehen, wie eine neue Generation um einen gewissen Cristiano Ronaldo den Ton angibt. Gekränkt muss er akzeptieren, dass seine Sinfonie gespielt ist. Parallel hat Magath der Legende die königsblauen Vorzüge zu vermitteln versucht, ehe das Geschäft am Vorabend dieses 28. Juli real wird. Das eine oder andere überzeugende Wörtchen mitgeredet hat Christoph Metzelder, Rauls ehemaliger und nun wieder aktueller Teamkollege, der ihn eine Stunde nach der Zeremonie mitsamt der Mannschaft und 2000 weiteren Beobachtern beim Trainingsdebüt begrüßt. Da ist er also. Eben noch auf der Spielkonsole und nun auf Schalke. Damit die Umstellung nicht ganz so schwerfällt, hat der chinesische Import Hao Junmin seine Rückennummer sieben abgetreten, sofern so etwas im Magathschen System auf Freiwilligkeit beruhen kann. Drei Tage später offeriert der S04 seinem neuen Liebling dann die volle Wucht königsblauer Zuneigung: Schalke-Tag. An die 100.000 Fans pilgern einmal mehr zur offiziellen Saisoneröffnung auf das Vereinsgelände. Sie feiern Raul; feiern, dass er den BVB bereits als Erzrivalen ausgemacht hat, wie er auf der Bühne verrät; feiern sich selbst, als sie nach stundenlangem Schlangestehen ein Trikot mit vier bedeutungsschweren Buchstaben und einer „7“ erstanden haben, während Beflockungsmaschine und Mitarbeiter weiter rotieren. Der Señor schreibt derweil Autogramme, winkt, lächelt, tuschelt mit Amigo Metzelder und staunt. Vor direktem Kontakt mit der Spezies Fußballfan waren die Spieler in Madrid gefeit, weil hermetisch abgeriegelt. Diese Zeiten sind vorbei. In den kommenden Wochen trägt der Wind zunehmend südländische Wortfetzen über das Trainingsgeläuf. Jünger reisen aus Spanien an, wie Alex Escudero und Fernando Vicente. Sie haben ihr Idol in all den Madrider Jahren nie zu greifen gekriegt. Jetzt können sie es nicht fassen, vor der Geschäftsstelle in Gelsenkirchen zu stehen und soeben ein Selfie mit Raul geschossen zu haben. Raul! >> 513


Wenn der UEFA-Cup-Sieg von 1997 der größte Titel der Vereinshistorie ist, muss Raul als gewichtigste Verpflichtung genannt sein. Die ersten Spuren setzt er indes leichtfüßig, wenn auch nur privat. Er siedelt mitsamt Familie – Ehefrau Mamen Sanz und den Kindern Maria, Jorge, Hector, Hugo und Mateo – nach Düsseldorf über, wo er die Anonymität genießt und seinem Nachwuchs auf dem Spielplatz beim Tollen zuschauen kann; ohne Sichtbehinderung durch eine Menschentraube, so wie es in Madrid gewesen wäre, wenn er sich denn dort vor die Tür hätte trauen können. Die ersten Schritte in der neuen Arbeitswelt verlaufen ähnlich unspektakulär. Der „LIGA total! Cup“ ist in die Saisoneröffnung eingebettet. Kurzturnier in der VELTINS-Arena. 60 freundschaftliche Minuten gegen den Hamburger SV. Zwei Tore Schalke, eins Hamburg, keins Raul. Doch dann kommt tags darauf das Finale. Die Knappen treffen auf Bayern München und gewinnen mit 3:1. Eigentlich Anlass genug zur Freude, aber dieser listige Stürmer hat gerade erstmals angedeutet, warum der Hype um ihn gerechtfertigt ist. Sein 1:1 gerät noch zum Lehrfilmbeitrag in Sachen Abstauber, der Siegtreffer hingegen soll das Publikum von seinen Sitzen reißen. Der angespielte Raul hat längst erspäht, dass Bayern-Keeper Rouven Sattelmaier aufreizend weit vor seinem Kasten steht. Der Stürmer läuft weiter, seinen Blick permanent an den Ball geheftet, als er ihn aus 17 Metern ansatzlos auf die Reise lupft. Tor, Jubel, Handkuss. Das Stadion bebt. Ein Versprechen auf die Zukunft.

Gooooool: Der König hat getroffen.

Auf die fernere Zukunft, wie sich herausstellt. Die neue Kultur, die ungewohnte, teils sicherlich ungewollte Fannähe, alles scheint sich schrittweise zu fügen. Nur das Kerngeschäft will nicht so funktionieren, wie von allen Parteien erhofft. Bei Rauls BundesligaDebüt gerät der Altmeister zum Matchwinner. Leider in Gestalt von Ruud van Nistelrooy, der im HSV-Trikot beide Treffer zum Hamburger 2:1-Sieg erzielt. Als Schalkes neuer Star nach einer Stunde vom Feld geht, ist er viel gerannt, jedoch zumeist in die falsche Richtung. „Raul blieb erneut blass“, schreibt der „kicker“ eine Woche später, als Königsblau der Saisonstart nach einer 1:2-Heimniederlage gegen Hannover 96 verrutscht ist. Es kommt noch schlimmer. Nach zwei weiteren Pleiten, eine davon im Derby, beäugt Magaths Team die Tabelle von ganz unten. Raul hat bislang zweifelsohne gerackert, es mehren sich indes die Zweifel, ob allein die fehlende Spielpraxis des Vorjahrs schuld ist, oder der hochdekorierte Angreifer bei allen abgespulten Kilometern möglicherweise seinen Zenit überschritten hat. Der Coach hält an seinem Königstransfer fest und stattet ihn weiter mit allen taktischen Freiheiten auf dem Platz aus. „Wenn eine solche Karriere bei uns einen Knick bekäme, würde ich mir das persönlich anlasten“, trotzt Magath den Kritikern, die Raul einen Fremdkörper schimpfen, und lässt ihn weiter in der Freestyle-Disziplin ran: „Ich käme nie auf die Idee, solch einem internationalen Klassespieler wie Raul die Spielweise vorzuschreiben“, verteidigt er sich und ergänzt: „Man muss unterscheiden, ob jemand aus der A-Jugend von Alemannia Aachen kommt oder 15 Jahre lang bei Real Madrid gespielt hat.“ Aussagen, die in einem Mannschaftskollektiv erfahrungsgemäß besonders gut ankommen. Es soll bis zum 25. September dauern, ehe Raul seinen ersten Ligatreffer bejubeln kann – keinen artistischen wie einst gegen die Bayern, aber einen wichtigen, denn drei Minuten vor Schluss rettet er durch sein 2:2 daheim gegen Borussia Mönchengladbach einen Punkt. Keine Selbstverständlichkeit in diesen freudlosen Tagen. Der S04 wurschtelt weiter und baumelt Ende Oktober auf Platz 17. Den Umschwung bringt im trüben November das Heimspiel gegen den FC St. Pauli. Die zuletzt mit Höhepunkten vernachlässigte Arena wandelt sich zum Freudenhaus. 1:0 Raul, 3:0 Raul, geht doch!

Von Gelb-Blau bis Ultrabeauty „Ultrabeauty“ nennt sich die Farbe, die Raul und Co. tragen, als sie den DFB-Pokal in den Berliner Nachthimmel des 21. Mai 2011 stemmen. Das Erfolgstrikot wird ein Renner bei den Fans. Anders verhält es sich mit manch anderer Farbkombi, die nur schwer mit Königsblau vereinbar scheint. In der Saison 1995/1996, etwa, laufen die Knappen im gelb-blauen Ausweichtrikot auf. Das Gelb verschwindet aus naheliegenden Gründen schnell aus der Farbpalette, bunt bleibt es dennoch: So kommt 1999 ein grün-blaues Ausweichtrikot auf den Markt, wird später orange. Ein späterer Ausweichdress verweist auf einen traditionsreichen Hintergrund und drückt die Verbundenheit des S04 mit seiner Heimat aus: Grün, Schwarz und Weiß sind die Stadtfarben Gelsenkirchens. Ultrabeauty wird übrigens das am besten verkaufte Ausweichtrikot der königsblauen Historie, die Buchstabenkombination R-a-u-l der begehrteste Namensflock.

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2010

Olé, olé: Raul in der Kurve.

„Raul schenkt Schalke einen Hauch von Magie.“

Ausgerechnet der lange Zeit blasse Südländer bringt endlich Farbe ins Schalker Spiel. „Raul schenkt Schalke einen Hauch von Magie“, titelt die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ nach einer galaktischen 4:0-Vorstellung gegen Werder Bremen und drei Volltreffern: Abstauber, Volleyschuss, Lupfer. Der Señor zelebriert auf Landesart, einen Torero mimend, und überrascht nach Abpfiff mit einer kindlichen Freude, die von einem derart gestandenen Weltenbummler kaum jemand erwartet hätte. Der 33-Jährige lässt einen Spielball durch das Team kreisen, um das signierte Souvenir seinen Kindern zu schenken. Drei von Fünfen hatten kurz vorher Geburtstag. „So konnte ich jedem ein Tor schenken“, erklärt der stolze Papa vor der Kabine den Medienvertretern. Doch wie mancher Ball bleibt seine erste Saison mit Schalke unberechenbar. Die Knappen überraschen mit 0:5-Pleiten wie beim 1. FC Kaiserslautern ebenso wie mit einem 2:0-Sieg gegen Bayern. Zwischenzeitliche Erfolgserlebnisse geraten oftmals auch dank Raul denkwürdig. Siehe das 3:0 gegen den 1. FC Köln, den der Hobbyjäger im Alleingang abschießt. „Abschlussstärke, Instinkt und Cleverness dieses Angreifers verdienen weiter das Prädikat ,Weltklasse‘“, preist ihn der kicker. Trotzdem leidet auch der Spanier unter den Abnutzungserscheinungen im Verein. Felix Magath hat eine auf Dauerdruck basierende Maschinerie installiert, deren Zahnräder im zweiten Arbeitsjahr zusehends ihren Dienst versagen. Rund 40 Transfers hat er zwischen Sommer 2009 und Anfang 2011 bewältigt, mittenmang die direkte Qualifikation für die Champions League geschafft, doch eine eingespielte Mannschaft, die stringent überzeugt, existiert nicht mehr. Während der S04 durch die Bundesliga irrlichtert, rettet er sich im DFB-Pokal sowie in der Königsklasse nach teilweise nicht minder merkwürdigen Auftritten über den Winter.

Im Niemandsland der Tabelle angekommen, scheint es, als legte Königsblau seine Kraft in die Wettbewerbe, in denen noch etwas zu holen ist. Das junge Talent Julian Draxler beendet den ViertelfinalKraftakt im Pokal gegen den 1. FC Nürnberg durch sein 3:2 in Verlängerungs-Minute 119. Der ehrgeizige Altstar Raul ist international noch auf Rekordtour unterwegs. Im Achtelfinal-Hinspiel beim FC Valencia markiert er nicht nur den wichtigen 1:1-Ausgleich: Mit seinem 71. Europapokal-Tor überrundet er Filippo Inzaghi vom AC Mailand als erfolgreichster Schütze der Historie. Und als Schalker. Erst drei Jahre später wird kein Geringerer als Lionel Messi die neuerliche Bestmarke knacken. Die Mannschaft ahnt in jenem Frühjahr, dass das Ende der Ära Magath unabwendbar geworden ist. Zwischen den K.-o.-Duellen gegen Valencia biegt der Flieger am 2. März mal eben ab nach München, wo der Deutsche Meister zwischen Schalke und dem Pokalfinale in Berlin steht. Zu den Halbfinal-Helden werden Knappen-Keeper Manuel Neuer – wenige Monate vor seinem Seitenwechsel – und: Raul. Bereits in der 15. Spielminute nickt er den Treffer des Tages ein und befördert sein Team ins Endspiel. Eine Woche später dürfen die Königsblauen erneut feiern. Mit 3:1 schalten sie Valencia im Rückspiel aus und ziehen ins Viertelfinale der Königsklasse ein. Felix Magath wird nicht mehr einchecken, sieben Tage später meldet Schalke Vollzug. Unter ihrem neuen Trainer, Rückkehrer Ralf Rangnick, erlebt die Mannschaft 14 Jahre nach dem UEFA-Cup-Triumph für viele ein erneutes Wunder von Mailand, mindestens jedoch eine magische Nacht. Inter Mailand, nichts weniger als der amtierende Titelträger in der Champions League, empfängt den Bundesliga-Zehnten. Zweimal führt der übergroße Favorit, zweimal gleicht Schalke aus, ehe Raul mit dem 3:2 das Momentum in die königsblaue Richtung stupst. Zwei Tore später hat der S04 tatsächlich mit 5:2 gewonnen. „Schalke überrollt Inter im Wahnsinnsspiel“ schreibt „Der Spiegel“ und liegt völlig richtig. Im Rückspiel auf Schalke besorgt der EuropaExperte einmal mehr die Führung. Durch das 1:0 ist die Messe im Grunde gelesen, nach dem 2:1-Endstand heißt es ganz offiziell: Der S04 zieht erstmals ins Halbfinale der Königsklasse ein. Raul zelebriert den historischen Schritt, wie bereits im Ligabetrieb geprobt, mit den Fans in der Nordkurve und macht den Anheizer am Mikrofon – „super Schalke, olé, olé!“ Dass sich Manchester United gegen den Underdog keine Blöße gibt, schmerzt letztlich weniger. Bereits nach dem Hinspiel-0:2 in der Arena rückt ganz Schalke den Fokus allmählich Richtung Berlin. Die Liga ist gerade mit einem unrühmlichen 14. Rang abgeschlossen, da bietet sich eine Woche darauf die Gelegenheit, hinter zehn höchst abwechslungsreichen Monaten ein goldenes Ausrufezeichen zu platzieren. >> 515


VERLAG DIE WERKSTATT ISBN 978-3-7307-0204-8


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