Stephan Felsberg, Tim Kรถhler, Martin Brand (Hrsg.)
Russkij Futbol
VERLAG DIE WERKSTATT
Ein Lesebuch
Stephan Felsberg, Tim Kรถhler, Martin Brand (Hrsg.)
Russkij Futbol Ein Lesebuch
VERLAG DIE WERKSTATT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestr. 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Idee & Konzept: Stephan Felsberg, Tim Köhler – Die Kulturingenieure Redaktion: Stephan Felsberg, Tim Köhler, Martin Brand, Robert Kalimullin Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH Gestaltung Kartensatz »Russkij Futbol«: Die Superpixel Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau Titelbild: Thomas Gronle (Legron) Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Herausgeber dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen/Autoren die Verantwortung. Die Herausgeber sind bestrebt, die Urheberrechte der verwendeten Bilder und Texte zu beachten. Die Bildrechte für die in dieser Publikation verwendeten Abbildungen sind so weit wie möglich geklärt worden. Sollten Sie sich, trotz aller Sorgfalt unserer Arbeit, in einem Bildrecht verletzt fühlen, wenden Sie sich bitte an die im Impressum genannte Adresse. ISBN 978-3-7307-0395-3
Gefördert durch die DFB-Kulturstiftung
Ein Projekt von
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Homo ludens, homo sovieticus, Futbolisty 2018 Prolog Von Karl Schlögel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Erste Schritte Die Anfänge des Fußballs im vorrevolutionären Russland Von Juri Lukosjak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 »Ein sportliches Tsushima« Deutschland gegen Russland 1912 Von Martin Brand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Ziemlich gefährlich Wie der Fußball sowjetisch wurde Von Nikolaus Katzer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Nikolai Starostin Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg einer Spielerlegende Von Thomas Urban . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Blockadespiele Fußball im belagerten Leningrad Von Jörg Ganzenmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Transferpolitik Der Skandal um Sergei Salnikow Von Robert Edelman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Heiße Begegnung im Kalten Krieg Sowjetunion gegen Bundesrepublik 1955 Von Matthias Kneifl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Ein Jahrhundert »Sbornaja« Die Länderspiele der russisch-sowjetischen Fußball-Nationalmannschaft Von Diethelm Blecking .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Spezial: Kartensatz »Russkij Futbol« Porträts von Arschawin bis Schostakowitsch Von Robert Kalimullin & Martin Brand (Texte) und Thomas Gronle (Illustrationen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Zerschnittene Pioniertücher Die sowjetischen Ursprünge organisierter Fankultur in Russland Von Manfred Zeller .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Russische Sportbauten Vom »Roten Stadion« zum globalen Wettbewerb Von Alexandra Köhring .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Kurze Blüten Frauenfußball in Russland Von Anke Hilbrenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Lokomotive ins Nirgendwo Eine Reise in den postsowjetischen Fußball Von Ildar Abusjarow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 »Okolofutbolschiki« und Fans gegen Rassismus Hooligans, Neonazis und weltoffene Faninitiativen in Russlands Stadien Von Julia Glathe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Putins Show kann beginnen! Der skandalträchtige Weg zur Fußball-WM 2018 Von Johannes Aumüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
Vorwort Pelé hat einmal gewitzelt: Russland wird erst dann Fußballweltmeister, wenn Brasilien die Eishockey-WM gewonnen hat. Ganz unrecht dürfte der Weltfußballer nicht haben, auch wenn wir das nicht beurteilen können, da wir nichts, wirklich gar nichts, über den brasilianischen Wintersport wissen. Andererseits: Der Fußball hat in Russland eine lange Tradition, und es gibt weit mehr zu entdecken, als Pelés flapsiger Spruch ahnen lässt. Seit 120 Jahren wird in Russland Fußball gespielt. In dieser Zeit hat sich der Sport vom Gebolze auf einer Pferde- und Radrennbahn zum globalen Event in futuristischen Arenen entwickelt. Von Anbeginn war der Fußball stets verbunden mit Politik und Macht. Fußballhistorie wird so zum Brennglas auf die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts und ihre großen Brüche und Kontinuitäten. »Russkij Futbol« lädt ein, den russisch-sowjetischen Fußball zu entdecken – als Sport, als Massenphänomen, als Subkultur und nicht zuletzt auch als Politikum. Unsere Autoren erzählen von sagenumwobenen Spielen: als die Spieler von Spartak Moskau 1936 vor den Augen Stalins auf dem Roten Platz kickten, als 1942 im belagerten Leningrad Fußballmatches stattfanden und als 1955 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Fußballer zum Länderspiel nach Moskau reisten. Sie eröffnen uns einen Einblick in die Welt russischer Fans, zeichnen die Erfolge und Misserfolge der »Sbornaja«, der russischen Nationalmannschaft, nach, erforschen die politische
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Bedeutung von Stadionbauten und berichten vom steinigen Weg, den Frauen bewältigen mussten, um legal Fußball spielen zu können. Die Texte spannen einen zeitlichen Bogen vom Entstehen der ersten Stadtliga in St. Petersburg am Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den Diskussionen um die Austragung der WM 2018 in Russland. Allerdings will das Buch keine umfassende Geschichte des russischen Fußballs erzählen, es ist auch keine systematische Analyse über das Verhältnis von politischer Macht und Fußball in Russland. »Russkij Futbol« ist vielmehr als Anregung gedacht, zum Hineinlesen in die hierzulande weitgehend unbekannte Tradition und Kultur des russischen Fußballs. Es ist ein Lesebuch, das Schlaglichter wirft auf ausgesuchte Facetten eines globalen Sports an seiner Peripherie. Abgerundet wird das Buch durch Porträts – in Worten und Bildern. Denn wie lassen sich Fußball und Zeitgeschichte besser miteinander verzahnen als durch das Erzählen der Lebensgeschichten von Spielern, Trainern und Funktionären? Der Comic-Künstler und Illustrator Thomas Gronle hat für »Russkij Futbol« seinen Stift gespitzt. Wenn es Ihnen am Schluss wie Pelé geht, haben wir unser Ziel schon fast erreicht. Der nämlich hat inzwischen seine Meinung über den russischen Fußball revidiert: Es sei, so die Fußballlegende, im Moment wahrscheinlicher, dass Russland irgendwann Fußballweltmeister werde, als dass Brasilien den Eishockeyolymp ersteige. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! Stephan Felsberg, Tim Köhler, Martin Brand Berlin
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Vorwort
»Ein sportliches Tsushima« Deutschland gegen Russland 1912 Von Martin Brand
Im ersten Länderspiel gegen Deutschland erleidet Russland 1912 eine vernichtende Niederlage. Der Osteuropa-Experte Martin Brand zeichnet die zeitgenössischen Reaktionen auf das Spiel nach, in denen auch Kritik an der zaristischen Herrschaft mitschwingt. Ein Spiegel ihrer bewegten Zeit sind die weiteren Schicksale der Spieler von 1912.
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tockholm 1912. Bei den fünften Olympischen Spielen der Neuzeit feiern Russlands Fußballer eine Premiere: Erstmals treten sie zu einem offiziellen Länderspiel an. Nachdem die russische Auswahl im Achtelfinale ein Freilos gezogen hatte, trifft sie in ihrem ersten Match auf Finnland – und verliert nach einem »hartnäckigen Duell«, wie es die Petersburger Zeitung nennt, mit 1:2.1 Ausgerechnet gegen Finnland, das autonome Großfürstentum innerhalb des Russischen Kaiserreichs, das gegen den Willen Russlands als eigene Nation bei Olympia antreten durfte.2 Die wahre Schmach jedoch folgt knapp 30 Stunden später gegen das Deutsche Reich.
Null zu Sechzehn: Das Debakel von Stockholm In der Trostrunde des olympischen Fußballturniers müssen die russischen Kicker am 1. Juli 1912 gegen die ebenfalls in der Hauptrunde (an Österreich) gescheiterte deutsche Auswahl antreten. Etwa 2.000 Zuschauer (1.405 haben Eintritt gezahlt) sind an diesem kühlen, wolkenverhangenen Montag im Råsundastadion. Sie erleben ein Debakel der russischen Olympia-Auswahl, die mit 0:16 untergeht. Allein der deutsche Mittelstürmer Gottfried Fuchs erzielt zehn Tore. Der offizielle Report der Olympischen Spiele 1912 in Stockholm berichtet später von einer allgemeinen Überforderung der russischen Mannschaft und einem schlechten Torhüter: »Deutschland schickte in diesem Match ein nahezu völlig neues Team aufs Feld, das wahrscheinlich kaum besser war als jenes, das gegen Österreich verloren hatte. Natürlich muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass Russland keinerlei ernsthaften Widerstand leisten konnte, so dass die schnellen,
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schlagfertigen deutschen Stürmer die russische Abwehr mit der gleichen Leichtigkeit durchdrangen wie die Nadeln eines Segelmachers das Tuch. Eine Spielbeschreibung würde zu einer etwas ermüdenden Aufzählung der Tore Deutschlands führen, das nicht weniger als acht in jeder Halbzeit erzielte. Die russische Verteidigung wurde unaufhörlich von den eigenen Stürmern verstärkt, die selten oder nie den Ball von ihren Läufern erhielten und die daher auf sich allein gestellt waren, einen Angriff vorzubereiten. Fuchs, Förderer und Oberle machten abwechselnd die Tore für ihr Team. Wären sie jedoch auf einen erstklassigen Torwart gestoßen, hätte sich die Anzahl der Tore gegen die Russen verringert, da viele Bälle, die den Weg ins Netz fanden, aus einer Distanz von 20 oder 25 Metern geschossen wurden.«3 Doch ist das katastrophale Ergebnis wirklich nur auf die mangelnde Leistung des russischen Torhüters zurückzuführen? In der deutschen Presse wird der russischen Mannschaft bescheinigt, dass sie zwar durchaus eifrig, ausdauernd und technisch passabel gespielt, es ihr jedoch an internationaler Erfahrung gemangelt habe. Dadurch habe die deutsche Stürmerreihe ihr Angriffsspiel von Anfang an planmäßig aufziehen und sich in den letzten 20 Minuten des Spiels mit wenig Mühe sogar auf die bloße Verteidigung des eigenen Tores verlegen können.4 In Russland hingegen findet man eine andere Erklärung. Dort wird die bittere Niederlage auf die Konkurrenz zwischen den Petersburger und Moskauer Fußballligen und ihren Mäzenen zurückgeführt. Russlands Olympia-Auswahl ist nach Proporz aus Spielern beider Städte zusammengestellt.5 Kicker anderer russischer Städte werden völlig außer Acht gelassen. So fährt ein nicht eingespieltes Team, dessen Spieler sich kaum kennen, nach Stockholm.6 Wasili Schitarew, Russlands halblinker Stürmer von ZKS Moskau, erinnert sich später: »Auf der internationalen Fußballbühne war die Mannschaft Russlands noch ein Neuling. Doch das war halb so schlimm. Das Unglück bestand vielmehr darin, dass zwischen Petersburg und
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Moskau richtige Kämpfe entbrannten, als es darum ging, die Mannschaft für Olympia zusammenzustellen. Die verantwortlichen Funktionäre der Fußballligen beider Städte versuchten, möglichst viele ›eigene‹ Spieler in der Nationalelf unterzubringen. In den Ausscheidungsspielen hatte sich gezeigt, dass Moskau im Vorteil war, aber dies führte zu nichts. Sportliche Interessen wurden zur Seite geschoben, und es begann ein wahres Feilschen.«7
Abrechnung der Presse: »Totale Niederlage« Russlands Presse fällt nach der Schmach gegen Deutschland ein vernichtendes Urteil über den Auftritt der russischen Fußballer: »Unsere besten Spieler traten überhaupt nicht in Erscheinung. Der Ball lief an ihnen vorbei, sie wurden schwindlig gespielt und vermochten es nicht, dem Gegner den Ball abzunehmen oder seine Pässe zu stören. Hier war besonders deutlich zu sehen, wie wichtig das Laufen im Fußball ist. Unsere Verteidiger konnten nicht einen enteilten Stürmer einholen, nicht einen Pass abfangen, und die Tore fielen eines nach dem anderen. […] Torhüter Faworski wehrte nicht einen hohen Ball ab – es war, als ob er gar nicht im Tor stünde. […] Vergleicht man das russische Team und die ausländischen, hat sich gezeigt: Wir sind noch Kinder im Fußball«.8 Zu einer politischen Generalabrechnung holt die Petersburger Zeitschrift K Sportu (dt.: Auf zum Sport) aus. Unter der Überschrift »Ein sportliches Tsushima« heißt es in Anspielung auf Russlands vernichtende Niederlage in der Seeschlacht gegen Japan im Jahre 1905 zum Auftritt der russischen Olympioniken: »Die vollständige Niederlage der russischen Sportler im Ausland […] hat unsere Gesellschaft aufgewühlt und erschreckt. […] Wenn eine Großmacht nur einen traurigen 13.-16. Platz belegt, hinter 15 und vor nur drei Ländern, und aus allen Wettbewerben nur drei Punkte gegenüber 115 Punkten von Amerika holt, ist das erneut ein wohl überzeugender Beweis für unsere
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Hilf- und Ratlosigkeit, die selbst für die eingefleischtesten Pessimisten etwas unerwartet kam. […] Am bedrohlichsten und unangenehmsten erscheint uns die totale Niederlage unserer Fußballer. Dieses Spiel erfordert – wie kein anderes – eiserne Disziplin, Selbstbeherrschung, manchmal eine sehr präzise Berechnung und die Fähigkeit, sich schnell zu orientieren, jede Lage zu meistern und einen Ausweg zu finden. Zwei Mannschaften gegeneinander – das sind zwei kleine Armeen gegeneinander. Volk gegen Volk. Jede Mannschaft verkörpert den Staat, in ihr konzentrierten sich Macht und Stärke eines Volkes, der markante und lebendige Charakter der ganzen Nation. […] Es hat sich erwiesen, dass wir schlechter sind als alle anderen.«9 Auch das liberale Oppositionsblatt Utro Rossii (dt.: Morgen Russlands) nimmt das schlechte Abschneiden der russischen Kicker zum Anlass für eine umfassende Abrechnung mit dem Russischen Kaiserreich. In der Niederlage der Fußballer zeige sich erneut: Das zaristische System sei nicht in der Lage, das gewaltige Reich im Ausland erfolgreich und ruhmreich zu vertreten. Es sei »verrottet« und müsse durch die Herrschaft des Bürgertums unter Führung der Unternehmer ersetzt werden.10
Spielerschicksale zwischen Krieg und Terror Das harsche Echo der Presse auf das sportliche Abschneiden in Stockholm verdeutlicht die düstere Stimmung im Russischen Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jener bildet den Auftakt eines »Zeitalters der Extreme«, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nennt, das die Lebensentwürfe vieler Menschen durcheinanderbringt. Auch die Biografien der russischen Fußballer, die in Stockholm jene schwarze Stunde auf dem Platz erlebten, nehmen ungeahnte, teils dramatische Wendungen. Grigori Nikitin, halblinker Stürmer vom St. Petersburger Klub der Sportfreunde (Sport), fällt im Winter 1917 an der Front.11 Drei weitere Spieler der Olympia-Auswahl (Fjodor Rimscha, Alexei
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Uwerski und Michail Jakowlew) kommen 1942 während der Blockade Leningrads ums Leben. Nikita Chromow stirbt aus nicht näher bekannten Gründen 1934 in Rostow am Don.12 Alle anderen beteiligten Fußballer überleben Weltkriege und den Stalin’schen Terror – wenn auch auf mitunter abenteuerliche Weise. Schicksalhaft mit den Deutschen verbunden bleibt das Leben von Wasili Butusow, Kapitän der russischen Olympia-Auswahl und Schütze des ersten russischen Länderspieltors. Als Kradschütze der Kaiserlich Russischen Armee gerät Butusow im April 1915 an der galizischen Front zeitweise in deutsche Kriegsgefangenschaft. Gut ein Vierteljahrhundert später, als die Wehrmacht 1941 beginnt, seine Heimatstadt Leningrad zu belagern, wird Butusow erneut von deutschen Soldaten gefangen genommen. Eine Odyssee durch deutsche Kriegsgefangenenlager beginnt, bis er 1945 in Nürnberg befreit wird. Zurück in der Heimat droht ihm als angeblichem Vaterlandsverräter die Zwangsarbeit im Gulag. Nur dank der Hilfe seines jüngeren Bruders Michail – ebenfalls ein bekannter Fußballer – entgeht er dem sowjetischen Arbeitslager. Schon Jahre zuvor war Butusow in das Räderwerk der Stalin’schen Säuberungen geraten, als er Anfang der 1930er Jahre im Zuge eines Schauprozesses gegen Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure verhaftet worden war und fast ein Jahr in Haft verbrachte.13 Abenteuerlich ist auch das weitere Leben des Außenverteidigers Pjotr Sokolow, der vor dem Ersten Weltkrieg wie Wasili Butusow beim Sportklub Unitas in St. Petersburg spielte. Als die Bolschewiki 1917 in Petrograd (St. Petersburg) die Macht übernehmen, schließt sich Sokolow einer Aufklärungseinheit der »Weißen Garde« an, die im Russischen Bürgerkrieg (1918–1922) gegen die Bolschewiki kämpft. Von der finnisch-sowjetischen Grenze aus – keine 50 Kilometer von Petrograd entfernt – betätigt er sich bis in die 1920er Jahre hinein als Spion für den britischen Auslandsgeheimdienst SIS. Und als 1939 der finnischsowjetische Krieg beginnt, stellt sich Sokolow – inzwischen Staatsbürger Finnlands – in den Dienst der finnischen Aufklä-
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rung. »Achtung, Achtung – hier spricht Finnland!«: Mit tiefer Bassstimme verkündet er im Radio die neuesten Nachrichten von der Front auf Russisch. Er kooperiert auch mit dem militärischen Geheimdienst der Wehrmacht. Während sein ehemaliger Mitspieler Wasili Butusow die deutschen Kriegsgefangenenlager durchläuft, macht sich Sokolow bereit, an der Seite der Wehrmacht nach einer Eroberung Leningrads (St. Petersburg, Petrograd) die Archive des sowjetischen Geheimdienstes zu sichern. Doch dazu kommt es nicht. Nach Kriegsende verlässt Sokolow, der in der Sowjetunion als Staatsfeind gesucht wird, Finnland. In der Nähe von Stockholm baut er sich als Paul Sahlin ein neues Leben auf. Dort stirbt er 1971 – nur wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem er einst mit der Olympia-Auswahl des kaiserlichen Russlands 0:16 gegen Deutschland verloren hatte.14 Bis heute hat die Begegnung zwischen Russland und Deutschland bei den Olympischen Spielen 1912 einen festen Platz in den Fußballannalen: Nie hat eine russische Auswahl höher verloren und nie eine deutsche Nationalmannschaft höher gewonnen. Ein Wort noch zu Deutschlands Stürmerstar Gottfried Fuchs. Der zehnfache Torschütze von Stockholm muss ein Vierteljahrhundert später aus Deutschland fliehen. Von den Nazis als Jude verfolgt, emigriert er 1937 über die Schweiz nach Frankreich. In letzter Minute kann er von dort aus 1940 nach Kanada ausreisen. Nach dem Krieg kehrt Godfrey E. Fochs, wie er sich nun nennt, noch einige Male in seine Heimat zurück. Anerkennung aber findet er im deutschen Fußball zu Lebzeiten keine mehr.15
Anmerkungen 1 Vgl. Aleksandr Savin: Moskva futbol‘naja. Polnaja istorija v licach, sobytijach, cifrach i faktach [Moskauer Fußball. Vollständige Geschichte in Personen, Ereignissen, Ziffern und Fakten]. Moskau 2016, S. 143. 2 Vgl. Ansgar Molzberger: Die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm – »Vaterländische« Spiele als Durchbruch für die Olympische Bewegung. Köln 2010, S. 195ff.
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3 The Swedish Olympic Committee (Hg.): The Fifth Olympiad. The Official Report of the Olympic Games of Stockholm 1912. Stockholm 1913, S. 496f. [Übersetzung des Autors]. 4 Vgl. Jürgen Buschmann, Karl Lennartz: Die Olympischen Fußballturniere. Band 2. Das erste große Turnier in Stockholm 1912 dazu Berlin 1916. Kassel 2001, S. 78f. 5 Vgl. Jurij Koršak: Staryj, staryj futbol [Alter, alter Fußball]. Moskau 1975, S. 56–65. 6 Nčto o posylk futbol‘noj komandy v Stokgol‘m [Einiges über die Entsendung der Fußballmannschaft nach Stockholm], in: K sportu!, Nr. 27, 1912, S. 3 [Übersetzung des Autors]. 7 http://sport-history.ru/books/item/f00/s00/z0000014/st019.shtml 8 http://www.rusteam.permian.ru/history/1912_02.html 9 Sportivnaja Cusima [Ein sportliches Tsushima], in: K sportu!, Nr. 32, 1912, zitiert bei: Aleksandr Savin: Moskva futbol‘naja. Polnaja istorija v licach, sobytijach, cifrach i faktach [Moskauer Fußball. Vollständige Geschichte in Personen, Ereignissen, Ziffern und Fakten]. Moskau 2016, S. 144f. 10 Vgl. Dittmar Dahlmann: Vom Pausenfüller zum Massensport. Der Fußballsport in Russland von den 1880er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, in: Dittmar Dahlmann (Hg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006, S. 15–40, hier: S. 29. 11 Vgl. Juri Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt Petersburg 2011, S. 74. 12 http://www.rusteam.permian.ru/players/khromov.html 13 Vgl. Juri Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt Petersburg 2011, S. 20–22. 14 Vgl. Juri Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt Petersburg 2011, S. 90–92; Oleg Matveev: Tajnye Igry Petra Sokolova [Die geheimen Spiele des Petr Sokolov], in: Eženedel‘nik »Futbol«, Nr. 41, 1998, online: http://www. rusteam.permian.ru/players/sokolov_petr.html. 15 Vgl. Werner Skrentny: Gottfried Fuchs – Nationalspieler mit Torrekord, in: Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball. Göttingen 2003, S. 123–130.
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Heiße Begegnung im Kalten Krieg Sowjetunion gegen Bundesrepublik 1955 Von Matthias Kneifl
Zehn Jahre nach Kriegsende konnte die Partie zwischen der Sowjetunion und Westdeutschland kein Spiel wie jedes andere sein. Der Historiker Matthias Kneifl erzählt die Geschichte einer Partie, mit der am Ende trotz sowjetischen Siegs alle Seiten zufrieden waren – und wie der Sport den Grundstein für eine weitere Annäherung legte.
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m 21. August 1955 erlebten 80.000 Zuschauer in Moskau eine Fußballpartie, die noch drei Monate zuvor völlig illusorisch schien. Im Dinamo-Stadion traf die Nationalmannschaft der Sowjetunion auf die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) aus der Bundesrepublik. Und das inmitten des Kalten Krieges, der sich im Mai 1955 durch den NATO-Beitritt Westdeutschlands und die Gründung des Warschauer Paktes aufs Neue manifestiert hatte. Zwischen Bonn und Moskau gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal diplomatische Beziehungen. Der Spieltag war heiß in Moskau – eine gewisse Schwüle und Anspannung lagen in der Luft. Im ausverkauften Luschniki-Stadion lieferten sich beide Mannschaften einen intensiven, aber fairen Schlagabtausch. Das frühe 1:0 der Gastgeber drehten die Torschützen Fritz Walter und Hans Schäfer zum 1:2, bevor die sowjetische Auswahl durch einen Doppelschlag das Spiel mit 3:2 für sich entschied. Doch wie war es zu dieser heißen Begegnung im Kalten Krieg gekommen? Wer hatte wen eingeladen, und was versprachen sich die Regierungen beider Staaten von einer Begegnung beider Nationalmannschaften? Es war eine Überraschung gewesen, als Der Tag am 22. Mai 1955 von einer Einladung des amtierenden Fußballweltmeisters nach Moskau berichtete. Die Exil-CDU-nahe West-Berliner Tageszeitung nahm große Teile der nachfolgenden Entwicklung vorweg. Die Einladung sei als Teil der »sportlichen Offensive der Sowjetunion zu sehen«, man könne aber auch »außenpolitische Absichten« vermuten.1 Da es bereits zu ersten Vergleichen zwischen Turnern und Eishockeyteams gekommen sei, würde einem Fußball-Länderspiel nichts entgegenstehen. Lediglich der angefragte Juli-Termin sei laut Der Tag wegen der OberligaSommerpause nicht möglich.
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Ein sportliches Politikum Genauso kam es. Der DFB erklärte sich mit der Einladung einverstanden, lehnte den Termin allerdings ab. Als Moskau eine Begegnung im August vorschlug, bestätigte der DFB den Termin. Die Weltmeisterelf würde also nach Moskau reisen – eine sportliche Sensation! Für Bonn war die Begegnung jedoch ein Politikum, denn parallel war Bundeskanzler Adenauer zu einem Staatsbesuch nach Moskau eingeladen worden. Er würde somit nach der Fußball-Nationalelf in Moskau zu Gast sein. Wie Regierungsakten belegen, setzte daraufhin in Bonn emsige Betriebsamkeit ein. Doch warum? Das Spiel hatte aufgrund der Erfahrungen mit dem innerdeutschen Sportverkehr eine Vorgeschichte, denn ostdeutsche Sportler hatten Begegnungen immer wieder zu politischer Agitation genutzt. Bonn und dem organisierten Sport in der Bundesrepublik war dies ein Dorn im Auge, sie vermochten dagegen jedoch wenig auszurichten. Da die DDRSportverbände nun auch Teil der internationalen Sportfamilie waren, wäre ein politisch motivierter dauerhafter Abbruch der Sportbeziehungen zum Bumerang geworden. Schließlich duldeten die internationalen Sportverbände keine Einmischung von Regierungen in den Sportbetrieb. Als Mitte der 1950er Jahre der Sportverkehr mit den Staaten des Ostblocks einsetzte, sahen dies der Deutsche Sportbund (DSB) und die Bundesregierung zunächst kritisch. Im März 1955 berieten hohe Beamte des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes, des Bundesinnenministeriums und des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen mit DSB-Präsident Willi Daume über den internationalen Sportverkehr. Demnach sollte ein Spielbetrieb mit dem Ostblock beschränkt bleiben. Verbände und Vereine seien unter anderem über die »Gefahren bolschewistischer Infiltration«2 aufzuklären. Den Beamten war jedoch klar: »Das stärkste Argument gegenüber dem Osten liege gerade in der Bundesrepublik darin, daß der Sport politisch frei
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ist. Diese Position dürfen weder der Staat noch der Sport in der Bundesrepublik aufgeben.«3 Um die Stellung der bundesdeutschen Sportverbände in den internationalen Sportorganisationen nicht zu gefährden, musste der Sportverkehr mit dem Osten geduldet werden. Die DFB-Zusage zum Länderspiel hätte also eigentlich keinen Anlass zur Kritik geben dürfen. Adenauers anstehender Staatsbesuch in der Sowjetunion rückte die Partie jedoch in ein vollkommen anderes Licht. Der Bundeskanzler äußerte in einer Kabinettssitzung »seine ernsten Bedenken gegen den vom Deutschen Fußballbund getätigten Abschluß eines Länderspiels mit der UdSSR«.4 Worin Adenauers Unmut bestand, dafür lieferte DSB-Präsident Daume in einem Brief an das Innenministerium plausible Begründungen. Demzufolge würde »die deutsche Mannschaft in Moskau in einem Masse [sic!] gefeiert werden […] wie noch selten zuvor eine ausländische Sportmannschaft. Erst recht bin ich sicher, dass man diese Sympathie-Demonstrationen politisch ausschlachten wird, möglicherweise gegen den Bundeskanzler, wenn sich bei dessen Verhandlungen Friktionen ergeben sollten.«5 Daume schrieb den Brief nach einem Gespräch mit DFB-Präsident Peco Bauwens, worum ihn das Innenministerium gebeten hatte. Womöglich mit dem Ziel auszuloten, ob die Partie noch verlegt werden könne. Diesbezüglich machte Daume dem Ministerium aber keine Hoffnungen. Prompt begannen in Bonn Maßnahmen, die drei Adressaten hatten: die DFB-Delegation, die eingeladenen Fans und die mitreisenden Journalisten. Alle zielten darauf ab, Adenauers Staatsbesuch nicht zu belasten und Propagandaaktionen zu vermeiden. Die Krux war, dass Bonn keine diplomatische Vertretung in Moskau hatte, welche die Länderspielreise hätte begleiten können. Insofern war es folgerichtig, DFB-Präsident Bauwens vorab ins Gebet zu nehmen. Schon Daume hatte ihm bei seinem Treffen eingebläut, bei offiziellen Äußerungen vorsichtig zu sein. Eine Woche vor der Abreise nach Moskau hatte Bauwens bei Außenminister Heinrich von Brentano zu erscheinen. Dieser
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hielt anschließend fest: »Ich habe Herrn Dr. Bauwens gebeten, bei seiner Delegation darauf hinzuwirken, in Moskau bei allen Begegnungen und Veranstaltungen die grösste Zurückhaltung zu üben. Es bestehe die grosse Gefahr, dass russischerseits versucht werde, aus der Reise der deutschen Nationalmannschaft einen grossen propagandistischen Erfolg zu machen und Äusserungen massgeblicher deutscher Sportführer und Mannschaftsmitglieder propagandistisch zu verwerten. […] Herr Dr. Bauwens trat meinen Ausführungen in vollem Umfang bei […]. Er werde vor Abflug der Delegation von Berlin in dem vorgenannten Sinne eine eingehende Belehrung durchführen.«6 Mit der Bestätigung des Länderspiels seitens des DFB erreichten die Einladungen aus Moskau und Ost-Berlin erste Bundesbürger. SPD-Mitglieder wurden auf Anweisung der SED eingeladen. In Bonn wuchsen die Befürchtungen gegenüber einer Propagandaaktion weiter. Die SPD appellierte an ihre Mitglieder, die Einladung nicht anzunehmen. Auch prominente Westdeutsche, Fußballfunktionäre, Sportführer und Vereine erhielten Angebote zur unentgeltlichen Länderspielreise. Das Innenministerium sah sich genötigt, »zu verhindern, daß deutsche Besucher in größeren Scharen nach Moskau reisen«.7 DFB-Präsident Bauwens vermeldete Außenminister von Brentano, dass die Einladungen aus der DDR an »kleinere Funktionäre und Vereine […] in vollem Einvernehmen mit dem deutschen Fussballbund [sic!] abgelehnt« worden seien.8 Dennoch traten letztlich 1.500 Deutsche aus West und Ost die Reise nach Moskau an. Ganz besonders die Medienvertreter wollte Bonn auf die Tücken der Reise vorbereiten. Das Presse- und Informationsamt hielt fest: »Dieses Länderspiel erfordert die höchste Aufmerksamkeit und publizistische Vorarbeit seitens unseres Amtes, da zu erwarten ist, dass es auf unpolitischem Gebiet zu einem hochpolitischen Propagandacoup ausgenützt und zur Beeinflussung der harmlosen Gemüter mißbraucht wird.«9 Bestätigt sah es sich durch einen Bericht im Sportmagazin, der sich bewundernd über die Leistungen des sowjetischen Sports äu-
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ßerte und dies auf die Ressourcen eines totalitären Staates zurückführte. Bonn wollte daraufhin ausgewählte Medien und die Sportpresse über den vom Staat gesteuerten Sportbetrieb und die Sowjetpropaganda aufklären. Der »Sport-InformationsDienst« (SID) erklärte sich bereit, seine Arbeit »vor, während und nach dem Länderspiel auf diese Thematik kritisch einzustellen«.10 Bonn finanzierte deshalb die Moskau-Reise eines zweiten SID-Reporters, der über die »wahren« Verhältnisse in der UdSSR berichten sollte. Nach seiner Rückkehr berichtete er in Bonn von seinen Eindrücken aus Moskau. Er bestätigte, dass das Spiel in Verbindung mit Adenauers Reise zu sehen sei. Die Sowjetunion würde Staatsbesuche immer mit einer zum Land des Gastes passenden Propagandaaktion kombinieren. Die DFB-Delegation habe sich jedoch vor Ort hervorragend aus der Affäre gezogen.
Herbergers Wille zum Sieg So wie sich das politische Bonn akribisch auf das Länderspiel vorbereitete, so taten dies auch beide Nationalteams. Bundestrainer Sepp Herberger sah die Chance gekommen, die schlechte Bilanz nach dem WM-Titel (nur zwei Siege bei vier Niederlagen) aufzupolieren. Die Nationalelf der UdSSR war so etwas wie die große Unbekannte des Weltfußballs, da sie nur selten antrat. Mit einem Remis und zwei hohen Siegen gegen Schweden hatte sie jedoch aufhorchen lassen. Trotz der politischen Brisanz der Partie und vor dem Hintergrund, dass einige deutsche Nationalspieler oder deren Familienangehörige im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee gekämpft hatten, forderte Herberger von seinen Spielern nichts weniger als den Sieg. Ein faires Auftreten seiner Nationalspieler setzte er zwar voraus, doch sein unbedingter Wille zu gewinnen, war auch vor dem Spiel in Moskau ungebrochen, wie seine Aufzeichnungen belegen. Er schwor sich und seine Spieler auf eine umkämpfte Partie ein: »Einstellung auf Sieg!!«, »unbeugsamer Wille zur
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Leistungssteigerung!«, »müssen wir von aller Anfang an und in jeder Minute des Spiels auf Kampf eingestellt sein!!«11. Zur Vorbereitung zog Herberger seine Auswahl zunächst für zehn Tage in München-Grünwald zusammen und unmittelbar vor der Abreise noch einmal vier Tage in Berlin-Wannsee. Auch die Nationalelf der UdSSR ging bestens vorbereitet in das Spiel. Der Druck, der auf ihr lastete, war gleichwohl groß. Funktionäre hatten den Spielern eingeimpft, die Partie keinesfalls zu verlieren. Die Losung lautete: »Wiederholt nicht das Jahr 1952!«.12 Damals hatten die Nationalspieler nach einer Niederlage bei den Olympischen Spielen gegen Jugoslawien als angebliche Feinde der Sowjetunion ihre militärischen Ränge verloren. Doch zur Wiederholung von 1952 kam es nicht. Der Sieg über die Herberger-Auswahl sorgte für Begeisterung in Moskau. Auch die DFB-Elf konnte angesichts ihrer Leistungen mit ihrem Auftritt zufrieden sein. Nach der Rückkehr von Mannschaft und Fans in beide deutsche Staaten war die Bundesregierung in Bonn erleichtert, dass jegliche politischen Misstöne ausgeblieben waren. Für Moskau hatte das Spiel jenseits des sowjetischen Sieges mindestens einen weiteren positiven Aspekt: Die Partie hatte die Bevölkerung auf den anstehenden Staatsbesuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer vorbereitet, der immerhin der Regierungschef des ehemaligen Kriegsgegners war. Das Fußballspiel wurde so zum Auftakt einer Annäherung von Sowjetunion und Bundesrepublik.
Anmerkungen 1 Vgl. Pressearchiv des Presse- und Informationsamtes (PAP) – Deutsche Sportler im Ausland, Bestand 049-1, »National-Elf nach Moskau eingeladen«, Der Tag vom 22.05.1955. 2 Bundesarchiv Koblenz Bundesministerium des Innern / Sportbeziehungen zu Ostblockstaaten (BAK B 106 / Nr. 1955), Vermerk vom 20.04.1955 über eine Besprechung zu gesamtdeutschen und internationalen Fragen des Sportverkehrs. 3 Ebd.
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Heiße Begegnung im Kalten Krieg
4 Bundesarchiv Koblenz Bundesministerium des Innern / Deutscher Fußball-Bund, WM-Sieg 1954, UdSSR-Spiel 1955 (BAK B 106 / Nr. 1824), Mitteilung von Bleek (BMI) an Innenminister Schröder vom 25.06.1955. 5 BAK B 106 / Nr. 1824, Brief von Daume an Bleek vom 08.07.1955. 6 BAK B 106 / Nr. 1824, Brief vom 19.08.1955 von Limbourg (AA) an Bleek mit dem Aktenvermerk zum Gespräch Brentano – Bauwens vom 15.08.1955. 7 BAK B 106 / Nr. 1824, Brief von Bleek an Hallstein (AA) vom 12.07.1955. 8 BAK B 106 / Nr. 1824, Brief vom 19.08.1955 von Limbourg (AA) an Bleek mit dem Aktenvermerk zum Gespräch Brentano – Bauwens vom 15.08.1955. 9 Bundesarchiv Koblenz Presse- und Informationsamt der Bundesregierung / UdSSR-Spiel 1955 (BAK B 145 / Nr. 1734), Aufzeichnung eines Gesprächs vom 26.08.1955 mit Schneider (SID). 10 BAK B 145 / Nr. 1734, Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen Gerz (SID) und Zöller vom 20.07.1955. 11 Thomas Grimm (Hrsg.): Der Kracher von Moskau: Fußball zwischen Politik und Sport – Das Länderspiel Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland am 21. August 1955. Bonn 2015, S. 101 u. 108. 12 Ebd., S. 117.
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Lokomotive ins Nirgendwo Eine Reise in den postsowjetischen Fußball Von Ildar Abusjarow
Vereine am Tropf von Oligarchen, mangelnde Nachwuchsförderung: In einem persönlich gefärbten Essay erklärt der russische Schriftsteller Ildar Abusjarow, warum er für die Zukunft des russischen Fußballs schwarzsieht. Die Lokomotive wird dabei zum Sinnbild verbrannten Geldes im Profigeschäft ebenso wie enttäuschter Hoffnungen im russischen Hinterland.
I
n diesem Artikel möchte ich über die Probleme des Fußballs in Russland sprechen und meine Erfahrungen sowohl als Fan als auch als Beobachter des Leistungssports teilen. Leidenschaftlicher Anhänger von Sportteams bin ich bereits seit sowjetischen Zeiten. Ich wurde in Nischni Nowgorod geboren und wuchs dort auch auf. Einst hieß diese Stadt Gorki (benannt nach dem bedeutendsten sowjetischen Schriftsteller Maxim Gorki). Doch im Unterschied zu den Büchern des Schriftstellers blieb die Stadt Gorki Ausländern verschlossen – Grund war die große Anzahl geheimer militärischer Produktionsstandorte. In der Sowjetunion herrschte bekanntlich eine Planwirtschaft, und viele Sphären des Lebens waren reglementiert. Eine U-Bahn erhielten Städte ab einer Bevölkerung von einer Million, eine Straßenbahn ab 500.000 Einwohnern und so weiter (150.000 reichten für einen Bus, 350.000 für einen Oberleitungsbus). Dies betraf in vielerlei Hinsicht auch den Leistungssport. Er war ebenfalls reglementiert. Daher konnte in Gorki auch kein Fußballverein entstehen, der in der höchsten Liga spielte. Was, wenn so ein Verein in den UEFA-Pokal eingezogen wäre? Wie hätte man dann ausländische Fans zu einem Auswärtsspiel in eine geschlossene Stadt bringen sollen?
Vom Eishockey zum Fußball: Sportsozialisation in Gorki Dennoch blieb Gorki nicht ganz ohne großen Sport. Gorki hatte seinen Stolz: die Eishockeymannschaft Torpedo, die in der höchsten Liga spielte. So ein Glück hatte nicht jede Stadt. Daher waren meine Obsessionen von Kindheit an vorherbestimmt. Mein Vater nahm mich vom Kindergarten an zum Eishockey mit.
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Fußball sahen wir nur im Fernsehen. Doch wir waren bereits glücklich darüber, dass es in der Stadt Eishockey gab – die wohl wichtigste Sportart in der UdSSR. Ich erinnere mich an einen Abend: Mein Vater kam in den Kindergarten und verkündete, dass wir heute zwei Teams mit großem »T« sehen würden. Ich zerbrach mir lange Kopf und Zunge beim Versuch, das zweite »T« neben Torpedo zu erraten. Es war Traktor Tscheljabinsk. So sah unser ABC aus. Aber zurück zum Fußball. Wie so viele Jungen begann auch ich mit dem Fußballspielen auf dem Hof. Ich interessierte mich für den Profifußball mit seinen internationalen Turnieren – den UEFA-Cup und vor allem die Welt- und Europameisterschaften. Nach dem Sieg der Niederlande bei der EM 1988 wussten wir bereits, wie wir heißen würden, als wir auf den Hof gingen. Ich war Gullit, mein Bruder van Basten. Bald nach dieser EM brach das politische System zusammen, und die Sowjetunion zerfiel. Gorki hieß wieder Nischni Nowgorod, und der große Fußball hielt Einzug in meine Stadt. Es handelte sich um den Verein Lokomotive. Zunächst gehörte er zur Eisenbahnbehörde. In Gorki befand sich der Hauptsitz für mehrere Regionen, darunter die Republik Tatarstan. Später wurde Lokomotive zu einem kommerziellen Fußballklub, der einige Jahre in der ersten Liga spielte, finanziert unter anderem durch die Eisenbahn. Dass Lokomotive in der höchsten Spielklasse auftauchte, war kein Zufall. Nach dem Zerfall der Sowjetunion verselbstständigten sich auch die Meisterschaften der Sowjetrepubliken. Die Teams aus der Ukraine und dem Südkaukasus spielten fortan in den Ligen der Ukraine, Georgiens und Armeniens. Die entstandene Lücke musste mit irgendetwas gefüllt werden, und Nischni Nowgorod war seinerzeit wegen seiner Bevölkerungszahl und des industriellen Potentials die drittwichtigste Stadt im Lande. Ich ging zu den Spielen von Lokomotive, fieberte mit ihnen, noch ohne zu verstehen, dass das Unternehmen keine Zukunft
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haben sollte. So geschah es aber innerhalb kurzer Zeit: Lokomotive Nischni Nowgorod flog zuerst aus der ersten Liga und hörte später ganz auf zu existieren.
Teures Spielzeug: Die Klubs der Oligarchen und Staatskonzerne Eine Zukunft haben regionale Vereine im russischen Fußball nicht, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. Ja, es ist wahrscheinlich die Achillesferse des gesamten Fußballs – das vollkommene Fehlen von Wirtschaftlichkeit bei den professionellen Klubs. Bedingt ist dies vor allem durch den hohen Preis für eingekaufte Spieler und teure Verträge für Trainer vor dem Hintergrund einer schwachen Wirtschaft und einer geringen Kaufkraft der Bevölkerung. Russische Fans können sich keine teuren Eintrittskarten für Spiele kaufen oder kostenpflichtige Übertragungen bezahlen. Im Westen sorgen sich Sponsoren und Eigentümer um ihre Schützlinge, doch insgesamt ist alles anders. Sport wird als eine Art von Geschäft betrachtet. Und wenn er keinen Ertrag bringt, wird das Projekt verkauft. Allein die Fernsehübertragungen bringen enorme Summen an Geld ein. Sagen wir, eine Minute Werbung bei der Übertragung des Super-Bowl-Finales in den USA kostet 50 Millionen Dollar. Bei uns verdient die gesamte erste Liga in einer Saison so viel durch Fernsehgelder. Dass Sportklubs in Russland nicht in der Lage sind, sich selbst zu tragen, ist eine Tatsache. Sogar bei Champions-League-Begegnungen sind die Stadien nicht ausverkauft. Es gibt nur wenige Fans. Die vergleichsweise niedrige Zuschauerzahl und in der Folge die den Sportklubs entgehenden Einnahmen sind nach Ansicht von Sportexperten eng verbunden mit dem niedrigen Einkommensniveau im Land. Fußball ist in Russland kein Geschäft, die Fußballklubs bringen ihren Eigentümern keinen Ertrag. Sie sind teure Spielzeuge in den Händen von Oligarchen, Staatsunternehmen oder von
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Machthabern wohlhabender und weniger wohlhabender Regionen. Im schlechtesten Fall sind Fußballklubs Instrumente innerhalb von mafiösen Strukturen, die helfen, sich Gelder aus dem öffentlichen Haushalt anzueignen oder kriminelle Gelder zu waschen. In Russland gibt es nicht einen Klub, der sich selbst tragen kann, geschweige denn Gewinne erzielt. Die erfolgreichsten Fußballklubs werden von den größten Staatsunternehmen unterhalten, so etwa Lokomotive Moskau durch die Russische Eisenbahn, Zenit St. Petersburg durch Gazprom und ZSKA durch den Stromversorger Rosseti. Die anderen großen Klubs finanzieren Oligarchen und ihre Unternehmen: Spartak Moskau gehört Lukoil und seinem Manager Leonid Fedun, Rubin Kasan der Unternehmensgruppe TAIF. Während es sich im Fall von Spartak um private Gelder handelt, werden Lokomotive oder Zenit durch Unternehmen finanziert, an denen der Staat einen hohen Anteil hält. Dabei werden die Gelder der Staatsunternehmen, wie wir im Folgenden sehen werden, äußerst ineffektiv ausgegeben. Es ist so weit gekommen, dass die ausufernden Ausgaben der Staatsunternehmen nicht mehr unbemerkt bleiben und bei der Bevölkerung für Unmut sorgen. Nach jedem teuren Spielerkauf von Zenit, Lokomotive oder ZSKA explodiert das russischsprachige Internet förmlich vor spöttischen Kommentaren wie »Wir warten auf die nächste Erhöhung der Gaspreise« oder »Danke von den Großmütterchen des Dorfes Kljujewo, die ihr Haus noch immer mit Holz beheizen«. Die Einwohner Russlands beschränken sich aber nicht auf spöttische Kommentare. Es geht inzwischen bis zu Briefen und Petitionen an Präsident Wladimir Putin. So etwa die Bewegung »Schutz vor dem Monopol der Russischen Eisenbahn« aus Sosnogorsk in der Republik Komi. Als Antwort auf die bevorstehende Streichung von Zügen auf der Strecke von der Republikhauptstadt Syktywkar nach Moskau baten Aktivisten, teure Fußballer von Lokomotive Moskau gegen neue Personenzüge einzutauschen. Am Ende führte die Empörung dazu, dass in der
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Staatsduma ein Gesetzesprojekt angestoßen wurde, das natürlichen Monopolen und Staatsunternehmen verbieten sollte, professionelle Sportvereine zu finanzieren. Als das Gesetzesprojekt 2013 debattiert wurde, betrug das Budget des von der Russischen Eisenbahn gesponserten Klubs Lokomotive vier Milliarden Rubel (nach damaligem Kurs etwa 93 Millionen Euro) – umgerechnet 5.000 Rubel (116 Euro) jährlich für jeden Arbeitnehmer des Monopolisten. ZSKA kostet Rosseti ebenfalls vier Milliarden Rubel jährlich. Gazprom finanziert mit Zenit den teuersten Klub der ersten Liga mit einem Budget von mehreren hundert Millionen Euro. Darüber hinaus ist das Unternehmen offizieller Partner der Champions League und des UEFA-Superpokals sowie Sponsor von Schalke 04 in Deutschland. Dabei ignoriert Gazprom nicht nur steigende äußere Risiken für Russland wie Sanktionen – wirtschaftliche und solche gegen russische Sportler –, sondern auch, dass der Staatshaushalt im Defizit ist. Deswegen kürzt die Regierung Sozialleistungen, zahlt Rentner, Lehrer und Mediziner nicht vollständig aus und streicht Ausgaben für Kinder, Kultur und den Wirtschaftssektor. Aus verständlichen Gründen wurde das Gesetz jedoch nicht angenommen. Im Volk erzählt man sich, dass solch ein Gesetz keine Chance habe, in Kraft zu treten, solange die Klubs von Freunden Putins finanziert werden. Die höchsten Ausgaben entfallen auf Petersburger Klubs. Und deren Funktionäre sind an der Macht. Das Gesetz hätte gerade ihre Teams bei der Ausbeutung von öffentlichen Haushaltsmitteln behindert. Natürlich kosten diese Vergnügen mehr als ein Ticket bei der Russischen Eisenbahn. Die Waggons aus DDR-Produktion sind lange veraltet. Der Unmut der Aktivisten ist völlig gerechtfertigt – warum zahlt die Russische Eisenbahn Geld für ausländische Spieler, wenn die eigene sportliche Infrastruktur auf beiden Beinen hinkt? In Sosnogorsk befindet sich das Lokomotive-Stadion in schlechtem Zustand, die örtliche Eisenbahnleitung erklärt regelmäßig, es gebe »kein Geld für die Sanierung«,
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beansprucht aber lokalen Berichten zufolge selber den Zugang zur Turnhalle der Eisenbahnbehörde, wo die Chefetage Volleyballspiele austrägt, während die Kinder der Bahnmitarbeiter nicht hereingelassen werden. Der Fußballverein Lokomotive ist weit entfernt davon, ein soziales Projekt zu sein. Er ist ein teures Spielzeug in den Händen der Eisenbahnbosse, dessen Finanzierung am Ende über die Taschen der einfachen Bürger erfolgt, welche die Dienste des Eisenbahnmonopolisten in Anspruch nehmen. Einfache Eisenbahner interessieren sich nicht für die überseeischen Legionäre Mbark Boussoufa und Lassana Diarra, die nach Russland kamen, weil für sie hier der Rubel rollt. Ihnen sind Sporthallen und -plätze für ihre Kinder wichtiger, die die Russische Eisenbahn nicht modernisieren will. Die Aktivistin Jekaterina Sokolowa bot an, aus eigenen Mitteln Tickets im Großraumwagen für Boussoufa und Diarra zu kaufen, damit diese den Zauber der Russischen Eisenbahn einmal selbst erleben könnten. Das Problem verschärft sich dadurch, dass eine große Anzahl von Fußballteams aus regionalen Budgets finanziert wird. Und auch die kaukasischen Klubs aus vollständig bezuschussten Regionen – ein schillerndes Beispiel ist das tschetschenische Team Achmat Grosny – leben praktisch von Haushaltsgeldern. Im Großen und Ganzen schmeißt der Staat Geld zum Fenster hinaus, indem er es in Teams auf dem Niveau von Krylja Sowetow Samara, Ural Jekaterinburg, Amkar Perm usw. steckt. Man betrachtet diese Fußballvereine als soziale Projekte. Doch früher oder später erleiden sie einen finanziellen Kollaps und verschlingen dabei einen riesigen Teil des regionalen Haushalts.
Mangelnde Entwicklung des Jugendfußballs Wenn die Klubs nicht in der Lage sind, durch den Verkauf von Eintrittskarten, Fanartikeln und Übertragungsrechten zu verdienen, könnten sie immer noch den Weg gehen, Talente für sich und zum Verkauf heranzuziehen. Und hier wird das zweite Pro-
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blem des russischen Fußballs sichtbar: die schlechte Entwicklung des Jugendsports. Beim Konföderationen-Pokal 2017 in Russland waren viele Kommentatoren und Experten begeistert von der deutschen Nationalmannschaft. Sie kam mit dem zweiten oder dritten Aufgebot und besiegte trotzdem einen Gegner nach dem anderen. Die Experten klagten, dass dies das Ergebnis eines geregelten Ausbildungssystems von klein auf sei. Dazu käme die Kontinuität im Fußball von Generation zu Generation, eine Folge planmäßiger Arbeit und einer Auslese vom Kindesalter an. Jeder kleine Fußballer weiß von Kindheit an, was er auf dem Platz zu tun hat, wie er spielen muss, wohin er laufen soll. Es stellt sich die Frage, warum Russland solch ein System nicht erschaffen kann. Hier stößt man erneut auf zwei Probleme: mangelnde Finanzierung sowie Fehlen eines Entwicklungsplans für den regionalen Fußball beim Russischen Fußballverband. Viele Fußballabteilungen können es sich nicht leisten, ihren Nachwuchs komplett mit Schuhen und Trikots auszustatten, ganz zu schweigen von den Reisekosten zu Wettbewerben. Mittel für Fahrten junger Sportler werden durch private Sponsoren und wohlhabende Eltern aufgebracht. Letztere finanzieren privat Reisen zu Jugendfußballturnieren. Natürlich hat der Jugendfußball angesichts solcher Umstände ernsthafte Probleme. In einigen Regionen Russlands fehlen Jugendfußballturniere auf regionaler Ebene völlig. Die Bedingungen, unter denen Kinder in den Fußballschulen des Russischen Fußballverbands trainieren, entsprechen – beispielsweise in Ausstattung und Größe der Sporthallen im Winter – oft nicht den internationalen Standards. Das Problem wird gelöst durch Minifußball- bzw. Futsal-Turniere. Und auch durch Wettbewerbe in sogenannten Sport- und Gesundheitsförderungskomplexen, die mehr schlecht als recht im ganzen Land gebaut werden. Indem sie das Problem auf dem bequemsten Weg durch flächendeckende Einführung von Minifußball-Turnieren zu lösen versuchte, vergaß die Politik völlig den großen Fußball.
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Diese Zustände sind charakteristisch für mehr als die Hälfte der Regionen. Dabei muss angemerkt werden, dass auch die Sport- und Gesundheitsförderungskomplexe nicht überall gebaut werden. Diese Situation ist besonders entrüstend vor dem Hintergrund des Baus des weltweit teuersten Stadions, der Zenit-Arena in St. Petersburg. Zehn Jahre wurde an ihr gebaut, sie verschlang eine Rekordsumme von 41,7 Milliarden Rubel, fast eine Milliarde Euro. Für dieses Geld und in diesem Zeitraum hätten hunderte, wenn nicht tausende Hallen und Felder gebaut und hunderte, wenn nicht tausende Fußballer »herantrainiert« werden können. Das Fehlen der Infrastruktur ist nur eine Hälfte des Übels. Im russischen Jugendfußball herrscht zudem ein katastrophaler Mangel an Spezialisten und qualifizierten Kräften. Es gibt keine qualifizierte Trainerausbildung, keine modernen Trainingsmethoden. Es ist schwer, die vorhandenen Trainer auf moderne Methoden umzuschulen. Die Trainer von Kinder- und Jugendmannschaften stehen zudem vor der Aufgabe, in regionalen und überregionalen Wettbewerben maximale Ergebnisse erzielen zu müssen. Deshalb versuchen Trainer, gesündere, kräftigere und größere Spieler in ihre Teams aufzunehmen, anstatt eigene Talente zu fördern. Es gibt nichts schönzureden: Manche Spieler treten gar mit einer falschen Altersangabe an. Natürlich bringen sie das gewünschte Resultat. Einen ähnlichen Weg zum Erreichen von Erfolgen gehen auch die großen Klubs. Warum eine eigene Schule unterhalten, wenn man den Erfolg auch kaufen kann? Zumindest Spartak rühmt sich nicht ohne Grund seiner Fußballschule, doch sie engagiert sich nur im Großraum Moskau, nicht aber in den Regionen. Wir alle, die Fans, haben nicht die Geduld zu warten, bis unser Klub gute Ergebnisse erzielt – wir wollen immer alles und sofort. Und so ticken auch die Sportbosse. Unterm Strich ist es einfacher, einen Spieler zu kaufen, als ihn selbst heranzuziehen. Eine rühmliche Ausnahme bildet der Unternehmer und Milliar-
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där Sergei Galizki, der für seinen Verein FK Krasnodar tatsächlich Nachwuchsstützpunkte baut.
Die Lösung: Nachwuchsförderung und noch mal Nachwuchsförderung Es stellt sich die Frage, wie man mit der entstandenen Situation umgehen kann und welche Entscheidungen die Politik treffen müsste. Die Antwort scheint offensichtlich – wenn sich der Haushalt im Minus befindet, ist es schlicht unmoralisch, Milliarden von Rubel für Fußballklubs auszugeben. Hier muss die Politik die Verantwortung übernehmen und den ziellosen und ineffektiven Verbrauch von Haushaltsgeldern für Klubs, für die sich in den Regionen lediglich 10.000 bis 15.000 Zuschauer interessieren, unterbinden. Einfacher ausgedrückt: Sie muss sich entscheiden, solche Projekte zu beenden. Es käme niemandem in den Sinn, ein Theater zu unterhalten, in das keine Zuschauer kommen. Wofür brauchen wir daher professionellen Sport, wenn er uns so teuer kommt und von so wenigen Fans besucht wird? Wäre es nicht besser, die Gelder in den Jugendsport zu investieren und eine ordentliche Arbeit der Kinderfußballschulen zu garantieren? Leider ist auch hier nicht alles so einfach. Es gibt Regionen, in denen Fußball eine Religion und der Fußballverein vor Ort einziger Trost und Stolz sind. Dazu zählen beispielsweise die sogenannten »Empfängerregionen« Samara und Woronesch, wo es schon immer viele Fußballfans gab. Sie sind damit aufgewachsen, dass es bei ihnen ein Spitzenteam gibt. Doch gibt es im Land auch Regionen, in denen es nie große Fußballklubs gab. Und es gibt nicht wenige solcher Regionen, etwa Burjatien oder das Gebiet Kurgan, wo es, wenn kein Wunder geschieht, niemals professionelle Sportklubs geben wird. Warum dort nicht den Kindern die Möglichkeit einräumen, Sport zu treiben? Lasst uns wenigstens 150 Mini-Felder auf den Höfen einrichten. Auf ihnen wird gespielt werden, und später wer-
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den die talentierten Kinder bei ordentlichen Fußballschulen angenommen und erhalten die Chance, bis zu Meisterklubs aufzusteigen. An einem ganzheitlichem System der Sportentwicklung, bei dem die Strukturen von der Kinderfußballschule bis zum Profiklub reichen, führt kein Weg vorbei. Und alles bisher Gesagte spricht dafür, dass der russische Fußball eine Menge Probleme hat. Aufgrund der Umstände bin ich derzeit viel in Kasan und gehe wann möglich zum lokalen Verein Rubin. Rubin wurde zweimal russischer Meister und zudem Pokalsieger, was ein großer Erfolg ist. Denn die regionalen Klubs verfügen nicht über vergleichbare finanzielle und administrative Möglichkeiten wie etwa die Spitzenteams aus St. Petersburg und Moskau. Es ist auch insofern ein besonderer Erfolg, weil beispielsweise Zenit von Präsident Putin und einer Reihe St. Petersburger Unternehmer unterstützt wird, die sich ganz ungeniert »Freunde Putins« nennen. Ich hege keine besonderen Illusionen für die nähere Zukunft dieser regionalen Mannschaft sowie des gesamten russischen Fußballs. Ich bin erwachsen geworden und verstehe nur zu gut, dass Vereine wie Rubin Kasan oder Lokomotive Nischni Nowgorod keine Zukunft haben. Die Gründe sind die gleichen – fehlende Wirtschaftlichkeit. Früher oder später wird Rubin eingestampft werden, wie jedes unwirtschaftliche Projekt1. Es wird passieren, sobald die regionalen Machthaber den Willen, den Wunsch oder die Fähigkeit verlieren, es zu unterstützen. Doch ohne starke regionale Klubs mit modernen Nachwuchszentren gibt es keine Chance auf eine positive Entwicklung des gesamten russischen Fußballs. Aus dem Russischen von Robert Kalimullin
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Anmerkung 1 Im Dezember 2017 berichtet die britische Tageszeitung The Daily Telegraph, dass Rubin Kasan von einer Finanzkrise erfasst worden sei und seit vier Monaten keine Gehälter an Spieler ausgezahlt habe: http://www.telegraph.co.uk/football/2017/12/06/ russian-football-faces-fresh-controversy-rubin-kazan-fail-pay/
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Wer kennt ihn nicht, Lew Jaschin, den legendären russischen Torwart? Er ist die Galionsfigur einer wechselvollen Fußballhistorie in Russland. Russkij Futbol erzählt von unvergessenen Spielen auf dem Roten Platz, von Fußballern im GULAG, von Stadionbauten und Provinzklubs, vom Leben als Fan, von Triumphen der »Sbornaja« – und einer 0:16-Niederlage gegen Deutschland. Vom ersten Kick an der Newa bis zur FußballWM 2018 zeichnen 16 Autoren ein faszinierendes Bild vom russisch-sowjetischen Fußball – als Sport, als Massenphänomen, als Subkultur und nicht zuletzt auch als Politikum.
ISBN 978-3-7307-0395-3 VERLAG DIE WERKSTATT