Stuhlfauths Zeiten - Leseprobe

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Christoph Bausenwein

VERLAG DIE WERKSTATT

Die goldenen Jahre des FuĂ&#x;balls


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Copyright © 2017 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Fotos: Wenn nicht anders angegeben, entstammen die Fotos dem Archiv des Autors oder dem Club-Archiv. Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: CPI, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-7307-0322-9


INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 KAPITEL 1

Im Sommer 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eine Expertenrunde im Schlafzimmer / Derbyfieber beim Endspiel / Einsatz in Zürich / Die Wiener Schweinerei / Die Wechsel-Fälle Lohrmann und Sutor / Das Drama um den Lony / Der Fall Eidinger / Profis im Visier des DFB KAPITEL 2

Stuhlfauth und der Aufstieg des Club . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Wie der Heiner ins Tor geriet / Fußballbegeisterung und ClubErfolge 1914–18 / Die Reise nach Schweden / Das Gastspiel der Fußballkünstler / Siegeslauf mit Schaffer KAPITEL 3

Das Torwartspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Wie Stuhlfauth in Wien Schule hielt / „Ein guter Torwart wirft sich nicht!“ / Der dritte Verteidiger / Die Erfindung der Fußabwehr / Der Elfmetertöter / Markenzeichen und Ausrüstung / Das Stehvermögen / Die lockere Titelverteidigung KAPITEL 4

Spanische Abenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Der Herberger-Skandal / Fürth bleibt Fürth – und Nürnberg ist raus / Königliche Blausterne / Auf dem Weg nach Spanien / Ruppige Regenspiele im Baskenland KAPITEL 5

Das endlose Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Das Lied vom „Tull“ (Vorspiel) / „Männer gegen Männer! Auge um Auge! Zahn um Zahn!“ (1. Endspiel) / Telegramm für Reitzenstein (Zwischenspiel) / „Die zweite Nervengewaltprobe“ (2. Endspiel) / „Im Felde unbesiegt“ (Nachspiel)


KAPITEL 6

Die Meister-Lotterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Stuhlfauth wieder Robinson / Begegnungen in Barcelona / Auf nach Madrid / Freuden des Südens / Fassungslosigkeit in Hamburg und Fürth KAPITEL 7

Verfeindete Brüder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Der große Tag vom „Fips“ / Die Sebaldusklause / Endlich Training / Saarländisches Reiseabenteuer / Feinde gemeinsam in Amsterdam / Auf dem Weg ins Finale / Klare Sache gegen den HSV / EndspielNachlese KAPITEL 8

Die alte Profifrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Empörung um Stuhlfauths Liesel / Schweinepublikum und Länderspielstreik / Die Profisituation in Wien / Fragwürdige Stars in Deutschland / Wieder im Finale / Verlängerung im Waldstadion / Jubel und Groll KAPITEL 9

Wetterleuchten einer neuen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Neuer Konkurrent und neue Abseitsregel / Der Club aus dem Rennen / Fürther statt Bayern / Das Finale am Lautsprecher / Mit Grazie und Effektivität / Scheinamateure im Sommerloch / Der „Fall Böhm“ KAPITEL 10

Erfolg eines Trainers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Ein hoch bezahlter Experte / Spiksley-Wunder und Rossi-Pfiffe / Ersatzmann und Linienrichter / Fast alle Gegner „kaputt“ / „Buschneger“ im Grunewald / Ein Meistertrainer als Verlierer KAPITEL 11

Abgesang auf eine Fußballhochburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Zeitlupenbälle und Faschingsschlappen / Beifall beim „Erzfeind“ / Feiertage in Schlesien / Mission Olympia / Das Skandalspiel gegen die „Urus“ / Das große Nachgekarte / Beifall für Harder und ein Schwur von Stuhlfauth


KAPITEL 12

Der Held von Turin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Revolution im Norden / Ein Sieg ohne Pass / Entscheidungsspiel gegen Fürth / Bemerkenswerte Winterspiele / Ein wahnsinnig gewordener Spucknapf / Im Mittelpunkt des Prickelns / Der Beste der Welt / Berliner Ereignisse / Erst Weltklasse, dann K. o. KAPITEL 13

Unaufhaltsamer Niedergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Schienbeinexzesse statt Galavorstellungen / Nur magerer Trost / Kaffee Hag und Victoria-Zweiräder / Untergang in Leipzig / Glücklicher Meister aus Berlin KAPITEL 14

Nachhall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Profitrainer und Profispieler / Neue Runde im Profistreit / Stuhlfauth auf der Bank / Die Vertreibung von Jenő Konrád / Als TrainerTorwart erfolglos / Meisterspieler in der NS-Zeit / Leben als Fußballidol / Nachrufe

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351


Vorwort Es war lange vor der Einführung der Bundesliga, da stand in Nürnberg Heiner Stuhlfauth zwischen den Pfosten. Der Mann im grauen Pullover und mit der tief in die Stirn gezogenen Schiebermütze war als herausragender und besonders origineller Torhüter einer der berühmtesten und populärsten Fußballspieler seiner Zeit. Von 1916 bis 1932 bestritt er über 600 Spiele für den 1. FC Nürnberg, den damaligen Rekordmeister. Fünfmal gewann er den deutschen Titel, wobei er in keinem einzigen Endspiel einen Gegentreffer zuließ, außerdem war er Kapitän und Rekordspieler der Nationalmannschaft. „Ich denk, ich hab’s anständig g’macht“, meinte Stuhlfauth kurz vor seinem Tod im Jahr 1966. Aber es sind nicht nur seine Rekorde, seine Haltung und sein außergewöhnliches Können, die sein Fußballerleben bis heute interessant machen. Zu Stuhlfauths Zeiten entwickelte sich der Fußball in Deutschland zur „schönsten Nebensache“, die er bis heute geblieben ist. Es waren Jahre, in denen der „Fußballwahn“ in den neu erbauten Arenen und in den neuartigen Medien geradezu explodierte, in denen er sich zu einem Massenphänomen auswuchs mit allen positiven und negativen Belgeiterscheinungen, viel bejubelt und oft genug auch umstritten. Hunderte sogenannter Ligavereine ermittelten damals zunächst in ihren Bezirken den jeweils Besten, um dann in weiteren Runden den Meister der Region und schließlich einen Deutschen Meister auszuspielen. Es war zuweilen ziemlich verwirrend, die Regeln des Fußballspiels waren noch nicht in jeder Hinsicht ausgefeilt, die grundlegenden Taktiken noch nicht ausgereift, manchmal hagelte es Tore, und manchmal wollten gar keine fallen. Viel häufiger als heute kam es zu packenden Derbys, von denen das des 1. FCN gegen die SpVgg Fürth das berühmteste war. Und wenn die großen Entscheidungen um Titel und Meisterehren anstanden, entwickelten sich oftmals Dramen von epischen Ausmaßen. Es war eine Zeit, in der die besten Teams immer wieder tagelang in überfüllten Zügen zu ihren Auswärtsspielen reisten, in der Tourneen 8


ins Ausland noch ein Abenteuer waren und in der ein Spitzenspieler wie Stuhlfauth sogar schon das Flugzeug benutzte. Es war eine Zeit, in der zahllose Journalisten und Fotografen in mehreren hundert Zeitschriften ihre Berichte und Fotos publizierten und in der es erste Experimente gab mit Radioübertragungen und Filmberichten. Es war eine Zeit, in der eine Elf noch eine langjährige Gemeinschaft sein konnte; selbst die besten Mannschaften veränderten sich über Jahre hinweg kaum. Gleichwohl erregten gerade die spektakulären Vereinswechsel der „Stars“ die Gemüter, nicht selten über Landesgrenzen hinweg. Stuhlfauths „Club“, der 1. FC Nürnberg, drückte dem deutschen Fußball in dessen erstem großen Jahrzehnt seinen Stempel auf. Die Mannschaft bestand fast ausschließlich aus Franken, fast alle waren Nationalspieler. Namen wie Hans Kalb, Heiner Träg, Luitpold Popp oder „Bumbes“ Schmidt kannte jedes Kind. Die größten Gegner waren die SpVgg Fürth mit dem Sturmduo Lony Seiderer und Andreas Franz, der Hamburger SV mit dem sagenhaften Mittelstürmer Otto „Tull“ Harder oder Hertha BSC Berlin mit Hanne Sobek, dem Liebling der Prominenten und der Massen. Sie alle waren keine Profis im heutigen Sinne, aber auch keine lupenreinen Amateure, wie sie das nach den Statuten des DFB hätten sein sollen. Die Frage, wieweit das Geld im Fußball eine Rolle spielen durfte oder im Geheimen tatsächlich schon spielte, blieb ständig präsent. Vor allem die „Wandervögel“ wie der viel bewunderte Ungar Alfréd Schaffer oder der Nationalstürmer Sepp Herberger sorgten für Gerüchte und Schlagzeilen. Vieles von dem, was Heiner Stuhlfauth bei seinem Verein und bei der Nationalmannschaft auf und neben dem Platz erlebte, ist inzwischen weitgehend vergessen. Gerade in der heutigen Zeit aber, in der es so scheint, als würde die Fußballbegeisterung im und am Kommerz allmählich ersticken, lohnt sich ein Rückblick. Nicht, um von einer guten alten Zeit zu erzählen, sondern um Geschichten und Ereignisse lebendig werden zu lassen, in denen sich die urwüchsige Faszination des Fußballs noch frisch und unverstellt mitteilt. „Wenn’s lang zurückliegt, wird’s leicht ein wenig goldener“, bemerkte der große Torwart einmal, als er ein Lob schmunzelnd zurückwies. Andererseits wusste er auch: „Im Nachruf bist’ erst wirklich einer.“ Stuhlfauth war eine Fußballer-Figur, wie es sie heute in dieser Art nicht mehr gibt. Und seine Zeiten boten eine Vielfalt und Intensität des Erlebens, wie sie heute 9


kaum mehr vorstellbar sind. In diesem Sinne könnte das Folgende dann vielleicht doch eine Erzählung sein über die „goldenen Jahre“ des Fußballs. Christoph Bausenwein, im Februar 2017

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KAPITEL 8

Die alte Profifrage Empörung um Stuhlfauths Liesel Die Vorbereitung auf die Saison 1924/25 begann für den 1. FC Nürnberg nach nur vierwöchiger Sommerpause Anfang August mit einer lockeren Wettspielreise an die Nord- und Ostsee, wo man unter anderem zur Einweihung des erneuerten Stadions am Rothenbaum gegen die Freunde vom HSV antrat. Das Spiel auf einem ungewohnt schönen, geradezu teppichartigen Rasen endete schiedlich-friedlich 1:1. Nur Hans Kalb war wieder mal unangenehm aufgefallen, der habe nämlich unheimlich viel und laut geredet, wie ein Hamburger Beobachter schrieb. Am anderen Tag, nach kurzer Nacht, fuhr man von Cuxhaven gemeinsam nach Helgoland. Weniger freundschaftlich ging es wenig später im Zabo beim nun schon sechsten Aufeinandertreffen mit den alten Bekannten von Sparta Prag zu. Der Club gewann mit 3:2, und die Spartaner waren hernach etwas maulig, weil sie vom angeblich allzu parteiischen Schiedsrichter benachteiligt worden waren. Weitere Freundschaftsspiele in Bestbesetzung folgten, da Berufungen von Nürnbergern in Auswahlmannschaften erst mal unterblieben. Nachdem für den 31. August eine ausschließlich mit nordund nordostdeutschen Spielern bestückte Nationalelf gegen Schweden nominiert worden war, zeigte man sich in Süddeutschland wieder einmal indigniert über die seltsame Verbandspolitik bei der Zusammenstellung der Nationalelf. Nach wie vor war die proportionale Berücksichtigung der einzelnen Landesverbände wichtiger, als die aktuell bestmögliche Elf aufzustellen. Das Ergebnis – Deutschland verlor mit 1:4 – sorgte vor allem in der fränkischen Fußballhochburg für schadenfrohes Grinsen. „Ja, wir waren nicht dabei, ohne uns geht es nicht!“ Insbesondere Torhüter Werner Kuhnt von Norden-Nordwest Berlin hatte eine recht jämmerliche Figur abgegeben, gleich drei Gegentreffer waren auf sein Versagen zurückzuführen. Mit Stuhlfauth und sechs weiteren Club-Spielern funktionierte es allerdings am 21. September im Ferencváros-Stadion von Budapest gegen Ungarn auch alles andere als optimal, das Spiel ging ebenfalls mit 170


1:4 verloren. Am 23. November lief es beim knappen 0:1 gegen Italien in Duisburg besser. Hätten sich nicht zwei Spieler verletzt – der inzwischen begnadigte, ehemals zum Berufsspieler erklärte Mittelstürmer Sepp Herberger vom VfR Mannheim hatte sich den Arm gebrochen, der Verletzungspechvogel Toni Kugler war 20 Minuten vor Schluss mit einer Leberquetschung ausgeschieden –, wäre wohl mindestens ein Unentschieden drin gewesen. Für die meisten Experten war klar, dass sich an der Nominierungspraxis für die DFB-Auswahl etwas ändern musste. Anfang des Jahres hatte man gegen Österreich und die Niederlande mit einer NürnbergFürther Auswahl gewonnen, danach mit seltsam gemischten Truppen eine Niederlagenserie hingelegt. Es war also völlig klar, dass eine rein süddeutsche Mannschaft besser war. Dies vor allem deswegen, so argumentierte nicht nur Walther Bensemann im Kicker, weil die Spieler besser miteinander harmonierten. Entsprechend groß war die Verwunderung, als für das Länderspiel in Stuttgart am 14. Dezember gegen die spielstarken Schweizer, die sich nach dem Gewinn der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen als Europameister fühlten – sie hatten sich ja lediglich den Goldgewinnern aus Übersee, den famosen Uruguayern, geschlagen geben müssen –, erneut eine extrem heterogene Elf aufgeboten wurde. In der Abwehr spielte der Hamburger Albert Beier neben dem Fürther Josef Müller. Es war fraglich, ob die beiden miteinander funktionierten und sich auf die für sie ungewohnt offensive Spielweise des Torwarts Stuhlfauth einstellen konnten. Und wie sollten vorne der HSV-Sturmtank Tull Harder und der bereits 38-jährige Adolf Jäger von Altona 93 mit den Süddeutschen Karl Höger (VfR Mannheim) und Andreas Franz (SpVgg Fürth) harmonieren? Nichts passte da zusammen, darüber konnte auch die einheitliche Kleidung, in der man anmarschiert war – vom DFB war, wohl inspiriert vom Kieler Reiseleiter Georg P. Blaschke, ein „Marinelook“ mit blauen Mützen verordnet worden – nicht hinwegtäuschen. Nach einem Empfang vor dem Rathaus mit dem Chor der Sportfreunde Stuttgart ging’s mit einigen bereitgestellten Kraftfahrzeugen hinaus zu dem mit 20.000 Zuschauern überfüllten Platz des Stuttgarter SC in Gaisburg – wobei es zu ernstlichen Verstimmungen kam. Die Deutschen seien mit den eigentlich für sie bestimmten Autos zum 171


Sportplatz gefahren, beschwerten sich die Schweizer, sie selbst hätten sich daher Ersatz beschaffen müssen und seien deswegen verspätet angekommen. „Die Schweiz spielte technisch überlegen, mit wenig klaren Torchancen, Deutschland viele und klare Chancen bei mangelnder Spielkultur“, kommentierte ein Schweizer Journalist das Spiel, das mit 1:1 endete. Ein großer Genuss scheint es nicht gewesen zu sein. Neben technischen und taktischen Mängeln sowie zu hartem Körpereinsatz war vielen Beobachtern vor allem die im Vergleich zu den Schweizern mangelhafte athletische Ausbildung der Deutschen aufgefallen. Spieler wie Kalb oder Franz seien zu schwer und zu langsam. Ein eidgenössischer Gastkommentator schrieb im Kicker: „Dem deutschen Spieler fehlt wahrscheinlich ganz allgemein ein ernstes Konditionstraining. Franz, Kalb, Müller, Beier, um nur diese zu nennen, haben keine sauber herausgearbeitete Muskulatur; die Muskeln liegen in Fettpolstern. Bei Franz sieht das aufmerksame Auge sehr leicht, wie bei seinen Aktionen die blitzschnelle Reflexbewegung, das freie, ganz unbehinderte Muskelspiel fehlt. Er muss sich jedes Mal gewissermaßen geistig und nur einen Sekundenbruchteil später erst körperlich in Positur setzen.“ Das Kölner Tageblatt schoss sich in seiner Kritik vor allem auf den Torschützen Otto Harder ein, der wieder einmal „alles auf den Alleingang“ gesetzt habe und, trotz seines Torerfolges, eigentlich „einer deutschen Ländermannschaft nicht mehr würdig“ sei. Uneingeschränktes Lob gab es allein für Stuhlfauth. Ein Augenzeuge aus England urteilte: „Auf deutscher Seite sah ich nur einen Mann von hoher internationaler Klasse: den Torwächter.“ Als die Spieler um 18 Uhr zum obligatorischen Bankett im Stuttgarter Nobelhotel Marquardt erschienen, war die Laune gut, vor allem bei Stuhlfauth, der mit seiner Leistung ja im Reinen sein konnte. Doch dann kam es unvermutet zu einem Eklat. Stuhlfauth wollte seine Frau Liesel mit in den Speisesaal nehmen, die aber wurde nicht eingelassen. Damen seien beim Bankett nicht erlaubt, insistierte der DFB-Mann Blaschke. Er lasse doch seine Frau nicht alleine im Hotel sitzen, während er hier feiere, gab der Torwart zurück. Schließlich zog er wutentbrannt ab, die beiden anderen Cluberer, Kalb und Schmidt, solidarisierten sich mit ihm und blieben dem Bankett, auf dem u. a. Ochsenschweifsuppe und Mastkalbrücken offeriert wurden, ebenfalls fern. Erst beim 172


geselligen Abend im Museumssaal tauchten die Nürnberger wieder auf, samt Liesel. So wurde es doch noch ein munterer Abend. Als Geschenk für die Spieler wurden 22 Mundharmonikas von der Firma Hohner aus Trossingen verteilt – was sogleich ein fürchterliches Gequäke auslöste. Der Stuttgarter Schiedsrichter Angelo Rossi schleppte eine große Kiste mit 5.000 (!) Zigaretten heran – alles edle Marken wie Waldorf-Astoria, Wallruth & Co., Georgi u. Harr sowie Constantin Jasmatzi –, aus der sich die Sportler großzügig bedienten. Endlich eröffnete Stuhlfauth mit seiner Liesel den Tanz. Er war wieder bestens gelaunt und machte humoristisch-provozierende Bemerkungen. Dem geschäftsführenden Vorsitzenden des DFB, Blaschke, habe er laut Bensemann „in unverfälschter Nürnberger Mundart“ zugerufen: „Abgmölt!“ Dass er, vermutlich eben wegen der oben geschilderten „Liesel-Affäre“, über ein Jahr lang keine Berufung in die Nationalmannschaft mehr erhalten würde, konnte er ja noch nicht wissen. Nachvollziehbar war, dass der Torhüter auf den gern verulkten „Papa“ Blaschke für eine Weile nicht mehr allzu gut zu sprechen war. Er sollte später noch oft mit schelmischem Grinsen die Geschichte erzählen, wie einmal das Bett Blaschkes samt schlafendem DFB-Funktionär mitten in der Nacht in sich zusammenfiel – aus ungeklärten Gründen. Niemand würde sich erinnern können, wann genau das gewesen war. In dieser Dezembernacht hätte der heimliche Manipulator auf jeden Fall eine besondere Motivation gehabt. Bliebe noch zu erwähnen, dass es im Zuge dieses Länderspiels noch eine weitere Irritation gegeben hatte. Der Schweizer Kapitän Paul Schmiedlin ließ sich nach dem Spiel darüber aus, dass die Deutschen wohl zu unerlaubten Hilfsmitteln gegriffen hätten. Nur weil sie in der Pause ein „dooping“ bekommen hätten, seien die DFB-Spieler in der zweiten Hälfte stärker geworden, hätten sich deswegen aber auch „in puncto Unfairness und Anöden“ einiges geleistet. Walther Bensemann, der Stammgast in der Sebaldusklause, schrieb daraufhin im Kicker verschmitzt: „Ich kann Ihnen, Herr Schmiedlin, beim besten Willen nicht mitteilen, was für einen geheimnisvollen Trank die deutschen Spieler während der Pause zu sich nahmen. Vielleicht ist das Rezept, wenn ein solches wirklich besteht, bei Adolf Jäger in Hamburg oder Heinrich Stuhlfauth in Nürnberg erhältlich.“ Berichte, dass der „Restaurator“ Stuhlfauth in seiner „Gifthütt’n“ neben Bratwürsten, Bier, Wein 173


und Schnaps besondere Cocktails angeboten hätte, wurden freilich nie bekannt – mal abgesehen von der speziellen Nudelsuppe, die bei den Gästen Kultstatus besaß. Liesel Stuhlfauth bereitete sie stets so gehaltvoll zu, dass der Löffel drin stehen blieb. Die Frage, ob und, wenn ja, wie die Deutschen gedopt waren, wurde nie geklärt. Fest steht lediglich, dass man neben Strychnin – das bis heute auf der Dopingliste steht – auch seltsamen Stoffen wie dem Alkohol eine irgendwie leistungssteigernde Wirkung zusprach.Vielleicht hatten die Schweizer ja gesehen, wie sich der eine oder andere Spieler eine der damals beliebten „Kola-Dallmann“-Kautabletten einwarf. Dieses Komprimat aus Kolasamen enthielt pro Tablette 0,036 Gramm Koffein und wurde in breit gestreuten Anzeigenkampagnen – auch auf der KickerSeite mit dem Artikel zu Schmiedlins Vorwürfen! – als unverzichtbarer Muntermacher angepriesen, mit dem man sich für alle Beanspruchungen der modernen Welt wappnen könne. Da zählten natürlich auch Sportler zur Zielgruppe, denn, so ein Werbetext, das Produkt bewirke „stärkere Aktivität, Ausdauer und eine sofort fühlbare Erhöhung der sportlichen Leistungsfähigkeit“. Wenn das man stimmte. Schon im Jahr 1902 hatten sich die Club-Spieler mit Kolapastillen präpariert, um endlich gegen den damals noch übermächtigen FC Bayern zu bestehen – es hatte nichts genützt, der Club war mit 1:8 untergegangen. Schweinepublikum und Länderspielstreik In der Bezirksliga Bayern waren die Nürnberger mit einem 7:1 beim Neuling Schwaben Ulm in die Spielzeit 1924/25 gestartet, hatten sich am zweiten Spieltag zuhause ein 0:1 gegen Wacker München geleistet, konnten die Runde letztlich aber ohne weitere Niederlage mit einem Sechs-Punkte-Vorsprung auf die Fürther abschließen. Die Vorentscheidung war in den beiden siegreich bestrittenen Derbys gegen die Spielvereinigung gefallen, bei denen vor allem der wiederhergestellte Kalb alte Klasse bewiesen hatte. Ärgerlich war lediglich ein Punktverlust am 19. Oktober in München gegen die Bayern gewesen, denn das 1:1 war durch eine unfassbare Schiedsrichter-Fehlentscheidung zustande gekommen. Die Vereinszeitung schilderte den Vorfall so: „Kurz vor Halbzeit gibt der rechte Bayernflügel eine Flanke, Stuhlfauth fängt dieselbe in der ihm sicheren Art, befördert den Ball zur Mitte, der Ball fällt bereits auf, und der Bayernspieler saust auf Stuhlfauth zu, springt den174


In Wien wurde der Fußball schon früh zum Massenereignis: engagierte Zuschauer in den 1920er Jahren.

Zeitungswerbung für Kola-DallmannTabletten in den 1920er Jahren. Sie sollten angeblich „eine sofort fühlbare Erhöhung der sportlichen Leistungsfähigkeit“ bewirken.


Foto: picture alliance / dpa

Heiner Stuhlfauth erwies sich auch im DM-Finale von 1925 als sicherer Ballfänger. Der Club gewann gegen den FSV Frankfurt nach Verlängerung mit 1:0. Die Skandalszene beim Endspiel von 1925 im eben erst neu eröffneten Frankfurter Waldstadion: Stuhlfauth im „Ringkampf“ mit dem FSV-Präsidenten Rothschild.

Nach dem Endspieltriumph von 1925 wurden die Club-Helden von einer riesigen Menschenmenge am Nürnberger Hauptbahnhof erwartet.


Zuschauer, die sich bis an den Spielfeldrand drängen. Ein Meisterschaftsendspiel, das 189 Minuten dauert und doch keinen Sieger findet. Und Fußballhelden wie der lautstarke Club-Mittelläufer Hans Kalb, der bullige HSV-Torjäger Tull Harder oder der Berliner Promiliebling Hanne Sobek: Die 1920er Jahre waren eine ganz besondere Zeit im deutschen Fußball. Dieses Buch erzählt die spannende Geschichte dieses Jahrzehnts aus der Perspektive des 1. FC Nürnberg, des damals erfolgreichsten deutschen Vereins, und seines Torhüters Heiner Stuhlfauth. Der einstige Rekordnationalspieler war nicht nur einer der populärsten Fußballer seiner Zeit, sondern revolutionierte als Vorreiter von Manuel Neuer & Co. auch das Spiel des letzten Mannes. Eine fesselnde Erzählung über die Entstehung des Massenphänomens Fußball, über große Spiele und abenteuerliche Reisen, über heimliche Profis, sportpolitische Skandale und erste Radioreportagen.

ISBN 978-3-7307-0322-9 VERLAG DIE WERKSTATT


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