Heldentaten – Leseprobe

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Sascha Theisen

Heldentaten

VERLAG DIE WERKSTATT

Die größten deutschen WM-Spiele


Inhalt Aufbruch zu Heldentaten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Entscheidende Zitterpartien 1965: Uns Sehne .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1989: Ickes Novembertraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2001: Ohne Holland ... .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Unerwartete Kantersiege 1954: Dem Fritz sein Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2010: Ein Junge namens Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2014: Das kroose Kopfschütteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Atemberaubende Elfmeterdramen 1982: Die Nacht von Sevilla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1990: Die Nacht von Turin .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2006: Wem gehört das Spiel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Feuerwerke und Schlachten 1966: Troches Klatsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1970: Revanche mit dem Hinterkopf .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1974: Im Regen zur Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1974: Die Wasserschlacht von Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1990: Kain gegen Abel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wegweisende Initialzündungen 1990: Sturmlauf in San Siro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2006: Uneinholbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1974: Hoch sollen sie leben! .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Finale Krönungen 1954: Bozsik, immer wieder Bozsik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1974: Vogts schlägt Cruyff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1990: Den Ball im Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2014: Finales Drama im Maracanã . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bittere Schlappen 1938: Keine Mannschaft könnt ihr sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1958: Heja, Heja Sverige .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1966: Das ewige Wembley-Tor .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1970: Partido del Siglo .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1978: Das narrische Spiel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1982: Auf zu hohem Ross(i) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1986: „Hart wie Scheiße“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1994: In der falschen Ecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2006: Gross(o) Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufbruch zu Heldentaten

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a war ich dabei!“ – wer sich an WM-Spie- die im Giuseppe-Meazza-Stadion im Juni 1990 zu le erinnert, geht über die reine Erinnerung schenken. Und alle vier Jahre werden solche Auhinaus. Man war „dabei“. Immer. Viel- genblicke aufs Neue geboren – immer dann, wenn leicht nicht jedes Mal im Stadion, aber eine Fußball-Weltmeisterschaft angepfiffen wird. eben doch als Teil des Spiels, und das meist mit Dann beginnen vier Wochen Fußball, in denen grofeuchten Handinnenflächen, ungeduldiger Vorfreu- ße Hoffnungen blühen, Träume zerbrechen und de und panischer Angst vor der Niederlage. Die deutsche Helden triumphieren oder fallen. Seit Erinnerung an legendäre WM-Spiele vereint viele 1930 bis heute finden Weltmeisterschaften statt, Fußballfans mit häufig glasigen Augen – auch dann, und mit unzähligen Heldentaten haben Männer wenn sie die Spiele oft an verschiedenen Orten in weißen Trikots und schwarzen Hosen (manchmal auch in grünen Hemden und weißen Shorts) verfolgten. Wer etwa 1990 schon alt genug war, um das für epische Geschichten gesorgt, die niemand je WM-Achtelfinale zwischen Franz Beckenbauers Elf wieder vergisst, der sie sah oder auch nur davon gegen die der Niederlande zu durchleben, den las- erzählt bekam. Dieses Buch versammelt all diese sen dieses Spiel und die Erinnerung daran nie wie- Heldentaten an einem Ort. Es ist ein Album der der los. Brehmes genialer Schlenzer, Buchwalds Erinnerungen – eine Verbeugung vor den größten ungelenker, aber dennoch erfolgreicher Überstei- deutschen Spielen bei Fußball-Weltmeisterschafger und van Breukelens zornige Reaktion nach ten. Es erzählt die Geschichten von rauschenden dem Rückstand sind Tickets für eine ganz persön- Siegen, dramatischen Elfmeterschießen, aber liche WM-Zeitmaschine. Auf ihrem Fahrplan steht auch von bitteren Niederlagen, die mindestens der Straßenrand, an dem man einst den Tramper- vier Jahre lang schmerzten. Der blutende Schweinsteiger, der immer und Daumen hob, um in letzter Minute in San Siro anzukommen. Wieder andere fahren zurück in die immer wieder vom Rasen des Maracanã aufsteht, zum WM-Studio umfunktionierte elterliche Gara- getragen vom Wunsch, den Titel zu gewinnen. Der ge, in der das Spiel auf einem Röhren-Fernseher schwerelose Klaus Fischer, der in der schwülen lief und selbst sonst distinguierte Mütter zu rot Nacht von Sevilla den Fallrückzieher unsterblich anlaufenden Furien wurden, weil Frank Rijkaard macht. Der in Wankdorf immer wieder aus dem zum dritten Mal in Rudi Völlers Locken spuckte. Hintergrund schießende Rahn. Der in Belo HoriSie alle hören noch heute das klatschende Ge- zonte auf den Knien rutschende Miro Klose. Andy räusch des Pfostens, gegen den Klinsmann das Brehme, der ganz alleine mit sich und dem Ball im Leder drosch und hören Heribert Faßbenders ent- Olympia-Stadion in Rom auf die Ausführung diesetzten Ruf, diesen Schiedsrichter „ganz schnell ses einen Elfmeters wartet. Aber es sind nicht nur Siege wie diese, die eine zurück in die Pampa“ zu schicken. „Herzlich willkommen zu 13 Stunden Fußball!“ Weltmeisterschaft unsterblich machen – es sind Es sind solche Sätze, mit denen WM-Begleiter wie auch die großen Niederlagen, die für immer bleiDieter Kürten einst ihre TV-Zuschauer begrüß- ben. Fabio Grossos unwiderstehlicher und doch ten. In der Vorfreude darauf, ihnen Momente wie so bitterer Jubellauf durch die Nacht von Dort-

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mund, der den Sommer eines ganzen Landes beendet. Burruchagas schmuckloser Torabschluss mit der Innenseite, einen Schritt bevor Hans-Peter Briegel ihn doch noch erreicht. Geoff Hursts Schuss an den Querbalken in Wembley und Hans Tilkowskis Tränen auf dem schweren Weg hoch zur Queen. Erich Juskowiaks rote Karte in Göteborg, die Sepp Herbergers unbarmherzigen Bannstrahl für ihn und das Ausscheiden für den Titelverteidiger gegen die gastgebenden Schweden bedeutet. Die Geschichten der Fußball-Weltmeisterschaften sind einzigartig, und die der deutschen Nationalelf haben einen festen Platz darin. Es gibt nur ganz wenige Turniere, in denen sie nicht forterzählt werden. 1962 und 1998 vielleicht – ansonsten lohnt sich jeder Trip zu einem der unvergänglichen WM-Schauplätze, an denen sich Tragödien und Heldentaten abspielten. Solange Doc Emmett Brown den DeLorean DMC-12 noch nicht erfunden hat und es auch sonst keine rea-

Danksagung

listische Möglichkeit gibt, zurück zum 4. Juli 1954 nach Bern oder zum 7. Juli 1974 nach München zu reisen. Solange auch niemand ins Stadio Olimpico zu Brehmes Elfmeter oder ins Maracanã zu Schweinsteigers Kampf und Götzes Drehung aufbrechen kann, lädt dieses Buch zur Reise in die Zeit der WM-Heldentaten ein – hin zu feuchten Handinnenflächen, ungeduldiger Vorfreude und panischer Angst vor der einen Niederlage, hin zu Momenten, von denen man anschließend bis in alle Ewigkeit sagen darf: „Da war ich dabei!“

cher den unde nachdem Klaus Fis Sevilla 1982 – eine Sek acht hat. gem h blic ter uns r Fallrückziehe

Der erste Dank für die Inspiration zu diesem Buch Darüber hinaus gilt der Dank selbstverständlich gilt Klaus Fischer – dem Klaus Fischer, nicht dem dem großartigen Verlag Die Werkstatt, ohne den Karnickel aus Hamm, das ich einmal kennenlernte, man die Fußballkultur in Deutschland vergebens als ich einen befreundeten Schalke-Fan besuchte suchen würde. Er ist die Heimat für so viele großund er mir stolz die Namen seiner Haustiere nann- artige Autoren, die ihre vielfältigen Fußballthemen te. Vielen Dank also an den Klaus Fischer für die- mit so viel Hingabe und Passion recherchieren, sen Moment in Sevilla, als er sich mit dem Rücken aufschreiben und eben veröffentlichen dürfen. zum Tor in die Höhe schraubte, um den Ausgleich Dem versierten Fußballkenner Hardy Grüne im Halbfinale ’82 gegen Frankreich zu schießen. gilt der Dank für das Lektorat an diesem Buch, das Ohne diesen unsterblichen Moment wäre dieses wunderbar unprätentiös und immer hochsympaBuch sicher nicht entstanden. Denke ich daran, thisch vonstattenging. Möge Göttingen 05 eines wie ich zum Fußball kam und wie er mich anschlie- Tages zurückkehren! Und vielen Dank auch an die ßend nie wieder losließ, dann ist jener Augenblick großartige Christine Rölke, die die Gestaltung dieeine der Initialzündungen. Ein unvergleichliches ses Buches auf wunderbare Weise umgesetzt hat. Tor, das für so viele andere in der WM-GeschichLetztlich gilt mein Dank meinem leider verte steht, die Weltmeisterschaften so groß und un- storbenen, wunderbaren Freund Peter Schmitz, vergänglich machen. Es bleibt die tiefe Hoffnung, mit dem ich so viele Abende damit verbrachte, in dass diese Erinnerungen am Ende immer größer WM-Erinnerungen zu schwelgen, und mit dem ich sind als die fortwährenden und eifrigen Bemühun- im Sommer 2014 doch noch einmal gemeinsam gen der Verbände, die Schraube im Weltfußball zu den Titel der deutschen Elf feiern durfte. Es verüberdrehen. geht kein Tag, an dem er nicht fehlt. Sascha Theisen

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2014

Das kroose Kopfschütteln

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ls Toni Kroos in der 24. Minute jubelnd zur Auslinie lief, konnte er selbst nicht glauben, was gerade mit ihm und mit diesem Spiel geschah. Er schlug die Hände vor das Gesicht, lachte und schüttelte gleichzeitig ungläubig mit dem Kopf. So wie ihm, der ja unmittelbar dabei und Protagonist dieses historischen Augenblicks war, ging es in dieser Sekunde wohl allen 32,57 Millionen Deutschen, die das ZDF vor den Fernsehapparaten des Landes zählte. Niemand – egal wo er dieses Halbfinale auch verfolgte – konnte glauben, was dort unten auf dem Rasen des Estadio Mineirão in Belo Horizonte passierte. Wenn man so will, ging in diesem Moment kein Ruck, dafür aber ein ungläubiges nationales Kopfschütteln durch Deutschland. Kroos hatte gerade das 3:0 für Deutschland erzielt – in einem WM-Halbfinale in Brasilien, gegen Brasilien, in der 24. Minute! Er und alle anderen, die ihm bei seinem Tor zugesehen hatten, hatten also Grund genug, verblüfft, ein bisschen erschrocken und leicht fassungslos zu reagieren. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnte: Es würde noch viel unfassbarer werden! Denn innerhalb der nächsten fünf Minuten sollten zwei weitere Tore für die Deutschen fallen und das längst unglaubliche Spiel in ein monumentales Denkmal in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften verwandeln.

Das Entsetzen steht dem brasilianischen Verteidiger Dante ins Gesicht geschrieben: Toni Kroos krönt seine überragende Leistung mit seinem zweiten Treffer zum 4:0 für Deutschland – gespielt sind in diesem Moment gerade einmal 26 Minuten.

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UnErwartEtEKantErsiEgE


Begonnen hatte das Spektakel mit zwei Mannschaften, die nicht unterschiedlicher in diese Partie hätten gehen können. Auf der einen Seite die deutsche Elf, die sich hochkonzentriert auf das bevorstehende Halbfinale vorbereitete. In ihrer Kabine hing ein Trikot mit den Unterschriften der bisherigen deutschen Weltmeister. Es war der Jahrestag des WM-Finales 1990 – ein Omen, an das die deutsche Delegation mit dem Trikot geschickt erinnerte, ohne zusätzlichen Druck aufzubauen. Jogi Löw bildete vor dem Spiel einen Kreis in der

Brasilien – Deutschland 1:7 (0:5) WM-Halbfinale 2014 8. Juli 2014, 22 Uhr, Estadio Mineiãro, Belo Horizonte Brasilien: Julio Cesar – Maicon, Luiz, Dante, Marcelo – Luiz Gustavo, Fernandinho (46. Paulinho) – Bernard, Oscar, Hulk (46. Ramires) – Fred (69. Willian) Deutschland: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels (46. Mertesacker), Höwedes – Schweinsteiger – Khedira (76. Draxler), Kroos – Müller, Özil – Klose (58. Schürrle) ZS: 58.141 – SR: Rodriguez Moreno (Mexiko), LR: Torrentera (Mexiko), Quintero (Mexiko), 4. Offizieller: Geiger (USA) Tore: 0:1 Müller (11.), 0:2 Klose (23.), 0:3 Kroos (24.), 0:4 Kroos (26.), 0:5 Khedira (29.), 0:6 Schürrle (69.), 0:7 Schürrle (79.), 1:7 Oscar (90.)

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Augenblick für die Ewigkeit: Kroos kann selbst nicht fassen, was gerade mit ihm und seinen Mannschaftskollegen in Belo Horizonte geschieht.

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U n e r w a r t e t e K a n t e r s i e g e

Kabine und schwor seine Spieler mit eindringlichen und mitreißenden Worten noch einmal darauf ein, füreinander einzustehen und der zu erwartenden Kulisse als Einheit entgegenzutreten. Keine Frage: Jeder deutsche Spieler war völlig fokussiert auf die nächsten 90 Minuten – eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein Spiel wie dieses. Erwähnenswert war es trotzdem, weil das auf die Brasilianer eben ganz und gar nicht zutraf. Schon in der Vorrunde und den ersten K.-o.Spielen waren sie dem nationalen Druck, der tonnenschwer auf ihnen lastete, nur mit einem exzessiven Pathos bei der Nationalhymne, beim Torjubel und bei beinahe jeder gelungenen Aktion begegnet. Immerhin hatten sie diese Emotionen, trotz teilweise schwacher Leistungen, bis ins Halbfinale gebracht. Dennoch wurde man als Beobachter dieser überdimensionierten und an Hysterie grenzenden Leidenschaft das Gefühl nicht los, dass sie immer ein bisschen über ihre Verhältnisse agierten. Das Halbfinale gegen die Deutschen, für das die „Seleção“ neben heißem Herzen unbedingt kühlen Verstand gebraucht hätte, ging nun über ihre Kräfte – schon im Vorfeld. Superstar und Volksheld Neymar hatte sich im Viertelfinale gegen Kolumbien schwer verletzt, und nun trug das ganze Land Trauer, statt mit Vorfreude ins Spiel um das Finale zu gehen. Fatalerweise löste sich das Team von Luiz Felipe Scolari nicht von dieser erneut mit großem Pathos ausgelebten Staatstrauer um einen Fußballspieler, sondern stieg selbst mit in diese ein. Auf dem Weg ins Stadion trugen alle brasilianischen Spieler demonstrativ eine Baseball-Kappe, auf der der Schriftzug „Força Neymar“ stand. Kein Akteur der „Seleção“ gab vor dem Spiel ein Interview, ohne ein Statement zum verletzten Star abzugeben. Im Stadion selbst wurden tausende Pappmasken mit dessen Konterfei verteilt, so dass die Mannschaft in eine riesige Menge voller Neymars schaute, als sie sich zur Nationalhymne aufstellte. Und wie um dem Ganzen die theatralische Krone aufzusetzen, hielt Kapitän David Luiz beim Abspielen der brasilianischen Hymne Neymars Trikot in die Höhe. Als dann das ganze Stadion die „Hino Nacional Brasileiro“ sang und einige Spieler von ihren Gefühlen derart übermannt wurden, dass ihnen die Tränen kamen, war klar: An diesem Tag in Belo Horizonte waren die Brasilianer mit ihren Gedanken überall, nur nicht bei ihren Gegnern.


Während die deutschen Spieler Tor um Tor feiern, erleben die brasilianischen die schlimmsten Augenblicke ihrer Karriere und müssen einen Ball nach dem anderen aus dem eigenen Netz fischen.

Wie so oft in derartigen Fällen galt es für die deutsche Mannschaft zunächst, die ersten Minuten zu überstehen. Denn als Schiedsrichter Marco Antonio Rodriguez aus Mexiko das Spiel anpfiff, rannten die Brasilianer los, als wollten sie das Spiel innerhalb weniger Augenblicke für sich entscheiden. Die Tatsache, dass genau das nur ein bisschen später der DFB-Elf gelang, ist einer von vielen Treppenwitzen dieses denkwürdigen Spiels. Bereits nach zwei Minuten schoss Marcelo zum ersten Mal auf das Tor von Manuel Neuer, der zwei Minuten später nach einer Flanke vor Bernard erneut eingreifen musste. Doch allmählich ebbte dieser anfängliche Druck der „Seleção“ ab, und erwartungsgemäß fanden die Deutschen nun besser in die Partie. Sami Khedira war der Erste, der sich eine Torgelegenheit erspielte, bei seinem Abschluss aber den eigenen Mann traf. Minuten später war es wieder Khedira, der die erste Ecke für sein Team herausholte. Toni Kroos legte sich den Ball zurecht und spielte in den hin-

teren Strafraumbereich. Dort stand Thomas Müller völlig alleine. Der Münchner besaß gar die Zeit, den Flankenball völlig unbedrängt mit der Innenseite seines rechten Fußes vorbei an Julio Cesar in die lange Ecke zu seinem fünften Turniertreffer zu platzieren. 1:0 für Deutschland – der erste Schock für die Brasilianer. Nur zwölf Minuten später wurde daraus eine Schockstarre, und die „Seleção“ fiel beispiellos in sich zusammen. Auslöser war eine Traumkombination der Deutschen. Der überragende Toni Kroos steckte am Strafraum zu Müller durch, der das Leder mit dem ersten Kontakt auf Klose weiterleitete. Der scheiterte zunächst am glänzend parierenden Cesar. Der Abpraller landete jedoch direkt vor seinen Füßen, und dieses Mal vollendete Klose locker und leicht. Ein Treffer, der die Brasilianer doppelt hart traf. Denn Kloses Tor war ein historisches. Das 2:0 markierte seinen 16. Treffer bei einer Weltmeisterschaft, womit er ausgerechnet den Brasilianer Ronaldo, der das Spiel von der

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Tribüne aus verfolgte, als ewigen WM-Torschützen ablöste. Auf den Knien rutschend feierte Miroslav Klose die Unsterblichkeit des Augenblicks, der gleichsam ihm und seiner Mannschaft gehörte. Was ab diesem Moment in Belo Horizonte geschah, ist nach wie vor nicht erklärbar. Die deutsche Elf spielte für die nächsten Minuten den perfektesten Fußball in ihrer langen WMHistorie. Die brasilianische dagegen spielte den wahrscheinlich schwächsten, in jedem Fall den ängstlichsten Fußball in ihrer nicht minder langen WM-Geschichte. Nur eine Minute nach Kloses denkwürdigem Rekordtreffer ging Philipp Lahm über die rechte Seite auf und davon und flankte den Ball in die Mitte. Dort schlug Müller zunächst über das Leder. Aber solche technischen Fehler spielten an diesem Tag für die deutsche Elf keine Rolle. Denn hinter Müller lauerte schon Kroos, um das Leder humorlos von der Strafraumkante mit links ins brasilianische Tor zu hämmern. Es folgte der ungläubige Jubel an der Außenlinie, für den aber kaum Zeit blieb. Denn wieder nur zwei Minuten später profitierten die nun wie aufgedrehten Khedira und Kroos von einem Fehler Fernandinhos. Die beiden überragenden Spieler auf dem Platz gingen wieder auf und davon in Richtung des gegnerischen Tores, und eine kurze Pass-Stafette später lag das Leder erneut im Netz der Brasilianer. Kroos hatte nach einem verwirrend schnellen Doppelpass mit Khedira abermals getroffen. 4:0. Doch auch damit war es noch nicht genug. Die brasilianische Schockstarre auf Rasen und Tribüne verschärfte sich, als wieder nur drei Minuten später Mats Hummels in die brasilianische Hälfte eindrang. Pass auf Khedira, der einen fast identischen Doppelpass mit Özil spielte, wie er es nur kurz zuvor mit Kroos getan hatte, um durch zwei brasilianische Verteidiger-Beine hindurch zum unfassbaren 5:0-Zwischenstand zu vollenden. Die jetzt bitterlich weinenden brasilianischen Fans sowie die jubelnden und immer wieder mit dem Kopf schüttelnden deutschen Anhänger im Stadion waren Augenzeugen der verrücktesten sechs Minuten in 20 Weltmeisterschafts-Turnieren geworden. Nie zuvor hatte eine Mannschaft bei einer WM nach 29 Minuten bereits fünf Tore erzielt. In der Social-Media-Welt überschlugen sich die Kommentare. Nach Khediras Treffer zum 5:0 zählten Experten auf Twitter 580.000 Tweets allein zu

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U n e r w a r t e t e K a n t e r s i e g e

diesem Tor – auch das ein absoluter Rekord. Insgesamt wurden nach Ablauf der Partie sage und schreibe 35 Millionen Kurznachrichten abgesetzt, womit dieses Spiel das meistkommentierte Sportereignis überhaupt wurde. In der zweiten Hälfte versuchten die Brasilianer zunächst, mit dem Mute der Verzweiflung anzugreifen, und scheiterten zwei Mal aussichtsreich an Manuel Neuer. Als Jogi Löw in der 58. Minute seinen Joker André Schürrle ins Spiel brachte, zog die deutsche Elf wie aus dem Stand plötzlich wieder an und versetzte den Brasilianern weitere Stiche mitten ins Fußballherz. Schürrle traf zwei Mal und stellte das Ergebnis damit auf den höchsten Sieg in einem WM-Halbfinale, woran auch der brasilianische Ehrentreffer in der letzten Minute durch Oscar nichts mehr änderte. 50 Jahre zuvor waren es ebenfalls die Deutschen gewesen, die in Basel die Mannschaft Österreichs mit 6:1 nach Hause geschickt hatten und damit ins Endspiel von Wankdorf eingezogen waren. Erstaunlich war, dass die Brasilianer trotz des Ergebnisses auf 51 Prozent Ballbesitz kamen und mit 18:14 auch ein Plus an Torschüssen verbuchten. Die Presse interessierte sich nach diesem Spiel allerdings nicht für Statistiken. Zu viel Stoff für große Überschriften hatte sie an diesem epischen Abend sammeln können. Die französische „Liberation“ sah eine deutsche Mannschaft, die „auf Wasser lief“. Das portugiesische „Jornal de Noticias“ schrieb von einem „der denkwürdigsten Kapitel der Fußballgeschichte“, und der britische „Daily Mirror“ sprach vom „tollsten WM-Spiel aller Zeiten“. Das Empire State Building wurde in der Nacht nach dem Spiel schwarz-rot-gold angestrahlt. Groß aber auch das Mitleid mit den unterlegenen Gastgebern, denen laut der spanischen „Marca“ „die größte Demütigung der Fußballgeschichte“ widerfahren war. All diese Schlagzeilen und Gesten waren richtig und wohl auch treffend formuliert. Und doch gaben sie nicht wider, was an diesem Mittwochabend in Belo Horizonte wirklich passiert war. Alle Superlative waren zu gering. Einzig eine Geste bleibt in Erinnerung als eine, die dieses unvergessene Spiel treffend charakterisiert: das ungläubige Kopfschütteln des Toni Kroos mitten im Wahnsinn, sein Griff an den Kopf, sein Lachen und wieder das ungläubige Kopfschütteln – ein Kopfschütteln für Millionen.


WM-Rekord: Miro Klose erzielt sein 16. Tor bei einer Weltmeisterschaft. Während den brasilianischen Fans im Hintergrund bereits das Entsetzen ins Gesicht geschrieben steht, feiern Lahm und Khedira den historischen Treffer ihres Kollegen.


1974

Hoch sollen sie leben!

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er elfjährige Detlef Lange war erster Sopran der Schöneberger Sängerknaben und wurde daher auf einem Pressefoto seines berühmten Gesangsvereins in der ersten Reihe platziert. Dort wiederum war er den WM-Organisatoren des DFB aufgefallen, die auf der Suche nach einem Kind waren, das genügend Bühnenerfahrung mitbrachte, um für die Weltmeisterschaft im eigenen Land die Gruppen auszulosen. Nicht zuletzt aufgrund seiner medienwirksamen blonden Haare wurde Detlef Lange so kurzerhand zur „Glücksfee“ und zog am 5. Januar 1974 im großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks vor ungefähr 1.000 geladenen Gästen aus aller Welt die Gegner für die großen Spiele der 10. Fußball-Weltmeisterschaft. Dafür zog er bunte Röhrchen aus großen Glaskugeln, in denen blaue Zettel lagen, auf denen die Teilnehmer-Nationen notiert waren, sowie gelbe auf denen die entsprechenden Gruppenzuordnungen

Bundesrepublik Deutschland – DDR 0:1 (0:0) WM-Vorrunde 1974, Gruppe 1 22. Juni 1974, 19:30 Uhr, Volksparkstadion, Hamburg Bundesrepublik: Maier – Beckenbauer – Vogts, Schwarzenbeck (68. Höttges), Breitner – Hoeneß, Cullmann, Overath (69. Netzer) – Grabowski, Müller, Flohe DDR: Croy – Bransch – Kische, Weise, Wätzlich – Lauck, Irmscher (65. Hamann), Kurbjuweit – Sparwasser, Kreische, Hoffmann ZS: 60.200 – SR: Barreto Ruiz (Uruguay), LR: Marquèz (Brasilien), Pestarino (Argentinien)

standen. Als er für die DDR, die zum ersten und einzigen Mal an einem großen Fußballturnier teilnahm, die Ziffer 3 zog, ging zunächst ein leises Raunen durch den Saal. Es dauerte einige Sekunden, bis alle Zuschauer verstanden, was gerade passiert war. Dann wurde das Raunen lauter und ging schließlich in vorfreudigen Beifall über. Der kleine Detlef aus Berlin hatte FIFA-Generalsekretär Helmut Käser, der die Zuordnung der DDR in Gruppe 1 akribisch notierte und sich auch in diesem Moment nur zu einem kaum wahrnehmbaren, leichten Kopfschütteln hinreißen ließ, ein brisantes Los beschert: Denn Gruppenkopf der Gruppe war das Team der Bundesrepublik, was wiederum bedeutete: Es stand das erste Duell der beiden deutschen Nationalmannschaften an – und das gleich bei einer Weltmeisterschaft auf deutschem Boden. Was damals freilich noch niemand wusste: Dieses Duell sollte es auch danach bis zum Ende der DDR 1990 nicht mehr geben. Die WM 1974 hatte also ihre erste ganz große Schlagzeile bereits ein halbes Jahr bevor der Ball rollte. Auf dem Spielplan stand eine Partie, die die gesamte Nation mitten im Kalten Krieg auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ab diesem Tag elektrisierte. Kaum ein Politiker verzichtete auf einen Kommentar zur Auslosung, kaum ein Chefredakteur kam ohne einen Leitartikel zu diesem deutsch-deutschen Duell aus. Vor allem für den bundesdeutschen Trainer Helmut Schön war es eine ganz besondere Partie. Der gebürtige Dresdner hatte 1950 seine sächsische Heimat verlassen, um sein Glück im bundesdeutschen Fußball zu suchen. Nachdem die DFB-Elf in der Vorrunde eher schwache Auftritte mit zwei Siegen gegen Chile und Australien verbucht hatte, sollte das Spiel gegen seine alte

Tor: 0:1 Sparwasser (78.)

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Deutsch-deutsche Sporthistorie: Zum ersten und einzigen Mal laufen zwei deutsche Teams bei einer Weltmeisterschaft auf, um gegeneinander zu spielen. Natürlich ist der Hamburger Volkspark ausverkauft.

Rechte Seite: Höttges, Vogts und Maier sind auf verlorenem Posten. Sparwasser trifft zum 1:0 für die DDR und sorgt so für eines der berühmtesten Tore der deutschen Fußballgeschichte.

Heimat und den politischen „Klassenfeind“ ein Höhepunkt seiner Trainerlaufbahn und die Initialzündung für das weitere Turnier werden. Eine solche wurde es in der Tat – nur ganz anders, als Schön sich das zuvor wohl vorgestellt hatte. Bevor dieses ganz besondere Spiel am 22. Juni im Hamburger Volksparkstadion begann, war das Säbelrasseln noch ein bisschen lauter gewesen als sonst. Beim Gastgeber – zwei Jahre zuvor noch in überragender Art und Weise Europameister geworden – herrschte große Zuversicht. Die „BILD“-Zeitung titelte am Spieltag mit der anmaßenden Schlagzeile „Warum wir heute gewinnen!“, verglich im dazugehörigen Artikel die Spieler beider deutscher Staaten. Aus den Ergebnissen folgerte sie schließlich einen deutlichen Sieg für die Auswahl Helmut Schöns. Das wiederum motivierte die Mannschaft der DDR enorm. Der später al-

les entscheidende Jürgen Sparwasser erinnerte sich: „Da vergleichen die den Schwarzenbeck, der ja nun mal mein Gegenspieler war, mit dem Sparwasser, benoten und analysieren. Und sagen: Der Schwarzenbeck ist der Techniker und der Sparwasser der Hölzerne. Da will man natürlich beweisen, was man auf dem Kasten hat.“ Eine solche Erwartungshaltung war aus Sicht der DFB-Elf wenig angebracht. Die Stärke des DDR-Fußballs hätte sich eigentlich längst über die Staatsgrenze hinaus herumsprechen müssen. Ein paar Wochen vor der Weltmeisterschaft wäre der FC Bayern um ein Haar im Europapokal der Landesmeister gegen Dynamo Dresden ausgeschieden. Zudem hatte der 1. FC Magdeburg im Finale um den Europapokal der Pokalsieger mit den WM-Spielern Seguin, Sparwasser, Pommerenke und Hoffmann den großen AC Mailand in Rotter-

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dam mit 2:0 besiegt. Vorsicht wäre also eher angebracht gewesen als große Töne. Stattdessen unterschätzten neben der siegessicheren Öffentlichkeit auch viele Spieler den Gegner. Zwar war die Anspannung in der Kabine vor dem Spiel größer als sonst, zumal Kapitän Franz Beckenbauer in einem leidenschaftlichen Appell noch einmal auf die Bedeutung der 90 Minuten für das Land im Allgemeinen und Helmut Schön im Besonderen hinwies, und doch gab Wolfgang Overath im Rückblick zu: „Wir hatten die nicht so stark erwartet.“ Das Spiel selbst begann furios. Die DFB-Elf hatte schon nach drei Minuten eine Großchance durch den Kölner Heinz Flohe, der einen fulminanten Distanzschuss knapp am rechten Winkel des DDR-Tores vorbeizirkelte. Kurz danach leitete Franz Beckenbauer die nächste Gelegenheit ein, als er Gerd Müller unnachahmlich mit einem Steilpass in den Strafraum schickte und dieser nach blitzschneller Körpertäuschung einen gefährlichen Querpass zu Jürgen Grabowski in den Fünf-

meterraum des von Jürgen Croy gehüteten Tores spielte. Der Frankfurter Stürmer verfehlte das Gehäuse denkbar knapp. Nach dieser Szene übernahm allerdings die DDR das fußballerische Kommando. Der Großchance Grabowskis stand die des Dresdners Hans-Jürgen Kreische jedenfalls in nichts nach: Der Dynamo-Spieler verfehlte freistehend das leere Tor des bereits geschlagenen Sepp Maier. Kurz darauf war es Reinhard Lauck vom BFC Dynamo, der gleich zwei Mal knapp scheiterte. Und so ging es mit einem 0:0 in die Pause, das eher schmeichelhaft für den großen Favoriten war, der gut und gerne mit einem Rückstand den Weg in die Kabine hätte antreten können. Das Publikum im Hamburger Volkspark jedenfalls hatte längst begonnen, seiner Unzufriedenheit lautstark Ausdruck zu verleihen. Der indisponierte Overath wurde ausgepfiffen und mit Sprechchören gegen ihn und für Günter Netzer zusätzlich aus der Ruhe gebracht. Auch vor diesem Hintergrund war es

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fast folgerichtig, dass die DFB-Elf in keiner Phase lich Gefahr für das DDR-Tor bedeutete, aber letztzu ihrem Spiel fand, das sie ohnehin schon die ge- endlich vom alles überragenden Croy meisterhaft samte Vorrunde hindurch gesucht hatte. Die DDR- entschärft wurde. Der Schlusspfiff von Schiedsrichter Ramón Auswahl jedoch kam, angefeuert durch 1.500 ausgesuchte Schlachtenbummler, die DDR-Reporter Barreto Ruiz aus Uruguay löste enthusiastische Heinz Florian Oertel in seinem Live-Kommentar Jubelstürme bei den Deutschen im blauen Dress standhaft „Touristen“ nannte, immer besser ins und tiefe Enttäuschung bei denen in Weiß aus. Spiel. Während Jürgen Croy aus Zwickau im Tor Während Helmut Schön an der Seite seiner Spieunüberwindbar schien, gewann sie mit zunehmen- ler tief gebeugt und schwer geschlagen in die Kader Spieldauer deutlich an kämpferischem und bine ging, feierten die DDR-Spieler vor ihren lispielerischem Übergewicht, was schließlich zur nientreuen „Touristen“ im Stadion und stimmten sporthistorischen 78. Minute führte – der Minu- mit ihnen den eher selten in Fußballstadien gete, die Jürgen Sparwasser unsterblich machte. In hörten Stimmungsmacher „Hoch sollen sie leben! einem Gespräch mit dem Berliner „Tages­spiegel“ Drei Mal hoch!“ an. Es war ihr Tag. Sie bestellten erinnerte sich der Mann mit der Rückennummer die Musik! Für die DFB-Elf bedeutet die Niederlage gegen 14 auf seinem dunkelblauen DDR-Trikot an diese die DDR im Moment der Niederlage zwar die unvergessliche deutsch-deutsche Szene: wahrscheinlich schlimmste Schmach ihrer WM„(…) ein Abwurf von Jürgen Croy auf die rechte Seite, Geschichte, sie war aber auch die Initialzündung Erich Hamann läuft mit dem Ball über die Mittellinie für den WM-Titel, den sie schon gut zwei Wochen und schlägt dann diesen wunderbaren Diagonal- später gegen die Niederlande in München feiern pass über 40 Meter auf die linke Seite. Wenn man sollte. Denn noch in der Nacht nach dem DDRsich die Szene heute anschaut, muss man sagen: Spiel organisierte Franz Beckenbauer eine hefEigentlich bin ich bescheuert gewesen, überhaupt tige und alkoholschwere Aussprache, an deren loszulaufen. Da warteten vier Leute auf mich: Ber- Ende eine andere, eine neue DFB-Mannschaft ti Vogts, Horst-Dieter Höttges, Bernd Cullmann und stand. „Das war der Punkt, wo sich alles gedreht dazu noch Sepp Maier im Tor. Es ist wahrscheinlich hat“, erinnerte sich Wolfgang Overath, und Sepp eine Frage des Instinkts, es trotzdem zu tun. Und Maier ging gar noch einen Schritt weiter: „EigentGlück gehört natürlich auch dazu. An und für sich lich müssen wir den DDR-Fußballern dankbar sein, wollte ich den Ball mit der Brust mitnehmen, aber dass sie uns damals geschlagen haben.“ ich habe ihn genau auf die Nase gekriegt. Dass der Nach dem Sieg von München gegen Johan Ball eine andere Bewegung nach vorne macht, ver- Cruyff und Co. jubelten dann auch zahlreiche DDRschafft mir den entscheidenden Vorteil vor Höttges. Bürger über den westdeutschen Titel, die hinter (…) Wenn ich von der Fünfmeterlinie einfach drauf- verschlossenen Türen der DFB-Auswahl die Dauplautze, schieße ich wahrscheinlich Sepp Maier an. men gedrückt hatten, selbst als Jürgen SparwasAlso muss ich das Ding verzögern. Deshalb grätscht ser in Hamburg getroffen hatte. Der erinnerte sich: Höttges ins Leere, und Maier krabbelt wie ein Mai- „Vor der WM hatte ich nie Probleme, wenn ich mit käfer über den Boden, so dass er bei meinem Magdeburg in Leipzig, Dresden, oder Aue gespielt habe. Danach ist mir dort viel Missgunst entgegenSchuss nicht mehr nach oben reagieren kann.“ geschlagen, vor allem von den Leuten, die im stillen Die Reaktion der DFB-Elf auf den Rückstand gut Kämmerlein das Deutschlandlied gesungen haben zehn Minuten vor Spielende fiel wütend aus. Für und uns den Sieg gegen die BRD verübelt haben.“ Spielkontrolle war es nun zu spät. Der mittlerweiDer kleine Detlef Lange war seinerzeit üble eingewechselte Günter Netzer irrte mehr orien- rigens nicht in Hamburg dabei. Dafür besuchte tierungslos über das Feld, als dass er dem Spiel er die DDR im Trainingslager und durfte auf Einseiner Mannschaft hätte Struktur verleihen kön- ladung des Dortmunder Bürgermeisters einige nen. Bis auf den aufopfernd kämpfenden Becken- WM-Spiele anschauen – eine mehr als verdiente bauer fand niemand im weißen Trikot mehr ins Anerkennung für einen der Wegbereiter unvergesSpiel. Und so war es lediglich ein Freistoß von Uli sener deutsch-deutscher Sportgeschichte. Hoch Hoeneß in letzter Minute, der noch einmal wirk- soll er leben! Drei Mal hoch!

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We g w e i s e n d e I n i t i a l z ü n d u n g e n


Der größte Erfolg einer DDR-Nationalmannschaft: Reinhard Lauck bedankt sich nach dem Schlusspfiff bei dem an diesem Abend überragenden Torwart Jürgen Croy.

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Vom „Wunder von Bern“ bis zum unglaublichen 7:1 in Belo Horizonte, von der Geburtsstunde der längst legendären „Turniermannschaft“ in München 1974 bis hin zum kaiserlichen Triumph von Rom 1990. Sascha Theisen hat sich die großen WM-Spiele der deutschen Nationalmannschaft vorgenommen. Packende und emotionale Reportagen erinnern an jene Stunden, in denen die ganze Nation vor den Bildschirmen saß und Daumen drückte.

ISBN 978-3-7307-0347-2 VERLAG DIE WERKSTATT


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