Dietrich Schulze-Marmeling
Lew Jaschin
VERLAG DIE WERKSTATT
Der Lรถwe von Moskau
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INHALT
PROLOG
Auf den Spuren einer Legende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 KAPITEL 1
Russischer und sowjetischer Fußball vor Lew Jaschin . . . . . . . . . . . . 23 KAPITEL 2
Ein schwieriger Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 KAPITEL 3
Tauwetter und Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 KAPITEL 4
Deutschland-Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 KAPITEL 5
Olympiasieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 KAPITEL 6
Zweierlei Helden: Jaschin, Strelzow und die WM 1958 . . . . . . . . . . . 95 KAPITEL 7
Erster Europameister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 KAPITEL 8
Einmal durch die Hölle und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 KAPITEL 9
Unterwegs in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 KAPITEL 10
WM 1966: Ein „Opa“ in Hochform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
KAPITEL 11
Jaschins Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 KAPITEL 12
Der Mensch und das System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 KAPITEL 13
Abschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 KAPITEL 14
Russlands FuÃ&#x;ball nach Jaschin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Biografische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Über Lew Jaschin „Jaschin ist ein Schlussmann ganz neuen Stils, er ist ein entsklavter Torwart, der aus dem engen Tor in den breiten Strafraum hinaustrat. Kein Torhüter vor ihm hatte sich so bemüht, Aktions- und Raumfreiheit zu gewinnen.“ Jean-Philippe Réthacker (1930–2003), französischer Sportjournalist (France Football, L’Équipe) „Lew Jaschin war der erste wirkliche Super-Keeper. Sein Stellungsspiel war exzellent, aber alles, was er tat, war erstklassig. Er war das Vorbild für das Torwartspiel der nächsten 15 Jahre. Ich versuchte ihn in einigen Dingen zu kopieren. Obwohl ich bereits in der 1. Division spielte, versuchte ich, von ihm zu lernen. Alles, was Jaschin tat, war vom Feinsten.” Gordon Banks, Weltmeister 1966 „Ich habe in meinem Leben viele Torhüter gesehen, den Swift und den Ramallets, den Zeman und den Grosics, den Gilmar und den Costa Pereira. Aber man darf nicht denken, dass ich alles verbrenne, was ich einmal verehrt habe, wenn ich nun sage, dass Jaschin alle übertraf.“ Max Urbani, Chefredakteur von France Football „Wer Jaschin gekannt und erlebt hat, wird nichts gegen die Behauptung einwenden, dass er der Größte war – trotz Ricardo Zamora, trotz František Plánička oder Rudi Hiden.“ Hans Blickensdörfer „Lew Jaschin verlieh der sowjetischen Mannschaft ein Gesicht, das dem Image des maschinenartig funktionierenden Ostblock-Kollektivs widersprach. Er trug Schwarz, hatte ein entwaffnendes Lächeln, küsste seine weiblichen Fans und wirkte alles in allem verdammt cool.“ Olaf Edig / Daniel Meuren / Nicole Selmer, Autoren des Buches „Fußballweltmeisterschaft 1966 England“ „Jaschin ist der Übertorwart der 60er.“ 11Freunde 7
Der „entsklavte Torhüter“ Mit 1,89 Metern ist Jaschin ein für die damalige Zeit sehr großer Torwart. Der Nordire und Manchester-United-Keeper Harry Gregg, dessen Gestalt gemeinhin als imposant beschrieben wird, misst 1,83 Meter, der Engländer Gordon Banks 1,85, der Deutsche Hans Tilkowski 1,81. Und der Uruguayer Ladislao Mazurkiewicz, im Eröffnungsspiel der WM 1966 gegen England der erste nicht britische Keeper, der im Wembleystadion kein Gegentor kassiert, kommt nur auf 1,79 Meter. Jaschin zeigt starke Reflexe auf der Linie. Fotos von Jaschin handeln häufig von pantherartigen Flugparaden. Eines davon ziert auch das Titelbild von Christoph Bausenweins Torwart-Klassiker „Die letzten Männer. Zur Gattungsgeschichte und Seelenkunde der Torhüter“. Bausenwein verweist aber darauf, „dass Hechtsprünge eigentlich nicht das Typische seines Stils ausmachten“. Auf der Südamerika-Tournee 1961 taufen die Journalisten Jaschin die „schwarze Spinne“ (Arana Neagra). Britische Journalisten nennen ihn „schwarzer Polyp“. Für Bausenwein trifft es die „schwarze Spinne“ am besten: „Bei Jaschin hatte man den Eindruck, als zöge er die Bälle mit lang ausgestreckten Armen geradezu magisch an sich – eben so, wie eine Spinne mit ihren Fäden das Opfer.“ Aber Jaschin kann auch den Panther spielen. Dieter Klaus, Reporter der DDR-Zeitung Freie Welt, berichtet im Spätsommer 1969 nach einem Besuch der Begegnung Dynamo Moskau gegen den Namensvetter aus dem georgischen Tiflis über den nun fast 40-jährigen Jaschin: „Wenn es darauf ankommt, fliegt Jaschin durch die Luft bis ins entlegene Toreck. 20 Minuten vor Schluss wird er von einem scharf platzierten Schuss gefordert, springt wie ein Panther ins linke obere Dreieck und fängt sicher. Beifall, Sprechchöre von den Rängen. Das wiederholt sich bis zum Abpfiff, sobald Jaschin den Ball hat.“ Aber was Jaschin von anderen Keepern unterschied, war nicht der Panther in ihm. Nach dem Spiel mit der Weltauswahl im Wembleystadion 1963 überschreibt der französische Fußballjournalist J.-Ph. Réthacker ein Porträt Jaschins mit „‚Entsklavter‘ Torhüter“. Jaschin sei „ein Schlussmann ganz neuen Stils, er ist ein entsklavter Torwart, der aus dem engen Tor in den breiten Strafraum hinaustrat. Kein Torhüter vor ihm hatte sich so bemüht, Aktions- und Raumfreiheit zu gewinnen.“ Jaschin zu den Gründen seines Spiels: „Ich machte den gesamten Tor179
raum zu meinem Aktionsfeld, weil ich damit die Wirksamkeit meines Torstehens vergrößern konnte.“ Dass Jaschin der modernste Keeper seiner Generation ist – auf dieser Position ist der sowjetische Fußball dem Rest der Welt in den 1950ern und 1960ern tatsächlich überlegen –, resultiert nur teilweise aus einer spezifisch sowjetischen Torwartausbildung und -philosophie. Es ist vor allem die Entscheidung eines Individuums, das seine Rolle auf dem Rasen in ganz eigener Weise interpretiert. Wie Manuel Neuer wird auch Jaschin zu einem mitspielenden Torwart, weil diese Form des Torwartspiels seinem Naturell entspricht. Auch der junge Jaschin spielt gerne im Feld, lässt sich nicht auf der Torlinie festnageln, will aktiver Teil des Geschehens sein. Jaschin liebt den Ball, will ihn immer besitzen. Vor dem Anpfiff pflegt er den Spielball fast liebevoll zu streicheln. Ein Torwart müsse den Ball vor dem Spiel genauso berühren wie der Tischler das Stück Holz, das er bearbeiten will, sagt Jaschin. Aber Jaschin hat auch das Glück, dass er bei Dynamo mit Michail Jakuschin einen Trainer hat, der einen mitspielenden Torwart will. Jaschin betrachtet Jakuschin sein Leben lang als seinen wichtigsten Mentor. Seine Frau Walentina Jaschina: „Jakuschin war ein schlauer Fuchs mit Humor. Unter ihm hat Lew die meisten Medaillen gewonnen.“ Jakuschin lässt Jaschin im Training immer wieder im Feld spielen. Nicht nur um seine Technik mit dem Fuß zu schulen, sondern auch, um sich in das Denken eines Feldspielers hineinzuversetzen. Auch übt er mit Jaschin die schnelle und zielgerichtete Verarbeitung eines aufgenommenen oder zugespielten Balles – nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Füßen. Denn ein getretener Ball kann auch einen weit entfernt stehenden Mitspieler erreichen.
Der Torhüter als Mitspieler Jaschins Spielweise löst Debatten aus. Jaschin sieht das Neue in seinem Spiel nüchtern: „Für die Tormänner ändert sich nichts. Sie dürfen immer noch kein Tor kassieren.“ Außerdem habe er dieses Spiel nicht erfunden, sondern sich beim Bulgaren Apostol Sokolow abgeschaut, als dieser 1952 durch die UdSSR tourte. „Dieser blonde Teufel spielte weit vorne und stellte jeden Stürmer, der es hinter die Verteidigung schaffte.“ Sokolow, Spitzname „Potso“, war die Nummer eins von Spartak Sofia und hütete von 1947 bis 1953 15-mal das Tor der bulgarischen Natio180
nalelf. So auch bei Olympia 1952, als die Bulgaren gegen die UdSSR 1:2 unterliegen. Sokolow gilt als einer der besten Keeper der osteuropäischen Fußballgeschichte. In Erinnerung bleiben vor allem seine Aktionen außerhalb des Kastens. Das Mitspielen ist in den Jaschin-Jahren von seinen Inhalten und Aktionen her reduzierter als heute, weil der Torwart noch ein Zuspiel eines Mitspielers mit den Händen aufnehmen darf. Einen zurückgespielten Ball mit dem Fuß annehmen und ihn anschließend sauber zu einem Mitspieler zu passen, kommt den meisten Keepern nicht in den Sinn. Das heißt auch, dass der Torwart nach einem Rückpass kaum angelaufen wird. Bleibt ihm keine Zeit, das Leder mit den Händen aufzunehmen, drischt er es einfach weg – meist ohne einen konkreten Adressaten. Wie bereits erwähnt, übt Jaschin aber auch das präzise Zuspiel mit dem Fuß. Mitspielen heißt: bei Flanken raus aus dem Tor, um diese in der Luft herunterzupflücken oder aus der Gefahrenzone wegzufausten. Letzteres ist eine Spezialität Jaschins, ja geradezu ein Markenzeichen seines Spiels. Er ist einer der ersten Keeper, die den Ball wegfausten, so weit wie möglich, anstatt ihn zu fangen. Jaschin: „Wenn du gegen englische Teams spielst, bist du schlichtweg nicht dazu in der Lage, den Ball zu fangen. Einen Versuch bezahlst du mit einem Gegentor, vielleicht sogar mit deiner Gesundheit.“ Manchmal klärt er sogar mit dem Kopf, auch bei Flanken. Allerdings nur, wenn kein Gegenspieler in der Nähe ist. Nachdem er das erste Mal per Kopf geklärt hat, befürchtet er eine Gardinenpredigt von Dynamo-Trainer Michail Jakuschin. Walentina Jaschina erinnert sich: „Er kam in die Kabine und ließ den Kopf hängen. Er dachte, Jakuschin würde ihn kritisieren, der konnte nämlich ganz schön bissig sein. Aber der sagte nichts. Lew fragte: ‚Stimmt was nicht?‘ ‚Nein, alles prima‘, hat ihm Jakuschin geantwortet. ‚Aber du musst die Mütze abnehmen.‘“ Fortan nimmt er sie beim Kopfball ab und setzt sie anschließend wieder auf. Walentina Jaschina: „Die Fans fanden das toll und reagierten jedes Mal mit einem Jubelsturm. Zu der Zeit waren die Strafräume ja noch nicht so voller Leute wie heute. Jakuschin hat ihm gesagt: Wenn das Spiel zu langweilig sei, solle er das ruhig machen, um die Zuschauer zu unterhalten. Ein paar Mal hat er den Ball noch ohne die Mütze geköpft, aber dann hat er damit aufgehört, weil das Spiel schneller und härter wurde. Lew wusste genau, wo die Grenzen sind. Er hat die Show nie übertrieben.“ 181
Mitspielen heißt auch: raus aus dem Tor, wenn lange Bälle in Richtung des eigenen Tores geschlagen werden. Und wenn möglich und notwendig, sind diese bereits vor dem Strafraum zu klären, wobei Jaschin einer der wenigen ist, die auch jenseits der 16-Meter-Linie agieren. Mitspielen heißt schließlich: mit schnellen, weiten und zielgenauen Abwürfen einen Gegenangriff einleiten. Jaschin soll der Erste gewesen sein, der dies praktiziert. Allerdings wirft auch Ungarns Gyula Grosics Bälle auf die Flügelspieler. Dies war Bestandteil des ungarischen Ballbesitzfußballs. Helmut Schön, der Jaschin in der UEFA-Auswahl betreut, beobachtet, wie Jaschins Zuspiele das Spiel beeinflussen: „Jaschins Ausstrahlung auf die Vorderleute wie auf die ganze Mannschaft zeigt sich in allen Spielphasen. Wenn er den Ball fängt, zwingt er förmlich seine Mitspieler, so schnell wie möglich in Stellung zu laufen und seinen Zuwurf zu erwarten. Ich habe selten erlebt, dass Jaschin Abschläge mit dem Fuß ausgeführt hat. Obwohl er auch das meisterhaft beherrschte. Vielmehr hat er den Ball mal lang, mal kurz seinen Mitspielern zugerollt oder zugeworfen, so dass diese neue Angriffe inszenieren konnten. Sein Mitspielen ist faszinierend. (…) Er ist ein wahrhaft großer Spieler im Tor.“ (Hervorhebung durch den Autor). Und last but not least heißt Mitspielen: ein gutes Stellungsspiel und Dirigieren der Abwehr. Jaschin hat ein überragendes Stellungsspiel. Helmut Schön: „Sein Stellungsspiel ist immer wieder verblüffend.“ Und Franz Beckenbauer: „Er war ein intelligenter Torwart. Er tat immer das Einfache und damit das Richtige. Und meist stand er da, wo der Ball hinkam, und musste deshalb selten spektakulär durch die Luft segeln. Dabei war er unglaublich reaktionsschnell.“ Jaschin besitzt die Fähigkeit, das Spiel zu lesen, Situationen und Gefahren vorauszuahnen und die eigene Positionierung dem hin und herwogenden Geschehen anzupassen. Jaschin nennt es „Spiel ohne Ball“: „Je besser ein Torwart das ‚Spiel ohne Ball‘ beherrscht, desto mehr kann er das Geschehen zugunsten seiner Mannschaft beeinflussen.“ Wladimir Pilguy, knapp 20 Jahre jünger als Lew Jaschin und sein Nachfolger im Dynamo-Tor, erzählt 2014 anlässlich einer Buchpräsentation: „Ich kann mich in der Geschichte des Fußballs keines anderen Keepers erinnern, der das Spiel so gut verstand und las.“ 1972 bis 1977 hütet Pilguy zwölfmal das Tor der Sbornaja. 1989/90 wird er Präsident 182
von Dynamo, anschließend ist er einige Jahre Direktor der russischen Fußballliga.
Der Torhüter als Dirigent Dank seiner Spielintelligenz kann Jaschin seine Vorderleute dirigieren wie kein anderer Keeper seiner Generation. Teamkameraden erinnern sich: „Von dem Moment an, wo der Gegner einen Angriff startete, begann Lew Jaschin seinen Verteidigern zu erzählen, wie sie sich auf dem Feld zu positionieren hätten.” Jonathan Wilson: „Mit wachsendem Selbstbewusstsein und steigender Autorität begann Jaschin, seine Abwehr so zu dirigieren, wie man es von heutigen Torhütern kennt, damals aber unüblich war.“ Für den Journalisten Igor Iwanow hat der Keeper den Vorteil, „die Entwicklung der Spielzüge aufmerksam verfolgen zu können, um daraus für seine eigenen Abwehrreaktionen Nutzen zu ziehen. Eine scheinbar leichte Aufgabe, mit der jedoch nur die besten und vollkommensten Torhüter fertigwerden. Jaschin ist so ein Torwart.“ Beim bereits erwähnten Spiel Dynamo Moskau gegen Dynamo Tiflis beobachtet Reporter Dieter Klaus: „Wo immer der Ball ist – Jaschins Augen hängen an ihm. Und wenn sich das Leder noch in der Nähe der Mittellinie oder irgendwo in der Hälfte des Gegners befindet, Jaschin dirigiert bereits die Verteidigerreihe. Immerzu ruft er, gestikuliert mit den Armen. ‚Waleri, die Lücke schließen.‘ – ‚Juri, zurück, achte auf die Nr. 10!‘ Er besitzt ein außergewöhnlich gutes Spielgefühl. Deswegen erkennt er oft früher als seine Vorderleute – mit Blick über das ganze Feld – die sich anbahnende Gefahr vor dem eigenen oder die Blößen des Gegners vor dem anderen Tor.“ Als taktisch extrem versierter Keeper ist Jaschin wie ein Coach auf dem Platz. Jaschin: „Ein Torwart hat einen besseren Überblick. Im Eifer des Spiels verliert mancher den Kopf, er sieht nur noch den Ball. Ich aber hatte stets das ganze Feld vor mir und konnte alles überblicken. Diesen Vorteil nutzte ich für die Mannschaft aus, indem ich meine Mitspieler oft auch mit lauter Stimme dirigierte. [Jaschin tut dies so intensiv und so lautstark, dass es seiner Frau peinlich ist und sie sich darüber bei ihrem Gatten beklagt. Anmerk. d.A.] Meine Kameraden baten mich sogar, sie ruhig einmal anzuschreien, wenn es nötig war. Es war nicht selten, dass mir einer nach dem Spiel für meine verbale Hilfe die Hand drückte.“ 183
Ein Dirigent bleibt wirkungslos, wenn ihm die Mitspieler nicht zuhören, weil sie seine Autorität nicht anerkennen. Aber Jaschin ist sportlich wie menschlich eine Autorität. Igor Iwanow: „Er ist ein fröhlicher Unterhalter, ein tatkräftiger Freund, ein bescheidener Mensch im Leben, alles Eigenschaften, die einem ‚Helden des Spielfeldes‘ Sympathien und Verehrung einbringen. Er kann sich mit der gleichen Aufrichtigkeit freuen und ärgern. In allem ist er das Gegenteil einer selbstgefälligen, von sich eingenommenen und über alle anderen hinwegsehenden Primadonna. Kein Wunder also, dass er jahrzehntelang eine Autorität verkörperte und auf dem Spielfeld der Kopf seiner Mannschaft war, vielleicht der erste Torwart überhaupt, der zum ‚Spielmacher‘ wurde.“ Dabei trägt er nur selten die Kapitänsbinde. Er benötigt sie auch nicht, um seine Autorität zu demonstrieren. Kaum ein anderer Torhüter in der Geschichte des Weltfußballs verkörperte so viel Autorität wie Jaschin.
Torwart ohne Raum Jaschins Spiel entsteht in einer Zeit, in der noch kaum jemand mit vier Verteidigern spielt. Es ist somit auch sehr von Taktik geprägt. Jaschin ist der vierte Mann in der Verteidigung. Dieses Spiel verliert mit der Erhöhung der Zahl der Verteidiger, wodurch die volle Breite des Spielfelds besser abgedeckt wird, an Bedeutung. Die weiten Ausflüge, die einst ein Markenzeichen seines Spiels waren, verschwinden in den 1960ern. Jaschin: „Es war nicht mein freier Wille, dass ich die Ausflüge eingestellt habe. Vielmehr ergab sich diese Konsequenz zwangsläufig aus dem gegenüber früheren Zeiten völlig veränderten Spielschema im Weltfußball. Da sich heute vor dem Tormann eine zahlenmäßig starke Abwehr und obendrein noch ein Ausputzer befindet, entfällt für den Tormann selbst die Aufgabe, diesen ‚Ausputzer‘ zu spielen. Denn nichts anderes bedeuteten in der Praxis meine einst vieldiskutierten Ausflüge.“ Bei der WM 1966 in England spielt Jaschin deshalb anders als noch in den Jahren zuvor. Jaschin erklärt dies damit, dass der lange Pass in die Tiefe und das geradlinige Stürmerspiel nahezu verschwunden seien. Die gegnerischen Stürmer würden nun mit Dribblings und kurzen Pässen auf sein Tor vordringen. Dadurch habe das kürzere Herauslaufen an Bedeutung gewonnen. Dass der lange Pass und das geradlinige Stürmerspiel nicht mehr so häufig stattfinden, ist eine Folge der nun massiveren Abwehrreihen. Für dieses Spiel fehlt nun der Raum. Die taktische 184
Entwicklung raubt somit nicht nur dem Torwart Raum, sondern auch den Angreifern. Kurt Castka schreibt 1967 in seinem Buch „Von Zamora bis Jaschin“: „Die Verteidiger postieren sich bei der geringsten Gefahr eines Gegenstoßes sofort in der Nähe des Strafraumes, um hier Bedingungen zu schaffen, die den heranstürmenden Angreifern die Arbeit erheblich erschweren. Alle an der Weltmeisterschaft in England teilnehmenden Mannschaften zeigten diese Tendenz, so daß die Torleute heute praktisch gezwungen sind, zwischen zwei Wänden zu operieren, nämlich zwischen dem Tor im Rücken einerseits und den eigenen oder gegnerischen Spielern, die hart an der Grenze des Strafraumes agieren, andererseits. Somit wurde der freie Raum vor dem Schlußmann wesentlich reduziert, und so blieb den Torhütern nichts anderes übrig, als nur mehr kurzfristige Ausflüge in Augenblicken höchster Gefahr aus dem Hinterhalt zu machen. (…) Die einst berühmten und nun fast legendären weiten Ausflüge Jaschins gehören der Vergangenheit an. Bedingt durch dieses Spiel, unterließ es auch der sowjetische Torhüter bei der Weltmeisterschaft in England, seine früheren Gewohnheiten beizubehalten, und lief nur mehr kurz hinaus, wenn es unbedingt nötig war. Somit steht fest, daß sich die Art des Herauslaufens gegenüber dem Jahre 1952 wesentlich geändert hat. Jaschin meint dazu ergänzend, daß man heute gar keine Zeit mehr zum Überlegen hat und sich daher beim Herauslaufen eher auf das Gefühl verlassen muß.“ Was aber mitnichten bedeuten würde, dass der Torhüter nur auf der Torlinie spiele, „auch wenn er dies erstklassig beherrscht. Der moderne Fußball von heute duldet keine Kompromisse und stellt an einen Klassetormann hohe taktische Anforderungen.“ Die größere Konzentration von Spielern auf einem engeren Raum macht es für den Torwart schwieriger, den Verlauf des Balles zu verfolgen. Der Keeper steht unter permanenter Anspannung, die Reaktionszeit wird kürzer. Jaschin: „Mit der Schnelligkeit stieg auch die Verantwortung des Torwarts. Die Mannschaften stürmen heute mit aller Kraft. Dadurch kommt es im Strafraum oft zu Zusammenballungen von Spielern. Diese wirken manchmal wie ein wilder Haufen, aber darin steckt Logik. Die Bahnen des Balles erscheinen manchmal wie wirr, sie sind aber in der Regel bestens durchdacht. Die Tricks der Angriffsspieler und die Wege des Balles möglichst vorausschauend zu erkennen, 185
gehört zu den wichtigsten Aufgaben eines Torwarts.“ Die taktischen Veränderungen und die damit einhergehende Verengung des Raumes hätten dem Fußball ein bisschen von seinem „Schauwert“ genommen. Die ganz großen Könner hätten sich früher besser entfalten können. Was die massiveren Abwehrreihen auch reduzieren, sind die Einsgegen-eins-Situationen für den Torwart. Der Österreicher Rudolf Vytlacil, der als Nationalcoach der Tschechoslowakei bei der EM 1960 Dritter und der WM 1962 Vizeweltmeister wurde, schreibt in einer Betrachtung der WM 1966: „Früher waren die Torleute durch den Umstand, dass nur zwei Verteidiger in der Mannschaft aufschienen, praktisch gezwungen, viel mehr in direkten Zweikampf mit gegnerischen Stürmern zu treten. (…) Heute findet der Tormann grundsätzlich eine andere Situation vor. Durch die neuen Systeme, konkret das 4-4-2 oder das 4-3-3, ist die Verteidigung weit stärker geworden als früher. Dadurch kommt es auch nur mehr äußerst selten zu einem direkten Zusammentreffen zwischen gegnerischen Stürmern und dem Tormann, da diese bereits von der numerisch weit stärkeren Verteidigung abgefangen werden. Dieser Umstand bringt es einerseits mit sich, dass der Tormann weit weniger gefährdet ist; andererseits vermindert sich jedoch dadurch die Möglichkeit, dass sich Persönlichkeiten im Tor entwickeln.“
Taktiker im Tor Jaschin ist auch bei der WM 1966 überragend, weil er sich dem veränderten Spiel anpasst. Entscheidend dafür ist sein großes Antizipationsvermögen, das ihm früher seine weiten Ausflüge ermöglichte und ihm nun hilft, auf dem enger gewordenen Raum vor ihm blitzschnell Entscheidungen zu treffen – weil er in allen Bereichen des Torwartspiels Weltklasse ist und weil er, wie die Presse schreibt, ein „Taktiker im Tor“ ist. Bereits seinem Entdecker Arkadi Tschernischow imponierte am jungen Jaschin, „wie er das Spiel auffasste – schöpferisch, mitdenkend“. So bleibt Jaschin auch unter veränderten Umständen der modernste Keeper. Vytlacil über den Torwart der 1960er Jahre: „Praktisch übernimmt der Tormann im modernen Fußball bereits die Aufgabe, die in der klassischen Zeit der Zenterhalf zu bewältigen hatte. Der Unterschied zwischen dem Tormann von gestern und heute liegt vor allem darin, dass der heutige Mann mit der Nummer 1 ein weit größeres Abschätzungs186
vermögen besitzt und auch in puncto Reaktionsfähigkeit großen Anforderungen Rechnung tragen muss. Früher bestand die Hauptaufgabe des Tormannes vor allem darin, den Ball zu fangen, zu bändigen, das Tor reinzuhalten. Nur ganz wenige, so z. B. Hiden und Planicka, begannen schon in der klassischen Fußballzeit, den Ball weit abzuwerfen. Doch diese Abwürfe waren meist auf die zurückgezogenen Stürmer gezielt, die dann mit dem Ball einen neuen Angriff starteten. Heute muss der Tormann nicht nur den gefangenen Ball richtig auswerfen oder ausschießen, sondern er hat die Aufgabe, mit diesem Ball faktisch einen Angriff einzuleiten. Das wird so praktiziert, dass ein Verteidiger den Ball erhält und selbst den Angriff startet. Im modernen Fußball legt man weniger Wert auf akrobatische Einlagen der Tormänner, sondern heute wird mehr ‚der Roboter‘ geschätzt, der ohne Show immer mit der Mannschaft spielt und jede Situation sofort erkennt. Als den typischen Tormann, der allen diesen Anforderungen des modernen Fußballs vollkommen gerecht wird, möchte ich den großartigen sowjetischen Schlussmann Lew Jaschin nennen. Vielleicht war überhaupt er es, der den neuen Zug ins Tormannspiel brachte, und er hat ihn auch wieder bei den Finalspielen in England deutlich demonstriert. Er zeigte, dass seine Aufgabe nicht nur darin besteht, Tore zu verhindern, sondern auch Angriffe einzuleiten.“ Des Weiteren hilft Jaschin seine Erfahrung, weshalb er seinen Karrierehöhepunkt erst jenseits der 30 feiert – in den Jahren 1960 bis 1966. Jaschin: „Beim Torwart ist Alter nicht so wichtig. Viele haben ihren Leistungsgipfel erst spät erreicht. Erfahrung fällt bei einem Torhüter oft schwerer in die Waagschale als bei einem anderen Spieler. Wenn man zwischen den Pfosten steht, dann ist das immer auch ein Lehrgang in Psychologie. Man lernt die Eigenschaften der Stürmer kennen. Und am Ende weiß man schon vorher, was der Gegner vorhat.“
Mann in Schwarz Jaschin ist ein pro-aktiver Keeper und einer der ersten, die einen anstürmenden Spieler stellen, indem sie ihm entschlossen entgegenstürzen und den Winkel verkürzen. Jaschin: „Willst du als Torwart erfolgreich sein, dann musst du dem Angreifer in seinen Überlegungen zuvorkommen, musst ihm entgegengehen und ihm so die Chance zum Torschuss nehmen.“ 187
Dabei hilft ihm auch seine imposante, ja geradezu einschüchternde Erscheinung, die noch dadurch verstärkt wird, dass er ganz in Schwarz gekleidet spielt. Ausnahmen sind die Auftritte mit den internationalen Auswahlmannschaften, bei denen er andere Trikots gestellt bekommt. Die Farbe seines Wollpullovers mit einer auf den Rücken aufgenähten Eins ist genau betrachtet ein extrem dunkles Blau. Walentina Jaschina: „Lew hat immer in dieser Farbe gespielt. In 20 Jahren hat er sein Trikot nur zwei- oder dreimal gewechselt, wenn die Ärmel schon ganz löchrig waren. Dann hat er immer eines in der gleichen Ausführung genommen. Die Plätze waren im Frühjahr und Herbst matschig, und auf der dunklen Kluft ist der Schmutz nicht so aufgefallen. Wenn er seine Spielkleidung nach Hause brachte, wurde das ganze Badezimmer schwarz, und überall war Sägemehl – damit hat man die Strafräume eingestreut, damit die Tormänner nicht im Schlamm versanken.“ Jaschins Hose ist seitlich wattiert. Walentina Jaschina: „Er ist sauer auf Mannschaftskameraden geworden, die keine getragen haben. ‚Glaub mir‘, hat er immer gesagt, ‚ohne kann man nicht spielen. Man kann sich die Oberschenkel verletzten. Blaue Flecken kriegt man garantiert, die Muskeln werden reißen, und dann hat man beim nächsten Mal Angst, zu Boden zu gehen. Und wie soll man dann im Tor spielen, wenn man Angst hat?‘“ Heute legen gerade mitspielende Keeper Wert darauf, dass ihre Kleidung leicht ist und sich von der Kluft der Feldspieler nur hinsichtlich der Farbe unterscheidet. Die Trikots sind kurzärmelig, die Hosen nicht gepolstert. Aber heute sind auch die Plätze anders.
Selbstzähmung eines Überzeugungstäters Weil Jaschin mitspielen will, provoziert er in den ersten Jahren seiner Karriere immer wieder Gegentore. Ähnlich wird es viele Jahre später Manuel Neuer ergehen. Jaschin will zunächst zu viel und verhält sich zu ungestüm. Laut Igor Iwanow wird Jaschins Aufstieg anfangs beeinträchtigt durch „übertriebenen Eifer, das Verlangen, ständig ins Spiel einzugreifen. Er musste sich dafür von Khomich manchen Anpfiff gefallen lassen. Schließlich aber lernte Jaschin, sich selbst Zügel der Besonnenheit und Selbstbeherrschung anzulegen. Es war keineswegs leicht, Jaschins überschäumendes Temperament zu zähmen und unter verstandesmäßige Kontrolle zu bringen. Doch Khomich hatte Geduld, andererseits schätzte Jaschin das Wissen und Können seines Lehrers 188
sehr hoch ein. Beide hielten durch.“ Als Jaschin sein Temperament gezähmt hatte, „konnte er die ihm mit viel Hingabe eingetrichterten Fähigkeiten endlich zur Geltung bringen und Fußball so spielen, wie es von allem Anfang an sein Wunsch gewesen war. Jetzt bekam das Spiel den rechten Sinn – und er hatte selbst dazu beigetragen. Freilich muss man an die Verantwortung denken: Er durfte nichts verderben, denn als Torhüter konnte er nichts wiedergutmachen; jede Bewegung, jede Aktion war etwas Endgültiges. Hier lag das Risiko. Mildern konnte man es lediglich durch ehrliches Bemühen im Training.“ Der Torhüter, so Iwanow weiter, müsse „mitspielen“, er dürfe nicht „passiv auf den Moment des Eingreifens warten, bis vielleicht ein Gegner auf sein Tor schießt oder ein Mitspieler patzt. Lew Jaschin war wahrscheinlich sogar der Erste, der die moderne Spielauffassung des Torhüters demonstrierte, er war der Erste, der sich von seiner Torlinie weit zu lösen und seinen Wirkungsbereich auf den gesamten Strafraum auszudehnen pflegte, wo der Torwart ja im Vorteil ist. Diese Besonderheiten im Stil Jaschins erschienen zunächst riskant, gefährlich, verantwortungslos gegenüber der eigenen Mannschaft. Und doch war es richtig. Denn nun wurde aus dem passiven, tatenlos abwartenden Torwart, aus der ‚letzten Instanz‘ ein sehr aktiver und nützlicher zusätzlicher Feldspieler, oft sogar der Initiator überraschender, wirkungsvoller Gegenzüge. Jaschin brachte alle Voraussetzungen für dieses Spiel mit: die Statur, Schnelligkeit, Entschlossenheit und Kaltblütigkeit, den Blick dafür, was mit dem Ball in der nächsten Zehntelsekunde zu geschehen habe, und schließlich die Fähigkeit, auf jede plötzliche Änderung der Situation blitzschnell zu reagieren. Und noch etwas sehr Wichtiges: Er beherrschte den Ball mit beiden Füßen!“ Als Jaschin 1953 bei Dynamo die neue Nummer eins wird, muss er seine Mitspieler von den Vorteilen seiner Spielweise erst einmal überzeugen. Der russische Sportjournalist Wladimir Pachomow hat 1969 diesen Prozess ausführlich beschrieben: „Bevor Lew Jaschin in das Tor von Dynamo Moskau zurückkehrte, hatte er sich Gedanken über taktische Probleme gemacht. Mit großer Überzeugung unterbreitete Jaschin seine Pläne seinen Mannschaftskameraden. ‚Versteht, Freunde, der Torwart hat vor euch einen großen Vorteil, nämlich das Spiel mit der Hand im Strafraum. Einem Torwart fällt es leichter als einem Verteidiger, hohe Eingaben abzufangen, den Ball vom Kopf des Stürmers zu 189
nehmen. Allerdings tun wir Torleute das nicht entschlossen genug.‘“ Für Pachomow begann Jaschins Aufstieg, als er „die altgewohnten Prinzipien des Torwartspiels über den Haufen warf. Gewiss, auch vor Jaschin unternahmen einige Torhüter Versuche, nicht nur im engen Bereich des Strafraums, sondern auch außerhalb seiner Grenzen Herr der Lage zu werden. Keiner fand jedoch auf die Dauer die Unterstützung seiner Mitspieler und der Trainer. Im Gegensatz zu anderen Torhütern steckte Jaschin nicht auf, hartnäckig beharrte er auf seiner Spielauffassung. Ihn brachte selbst die Skepsis einiger geachteter Torhüter nicht in Verlegenheit, wenn sie fragten: ‚Wozu will Jaschin aus dem Tor herauslaufen? Wo will er denn spielen?‘ Jaschin blieb unnachgiebig, zumal er einkalkulierte, dass seine neue Spielweise nicht auf Anhieb Anklang und Anerkennung finden würde. Mit der Zeit gewann er aber auch die Zweifler für sich. Er erweiterte nicht einfach seinen Aktionsradius, er bewies, dass Herauslaufen im modernen Spiel den Zweck hat, den gegnerischen Angriff auch durch das aktive Zutun des Torhüters zu stoppen. Das hieß natürlich, die Besonderheiten des gegnerischen Angriffsspiels genau zu verstehen und letztendlich das ‚Spielgefühl‘ eines Verteidigers zu erwerben. Lew Jaschin hat, bevor er Torwart Nr. eins im modernen Fußballsport wurde, auf seine Art dem Fußballspiel schöpferische Impulse gegeben.“
Der Angler zwischen den Pfosten Als Freie Welt-Reporter Dieter Klaus Jaschin im Spätsommer 1969 in Moskau besucht, darf er ihm in Dynamos Trainingszentrum folgen, das in Nowogorsk bei Moskau liegt. In der Nähe der Anlage befindet sich ein kleiner ovaler Waldsee, wo Klaus Jaschin beim Angeln zuschaut. Dieser erklärt dem Reporter, was ein Torwart beim Angeln für sein Spiel lernen kann. „Die Hauptsache ist für mich nicht, dass ich den Fisch fange, sondern das Vergnügen herauszufinden, wann er sich dem Wurm nähert, wann er anbeißt, um dann den richtigen Moment zu erwischen für den Fang. Ziehst du früh – ohne Erfolg. Und zu spät – ebenso. Es ist dasselbe wie beim Fußball. Verlässt du das Tor zu früh oder zu spät, hast du meist das Nachsehen, und der Ball wird ins Netz gejagt. Auf den richtigen Moment kommt es an.“ Klaus: „Er weiß nur zu gut, wie schwierig es ist, in der Turbulenz des Spiels diesen einzig möglichen und richtigen Augenblick zu erfassen, der darüber entscheidet, ob der Torwart Sieger oder Geschlagener sein wird. Jaschin gilt als nahezu 190
Sammlung Walentina Jaschina
Der Torh체ter als Ratgeber: Jaschin erkl채rt Nachwuchstorh체tern, wie man den Ball richtig f채ngt.
unerreicht im Erfassen eben dieser entscheidenden Momente. Man sagt, er habe einen ‚sechsten Sinn‘.“ Auf die Frage, wie man diese Fähigkeit erwirbt, antwortet Jaschin: „Zunächst gehört wohl Talent dazu, auch Erfahrung, dann Training und nochmals Training. Und der eiserne Wille, die eigenen Schwächen zu überwinden. Das setzt voraus, dass man seine Fehler erkennt, sie sich ohne Augenzwinkern eingesteht.“ Auch mit vierzig sei er noch vor jedem Spiel „aufgeregt wie eh und je. Es ist nicht die Angst, wie ich sie vor zwanzig Jahren, bei meinen ersten Fußballprüfungen, verspürte. Es ist mehr innere Spannung. Man erwartet von Jaschin noch viel – das Publikum, die Mannschaft. Werde ich diese Hoffnungen auch diesmal erfüllen? Diese Frage quält mich vor jedem Spiel aufs Neue, versetzt mich in Aufregung. Das ist wohl auch natürlich. Ein Sportler, der sein Metier liebt, sollte Lampenfieber haben.“ Jaschin weiß, dass der Torwart der Letzte ist, der gegenüber Mitspielern und Fans Anzeichen von Nervosität zeigen darf. Ein Nervenbündel als letzter Mann kann eine gesamte Mannschaft verunsichern. Deshalb bekommt ein Debütant im Tor vor dem Anpfiff auch immer mehr Fürsprache als ein Debütant im Feld. Man baut ihn auf, redet ihn stark, versucht ihm ein Höchstmaß an Sicherheit zu geben. Jaschin: „Ich habe gelernt, diese Unruhe zu verbergen. Meine Mannschaftskameraden schauen auf mich, sie brauchen das Gefühl der Sicherheit. Mit Spielbeginn schlägt mein Puls dann wieder normal. Das ist wichtig, denn der Pulsschlag des Torwarts ist der Pulsschlag der ganzen Mannschaft.“ Der französische Journalist Réthacker war beeindruckt von Jaschins Ruhe und Ausstrahlung: „Jaschin strahlt eine derartige Sicherheit in seinen Aktionen und in seiner Kraft aus, dass sie sich spürbar auf seine Mitspieler überträgt. Er ist ruhig und sicher zwischen den Pfosten.“ Dabei hilft ihm auch ein gewisses „Doping“. Als Jaschin mal gefragt wird, wie seine letzten Vorbereitungen vor dem Anpfiff aussehen würden, antwortet er: „Eine Zigarette, um die Nerven zu beruhigen, und einen starken Drink, um die Muskeln zu entspannen.“
Die Angst des Schützen vor Lew Jaschin Dieter Klaus schildert vom Spiel Dynamo Moskau gegen Tiflis eine Jaschin-typische Szene. Tiflis’ Metreweli setzt sich auf dem rechten Flügel durch und passt den Ball auf Mittelstürmer Nodija. Metreweli 192
hat mit seinem Zuspiel die gesamte Dynamo-Deckung ausmanövriert – außer Jaschin, der aus seinem Tor gestürzt ist und den Ball noch Nodija vom Fuß schnappen kann. Der neben Klaus stehende Alexander Khomich, Jaschins Vorgänger im Dynamo-Tor, erklärt: „Haben Sie das bemerkt? Eine typische Aktion von Lew Iwanowitsch, etwas für Kenner. Zwei interessante Aspekte offenbart diese Situation: Lews blitzartige Reaktion, seine Meisterschaft im Herauslaufen einerseits und die Angst des jungen Stürmers vor dem großen Jaschin andererseits. Denn Nodija musste eigentlich zum Torerfolg kommen. Er wollte es besonders gut machen – ‚Jaschin steht im Tor‘ –, legte sich den Ball noch einmal vor und hatte das Nachsehen. Eine psychologische Schranke. Solche Situationen ereignen sich oft in den Meisterschaftsspielen. Die Moskauer Dynamos haben von vorneherein einen psychologischen Vorteil, wenn Lew das Tor hütet.“ Klaus beobachtet außerdem, dass sich Jaschin bis zur Pause des Treffens „nicht ein einziges Mal mit tollkühner Parade dem Ball entgegenwerfen musste – dank seiner gutoperierenden Vorderleute, vor allem aber dank seiner Meisterschaft im Stellungsspiel: rationelle Bewegungen, besser ein paar Schritte nach rechts oder links als Sprünge, sichere Fußabwehr.“ Jaschin pariert während seiner Karriere mindestens 150 Elfmeter. Bei vielen der Schüsse hält der Keeper den Ball sogar fest. Seine Reputation als Elfmetertöter macht Schützen nervös. Der uruguayische Journalist, Essayist und Schriftsteller Eduardo Galeano will gesehen haben, wie Jaschin „nur mit dem Blick einen Ball ablenkte“. Jaschin bevorzugt eine nüchternere Erklärung: „Glauben Sie ja nicht, dass ich irgendein Spezialsystem für die Abwehr eines Strafstoßes entwickelt habe. Mir hilft einfach das so oft zitierte Glück des guten Torhüters oder aber der Gegenspieler, der den Strafstoß schlecht schießt.“ Überhaupt sei der Torwart beim Elfmeter in der dankbaren Situation, dass er nichts zu verlieren habe. Und der Torwart den Strafstoß in der Regel auch nicht verursacht habe. „Das Beste an dem Elfmeter ist zunächst mal, dass ich völlig unschuldig bin. Deshalb bin ich auch nicht nervös. Natürlich beobachte ich den Schützen genau und registriere, wie er sich benimmt. Aber ich habe kein Schema, wie ich reagiere, wenn er sich so oder so benimmt. Es handelt sich um Bruchteile von Sekunden und um eine blitzschnelle Reaktion als Resultat meiner Erfahrungen. Das Ergebnis ist einfach: Einige lasse ich durch, andere lasse ich nicht 193
durch. Und es gibt überhaupt keine Trainingsmethode dafür. Wenn wir Elfmeter trainieren, lasse ich oft zehn Bälle von zehn Schüssen durch. Man kann nämlich nie voraussagen, wohin er nun tatsächlich schießen wird. Meist halte ich Elfmeter nämlich auch nur, weil der gegnerische Spieler vor Aufregung schlecht geschossen hat.“ Als Beispiel nennt Jaschin ein Duell mit dem jugoslawischen Starstürmer Bora Kostic. „Kostic schoss einen Elfmeter so unplatziert, dass es mir leicht fiel. Kurz zuvor hatte er mir aus zwanzig Metern Entfernung einen Freistoß in die Maschen geknallt, dass ich keine Chance hatte. Hinterher habe ich ihn gefragt: ‚Wie konntest du denn den Elfmeter so schlecht schießen?‘ Er antwortete: ‚Als ich mir den Ball zurechtlegte, wurde mir erst richtig klar: Jaschin steht da im Tor. Da war ich gehemmt.‘ Wie man sieht, manchmal ist es auch nur der Ruhm, der einem hilft …“ Aber auch für Jaschin ist das Parieren eines Elfmeters etwas Besonderes. So ist von ihm der Satz überliefert: „Die Freude, Juri Gagarin in das Weltall fliegen zu sehen, wird nur vom Hochgefühl übertroffen, einen Elfmeter zu halten.“*
Der Mutige Jaschin ist ein mutiger Keeper, der häufig Kopf und Kragen riskiert. Während seiner Karriere erleidet er fünf Gehirnerschütterungen und drei Knochenbrüche. Und Jaschin ist brutal gegen sich selbst. Walentina Jaschina: „Nach jeder Trainingseinheit blieb er im Tor und bat jemanden, Schüsse auf ihn abzugeben. Ich habe mir das damals angeguckt und konnte danach nie wieder zusehen. 30 oder 40 von den ganz * Am 12. April 1961 war Juri Gagarin der erste Mensch im Weltall. Gagarin umrundete im Raumschiff Wostock 1 in 104 Minuten die Erde. Als Gagarin zwei Tage später in Moskau empfangen wurde, waren die Straßen der Hauptstadt von der größten Menschenmenge seit den Siegesfeiern 1945 gesäumt. Der Astronaut fuhr mit einem Autokorso zum Roten Platz, wo u. a. Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew auf ihn warteten. Gagarins Flug wird häufig eine ähnliche Bedeutung eingeräumt wie der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus oder dem Atlantiküberflug von Charles Lindbergh. Die Sowjetunion feierte den ersten Mann im Weltall als Triumph im Kalten Krieg über die USA und Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus und dessen Wissenschaftlichkeit. In den USA löste Gagarin einen regelrechten Schock aus. Präsident John F. Kennedy: „Niemand hat es mehr satt als ich, die Vereinigten Staaten als Zweiten hinter den sowjetischen Triumphen zu sehen.“ Experten waren erstaunt, dass die UdSSR nur 16 Jahre nach dem Krieg, der die Infrastruktur des Landes fast vollständig zerstört hatte, zu einer derartigen Mission fähig war.
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harten Schüssen hat mein Mann in den Bauch bekommen. Mir kam es so vor, als wenn seine komplette Bauchhöhle herausgeprügelt würde. Lew erklärte mir, dass seine Bauchmuskeln sehr stark seien und er den Ball ohnehin mit den Händen abgefangen hätte, der Ball also seinen Bauch gar nicht berührt hätte. Aber ich habe gesehen, dass er das sehr wohl tat. Nach einem Sieg bin ich mal Jakuschin [gemeint ist Dynamo-Trainer Michail Jakuschin, Anmerk. d.A.] im Savoy-Restaurant begegnet. Er rief mich zu sich und fragte mich, ob sich Lew über ihn beklagt hätte. Ich sagte Nein und fragte, was denn passiert sei. ‚Er hat beim Training vor dem Spiel gesagt, dass er Bauchschmerzen habe und sich nicht nach dem Ball werfen kann, aber ich habe ihn aufgefordert, es einmal zu tun. Er ist kaum wieder hochgekommen und ist im Schneckentempo in die Kabine zurückgegangen. Aber am nächsten Tag ist er wieder ganz normal gesprungen und gehechtet.‘“ Auf die Frage, welche Eigenschaft man besitzen muss, um ein guter Torwart zu werden, antwortete Jaschin: „Er muss vor allem den festen Willen haben, keinen Ball in sein Heiligtum durchzulassen. Alles andere ist nur mehr eine Folge des Ersten, Reaktionsfähigkeit, Sprungkraft und so weiter. All diese Eigenschaften sind jedoch zwecklos, wenn die erstgenannte Voraussetzung fehlt. Der Tormann muss körperlich genauso fit, konditionell stark und auch technisch beschlagen sein wie ein Feldspieler.“
Jaschin und der moderne Torwart von heute Vergleicht man Jaschin mit Manuel Neuer, einem ähnlichen Rundumpaket, so besteht der wesentliche Unterschied darin, dass Neuer mit dem Fuß noch besser ist. Die Generation Neuer wuchs mit der veränderten Rückpassregel auf, die dem Torwart das Aufnehmen eines vom eigenen Mann zugespielten Balles mit den Händen untersagt. Durch diese Reform wurde die Fußtechnik des Torwarts quasi automatisch geschult. Neuer kann deshalb Angriffe auch mit dem Fuß einleiten und als Anspielstation vielseitiger als Jaschin agieren. Jaschin ist noch keine Anspielstation, die sich mit dem Fuß flüssig am Spielaufbau beteiligt, der bei Ballbesitz zu einem weiteren Feldspieler mutiert, obwohl ihn die Presse im Zeitalter der Dreierkette auch als „vierten Verteidiger“ bezeichnet. Aber dies ist defensiv gemeint: Jaschin als Keeper, der gegnerische Angriffe auch im Stil eines Feldspielers abfängt. 195
Neuer klärt auch weit vor dem Strafraum, so wie Jaschin einst. Heute ist der Raum dafür wieder da. Jedenfalls dann, wenn man in einer Mannschaft spielt, die offensiv und auf Ballbesitz ausgerichtet ist, mit einer hochstehenden Abwehrreihe operiert, hinter der sich ein großer Raum auftut. Wird diese Reihe überspielt, muss der Torwart wie ein Ausputzer in diesen hineinstoßen. Auch gelangt der Torwart bei dieser Spielweise wieder mehr in Eins-gegen-eins-Situationen. Aber in den 1950ern war Jaschins Spiel ungewöhnlich. Nicht nur für Horst Eckel, den Weltmeister von 1954, war Jaschin der „Inbegriff eines modernen Torwarts“.
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„Er hatte eine Begabung, die kann man gar nicht beschreiben. Jaschin war ohne Zweifel absolute Spitzenklasse – als Fußballer und als Mensch.“ Uwe Seeler
Lew Jaschin ist bis heute der berühmteste russische Fußballer. Als bislang einziger Torhüter wurde er 1963 als Fußballer des Jahres mit dem „Ballon d’Or“ geehrt. Die FIFA kürte ihn zum „Torwart des 20. Jahrhunderts“. Dieses Buch erzählt Leben und Karriere des auch im Westen geschätzten und populären Sportlers. Es ist zugleich ein Streifzug durch die Geschichte des russischen und sowjetischen Fußballs, in dem Jaschin eine einzigartige Rolle spielte.
ISBN 978-3-7307-0331-1 VERLAG DIE WERKSTATT