Luis Suárez – Leseprobe

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SUAREZ LUIS

Luca Caioli

VERLAG DIE WERKSTATT

El Pistolero


Inhalt

1 Ein Teil der Nationalkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fußball in Uruguay

2 Thermalquellen, Orangen und Kinderliga . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Die frühe Kindheit in Salto

3 Tapetenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Der Umzug nach Montevideo

4 Mit ganz viel Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 In der Jugend von Nacional

5 Eine wundervolle Überraschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Gespräch mit Rubén Sosa, ehemaliger uruguayischer Nationalspieler

6 Eine Liebesgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Sofía

7 Eine Zeitbombe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Der Durchbruch als Profi

8 Geht nicht gibt’s nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Gespräch mit Martín Lasarte, ehemaliger Trainer (Nacional)

9 Eine Stadt im Norden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Der Wechsel zum FC Groningen

10 Weiß und Rot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Kapitän von Ajax Amsterdam

11 Die Hand des Teufels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Die Weltmeisterschaft 2010

12 Auf geht’s, Celeste! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Gespräch mit Jaime Roos, uruguayischer Musiker

13 Zubeißen und abhauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Der Wechsel zum FC Liverpool

14 Der Beste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Der Gewinn der Copa América 2011

15 Negro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die Auseinandersetzung mit Patrice Evra

16 Der Kannibale von Anfield . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Biss gegen Branislav Ivanović


17 Rationalität und Irrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Gespräch mit Gerardo Caetano, ehemaliger uruguayischer Fußballer und Historiker

18 Chronik einer Wiederauferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Die Saison 2013/14

19 Ein Treppenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Gespräch mit Óscar Washington Tabárez, uruguayischer Nationaltrainer

20 Heiliger und Sünder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Die WM 2014

21 Ein Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Der Wechsel zum FC Barcelona

22 Vom Buhmann zum Helden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Das Triple 2015

23 Strafraumkiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Die Saison 2015/16

Zahlen und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208


K A PI T E L 16

Der Kannibale von Anfield Der Biss gegen Branislav Ivanovic´

Wie ruiniert man eine fantastische Saison, eine mit Toren am Fließband, viel Applaus und voller Glücksmomente? Nun, zum Beispiel mit einem einzigen Biss. So wie Luis Suárez. Als die Evra-Affäre eigentlich längst vergessen schien, als er nicht mehr als der „Bad Boy“ der Premier League galt, machte er in wenigen Sekunden alles wieder kaputt, was er sich in den letzten Monaten mühsam aufgebaut hatte. Er sollte die gleiche Dummheit begehen, für die er in den Niederlanden sieben Spiele Sperre kassiert hatte. Bis zu jenem 21. April 2013 schien alles hervorragend zu laufen. Suárez hatte den besagten Vierjahresvertrag unterschrieben und dazu einen Trainer bekommen, mit dem er perfekt harmonierte. Der aus Nordirland stammende Brendan Rodgers wusste seine Spielweise zu schätzen. Ihm war klar, dass Suárez kein statisch agierender Neuner war, sondern sich viel bewegte und so nach Gelegenheiten suchte. Rodgers erkannte, dass sein Torjäger Bewegungsfreiheit brauchte und von Defensivaufgaben weitgehend entbunden werden musste. Umgekehrt war Suárez überzeugt, dass er dank der offensiven Spielweise, die der aus Swansea gekommene Trainer favorisierte, noch besser spielen könnte. Das zeigte sich auch auf dem Platz: Bis zum 20. April 2013 hatte „Luisito“ 22 Treffer erzielt und führte die Torschützenliste der Premier League an, noch vor Robin van Persie von Manchester United, der bei 21 Toren lag. Insgesamt hatte er in 43 Partien 28-mal für die Reds getroffen. Ein Highlight waren sicher die drei Tore, die er am 29. September 2012 beim 5:2 bei Norwich City erzielte. Mit seinem Dreierpack beim 4:0 am 2. März 2013 in Wigan knackte Luis dann die 20-Tore-Marke und schob sich auf Platz drei der Liste der erfolgreichsten Liverpooler Torjäger in einer Saison – hinter Robbie Fowler und „El Niño“ Fernando Torres. Am 10. März erzielte „El Pistolero“ beim 3:2-Sieg gegen die Spurs sein insgesamt 50. Pflichtspieltor im Trikot der Reds. Und am 29. Februar wurde ihm bei der 2:3-Niederlage im FA-Pokalspiel beim Drittligisten Oldham Athletic 127


die Ehre zuteil, die Kapitänsbinde zu tragen (der eigentliche Kapitän Steven Gerrard spielte nicht von Beginn an). Sicher, Luis hatte auch einige kleinere Sünden begangen. So konnte er es sich gegen Everton nicht verkneifen, sein Tor direkt vor Toffees-Trainer David Moyes mit einer Schwalbe zu bejubeln, nachdem dieser ihn dafür kritisiert hatte, sich ständig fallen zu lassen. In der dritten Runde des FAPokals erzielte Luis beim Fünftligisten Mansfield Town ein Tor mit der Hand, und nach dem Spiel gegen Stoke City gab Suárez zu, er habe mit einer Schwalbe einen Strafstoß schinden wollen. Auch in der Nationalmannschaft fiel er nicht nur durch Tore auf: Während eines WM-Qualifikationsspiels in Brasilien fingen die Kameras ein, wie „El Pistolero“ dem chilenischen Verteidiger Gonzalo Jara einen rechten Haken versetzte. Man muss allerdings zu seiner Verteidigung anführen, dass Jara ihm zuvor in die Genitalien gegriffen hatte. Eine Sperre wurde gegen keinen von beiden verhängt. Kurzum: Ein paar Sachen hatte Suárez bis dahin zwar schon auf dem Kerbholz, aber nichts, das einen Eintrag in die Liste der bösen Jungs gerechtfertigt hätte. Seine Verdienste in dieser Saison überwogen die kleinen Vergehen jedenfalls deutlich. Immerhin kam er bei der Professional Footballer’s Association (PFA) sogar in die engere Auswahl für die Auszeichnung als Spieler des Jahres, gemeinsam mit Gareth Bale, Michael Carrick, Juan Mata, Robin van Persie und Eden Hazard. Der Grund für die Nominierung lag auf der Hand. PFA-Chef Gordon Taylor sagte dazu: „Es wäre schon naiv, würde man die Tatsache verkennen, dass er als Spieler umstritten ist. Aber das hier ist eine fußballerische Auszeichnung. Manchmal kann der hohe Einsatz, der für Probleme sorgt, nun mal auch zu Siegen führen. Man kann von jungen Leuten eben nicht die Weisheit des Alters erwarten. Seine fußballerischen Qualitäten sind herausragend und überstrahlen alle Probleme.“ Worte, die am 19. April gesprochen wurden – nur zwei Tage später folgte der tiefe Sturz: der Biss. Liverpool empfing an der Anfield Road den FC Chelsea. Es war ein besonderes Spiel, aus diversen Gründen. Erstmals seit seiner Demission 2010 war Rafael Benítez wieder zu Gast – der spanische Trainer hatte die Reds 2005 in Istanbul zum Gewinn der Champions League geführt, im denkwürdigen Finale gegen den AC Mailand. Der Kop empfing ihn mit herzlichem Applaus. Zugleich wurde im Rahmen des Spiels Anne Wil128


liams gedacht, die ihren Sohn bei der Tragödie von Hillsborough verloren hatte und bis zu ihrem Tod für Gerechtigkeit gekämpft hatte. Zusätzlich zu den Toten von damals erwies man an diesem Tag auch den Opfern des Anschlags auf den Marathon in Boston die Ehre. Schließlich war die Stadt ja auch die Heimat der Fenway Sports Group; die Spieler trugen Trauerflor. Um 16 Uhr pfiff Schiedsrichter Kevin Friend die Partie an, der Luis Suárez in jeder Hinsicht seinen Stempel aufdrücken sollte: Zunächst legte er Daniel Sturridge den Ball zum 1:1-Ausgleich auf (Oscar hatte die Blues nach Ecke von Juan Mata per Kopf in Führung gebracht). Bei einem weiteren Eckstoß von Juan Mata sprang Suárez hoch und wehrte den Ball mit der Hand ab. Die Folge: Strafstoß. Den versenkte Eden Hazard zum 2:1 für Chelsea. Suárez war jedoch noch nicht fertig und köpfte nach gewonnenem Zweikampf mit Petr Čech das 2:2. Da lief bereits die siebte Minute der Nachspielzeit, und nicht wenige Fans waren längst auf dem Weg aus dem Stadion, als sie den Jubel drinnen hörten und zurückeilten, um ihre Nummer 7 zu feiern. 20 Minuten zuvor hatte sich indessen ein unglaublicher Vorfall ereignet, den aber zunächst niemand richtig wahrgenommen hatte. 73. Minute: „El Pistolero“ bekam ein Zuspiel von Sturridge. Hinter ihm stand Branislav Ivanović, der serbische Verteidiger der Blues, der Suárez das gesamte Spiel über wie eine Klette verfolgt hatte. Suárez wollte sich in Richtung Tor drehen, da hatte Ivanović den Ball schon in Richtung Strafraumgrenze weggespitzelt. Gerrard versuchte zwar noch eine Flanke, aber Hazard konnte den Ball zur Ecke klären. Die Fernsehkameras folgten zunächst dem Liverpool-Kapitän, als die 45.000 Zuschauer plötzlich die Blicke auf das Geschehen im Fünfmeterraum richten. Ivanović saß auf dem Boden, Suárez stand gestikulierend neben der Torlinie. Der Schiedsrichter kam herbeigelaufen und unterhielt sich kurz mit Suárez, der anschließend den Daumen hob. Der Serbe schob seinen Ärmel hoch und zeigte dem Unparteiischen die Bissspuren im rechten Oberarm. Doch Kevin Friend maß dem nicht viel Bedeutung bei. Für ihn hatten die beiden sich gegenseitig gehalten. Keine Verwarnung, kein Platzverweis. Luis diskutierte mit Čech und lächelte, während Ivanović ihn mit finsterem Blick musterte. Erst die Wiederholung auf Sky Sports brachte ans Licht, was tatsächlich geschehen war: Zunächst kämpften die beiden aneinander zerrend um den 129


Ball. Als das Leder zu Gerrard rollte, packte Suárez Ivanović’ Arm und biss hinein. Der Serbe schubste den Uruguayer weg, und beide landeten auf dem Rasen. Ivanović reklamierte noch mit ausgebreiteten Armen. Es folgte eine Lawine von Witzen, geistreichen Wortspielen, Karikaturen und Beleidigungen. Rio Ferdinand von Manchester United twitterte: „Er hatte halt Hunger.“ Es wurde gewitzelt: „If you can’t beat them, eat them“ („Wenn du sie nicht bezwingen kannst, musst du sie verschlingen“), oder auch „Als was hat Suárez Ivanović gesehen? – Als ein Sandwich.“ Flugs tauchten im Internet unzählige Fotomontagen auf. Eine zeigte den Uruguayer im Gewand von Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Lämmer, eine andere als Der Weiße Hai von Steven Spielberg. Aus An American Werewolf in London wurde kurzerhand The Uruguayan Werewolf in Liverpool. Die Sun titelte am nächsten Tag: „Same old Suárez – always eating“ („Suárez, wie man ihn kennt: immer beim Essen“), der Daily Mirror machte auf mit: „Der Kop-Kannibale“. Ähnlich äußerten sich auch Daily Mail und Daily Telegraph. Der Skandal gewann an Fahrt. Luis selbst äußerte sich auf Twitter: „Ich bin nicht glücklich über das, was heute Nachmittag geschehen ist. Ich bitte Ivanović und die gesamte Fußballfamilie für mein unverzeihliches Verhalten um Entschuldigung.“ Etwas später fügte er noch hinzu: „Ich habe Ivanović angerufen und mich persönlich entschuldigt.“ Chelseas Abwehrmann gab einige Tage später in einem Interview mit der serbischen Tageszeitung Večernje novosti zu Protokoll: „Im ersten Moment war ich natürlich geschockt und wütend, aber wenn das Spiel zu Ende ist, sinkt der Blutdruck auch wieder, und alles ist vergessen. Wir haben telefoniert, und ich habe seine Entschuldigung angenommen.“ Für die Spieler selbst schien die Sache damit aus der Welt zu sein, nicht jedoch für den Verein, die FA und die englische Öffentlichkeit. Nachdem Brendan Rodgers die Bilder gesehen hatte, gab er zu verstehen, dass er das Verhalten seiner Nummer 7 für inakzeptabel hielt. Geschäftsführer Ian Ayre, der wegen des Vorfalls in letzter Minute eine Geschäftsreise nach Mittelost und Australien absagte, erklärte, dass Luis sich bewusst sei, mit seinem Fehlverhalten den guten Namen des Vereins beschädigt zu haben. Er gab bekannt, dass Luis noch während der Verhandlung der FA eine vereinsinterne Strafe zahlen müsse, die der Hillsborough Family Support Group zugutekommen würde. 130


Sportkolumnisten und ehemalige Spieler gingen deutlich härter mit ihm ins Gericht. Mark Lawrenson, in den 1980er Jahren Innenverteidiger der Reds und heute Experte bei der BBC, sagte: „Er kann nicht einfach irgendwelche Leute beißen. So etwas tun Kinder, keine Erwachsenen. Er ist ein Weltklassespieler, verschafft einem aber auch Weltklasseprobleme.“ Graeme Souness, seinerzeit Mannschaftskollege von Lawrenson und heute ebenfalls TV-Experte, sagte: „Peinlich. Sah aus, als wollte er ein Stück Fleisch rausreißen. Macht einem richtig Angst. Ich könnte nicht verstehen, wenn Liverpool ihn behält.“ Viele Fans dachten ähnlich über jenen Samstagnachmittag. Einige riefen in der Sendung von BBC Radio Merseyside an, äußerten ihren Unmut und forderten, den Uruguayer so schnell wie möglich zu verkaufen. Eine Umfrage unter den Lesern des Daily Telegraph ergab, dass eine Mehrheit einen sofortigen Transfer der Nummer 7 befürwortete. Der Klub dachte aber gar nicht daran: „Er ist ein ausgezeichneter Spieler, führt die Torschützenliste der Premier League an und hat alle Qualitäten, die wir von einem Angreifer erwarten. Wir möchten ihn behalten. Aber wir wollen ihn natürlich auch wieder auf den rechten Weg bringen. Mit der Hilfe unseres Trainers und eines Psychologen werden wir sein Verhalten schon in den Griff bekommen.“ Hier und da gab man sich entsetzt bei der Aussicht, dass der „Kannibale“ in Anfield bleiben sollte. Einige erinnerten aber auch an Eric Cantona, der nach seinem Kung-Fu-Tritt gegen einen Fan 1995 eine achtmonatige Sperre aufgebrummt bekommen hatte und anschließend wieder für Manchester United aufgelaufen war. Und Mike Tyson, der 1997 im Kampf um den WBA-Titel im Schwergewicht Evander Holyfield ein Stück vom Ohr abgebissen hatte, meinte, dass man die ganze Geschichte nicht überbewerten solle. Einem US-Sender sagte er: „Er hat jemanden gebissen. So etwas kommt vor. Aber ich bin mir sicher, dass er sich entschuldigen wird, so wie ich es damals bei Evander getan habe, und dass sein Leben danach weitergeht.“ Der britische Premierminister David Cameron sah die Sache anders – er zeigte sich gegenüber BBC Radio 5 empört: „Ich habe einen siebenjährigen Sohn, der Fußball liebt. Wenn Fußballspieler ein solches Verhalten an den Tag legen, ist das ein furchtbares Beispiel für die Jugend in diesem Land. Als Vater und als Mensch bin ich der Meinung, dass wir Spieler, 131


die sich in derartiger Weise benehmen, hart bestrafen müssen. Ja, das ist meine Meinung.“ Manche warfen Cameron anschließend vor, er habe Einfluss auf die Entscheidung der FA genommen. Das Urteil gegen Suárez folgte am 24. April: zehn Spiele Sperre „wegen eines Betragens, das einer Tätlichkeit gleichkommt“. Es war ein extrem hartes Urteil, das von vielen Seiten kritisiert wurde. Brendan Rodgers sagte, es sei darum gegangen, den Mann und nicht das Vergehen zu bestrafen; zudem vermisse er beim Strafmaß jeglichen Rehabilitationsgedanken. Arsenals Trainer Arsène Wenger schlug in die gleiche Kerbe: „Was gegen ihn gewirkt hat, war seine Vorgeschichte.“ Pepe Reina, Liverpools spanischer Torhüter, ging am Mikrofon des spanischen Senders Cadena COPE sogar noch einen Schritt weiter: „Luis Suárez wird anders behandelt als ein Engländer. Zehn Spiele Sperre erscheinen mir absurd und ungerecht. Dieses Urteil steht in keinem Verhältnis zu seiner Tat. Ich will damit nicht rechtfertigen, was er gemacht hat, zumal er weiß, dass es falsch war. Aber das hier ist scheinheilig. Keine Ahnung, ob es was mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat, aber dass unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, merkt man ja schon.“ Am 26. April entschied sich Luis, keine Berufung gegen das Urteil einzulegen. Seinen Entschluss erklärte er so: „Ich bin mir bewusst, dass ein solches Verhalten auf dem Fußballplatz nicht hinnehmbar ist. Ich verzichte auf eine Revision, weil ich keinen falschen Eindruck vermitteln möchte.“ Nachdem sich die Wogen etwas geglättet hatten, schilderte er den Vorfall in einem Interview im uruguayischen Fernsehen: „Ich war wütend, weil ich Chelsea den Elfmeter geschenkt hatte. Ich habe rotgesehen und mich komplett vergessen. Ich kann das gar nicht so richtig erklären, aber mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Und das ist ganz allein meine Schuld. Ivanović hatte mir nichts getan.“ Die Sperre trat sofort in Kraft: „El Pistolero“ saß bei den letzten vier Saisonspielen und den ersten sechs Partien der folgenden Saison auf der Tribüne. Und dann war da noch Sebastián Coates, der im August 2011 für 9,6 Millionen Euro von Nacional zum FC Liverpool gewechselt war – einer der teuersten Transfers in der Fußballgeschichte Uruguays. Lucho, den Coates seit einem Play-off-Spiel für die WM 2010 gegen Costa Rica auch persönlich kannte, hatte als eine Art Mentor für ihn fungiert und ihm den Verein und die Stadt gezeigt. „Er hat mich sehr unterstützt, was sehr 132


wichtig für mich war. Ich war ja noch jung, 19 Jahre alt, und brauchte am Anfang einfach Hilfe. Er wiederum hatte das alles schon mitgemacht. Wir zwei Uruguayer waren in Liverpool ein tolles Team und haben öfter mal zusammen ein Steak verputzt“, erinnerte sich Coates in einem Gespräch in der Lounge auf der Nacional-Trainingsanlage Los Céspedes. Wegen einer Verletzung aus einem Freundschaftsspiel gegen Japan im August 2013 konnte Coates in der nachfolgenden Saison – Luis’ letzter Saison am Mersey – kaum spielen. Dennoch erinnerte er sich noch gut an die zwei Jahre, in denen Luis ständigen Angriffen ausgesetzt war: „Das waren schwere Zeiten, sowohl für ihn als auch für seine Familie. Seit ich ihn kenne, weiß ich, was für ein toller Mensch er ist und was für ein guter Vater. Er verbringt ständig Zeit mit seinen Kindern und seiner Frau. Es war nicht leicht, die ganzen hässlichen Dinge über ihn zu hören.“ Was er glaube, warum Suárez in England so heftig diskutiert wurde, wollte ich von Coates wissen. „Vielleicht sind hier in Südamerika einfach manche Dinge alltäglich, die in anderen Ländern ein Skandal wären. Gucken Sie sich doch nur mal ein Spiel bei der Copa Libertadores an, da gibt es immer Nickligkeiten: Rumgeschubse, Geklammer, verbale Auseinandersetzungen mit dem Gegner oder dem Schiedsrichter. Dazu jede Menge Fouls, Schwalben und Schauspielerei. So laufen die Spiele bei uns nun mal. Luis lebt das sehr stark aus, weil er immer gewinnen will. Er gibt auf dem Platz einfach alles, in jeder Hinsicht. Und wenn der Adrenalinpegel ganz oben ist, macht man ab und zu einen Fehler. Aber zum Glück hat Luis sich jetzt besser im Griff und hat bewiesen, dass sich die Leute in ihm getäuscht haben.“

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Luis Suárez ist einer der spektakulärsten, aber auch umstrittensten Spieler im heutigen Fußball. Von den einen wird er wegen Beiß­ attacken gegen Gegenspieler als „Kannibale“ verunglimpft.

SUAREZ Die anderen feiern seinen unbändigen Siegeswillen und die sagen­ hafte Torausbeute. Dieses Buch zeigt, wie der Uruguayer wirklich tickt: angefangen bei seiner schwierigen Kindheit in Montevideo über den Wechsel nach Europa bis hin zu den großen Erfolgen mit dem FC Barcelona und der uruguayischen Nationalmannschaft.

Interviews mit Suárez’ Familie, Trainern und anderen Weg­ begleitern zeichnen darüber hinaus ein ganz persönliches Bild dieses exzentrischen Fußballers. Sichtbar wird ein sympathischer, bescheidener Mensch, dessen Karriere ohne seine Jugendliebe und heutige Frau Sofía nicht denkbar gewesen wäre.

ISBN 978-3-7307-0336-6 VERLAG DIE WERKSTATT


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