Revolutionen auf dem Rasen (Neuauflage) – Leseprobe

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Jonathan Wilson

Revolutionen

auf dem VERLAG DIE WERKSTATT

Rasen Eine Geschichte der Fußballtaktik

Erweiterte und überarbeitete Neuauflage


Inhalt Vorwort zur Neuauflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Von den Anfängen bis zur Schottischen Furche . . . . . . . . . . . . . . . 21 Fußball im viktorianischen England / Die Gründung der Football Association 1863 / Englisches Dribbeln vs. schottisches Passspiel / 2-3-5-Formation wird Standard 2. Walzer und Tango . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Die weltweite Verbreitung des Fußballs / Jimmy Hogan – Fußballpionier auf dem europäischen Festland / Fußballkunst in Uruguay und Argentinien 3. Der dritte Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die Änderung der Abseitsregel 1925 / Herbert Chapman und das W-M-System 4. Wie der Faschismus das Kaffeehaus vernichtete .. . . . . . . . . . . . . . 93 Hugo Meisl und das österreichische „Wunderteam“ / „Scheiberln“: österreichischer Kombinationsfußball / Vittorio Pozzo: Weltmeister mit Italien 1934 und 1938 / La Furia im Spanien unter Franco / Fußball im nationalsozialistischen Deutschland 5. Organisiertes Chaos .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Fußball in der Sowjetunion / Boris Arkadiew und Dynamo Moskau / Russisches Kurzpassspiel verzaubert Großbritannien


6. Die Ungarn-Connection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ungarns „Goldene Elf “ / Der zurückgezogene Mittelstürmer oder: Das W-M wird zum M-M / Das 6:3 in Wembley / Die WM 1954 / Béla Guttmann, ungarischer Weltenbummler 7. Jazz statt Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Dori Kürschner – ein Ungar in Brasilien / Flávio Costas Diagonal / Das brasilianische 4-2-4 / WM 1958 und 1962: Pelé und Co. erobern die Welt 8. Der englische Pragmatismus I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Stan Cullis und die Wolverhampton Wanderers / Charles Reep, der Chefstatistiker des englischen Fußballs / Die Philosophie der langen Bälle / Alf Ramsey und die WM 1966 9. Die Geburt der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Wiktor Maslow, Pionier des modernen Fußballs / Die Einführung des 4-4-2 / Die Erfindung des Pressings 10. Catenaccio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Vorläufer: Schweizer Riegel und Wolga-Klammer / Gipo Viani, der Vater des Catenaccio / Nereo Rocco und der AC Mailand / Helenio Herrera und La Grande Inter 11. Nach den Engeln .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 La Máquina – River Plate in den 1940er Jahren / Das Ende des Goldenen Zeitalters in Argentinien: Erfolg mit Anti-Fútbol 12. Totaalvoetbal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Von Jack Reynolds bis Rinus Michels: die Väter des Totaalvoetbal / Johan Cruyff, ein Künstler am Ball / Ajax Amsterdams Europapokal-Hattrick 13. Russisches Rasenschach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Walerij Lobanowskyj und die Verwissenschaftlichung des Fußballs / Eduard Malofejew und „ehrlicher Fußball“ 14. Fly Me to the Moon .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Die WM 1970 und Brasiliens Futebol Arte / César Luis Menotti, der Fußballphilosoph / Die WM 1978


15. Der englische Pragmatismus II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Bill Shankly und der Liverpooler „Boot Room“ / FC Watford und FC Wimbledon: Erfolg mit Kick-and-rush / Lange Bälle und ihre Befürworter / Skandinavischer Fußball unter britischem Einfluss 16. Zurück zur Dreier-Abwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Väter des 3-5-2: Carlos Bilardo und Miroslav Blažević / Sepp Piontek und Danish Dynamite / Maradona und die WM 1986 17. Der Trainer, der kein Pferd war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Arrigo Sacchi und italienischer Offensivfußball / Der AC Mailand erobert Europa / Raumdeckung, Pressing, Viererkette: die Grundpfeiler des Mailänder Erfolgs 18. Total Recall.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Ajax in den 1990er Jahren: Louis van Gaals Neuinterpretation des Totaalvoetbal / Athletic Bilbao & Co.: Powerfußball unter Marcelo Bielsa 19. Von Geistern und Maschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Das Ende des klassischen Spielmachers / Der Siegeszug des Fünfer-Mittelfelds / Der polyvalente Spieler 20. Pressing und Ballbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 Von Vic Buckingham bis Pep Guardiola: Kurzpassspiel beim FC Barcelona 21. Die Welt nach Cruyff .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Von Ralf Rangnick bis Julian Nagelsmann: Deutschland lernt Taktik / Jürgen Klopp und Gegenpressing / Barça nach Guardiola / Die Renaissance der Dreierkette / AntiBallbesitzfußball Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Felix qui potuit rerum cognoscere causas.* Vergil, Georgica II, 490

(*GlĂźcklich, wem es gelang, den Grund der Dinge zu erkennen.)


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Vorwort zur Neuauflage

Als ich 2005 für FourFourTwo den Artikel schrieb, der mich erst auf die Gedanken zu Revolutionen auf dem Rasen brachte, war Taktik nicht mehr als ein Randthema in der britischen Fußballberichterstattung. Mittlerweile, da ich 13 Jahre später diese Zeilen schreibe, ist sie Teil des medialen Alltags geworden. Der Mehrheit der Fans in England mag Taktik auch weiterhin egal sein. Doch eine nicht unbedeutende Minderheit will am Montagabend nicht mehr auf Jamie Carraghers und Gary Ne­villes Analysen der Spielszenen vom vorangegangenen Wochenende verzichten. Jede Zeitung bringt in schöner Regelmäßigkeit Taktikkolumnen, es gibt ein gutes Dutzend Taktikblogs, und Begriffe wie „falsche Neun“ oder „inverser Flügelspieler“ sind in aller Munde. Revolutionen auf dem Rasen war Teil dieser Bewegung. Anders als manche meinen, war das Buch jedoch keinesfalls ihr Auslöser. Vielmehr ist es auf einen Zug aufgesprungen, der ohnehin schon Fahrt aufgenommen hatte. Vielleicht hat es aber dazu beigetragen, denjenigen einen historischen Zusammenhang zu vermitteln, die sich für die Analyse des Geschehens auf dem Rasen interessieren. Zwar ist im englischen Fußball mitunter auch heute noch eine gewisse Fortschrittsfeindlichkeit zu spüren, doch der Fußballkonsument wird mit jedem Tag ein wenig anspruchsvoller. Bei manchem mag das Interesse an der Taktik sogar überhandgenommen haben und zur Besessenheit geworden sein. Ich habe es bereits in der Einführung zur ersten Auflage des Buches gesagt, doch da mich offenbar viele Menschen für einen Taktikfundamentalisten halten, möchte ich es hier noch einmal wiederholen: Ich glaube keineswegs, dass Taktik das Einzige ist, was die Spielweise einer Mannschaft bestimmt. Ich glaube auch nicht, dass Taktik immer der entscheidende Faktor für den Ausgang eines Spiels ist. Taktik ist vielmehr ein Faktor unter vielen, der sogar vielleicht öfter vernachläs-


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Vorwort zur Neuauflage

sigt wird. Sie ist nur ein Puzzleteil neben Geschick, Fitness, Motivation, Kraft und Glück. Ja, ich glaube, dass man Taktik gar nicht von den übrigen Faktoren trennen kann. Ein körperlich fittes Team muss anders spielen als ein ausgelaugtes. Ein Team mit mangelndem Selbstbewusstsein muss möglicherweise vorsichtiger agieren. Ein Team mit Spielern auf Kreisklassenniveau muss so aufgestellt sein, dass es diese Defizite kompensieren kann. Alles hängt miteinander zusammen. Des Weiteren wirken die Bezeichnungen für die Formationen mitunter ein wenig willkürlich. Wie weit genau muss die zweite Spitze hinter dem echten Mittelstürmer spielen, damit aus einem 4-4-2 ein 4-4-1-1 wird? Und wie weit müssen die äußeren Mittelfeldspieler aufrücken, damit daraus dann ein 4-2-3-1 werden kann? Und lässt sich der Stürmer ein wenig fallen und rücken die Außen auf, handelt es sich dann noch um ein 4-2-3-1, oder ist ein 4-2-1-3 oder gar ein 4-3-3 daraus geworden? Warum beschreiben wir manche 4-2-3-1-Formation angesichts nicht selten hoch stehender Außenverteidiger, die auf einer Linie mit den defensiven Mittelfeldspielern agieren, nicht als 2-4-3-1? Solche Begrifflichkeiten sind also im Grunde nur Werkzeuge, die sich eingebürgert haben, um eine grundsätzliche Vorstellung von einer Formation zu vermitteln. In der Fußballtaktik gibt es nur wenige unumstößliche Grundsätze, und ganz sicher gibt es keine Königsformation, auch wenn ich das in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt worden bin. Zwar müssen Offensive und Defensive grundsätzlich in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, trotzdem hängt vieles auch von den Umständen ab: von den zur Verfügung stehenden Spielern, von ihrem körperlichen und mentalen Zustand, von den Bedingungen, von der Form, von den Zielen einer Mannschaft – und natürlich vom Gegner und dessen Spielern, Formation und körperlicher und mentaler Verfassung. Nicht nur steht alles in Relation zueinander, es ist auch alles relativ. rs

Die erste englische Auflage dieses Buches schloss mit einigen Beobachtungen zu den stürmerlosen Formationen, die beim AS Rom und Manchester United zum Einsatz kamen. Zitiert wurde auch die Theorie von Carlos Alberto Parreira, dass das 4-6-0 die taktische Formation der Zukunft sei. Der Begriff der falschen Neun kam darin nicht vor, aber diese


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Bezeichnung haben wir uns mittlerweile für den Mann angewöhnt, der sich aus dem früher üblichen Aktionsbereich des klassischen Mittelstürmers nach hinten fallen lässt. Die Tatsache, dass dieser Begriff mittlerweile so häufig gebraucht und auf Anhieb verstanden wird, deutet nicht nur auf einen verbreiteten Trend hin. Er belegt auch, wie sehr das Interesse an taktischer Analyse in den vergangenen Jahren gewachsen ist. In den Jahren seit dem ersten Erscheinen des Buchs in England machte Pep Guardiola den FC Barcelona zur weltweit besten Mannschaft seit mindestens 20 Jahren und gestaltete dabei auch die fußballtaktische Landschaft neu. Diese Neuauflage erörtert Ursprünge und Umsetzung seiner Philosophie und untersucht deutlich detaillierter als das Original, wie sich dieses Kurzpassspiel vom schottischen FC Queen’s Park über Newcastle United und Tottenham Hotspur bis hin zu Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona entwickelte. Das Buch beleuchtet die weitere Entwicklung des Totaalvoetbal unter Louis van Gaal und Marcelo Bielsa und versucht dabei auch, den FC Barcelona in diesem Kontext zu verorten. Dazu wirft es einen Blick auf die Anfänge des spanischen Fußballs, und ebenso darauf, wie La Furia in der Zeit vor Vic Buckingham und Rinus Michels zum spanischen Ideal aufsteigen konnte. Ergänzungen sind allerdings überall im Buch zu finden. Sie bieten differenziertere Interpretationen, Präzisierungen und Erweiterungen. Die Neuauflage enthält zudem weitaus mehr Details, wie beispielsweise zum britischen Fußball in der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Hier hatte ich möglicherweise den Eindruck vermittelt, dass man in dieser Zeit von einem roboterhaften 2-3-5 besessen gewesen sei. Ebenso war die Geburt der Dreier-Abwehrreihe in den 1920er Jahren ein deutlich langsamerer und komplizierterer Prozess, als ich zur Kenntnis genommen habe: Erstaunlicherweise behandelte C. B. Fry die Dreier-Abwehrreihe bereits 1897. Auch zur Rückkehr der Dreier-Abwehr Anfang der 1980er Jahre gibt es deutlich mehr zu sagen: Habe ich diese Entwicklung bislang Carlos Bilardo und Franz Beckenbauer zugeschrieben, so ist mir mittlerweile bewusst, dass Sepp Piontek und Miroslav Blažević mindestens genauso einen Anteil daran haben. Hinzu kommen ferner die kleinen Details, die sich durch weitere Nachforschungen ergaben – und insbesondere durch Leser, die auf Fehlendes hinwiesen oder alternative Interpretationen vorschlugen. So hatte ich beispielsweise immer gedacht, dass es ein argentinisches


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Pendant zu Dori Kürschner gab, also dem Ungarn, der das W-M-System nach Brasilien gebracht hatte. Als ich mich durch einen Ordner mit Artikeln aus argentinischen Zeitungen der 1930er Jahre las, erfuhr ich jedoch, dass Emérico Hirschl, der 1936 mit River Plate das Double holte und den ich für einen Argentinier gehalten hatte, in Wahrheit Imre Hirschl hieß und ein 1932 emigrierter Ungar war. Weitere Nachforschungen lieferten Anhaltspunkte dafür, dass er eine Verteidigung wie im W-M-System entwickelt hatte, die jedoch erst nach drei Jahren akzeptiert wurde. Wie Kürschner war auch Hirschl Jude – ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr die Entwicklung des Fußballs durch den zunehmenden Antisemitismus der 1930er Jahre beeinflusst wurde. Diese Neuauflage bietet weitere Überarbeitungen, Korrekturen und Präzisierungen, beschäftigt sich aber auch mit den Entwicklungen seit Guardiolas Weggang von Barcelona. Selbst die, die Guardiolas Stil niemals zu kopieren suchten – oder ihn sogar vehement ablehnten –, wurden von ihm beeinflusst. Jede Spitzenmannschaft spielt nun im Wissen, was möglich ist mit dem richtigen Trainer und den richtigen Spielern beim richtigen Verein zur richtigen Zeit. Doch die Fußballwelt wird nicht mehr länger vom Guardiolismus regiert. Vielmehr handelt es sich dabei nur um eine von vielen konkurrierenden Strategien. Zu diesen gehören jene aus Deutschland, die sich aus der verzögerten Übernahme des Pressings ergaben, ebenso wie die Spielweisen, die von der argentinischen Tradition des Anti-Fútbol herrühren, und José Mourinhous Umkehrung der Cruyff ’schen Prinzipien. Je weiter man recherchiert, desto mehr Verbindungen lassen sich erkennen. Man nehme beispielsweise die beiden englischen Trainer beim FC Barcelona nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie waren als Spieler jeweils unter Trainern aktiv gewesen, die ihrerseits Ende der 1930er Jahre unter Peter McWilliam bei den Spurs gekickt hatten – Terry Venables unter Bill Nicholson und Bobby Robson unter Vic Buckingham. Nun ist Buckingham der Mann, der das Fundament für das heutige Kurzpassspiel im Camp Nou legte. Das Ganze mag reiner Zufall sein, deutet aber auf ein Geflecht von Traditionen und Kernphilosophien hin, das dem gesamten Fußball zugrunde liegt. Die Fußballtaktik entwickelt sich laufend weiter, also muss es auch ihre Geschichte tun. Jonathan Wilson, London 2018


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Jazz statt Symphonie

Das Brasilien, das Béla Guttmann 1956 auf seiner Südamerikatournee mit Honvéd Budapest besuchte, war alles andere als die von ihm gerne geschilderte taktische Wüste. Gewiss, individuelle Technik und Improvisation standen hoch im Kurs. Doch obwohl das W-M-System Brasilien erst spät erreicht hatte, war das 4-2-4 im Jahr 1956 bereits weitgehend entwickelt. Möglicherweise lag dies daran, dass das starre W-M-System mit seinem engen Deckungsspiel nicht recht zur brasilianischen Spielweise passte. Als Gründungsvater des brasilianischen Fußballs gilt Charles William Miller. Seine Eltern – ein Schotte und eine Brasilianerin – gehörten zur Handelselite von São Paulo und schickten ihn zum Schulbesuch nach England. Dort lernte er das Spiel kennen, schaffte es in die Auswahl der Grafschaft Hampshire und bestritt eine Handvoll Matches für den FC St. Mary’s, den späteren FC Southampton. Bei seiner Rückkehr nach São Paulo im Jahr 1894 hatte Charles zwei Fußbälle dabei. Der Legende nach ging er mit einem Ball in jeder Hand von Bord. „Was sind das für Dinger?“, soll sein Vater ihn gefragt haben. „Mein Diplom“, erwiderte Charles. „Dein Sohn hat einen Abschluss in Fußball gemacht.“ Auch wenn sich die Geschichte sicherlich nicht so zugetragen hat, fand sie rasch Verbreitung. Schließlich zeigt sie, dass der brasilianische Fußball von Anfang an fröhlich, frech und respektlos gegenüber der Obrigkeit war. Der Fußball erfreute sich bald großer Beliebtheit, sowohl bei der englischen Elite als auch bei der alteingesessenen Bevölkerung. Bereits 1902 gab es in São Paulo die Staatsmeisterschaft, den Campeonato Paulista. Zur selben Zeit war das Spiel durch einen weiteren Anglo-Brasilianer namens Oscar Cox nach Rio de Janeiro gelangt. Er war während seiner Schulzeit


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in der Schweiz darauf gestoßen. Gemeinsam mit einigen Freunden gründete er Fluminense, das ähnlich wie die frühen niederländischen und dänischen Klubs dem englischen Vorbild in jeder Hinsicht nacheiferte: Man trug Mützen, Schnurrbärte, rief Hurra und betonte die eigene Männlichkeit. Miller wiederum war ein Vertreter des Dribbelspiels alter Schule. Folglich kann man davon ausgehen, dass sich das Spiel von dem in Großbritannien zu jener Zeit verbreiteten Stil kaum unterschied. Doch wie fast überall wurde das Dribbelspiel auch bei den ­Anglo-Brasilianern bald vom Kurzpassspiel abgelöst. Jock Hamilton, einer der vielen schottischen Trainer, die Harry Bradshaw beim FC Fulham beschäftigt hatte, wurde vom CA Paulistano verpflichtet – eine erste, gleichwohl schwache Verbindung zwischen Jimmy Hogan und Brasilien. Hamilton berichtete, er sei „überrascht von der fortschrittlichen Spielweise. … Ihr Kombinationsspiel ist wirklich intelligent.“ Dank des Einflusses der Scottish Wanderers, einer 1912 in São Paulo gebildeten Mannschaft der schottischen Gemeinde, wurde es bald noch intelligenter. Die Wanderers praktizierten ein Kombinationsspiel, das verwirrenderweise als Systema ingleza – das „englische System“ – bekannt wurde. Ihr bekanntester Spieler war Linksaußen Archie McLean, der zwei Saisons bei Ayr United in der zweiten schottischen Liga gespielt hatte. Er „war ein Künstler und ein würdiger Vertreter der schottischen Schule“, so Tomás Mazzoni in seiner 1950 erschienenen Geschichte des brasilianischen Fußballs. „Seine systematische Art, Fußball zu spielen, wurde noch auffälliger, als er mit seinem Landsmann Hopkins auf dem linken Flügel ein Duo bildete.“ Die beiden wechselten später nach São Bento, wo man ihrem Spiel mit schnellen, kurzen Doppelpässen den Namen Tabelinha gab (wörtlich: „Tabellchen“). In seinem Buch An Entirely Different Game beschreibt Aidan Hamilton ausführlich, inwiefern der britische Einfluss in Brasilien weitaus länger wirkte als in Uruguay oder Argentinien. Tomás Mazzoni erwähnt den ehemaligen Liverpooler Mittelstürmer Harry Welfare, der ein Angebot als Englischlehrer in Rio de Janeiro annahm und kurz darauf begann, für Fluminense zu spielen. Er habe sich an „unseren Fußballstil angepasst“, aber auch seine eigenen Vorstellungen verbreitet. Max Valentim berichtet in O Futebol e sua Técnica („Über den Fußball und seine Technik“), dass Welfare den Halbstürmern die Steilvorlage beibrachte. Außerdem beschreibt er zwei seiner Dribbeltechniken:


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„Dieses Stoppen oder Antäuschen, dass die Engländer ‚swerving‘ nennen, und das Springen auf eine Seite, während man mit dem Ball läuft.“ Tatsächlich aber löste sich der Fußball erst von seinem alten Vorbild, als die Einheimischen sich seiner annahmen. Bei Fluminense waren sie ausgeschlossen und beobachteten die Anglo-Brasilianer von den nahe gelegenen Dächern aus. Sie sahen dabei eine Sportart, die viel einfacher zu verstehen und nachzuahmen war als Kricket. Beim zwanglosen Bolzen auf den Straßen, bei dem oftmals Bälle aus Lumpen zum Einsatz kamen, entwickelte sich ein vollkommen anderer Spielansatz. Hier waren unorthodoxe und individuelle Fähigkeiten gefragt, um sich durchzusetzen. Außerdem war es keineswegs verpönt, sich in Szene zu setzen. Archie McLean blieb unbeeindruckt. „Die hatten da großartige Spieler“, sagte er über den Fußball in São Paulo, „aber die waren furchtbar undiszipliniert. In Schottland wären solche Mätzchen nicht toleriert worden.“ Man hat verschiedentlich Parallelen zwischen dem brasilianischen Fußball und der Samba gezogen. Als sie den ersten Titelgewinn ihres Landes bei der WM 1958 feierten, skandierten die brasilianischen Fans „Samba, Samba“. Simon Kuper wiederum verglich Pelé in seinem Buch Football against the Enemy mit einem Capoerista, einem Vertreter der Kampfkunst Capoeira, die von angolanischen Sklaven entwickelt und vor ihren Herren als Tanz getarnt wurde. Der Anthropologe Robert DaMatta entwickelte die Theorie vom Jeitinho, dem „kleinen Trick“, um die von den Brasilianern mit so viel Stolz betrachtete Kreativität zu erklären. Demnach hätten die Gesetze und der Verhaltenskodex in Brasilien auch nach dem Verbot der Sklaverei im Jahr 1888 den Schutz der Reichen und Mächtigen zum Ziel gehabt, so dass der Einzelne Einfallsreichtum beweisen musste, um sie zu umgehen. In seinem Buch O que faz o brasil, Brasil? („Was macht dich brasilianisch, Brasilien?“) schrieb DaMatta, dass Jeitinho „einen individuellen Aushandlungsprozess zwischen dem Gesetz, der vorgesehenen Situation seiner Anwendung und den beteiligten Personen darstellt, ohne dass es, abgesehen von einer demoralisierenden Wirkung auf das Gesetz selbst, wirklich zu Veränderungen kommt. … In den USA, Frankreich oder England beispielsweise werden Regeln entweder eingehalten oder existieren gar nicht. Es ist wohlbekannt, dass das Erlassen von Gesetzen, die nicht im Einklang mit dem Gemeinwohl oder anderen gesellschaftlichen Regeln sind, in diesen Gesellschaften un-


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erwünscht ist. Denn dadurch entstünden Freiräume für eine Korrumpierung der Bürokratie und ein Vertrauensverlust in die öffentlichen Institutionen. … Folglich … halten die Amerikaner, die Franzosen und die Briten vor einem Stoppschild an, was uns wiederum in logischer und gesellschaftlicher Hinsicht absurd erscheint.“ Die Brasilianer finden deshalb einen Weg, um solche Einschränkungen herumzukommen. Sie verlassen sich lieber auf sich selbst als auf externe Strukturen. Eben dieser Ideenreichtum ist auch typisch für die Geschichte des brasilianischen Fußballs. Individuen finden ihren eigenen Weg, mit Situationen klarzukommen, was sowohl mit einem hohem Maß an Kreativität als auch mit Misstrauen gegenüber Teamwork einhergeht. Ein Großteil von DaMattas Arbeiten entwickelt das Modell Gilberto Freyres weiter, eines bekannten brasilianischen Soziologen, der seine Karriere in den 1930er Jahren begann. Freyre gehörte zu den Ersten, die Brasiliens ethnische Vielfalt als etwas Positives betrachteten. Er pries die Figur des Malandro, typischerweise ein Gauner oder Betrüger gemischter ethnischer Herkunft, der mit Hilfe seines Verstandes die in der Hierarchie über ihm Stehenden austrickst. „Unsere Spielweise unterscheidet sich von der europäischen durch eine Kombination aus Überraschungsmomenten, Tücke, Scharfsinn und Beweglichkeit sowie Brillanz und individuelle Spontaneität. … Unsere Pässe …, unsere Finten und Schnörkel mit dem Ball, das Tänzerische und Rebellische, das die brasilianische Spielweise auszeichnet, … scheinen Psychologen und Soziologen auf interessante Weise die Durchtriebenheit und Extravaganz des Mulatten zu zeigen, die heute für das typisch Brasilianische stehen.“ Für die Autoren der damaligen Zeit wurde der Geist des Malandro von zwei der besten brasilianischen Spieler der 1930er Jahre personifiziert, die beide schwarz waren – Mittelstürmer Leônidas und Verteidiger Domingos da Guia. Domingos gab offen zu, dass seine Kreativität und sein technisches Können, die ihm den Vorstoß mit dem Ball aus dem Rückraum heraus ermöglichten, ursprünglich dazu dienten, sich zu schützen: „Als ich noch ein Kind war, fürchtete ich mich davor, Fußball zu spielen, weil ich oftmals sah, wie schwarze Spieler … nur wegen eines Fouls und mitunter auch weniger auf dem Platz verprügelt wurden. Mein großer Bruder pflegte mir zu sagen, dass die Katze immer auf ihre Füße fällt. … Kannst du nicht gut tanzen? Das konnte ich, und es half mir


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beim Fußball. … Ich schwang häufig die Hüften … und erdachte ein kurzes Dribbling, bei dem ich den Miudinho nachahmte, diese Samba-Art.“ Ab 1919 wurde ein spezifisch brasilianischer Fußballstil erkennbar. Ein Artikel mit der Überschrift „Brasilianische Neuheit“, der im November jenes Jahres in der ersten Ausgabe des Magazins Sports aus São Paulo erschien, kommentierte dies folgendermaßen: „Im Gegensatz zur britischen Schule, derzufolge der Ball von den Stürmern bis direkt vor das gegnerische Tor gebracht und aus der kürzestmöglichen Distanz hineingeschossen werden soll, besteht die brasilianische Schule darauf, dass Torschüsse unabhängig von der Distanz abzugeben sind. Die Genauigkeit des Schusses ist dabei wichtiger als die Nähe zum Tor. Darüber hinaus fordert [die brasilianische Schule] keinen gemeinsamen Vorstoß der gesamten Sturmreihe. Vielmehr reicht es, wenn sich zwei oder drei Spieler mit dem Ball davonmachen, was aufgrund der vernichtenden Geschwindigkeit und des Überraschungsmoments die gesamte gegnerische Verteidigung verwirrt.“ Die Auffassung, dass der britische Fußball vor dem Tor nicht direkt genug sei, verwundert angesichts der Kritik britischer Kommentatoren an der zu großen Komplexität mitteleuropäischer Mannschaften. Vielleicht kam es zu diesem Urteil durch die zugewanderten Schotten der Wanderers, deren Spiel durch viele Pässe geprägt war. Vielleicht war der zeitgenössische britische Fußball sechs Jahre vor der Änderung der Abseitsregel aber auch verschachtelter, als er es später einmal sein sollte. Wie dem auch sei, sicher ist, dass der brasilianische Fußball stärker auf Selbstdarstellung denn auf Mannschaftsspiel ausgerichtet war. Sicher ist auch, dass der brasilianische Fußball damals nicht annähernd so weit entwickelt war wie der Fußball in Argentinien oder Uruguay. Die ersten zehn Länderspiele Brasiliens gegen deren Nationalmannschaften sowie gegen Chile brachten lediglich drei Siege ein. Bei der Copa América von 1917 kassierte man sowohl gegen Argentinien als auch gegen Uruguay jeweils vier Tore. 1919 schnitt Brasilien allerdings deutlich besser ab und gewann das Turnier. Entscheidend für den Turniersieg war, einem der beiden Verteidiger eine rein defensive Rolle zuzuweisen, während der andere sich in die Offensive einschalten durfte. Das mochte nicht gerade elegant gewesen sein, doch erkannte die brasilianische Nationalmannschaft damit zum ersten Mal die Notwendigkeit einer organisierten Defensive an.


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Allerdings begründete dieser Erfolg keineswegs eine Vorherrschaft in Südamerika. Von den 20 Spielen Brasiliens gegen Argentinien vor 1940 gewann man gerade einmal sechs. Gegen Uruguay waren es fünf von 13. Zwar konnte 1922 noch einmal die Copa geholt werden, doch dann sollte es bis 1949 dauern, bis man sie ein drittes Mal gewann. Und gar erst 1997 gelang es Brasilien zum ersten Mal, den Titel auf fremden Boden zu gewinnen, nachdem man ihn 1989 zum vierten Mal zu Hause in Brasilien errungen hatte. Aufgrund interner Auseinandersetzungen im Verband wurden die Brasilianer bei der WM 1930 in Uruguay lediglich durch Spieler aus Rio de Janeiro vertreten. Sie verloren ihr erstes Spiel gegen Jugoslawien mit 1:2 – laut Glanville war „Brasilien individuell cleverer, mannschaftlich dagegen unterlegen“ – und schied trotz eines 4:0-Sieges gegen Bolivien im darauffolgenden Spiel aus. 1933 wurde der Profifußball offiziell eingeführt. Infolgedessen sahen sich brasilianische Spieler nicht mehr gezwungen, sich auf den Europatourneen ihrer Klubs abzusetzen. Doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis auch die Nationalmannschaft von dieser Professionalisierung profitierte. Nachdem man bei der WM 1934 in Italien nach nur einem Spiel, einer 1:3-Niederlage gegen Spanien, ausgeschieden war, reisten die Brasilianer weiter zu einem Freundschaftsspiel gegen Jugoslawien in Belgrad. Obwohl die Jugoslawen bereits in der WM-Qualifikation gescheitert waren, fertigten sie Brasilien mit 8:4 ab. Und das, obwohl die Brasilianer solch große Könner wie Domingos, Leônidas und Waldemar de Brito in ihren Reihen hatten. Ihre taktischen Mängel waren aber noch offensichtlicher als vier Jahre zuvor in Montevideo. „Zwischen den Reihen gab es große Lücken“, erklärte der Fußballhistoriker Ivan Soter. „Die Jugoslawen konnten Kapital daraus schlagen und legten die Schwächen des veralteten Systems gnadenlos offen.“ Ohne Zweifel musste sich also etwas ändern. rs

Gentil Cardoso unternahm als Erster den Versuch, das W-M-System in Brasilien zu etablieren. Er hatte allerdings mit zweierlei zu kämpfen: Seine praktischen Erfahrungen als Spieler tendierten gegen Null,


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und er war schwarz. Cardoso hatte sich einst als Schuhputzer, Kellner, Straßenbahnfahrer und Bäcker verdingt und dann bei der Handelsflotte angeheuert. So kam es, dass er regelmäßig nach Europa reiste. Bei seinen Aufenthalten dort scheint er seine Freizeit hauptsächlich als Zuschauer bei Fußballspielen verbracht zu haben. Er wurde insbesondere ein Anhänger des englischen Fußballs und behauptete später, dass er Herbert Chapmans Entwicklung des W-M-Systems bei Arsenal mit eigenen Augen habe beobachten können. „Er war ein herausragender Typ“, sagte Soter. „Jemand, der es liebte, Geschichten von seinen Reisen zu erzählen.“ Diese Geschichten waren häufig stark ausgeschmückt, dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass er ein Meister der taktischen Analyse war. Er sah das W-M-System, erkannte seine Möglichkeiten, und ihm wurde klar, dass es trotz der großen Unterschiede zum brasilianischen Fußball die Zukunft darstellte. Als Cardoso in den 1930er Jahren seine Zeit zwischen dem Fußball und der See teilte, erhielt er auch die Gelegenheit zur Arbeit als Trainer. Er führte das W-M-System in der kaum bekannten Mannschaft von Sírio Libanês ein und zeichnete dort unter anderem für den Aufbau von Leônidas verantwortlich. „Er war ein durch und durch brasilianischer Spieler“, schrieb der Dramatiker Nelson Rodrigues über den Stürmer. „Voll der Fantasie, Improvisation, Kindlichkeit und Sinnlichkeit, die alle Großen Brasiliens ausgezeichnet haben.“ Mit anderen Worten, er hatte nicht viel mit den Mittelstürmern gemeinsam, die die Engländer bevorzugt in ihrem W-M zum Einsatz brachten. Die taktische Formation konnte man kopieren. Wesentlich schwieriger war es, den dazugehörigen Stil einführen. Sírio Libanês war als Verein zu klein, als dass Cardosos Innovation wirklich hätte Wellen schlagen können. Selbst nachdem er zusammen mit Leônidas nach Rio de Janeiro zu dem etwas größeren Klub FC Bonsucesso gewechselt war, fanden seine Ideen kaum Gehör. Er wurde bekannt dafür, in den Mannschaftsbesprechungen Sokrates, Cicero und Gandhi zu zitieren, und erweiterte den brasilianischen Wortschatz um Ausdrücke wie „Schlange“ für einen guten Spieler oder „Zebra“ für einen Kantersieg. Als Taktiker aber „nahmen ihn die Leute ganz einfach nicht ernst“, wie Soter sagte. Es musste mit Dori Kürschner erst ein Europäer kommen, um das W-M-System im brasilianischen Fußball fest zu etablieren, auch wenn


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dieser starb, bevor seine Ideen sich wirklich durchsetzen konnten. „Als Kruschner [sic!] nach Brasilien kam, redete Gentil viel über das W-M-System“, erzählte Kürschners Vorgänger und Nachfolger bei Flamengo Rio, Flávio Costa, in einem Interview mit Aidan Hamilton. „Aber er hatte nie das Ansehen, um es zum Einsatz zu bringen. Es war Kruschner, der den Futebol sistema zur Anwendung zu bringen versuchte.“ In Brasilien ist Kürschner zu einer sagenumwobenen Figur geworden, einem weisen Mann aus einem weit entfernten Land, der großes Wissen mit sich brachte und dem wie allen wahren Propheten erst nach seinem Tod die angemessene Ehre zuteil wurde. Man malt von ihm das Bild eines Predigers ohne Lebensgeschichte, eines Mannes aus dem Nichts. „Wir wissen nicht einmal, ob er ein Ungar, ein Tscheche oder ein Böhme war“, sagte Roberto Assaf, der Fernsehexperte und große Chronist Flamengos. Die Verwirrung ist verständlich. Irgendwann wurden das „R“ und das „U“ vertauscht, und Kürschners Name wird in Brasilien seitdem als „Kruschner“ buchstabiert und auch so ausgesprochen. Will aber jemand „Kruschner“ nachschlagen, wird er selbstverständlich keinen Eintrag finden. „Brasilien gibt nicht viel auf Tatsachen. … Es ist ein Land, das auf Geschichten, Sagen und stiller Post beruht“, stellt auch Alex Bellos in seiner Einleitung zum Buch Futebol fest. Dies mag zwar Kürschners geheimnisvolle Aura erklären, nicht aber, weshalb Flamengos Präsident ausgerechnet auf ihn setzte, um seine Pläne für eine dominierende Rolle im Fußball von Rio de Janeiro voranzubringen. Was auch immer seine Absichten gewesen sein mögen, mit Kürschner bekam er einen Mann, der vom Donaufußball geprägt war und darüber hinaus in einer direkten Verbindung mit Jimmy Hogan stand. Man feiert Hogan regelmäßig als Vater des ungarischen, österreichischen und deutschen Fußballs. Nur selten aber ist die Rede davon, dass er auch der Großvater des brasilianischen Fußballs ist. Kürschner war gebürtiger Budapester und gewann als Spieler mit dem MTK 1904 und 1908 die ungarische Meisterschaft. Außerdem absolvierte er fünf Länderspiele für Ungarn. Als linker Läufer, der gelegentlich im Zentrum agierte, war er für sein geschicktes Stellungsspiel und insbesondere für seine Kopfballstärke bekannt. Im späteren Karriereverlauf war Hogan sein Trainer, und Kürschner löste ihn 1918 als Trainer beim MTK ab. Dort holte er einen Titel, wechselte aber nach nur einem Jahr nach Deutschland.


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Mit den Stuttgarter Kickers gewann er die württembergische Meisterschaft. 1921 wurde er mit dem 1. FC Nürnberg Deutscher Meister. Nach einem kurzen Abstecher zu Bayern München und Eintracht Frankfurt trainierte er den Club nochmals beim sogenannten „endlosen Endspiel“ 1922 gegen den HSV. Genau wie Guttmann konnte anscheinend auch Kürschner zu Beginn seiner Karriere nirgends sesshaft werden. Er zog weiter in die Schweiz zu Nordstern Basel, wo ihm im ersten Anlauf der Aufstieg gelang. Umgehend verließ er den Klub wieder und tat sich mit Hogan und dem eigentlichen Cheftrainer Teddy Duckworth zusammen, um die Schweizer Nationalmannschaft auf die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1924 in Paris vorzubereiten. Dort gelang ihnen der größte Erfolg aller Zeiten im Schweizer Fußball. Sie kamen bis ins Finale, in dem sie allerdings Uruguay unterlagen. Danach war Kürschner kurzzeitig Trainer bei Schwarz-Weiß Essen, bevor er 1925 zu den Grasshoppers Zürich wechselte. Dort verbrachte er die folgenden neun Jahre, gewann drei Meisterschaften und viermal den Pokal und wurde schließlich von Karl Rappan abgelöst. Wäre er 1925 in Deutschland geblieben oder zurück nach Ungarn gegangen, wo immer noch das 2-3-5 des klassischen Donaufußballs vorherrschte, hätten sich die Dinge vielleicht anders entwickelt. So aber konnte Kürschner sich in der Schweiz von den Vorteilen des W-M-Systems oder zumindest einer seiner Varianten überzeugen lassen. Als Padilha ihm dann 1937 sein Angebot unterbreitete, brachte er jenes System nach Rio de Janeiro, das in Brasilien die Revolution auslösen sollte. Diese Revolution kam jedoch nur langsam in Fahrt, da der brasilianische Fußball auf seine Art genauso konservativ war wie der englische. Als Kürschner zu Flamengo Rio de Janeiro kam, war das „Schwarze Wunder“ Fausto dos Santos dort Mittelläufer – eine Position, die im brasilianischen Fußball ganz oben in der Hierarchie stand, während die Verteidiger ganz unten angesiedelt waren. Kein Wunder also, dass Dos Santos sich Kürschner gegenüber weigerte, in der Abwehr zu spielen. Auch Fans und Journalisten waren in der Frage gespalten. Erst das Eingreifen Padilhas sorgte für klare Verhältnisse. Er verdonnerte Fausto zu einer Geldstrafe und erklärte ihm, er habe zu tun, wofür er bezahlt werde. So jedenfalls besagt es die Legende, die von Kürschner das Bild eines unnachgiebigen Modernisierers zeichnet. Traditionen sollen ihn genauso wenig interessiert haben wie die individuellen Fähigkeiten und Interessen seiner Spieler.


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Ganz so einfach ist es allerdings dann doch nicht. Ideen werden selten voll ausgereift geboren, und hier scheint auch ein besonderer Umstand eine Rolle gespielt zu haben. Assaf zufolge war Kürschner entsetzt von der medizinischen Abteilung, die er bei Flamengo vorfand. Deshalb schickte er seine Spieler erst einmal zum Arzt. Dort stellte sich heraus, dass Fausto sich in einem frühen Stadium jener Tuberkulose befand, die ihn zwei Jahre später das Leben kosten sollte. Die Entscheidung, Fausto weiter hinten spielen zu lassen, scheint also nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch aus Rücksicht auf seinen sich verschlechternden Gesundheitszustand erfolgt zu sein. Ob Kürschner mit einem gesunden Fausto beim alten 2-3-5 geblieben wäre oder ihn als zentralen Verteidiger und einen anderen Spieler als defensiven Mittelläufer eingesetzt hätte, lässt sich unmöglich mehr sagen. Unabhängig davon scheint Kürschners Auffassung vom W-M wenig mit der in Großbritannien gängigen Interpretation dieses Systems zu tun gehabt zu haben. Als Vertreter der Donauschule, der sich zudem hervorragend im Schweizer Fußball auskannte, hätte Kürschner wohl kaum einen Vorstopper vom Typ Herbie Roberts gutgeheißen. Fausto dos Santos wäre ohnehin nicht der richtige Mann gewesen, um Roberts’ Spielweise zu kopieren. Tatsächlich entsprach das, was Kürschner und die Brasilianer als W-M-System bezeichneten, eher Vittorio Pozzos Metodo, einer Formation, die eher einem W-W gleicht, d. h. mit einem Mittelläufer, der hinter seinen Außenläufern spielt, gleichwohl aber vor den Außenverteidigern postiert ist. Wie Soter bemerkt, war das System, gemessen am damaligen brasilianischen Fußball, erschreckend defensiv, aber längst nicht so destruktiv oder starr wie die britische Variante. Mag Kürschners Hintergrund auch nicht so undurchsichtig sein wie angenommen – sicher ist, dass er im Nichts verschwand. Flávio Costa, der ehemalige Spieler Flamengos, den Kürschner als Trainer ablöste, blieb sein Co-Trainer. Costa nutzte Kürschners fehlende Portugiesischkenntnisse aus und untergrub seine Autorität bei jeder sich bietenden Gelegenheit, überschüttete das W-M-System mit Hohn und Spott und stärkte Fausto in der Auseinandersetzung den Rücken. Die Bilanz war enttäuschend. Obwohl man in 22 Spielen 83 Tore erzielte, stand Flamengo am Ende der Staatsmeisterschaft von Rio de Janeiro, des Campeonato Carioca, hinter dem Erzrivalen Fluminense auf Platz zwei. Die Lokalpresse mokierte sich über Kürschner und seine Ideen. Das erste


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Spiel der Saison 1938 war gleichzeitig das Einweihungsspiel für das Estádio da Gávea, und als Flamengo es 0:2 gegen Vasco da Gama verlor, feuerte man Kürschner – und ersetzte ihn durch Flávio Costa. Da Kürschner weithin auf Unverständnis gestoßen war und sich keiner großen Beliebtheit erfreute, hätte man erwarten können, dass er nun nach Europa zurückkehrte. Da er aber in Budapest, wo Miklós Horthys Regime einen offiziellen Pakt mit Nazi-Deutschland geschlossen hatte, vermutlich Antisemitismus fürchtete, blieb er in Rio. 1939 wurde er Trainer bei Botafogo, verließ den Verein aber im darauffolgenden Jahr wieder und starb 1941 an einem mysteriösen Virus. Trotz des Argwohns, der ihm entgegengebracht wurde, hatte man ihm eine Stelle als Berater des Nationaltrainers Adhemar Pimenta bei der WM 1938 in Frankreich angeboten. Vor Turnierbeginn besuchte der damals als Zeitungsreporter tätige Tomás Mazzoni ein Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und England im Stade de Colombes in Paris. England war deutlich überlegen und gewann 4:2. Dennoch stellte Mazzoni bestürzt fest, dass sie das gesamte Match mit drei Verteidigern gespielt hätten. Derartiges würde in Brasilien niemals Schule machen, behauptete er. Doch die Zeiten änderten sich. Die Brasilianer setzten bei der WM Martim Silveira als offensiven Mittelläufer ein und zogen die beiden Halbstürmer Romeu und José Perácio in eine Position zurück, die bald als Ponta da Lança (wörtlich: „Speerspitze“) bekannt wurde. Eine solche Entwicklung hatte sich schon länger abgezeichnet, und in den späten 1930er Jahren hielten selbst die traditionellen 2-3-5-Länder eine Reihe mit fünf Stürmern für überzogen. So ließ sich Matthias Sindelar aus der vorderen Reihe zurückfallen, um den Österreichern mehr Flexibilität zu verleihen, während es in Argentinien und Uruguay für die Halbstürmer gang und gäbe war, aus der Tiefe heraus vorzustoßen. Zwar war Silveira ein weitaus offensiver denkender Spieler als Luis Monti. Davon abgesehen unterschied sich Brasiliens taktische Formation von 1938 aber kaum von der Metodo, wie sie Italien unter Pozzo praktizierte. Die taktischen Neuerungen brachten Erfolg: Brasilien erreichte das Halbfinale. In einer späteren Studie zum Turnier äußerte sich der 1969 zum Nationaltrainer ernannte Journalist João Saldanha allerdings kritisch. So kam er zu dem Schluss, dass man mit einem dritten Verteidiger weiter gekommen wäre. Schließlich kassierten die Brasilianer


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trotz allem in fünf Spielen zehn Tore, davon drei Strafstöße. Saldanha betrachtete dies als Indiz für eine in Unterzahl agierende Abwehr, die unter Druck in Panik geriet. rs

Bei Flamengo kehrte Flávio Costa nach Kürschners Entlassung nicht wie angenommen zu einem 2-3-5 zurück, sondern optimierte das W-M eher noch. Dafür schuf er etwas, das er Diagonal, also Diagonale, nannte. Dabei wurde das Quadrat im Zentrum des W-M zu einem Parallelogramm. Hierfür behielt Costa die drei Verteidiger – welche der Streitpunkt in der Auseinandersetzung mit Fausto gewesen waren – und drei Stürmer zwar bei. Gleichzeitig ließ er aber einen der beiden Außenläufer, der ursprünglich mit einem weiteren Außenläufer und zwei Innenstürmern das Quadrat gebildet hatte, tiefer spielen. Bei Flávio Costa, der dieses Konzept 1941 entwickelte, übernahm diese Position der rechte Läufer Volante (mit dem Begriff Volante beschreibt man in Brasilien heute einen defensiven Mittelfeldspieler). Links von Volante befand sich ein weiter vorn stehender Spieler – Jayme. Der rechte der beiden Halbstürmer, Zizinho, spielte dementsprechend ein wenig tiefer, um keine riesigen Räume hinter sich zu schaffen. Gleichzeitig rückte der linke Halbstürmer Perácio leicht nach vorn und damit in die klassische Rolle der Ponta da Lança. Die Aufstellung konnte mit Leichtigkeit umgedreht werden, so dass die rechte Seite offensiver war. Ondino Viera beispielsweise, der spätere Nationaltrainer Uruguays bei der WM 1966, setzte die Diagonale bei Fluminense ein, ließ dort aber den linken Läufer Spinelli defensiv agieren und Romeu die Ponta da Lança bilden. Man kann darüber streiten, wie neu die Diagonale tatsächlich war. In seinem Buch über das W-M-System schildert Cândido de Oliveira, der frühere Nationaltrainer Portugals, wie Flávio Costa später einmal von einem Vorstandsmitglied von Vasco da Gama mit nach Europa genommen wurde, um seine taktische Formation zu erläutern. Dort allerdings tat man sie lachend als eine billige Kopie des W-M-Systems ab. Vielleicht war es eher so, dass Flávio Costa einer bisher nicht diskutierten Entwicklung des W-M-Systems einfach einen Namen gab. Stets war einer der Halbstürmer kreativer als der andere und einer der Außen-


168 Flamengos Diagonal (rechte Variante) von 1941

Fluminenses Diagonal (linke Variante) von 1941

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läufer defensiver. Bernard Joy erläutert in Soccer Tactics, dass der linke Läufer Wilf Copping in den 1930er Jahren bei Arsenal London weiter hinten spielte, während man dem rechten Läufer Jack Crayston mehr Freiheiten gab. Wenn Billy Wright, Kapitän der Wolverhampton Wanderers und der englischen Nationalmannschaft in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, als Vorstopper agierte, spielte er dann nicht tiefer als Billy Crook oder Jimmy Dickinson? In The Perfect 10 argumentiert Richard Williams, dass für den linken Halbstürmer eine offensive Ausrichtung einfacher als für den rechten Halbstürmer sei. Aus diesem Grund habe auch die Nummer 10 und nicht die Nummer 8 den Heldenstatus des Spielmachers bekommen. Man kann sich leicht zynisch über Flávio Costa äußern, so wie das beispielsweise der Kommentator Alberto Helena Júnior tut. Er behauptet, dass Costa nichts anderes tat, als Kürschners System neu zu verpacken, da er nach seiner Kritik an ihm nicht einfach dessen Methoden habe weiternutzen können. Die Wirkung war allerdings beachtlich. Flávio Costas Justierungen machten deutlich, dass das W-M genauso wenig unantastbar war wie einst die Schottische Furche. Ist das Quadrat erst zum Parallelogramm geworden, ist die Raute und damit auch das 4-2-4 nicht mehr weit. Bevor es allerdings dazu kam, musste Brasilien noch durch die Höllenqualen von 1950 gehen. rs

Es ist allgemeiner Konsens, dass die Brasilianer bei der WM 1950 im eigenen Land die beste Mannschaft stellten. Gewinnen konnten sie das Turnier jedoch nicht. Sie erlitten in ihrem letzten Spiel vielmehr eine so erschütternde Niederlage, dass Nelson Rodriguez von „unserer Katastrophe, unserem Hiroshima“ sprach. Die von Flávio Costa eingeführte Diagonale hatte eine kleine Veränderung erfahren: Der eigentliche Halbstürmer Ademir lief nun als Mittelstürmer auf, der linke Halbstürmer Jair als Ponta da Lança und Zizinho als der tiefer spielende Halbstürmer. Das Resultat war ein deutlich flüssigeres, von Dreieckspässen geprägtes Spiel. Bei der siegreichen Copa América 1949 schoss Brasilien 39 Tore in sieben Spielen und nahm im Entscheidungsspiel Paraguay, das von Manuel Fleitas Solich trainiert wurde, mit 7:0 auseinander.


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Zu Beginn der WM 1950 war Zizinho zwar verletzt, Brasilien blieb aber der haushohe Favorit und wurde den Erwartungen bereits in seinem ersten Spiel gerecht. Beim Sieg gegen Mexiko, mit dem zugleich das Maracanã eingeweiht wurde, traf man nicht nur viermal das Tor, sondern zudem noch fünfmal den Pfosten. Die Probleme der Brasilianer begannen, nachdem sie für das zweite Spiel gegen die Schweiz von Rio nach São Paulo umgezogen waren. Wie damals üblich, ließ Flávio Costa als Zugeständnis an die lokalen Fans drei aus São Paulo stammende Mittelfeldspieler auflaufen. Vielleicht brachten diese Veränderungen in der Aufstellung die Mannschaft durcheinander, vielleicht war es auch die von den Schweizern favorisierte 1-3-3-3-Riegel-Taktik, jedenfalls kamen die Brasilianer zu keiner Zeit wirklich ins Spiel und mussten sich trotz zweimaliger Führung mit einem 2:2-Unentschieden begnügen. Das bedeutete, dass sie das letzte Gruppenspiel gegen Jugoslawien gewinnen mussten, um in die Finalrunde einzuziehen. Der wieder genesene Zizinho kehrte anstelle des robusten Mittelstürmers Baltazar zurück, so dass Ademir wieder in seine Rolle der beweglichen Nummer 9 schlüpfen konnte. Damit wäre eine Rückkehr zu der Mannschaft möglich gewesen, die im vorangegangenen Jahr so eindrucksvoll die Copa América gewonnen hatte. Doch durch das Unentschieden gegen die Schweiz schien Flávio Costa das Vertrauen in die Diagonale verloren zu haben, und er wechselte auf ein konservativeres W-M. Angesichts seines draufgängerischen und kombinationssicheren Offensivtrios dachte er wohl, dass seine beiden Außenverteidiger Danilo und Carlos Bauer beide weiter hinten spielen und die Verteidigung zusätzlich stabilisieren könnten. Anfangs funktionierte der Systemwechsel. Die Jugoslawen begannen zunächst mit nur zehn Spielern, weil Rajko Mitić kurz vor dem Spiel eine Kopfwunde erlitten hatte, die genäht werden musste. Als er schließlich auf den Platz kam, lag Brasilien bereits durch Ademir in Führung. Zizinho entschied dann in der zweiten Halbzeit das ansonsten enge Match. Die Jugoslawen waren körperlich robuste und technisch versierte Gegner, und nachdem man sie aus dem Turnier geworfen hatte, schien das Selbstvertrauen wiederhergestellt gewesen zu sein. In den ersten beiden Finalrundenspielen waren die Brasilianer schlicht sensationell. Ihre Kantersiege gegen Schweden (7:1) und Spanien (6:1) veranlassten Brian Glanville zu der Bemerkung, dass die Brasilianer „den Fußball


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der Zukunft [spielen] … taktisch nicht außergewöhnlich, aber technisch überragend“. Die Brasilianer mochten „taktisch nicht außergewöhnlich“ gewesen sein, aber sie waren deutlich weiter fortgeschritten als Uruguay. Dort spielte man immer noch eine Variante der Metodo Pozzos rund um den ballversierten Mittelläufer Obdulio Varela. Im ersten Spiel der Finalrunde hatte Uruguay spät zum 2:2-Unentschieden gegen Spanien ausgeglichen und im zweiten erst in der Schlussviertelstunde die zwei entscheidenden Treffer zum 3:2-Erfolg über Schweden erzielt. Im letzten Spiel hätte Brasilien bereits ein Unentschieden zum Weltmeistertitel gereicht, aber in Rio erwartete niemand etwas anderes als einen Sieg. Am Tag des Finales zeigte die Frühausgabe von O Mundo sogar ein Foto der brasilianischen Mannschaft mit der Überschrift „Das sind die Weltmeister.“ In seinem Buch O Jogo Bruto das Copas do Mundo („Das harte Spiel der Weltmeisterschaften“) erzählt Teixeira Heizer, wie Varela, der Kapitän der Uruguayer, die Zeitung am Morgen des Endspieles am Zeitungsstand seines Hotels sah und ihn das derart aufbrachte, dass er alle Exemplare aufkaufte, sie mit in sein Zimmer nahm, auf dem Boden des Badezimmers auslegte und seine Mannschaftskameraden dann dazu ermunterte, darauf zu pinkeln. Vor dem Spiel hielt Ângelo Mendes de Moraes, der Gouverneur von Rio de Janeiro, eine Ansprache, in der er begeistert ausrief: „Ihr Brasilianer, die ich euch als Sieger des Turniers sehe. … Ihr Spieler werdet in nur wenigen Stunden von Millionen eurer Landsleute als Meister gefeiert werden. … Ihr, die ihr mit niemandem in der irdischen Hemisphäre verglichen werden könnt. … Ihr, die ihr jedem Konkurrenten vollkommen überlegen seid. … Ihr, denen ich bereits jetzt als den Siegreichen die Ehre erweise.“ Flávio Costa schien der Einzige zu sein, der sich mit der Möglichkeit einer Niederlage beschäftigte. Er warnte, dass die uruguayische Mannschaft den Brasilianern schon immer das Leben schwer gemacht habe. „Ich habe Angst, dass meine Spieler am Sonntag so auf den Platz gehen, als wären sie bereits Weltmeister. Das ist kein Freundschaftsspiel. Es ist ein Spiel wie jedes andere auch, bloß schwerer.“ Dafür sorgte vor allem der Scharfsinn des uruguayischen Kapitäns Obdulio Varela. Aufgrund des Krieges in Europa hatte Uruguay zwar nicht mehr dort touren können und der Fußball rund um den


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Eine nationale Tragödie: Der uruguayische Rechtsaußen Ghiggia (ganz links) über­ rascht den brasilianischen Torwart Barbosa im entscheidenden WM-Spiel 1950.

Rio de la Plata die taktischen Weiterentwicklungen in der alten Welt verpasst. Varela hatte allerdings bei Peñarol Montevideo von seinem Trainer Imre Hirschl – dem Ungarn, der in Argentinien so sehr für Furore sorgte – neue Defensivtaktiken beigebracht bekommen. Aus den Problemen, die die Schweizer Brasilien bereitet hatten, zog Varela seine Schlüsse: Er wies den Außenverteidiger Matías González an, weit hinten, fast schon als Ausputzer, zu spielen. Gleichzeitig agierte der andere Außenverteidiger Eusebio Tejera quasi als Stopper. Die beiden Außenläufer Schubert Gambetta und Víctor Andrade wurden als Manndecker auf die brasilianischen Außenstürmer Chico und Albino Friaça angesetzt, während Varela und die beiden Halbstürmer in einem System, das Rappans 1-3-3-3 ähnelte, weiter hinten als gewöhnlich spielten. Offiziell waren an jenem Tag 173.850 Zuschauer im Maracanã. Tatsächlich waren es wohl über 200.000. Julio Pérez, Uruguays rechtem Halbstürmer bzw. rechtem Läufer in dem veränderten System, machten die Nerven derart zu schaffen, dass er sich während der Nationalhymnen in die Hose pinkelte. Brasilien kontrollierte die Frühphase des Spiels – Uruguays Taktik nahm dem brasilianischen Spiel zwar etwas den Schwung, konnte es aber nicht vollkommen neutralisieren. Doch ein Tor wollte nicht fallen. Jair traf den Pfosten, und Roque Máspoli „vollbrachte im Tor akrobatische Wunder“, so Brian Glanville. Zur


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Halbzeit aber stand es immer noch torlos Unentschieden, und die Heimmannschaft wurde immer nervöser. Im Rückblick meint man zu wissen, dass der Wendepunkt nach 28 Minuten kam, als Varela Brasiliens Linksverteidiger Bigode einen Schlag versetzte. Beide Spieler waren sich allerdings einig, dass es kaum mehr als ein Klaps war. Nach der Legende, die sich um dieses Spiel rankt, soll Bigode in diesem Moment von Furcht gepackt worden sein. Fortan galt er als Feigling, worunter er für den Rest seines Lebens zu leiden hatte. Zwei Minuten nach dem Seitenwechsel setzte ein von Ademir gespielter Ball Friaça in Szene. Er ging an Andrade vorbei und brachte Brasilien mit einem unhaltbaren Flachschuss in Führung. In der ersten Halbzeit hätte das die Urus womöglich noch demoralisiert. Doch nachdem sie so lange durchgehalten hatten, wussten sie, dass sie nicht überrannt werden würden, dass sie mit Brasilien fertig werden konnten. Ob es eine bewusste Taktik war, lässt sich nur schwer sagen, aber Uruguay griff bevorzugt über die rechte Seite an. Auf dieser Seite war Brasilien immer verwundbarer gewesen, wenn es mit der Diagonale und Danilo als vorgezogenem Außenläufer gespielt hatte. Jetzt, in einem W-M, konnte Danilo gar nicht anders, als nach vorne zu rennen, was jedoch fatale Löcher eröffnete. Schließlich agierte Bigode nun eher als klassischer Linksverteidiger und nicht in der leicht vorgezogenen Position, die er sonst eingenommen hätte. Uruguays zerbrechlicher Rechtsaußen Alcide Ghiggia hätte sich wohl niemals träumen lassen, so viel Platz zu bekommen. Die Brasilianer trennten nur noch 24 Minuten vom Sieg, als sie den ersten Rückschlag hinnehmen mussten. Varela, der das Spiel zunehmend an sich zog, stieß vor und legte den Ball nach rechts auf Ghiggia. Dieser hatte genug Platz, um zu beschleunigen, tanzte dann Bigode aus und schob quer und flach zu Juan Schiaffino, der den Ball in die kurze Ecke drosch. „Stille im Maracanã“, sagte Flávio Costa. „Das machte unseren Spielern Angst.“ Als man nach dem Spiel einen Sündenbock suchte, kamen auch die Zuschauer nicht ungeschoren davon. „Als die Spieler das Maracanã am meisten gebraucht hätten, da war das Maracanã still“, stellte der Musiker Chico Buarque fest. „Man darf sich auf ein Fußballstadion einfach nicht verlassen.“ Ein Unentschieden hätte den Brasilianern immer noch gereicht, aber der Wind hatte sich gedreht. 13 Minuten nach dem Ausgleich


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schnappte sich Ghiggia auf der rechten Seite der Uruguayer erneut den Ball. Dieses Mal war Bigode näher an ihm dran, er war aber allein, so dass Ghiggia das Leder zurück auf Pérez legen konnte. Der hatte seine Nerven längst im Griff, ließ Jair das Nachsehen und spielte hinter Bigode zurück zu Ghiggia, der sofort losstürmte. Und als Brasiliens Torwart Moacyr Barbosa wieder mit einer Flanke rechnete, hoppelte ­Ghiggias Schuss in die kurze Ecke. Das Undenkbare war geschehen, und Uruguay war an Stelle Brasiliens Weltmeister geworden. Die Republik Brasilien, die erst 1889 ausgerufen wurde, hat niemals einen Krieg auf eigenem Boden erlebt. Als Rodriguez das WM-Finale 1950 als „Hiroshima“ seines Landes bezeichnete, meinte er damit die größte Katastrophe, die Brasilien je heimgesucht hatte. In seinem Buch Anatomia de una Detorra („Anatomie einer Niederlage“), einer bemerkenswerten Nachbetrachtung des Endspiels, zitiert Paulo Perdigão den gesamten Radiokommentar der Begegnung und verwendet ihn als Grundlage seiner Spielanalyse, ganz so, als würde er eine Exegese eines biblischen Textes abliefern. Die Weltmeisterschaft 1950 sei die Krise, die in der Geschichte des Landes am meisten verklärt wurde. „[Die Niederlage gegen Uruguay] ist das Waterloo der Tropen und ihre Geschichte unsere Götterdämmerung. … Sie ist ein fabelgleicher Mythos, der im kollektiven Gedächtnis erhalten geblieben und sogar noch weiter gewachsen ist.“ Für die Niederlage machte man Bigode, Barbosa und Juvenal verantwortlich. Es war sicherlich kein Zufall, dass es ausgerechnet die drei schwarzen Spieler Brasiliens traf. 1963 lud Barbosa Freunde zu einem Grillfest ein, bei dem er seinen Dämon austreiben wollte, indem er in einer Zeremonie die Torpfosten des Maracanã verbrannte. Doch es half alles nichts. Noch 20 Jahre nach dem Endspiel soll in einem Laden eine Frau auf ihn gezeigt und ihrem kleinen Sohn erklärt haben: „Guck mal, der da. Das ist der Mann, der ganz Brasilien zum Weinen gebracht hat.“ Kurz vor seinem Tod im Jahr 2000 sagte Barbosa: „Die höchste Strafe in Brasilien sind 30 Jahre Haft. Aber ich büße nun schon 50 Jahre.“ Ja, er hatte einen Fehler gemacht, doch nach Zizinhos Meinung war die Umstellung auf das W-M-System für die Niederlage verantwortlich. „Die letzten vier Spiele der Weltmeisterschaft waren die ersten meines Lebens, in denen ich W-M spielte“, erklärte er in einem Interview mit Bellos. „Spanien spielte W-M, Schweden spielte W-M,


Jazz statt Symphonie Brasilien – Uruguay 1:2, Finalrunde der WM 1950, Maracanã, Rio de Janeiro, 16. Juli 1950.

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Jugoslawien spielte W-M. Die drei mit W-M haben wir geschlagen. Aber Uruguay spielte kein W-M. Uruguay spielte mit einem Verteidiger hinten und dem anderen vorne.“ Die Urus spielten also ein System, dessen defensive Grundausrichtung jener glich, mit der Brasilien 1919 die Copa América gewann. Während England nach jedem sportlichen Scheitern über technische Defizite lamentiert, beklagt Brasilien immer wieder die eigenen Defensivschwächen. Perdigãos Bezugnahme auf die Götterdämmerung erinnert nicht zufällig an die gleichlautende Schlagzeile des Mirror nach Englands 3:6-Niederlage gegen Ungarn. In beiden Fällen entspringt diese Wehmut der wütenden Einsicht, dass die eigene Fußballtradition nicht naturgegeben die überlegene ist. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Traditionen Brasiliens und Englands unterschiedlicher kaum sein könnten. Es gibt nun einmal keine richtige Art von Fußball. Gelegentlich zweifelt jede Fußballkultur an ihren eigenen Stärken und meint, woanders sei alles besser. In Brasilien zählte nicht mehr, dass man in sechs Spielen 22 Tore erzielt hatte, wichtig waren allein jene zwei, die man zum Schluss noch kassiert hatte. Die brasilianischen Experten waren sich darin einig, dass die Verteidigung gestärkt werden müsse, und der offensiv denkende Flávio Costa wurde durch den vorsichtigeren Zezé Moreira ersetzt. Ein französischer Journalist verglich diesen Trainerwechsel mit dem Austausch eines argentinischen Tänzers durch einen englischen Pfarrer. Bei der WM 1954 war das großartige Halbstürmertrio Geschichte, und mit Pinheiro, einem weitaus defensiveren Spieler als Juvenal, wurde ein als Stopper agierender Mittelläufer eingeführt. Brasilien überrollte zunächst Mexiko mit 5:0, spielte dann jedoch Unentschieden gegen Jugoslawien und unterlag schließlich in einem brutal geführten Viertelfinale, das als die „Schlacht von Bern“ in die Fußballgeschichte einging, den Ungarn mit 2:4. In seinem offiziellen Bericht zum Turnier schlussfolgerte João Lyra Filho, Leiter der brasilianischen Delegation, dass „glitzernde Verzierung dem Spiel einen künstlerischen Ausdruck verleiht, der jedoch auf Kosten von Ausbeute und Ergebnis geht“. Dies lastete er im Wesentlichen den schwarzen Spielern an. Glücklicherweise nahm man ihn nicht ernst, und die allgemeine Meinung stimmte mit Garrinchas Klage in Stratton Smiths Sammelband The Brazil Book of Football überein, dass


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Brasilien „die Absicht verfolgte, die WM zu gewinnen, indem man das Individuum einem Generalplan für die Mannschaft opferte. Man ging nach Europa, um wie Europäer zu spielen. … Was im brasilianischen Fußball zählte, war die Improvisationsfähigkeit unserer Spieler.“ Garrincha war nie ein Muster an taktischer Disziplin, doch auch Improvisation konnte nicht anarchisch ungebremst ablaufen. Benötigt wurde eine Struktur, in der sie gedeihen konnte, ohne die Abwehr so sehr zu entblößen, wie es dem armen Bigode widerfahren war. Interessanterweise musste man für die Lösung dieses Problems gar nicht in die Ferne schweifen, sie wurde in Brasilien bereits seit Anfang des Jahrzehnts erprobt. Wer genau allerdings das 4-2-4 erfand, wird heftig diskutiert. Assaf zufolge „hat es viele Väter“. Einige schreiben es Zezé Moreira zu, manche Fleitas Solich, andere Martim Francisco. Es gibt sogar Leute, die behaupten, dass erst Lula bei Santos dieses System in Reinform spielen ließ. Sollte jedoch Axel Vartanjan Recht haben, ist es noch nicht einmal eine brasilianische Erfindung, sondern vielmehr eine der Varianten, die Boris Arkadiew bei Dynamo Moskau zum Einsatz gebracht hatte. Tatsache ist, dass sowohl Brasilien mit der Diagonale als auch Das 4-2-4: Vila Nova 1951


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die Ungarn mit ihrem zurückgezogenen Mittelstürmer und dem entsprechend tiefer stehenden linken Läufer unabhängig voneinander den Boden bereiteten für die Entwicklung hin zum 4-2-4. Der aus Paraguay stammende Trainer Fleitas Solich hatte beim Aufstieg des 4-2-4 gewiss eine Schlüsselrolle inne, gewann er unter Einsatz dieses Systems mit Flamengo doch dreimal in Folge die Carioca. Der erste Mann, der ganz bewusst dieses System spielen ließ, scheint allerdings Martim Francisco gewesen zu sein. Er war Trainer bei Vila Nova, einem Verein aus dem gut 30 Kilometer von Belo Horizonte entfernten Städtchen Nova Lima. Francisco zog seinen linken Läufer Lito zurück, um ihn als Quarto zagueiro – als „vierten Verteidiger“ – spielen zu lassen. Dieser Begriff wird in Brasilien auch heute noch für den Abwehrspieler gebraucht, dessen Aufgabe es ist, ins Mittelfeld vorzustoßen. Von Beginn an war man sich jedoch der Tatsache bewusst, dass die zwei Mittelfeldspieler so noch immer leicht überrannt werden konnten. Folglich bekam auch ein Mann der Vierer-Angriffsreihe die Anweisung, sich zurückfallen zu lassen. In Franciscos Mannschaft war dies Rechtsaußen Osório. Das 4-2-4 war in der Praxis also fast nie in seiner eigentlichen Form anzutreffen. Bei Ballbesitz und Angriff wurde es meist zum 3-3-4, bei Ballverlust zum 4-3-3. Das System fand weithin Anwendung und erfuhr noch zwei weitere Änderungen. Zunächst führte Zezé Moreira bei Fluminense die Raumdeckung ein, was einen größeren Spielfluss erlaubte und die im W-M-System notwendige strenge Manndeckung unnötig machte, mit der man 1950 so fürchterlich gescheitert war. Als Arsenal London 1949 durch Brasilien tourte, waren die Spieler davon überrascht, dass brasilianische Mannschaften von allen Positionen her angriffen. Arsenal scheint dies gleichzeitig als Stärke wie auch als Schwäche, als Zeichen mangelnder taktischer Disziplin, betrachtet zu haben. „Mit einem Mal kam so ein Bursche durchgesaust, schoss aufs Tor, und der Ball ging daneben“, sagte Stopper Laurie Scott, als er Aidan Hamilton von Arsenals 5:1-Sieg gegen Fluminense berichtete. „Und wir fingen an, uns umzusehen, wer dafür verantwortlich zu machen war. Wir konnten es nicht herausfinden. Wir erkannten, dass es deren Stopper gewesen war. Sehen Sie, die kümmerte das nicht. Ich selbst bin nie so weit nach vorne gegangen.“ Offensive Stopper sollten im brasilianischen Fußball immer wichtiger werden. Angesichts der Räume vor den beiden Stoppern bildete das


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Pelé interpretierte die Rolle der Ponta da Lança genial, hier im WM-Finale 1958.

4-2-4 ein System, das diese zu Vorstößen einlud, während sie gleichzeitig abgesichert waren. Da nun nicht mehr Mann gegen Mann gespielt wurde, musste der „vierte Verteidiger“ auf die Vorwärtsbewegung des etatmäßigen Stoppers nicht mit einem eigenen Vorstoß reagieren, und die Mannschaft behielt weiterhin die defensive Sicherung aus drei Mann, die sie auch im W-M-System gehabt hätte. Die zweite Modifikation bestand aus der Wiedereinführung der Ponta da Lança, bei der einer der beiden Mittelstürmer sich etwas weiter nach hinten zurückfallen ließ als sein Partner und damit eine natürliche Anbindung zum Mittelfeld herstellte. Das war nicht unbedingt neu – es gab keinen Unterschied zur offensiven Rolle des Halbstürmers in der Diagonale, und Puskás hatte im ungarischen System jahrelang eine vergleichbare Funktion übernommen. Allerdings stellte sie eine Position dar, die dem Temperament des brasilianischen Fußballs perfekt entsprach. Bald sollte diese Rolle von einem dürren Teenager aus Três Corações auf geradezu geniale Weise interpretiert werden. Pelé war 16, als Lula ihn bei Santos sein Debüt feiern ließ, und nicht einmal ein Jahr später verlieh er seiner Nationalmannschaft Flügel auf dem Weg zu ihrem ersten WM-Titel. rs


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Ungeachtet aller Behauptungen Guttmanns, vermochte Honvéd Budapest, nachdem es im November 1956 in Brasilien angekommen war, dort taktisch niemanden wirklich zu überraschen. Wenn überhaupt, dann war Brasilien auf dem Weg zum 4-2-4 bereits weiter fortgeschritten als die Ungarn, auch wenn die Ähnlichkeiten in der taktischen Formation unübersehbar waren. „Im Grunde genommen bestand der einzige Unterschied zwischen der brasilianischen und ungarischen Interpretation des Systems in der Nummer, die der sich ins Mittelfeld zurückziehende Stürmer trug“, sagte Nándor Hidegkuti. „Die Brasilianer entschieden sich 1958 für den rechten Halbstürmer Didi, während sich bei Ungarn der Mittelstürmer zurückfallen ließ. In beiden Mannschaften operierte der zurückgezogene Stürmer in dem Bereich, den wir linkes Mittelfeld nennen könnten. Ebenfalls in beiden Mannschaften zog sich der linke Läufer zurück und spielte defensiver, während der rechte Läufer das Gleichgewicht im Mittelfeld bewahrte, indem er offensiver agierte.“ Es war dann auch weniger das System als die Spielweise, die von Guttmanns Einfluss profitierte. Englische Beobachter reduzierten die Aranycsapat, Ungarns „Goldene Elf “, gern auf deren technische Fähigkeiten und die Fluidität, die sich durch den zurückgezogenen Mittelstürmer ergab. Wäre das jedoch bereits alles gewesen, hätte sie sich nicht wesentlich vom österreichischen „Wunderteam“ unterschieden. Die Ungarn aber legten außerdem noch eine erfrischende Zielstrebigkeit an den Tag, die deutlich machte, dass ihr kunstvolles Spiel keineswegs Selbstzweck war. Die Ungarn wollten gewinnen – eine Einstellung, die sicherlich auch ein Vermächtnis von Jimmy Hogan war. Als der englische Fußballautor Geoffrey Green über die ungarische Mannschaft von 1953 bemerkte, sie hätte einen Mittelweg zwischen britischer Direktheit und kontinentaler Eleganz gefunden, traf er den Nagel auf den Kopf. Diejenigen Engländer, die einen Fußball mit langen Bällen befürworteten, sahen sich durch das Spiel der Ungarn bei ihrem Sieg in Wembley bestätigt: So konterten diese dort häufig, indem sie mit zwei oder drei Pässen blitzschnell von Verteidigung auf Angriff umschalteten. Es war nicht das 4-2-4 selbst, das Guttmann mit nach Brasilien brachte, sondern genau diese Zielstrebigkeit. Diesen Unterschied in der ungarischen und brasilianischen Mentalität veranschaulichte der Schriftsteller Nelson Rodrigues in einem


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Stück, in dem er Ferenc Puskás und Zizinho, immer noch Brasiliens großer Held, auftreten ließ. Beide beantworten am Schluss die Frage, welcher für sie persönlich der magischste Moment in einem Fußballspiel sei. Für Zizinho ist es die Torvorlage auf einen Mannschaftskameraden, während es für Puskás das Größte ist, selbst ein Tor zu schießen. Ein gutes, wenn auch etwas skurriles Beispiel für den mangelnden Pragmatismus im zeitgenössischen brasilianischen Fußball. 1956 spielte der FC São Paulo eine schlechte Saison. Man belegte am Ende mit sieben Punkten Rückstand auf Corinthians Platz zwei im Campeonaro Paulista. Ab 1957 war Guttmann Trainer, doch auch diese Spielzeit begann nicht eben gut. Nach der Hinrunde lag man sieben Punkte hinter den führenden Corinthians. Allmählich jedoch machte sich Guttmanns Einfluss bemerkbar. Im Training mussten seine Stürmer auf Vierecke eines Rasters schießen, das er auf eine Mauer am Trainingsgelände hatte malen lassen. Außerdem trainierte er lange Bälle auf den Mittelstürmer, die dieser auf die Außen verlängern sollte. Spielchen mit dem Ball missbilligte Guttmann. Stattdessen drillte er seine Spieler so sehr auf blitzschnelles Passspiel, dass seine Rufe „Tat-tat-tat“ und „Ping-pang-pong“ zu geflügelten Worten wurden. Alles drehte sich darum, den Ball mit Tempo weiterzugeben und Automatismen einzuüben. Am wichtigsten aber war vielleicht die Verpflichtung des damals 34-jährigen Zizinho, der bei Bangu in Rio spielte. Dieser sollte – ähnlich wie später Mário Coluna bei Benfica Lissabon – den kreativeren Part des Mittelfeldduos übernehmen, während der bisherige Spielmacher Dino Sani in die defensivere Rolle im Mittelfeld schlüpfte. „Erst da“, so sagte er, „habe ich wirklich zu spielen begonnen.“ Nachdem der FC São Paulo in jenem Jahr noch die Paulista gewonnen hatte, verschwand Guttmann in Richtung Europa. Sein Einfluss lebte aber im Wirken von Vicente Feola weiter. Feola war kaum mehr als ein durchschnittlicher Spieler gewesen. Als Trainer hatte er aber 1949 den FC São Paulo zum Gewinn der Paulista geführt. Nachdem er von dieser Position zurückgetreten war, blieb er als Guttmanns Assistent beim Verein. Seine Ernennung zum Nationaltrainer für die WM 1958 kam einigermaßen überraschend. Nach Brasiliens drittem Platz bei der Copa América 1957 hatte man Osvaldo Brandão zum Rücktritt gezwungen, aber auch seine Nachfolger Sylvio Pirillo und Pedrinho konnten


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nicht wirklich überzeugen. Einige hätten gerne Solich als neuen Nationaltrainer gesehen, doch gegen ihn sprach, dass er Paraguayer war. Also wandte sich der brasilianische Verband an Feola. Gerüchten zufolge soll er ein derart entspannter Lebemann gewesen sein, dass er während des Trainings gern mal einnickte. In seiner Biografie Garrinchas vertritt Ruy Castro jedoch die Auffassung, dass Feola aufgrund seines starken Übergewichts mit Herzproblemen zu kämpfen hatte und gelegentlich unter einem stechenden Schmerz in der Brust litt. Diesem Schmerz soll Feola begegnet sein, indem er die Augen schloss, den Kopf senkte und auf das Abklingen des Krampfes wartete. Eine von Paparazzi gefütterte, hysterische Presse deutete dies als Schlafen. Der argentinische Mittelläufer Antonio Rattín, der bei Boca Juniors unter Feola spielte, erzählte jedoch, wie er einmal tatsächlich eindöste. „Jede Trainingseinheit beschlossen wir mit einem Spielchen“, sagte er. „An einem Tag, einem sehr heißen Tag, begannen wir also mit dem Spiel und spielten und spielten. Wir warteten darauf, dass er zur Halbzeit pfiff, aber er saß einfach da. Wir sahen immer wieder zu ihm hinüber und warteten, dass er etwas tat. Also ging ich schließlich zu ihm, und da schnarchte er. Er hatte die ganze Zeit geschlafen.“ Auch wenn Feola gerne mal dem Klischee des jovialen, dicken Mannes entsprach, so war er doch nicht so pflegeleicht, wie sich der Verband erhofft hatte. Mit den Geldern, die von der Regierung Juscelino Kubitschek bereitgestellt worden waren, erlebte Brasilien 1958 die bis dahin beste WM-Vorbereitung seiner Geschichte. Die Funktionäre besichtigten 25 verschiedene Adressen in Schweden, bevor sie sich für ein Mannschaftslager entschieden. Überdies sorgten sie für die Ablösung aller weiblichen Hotelangestellten, um das Risiko potenzieller Ablenkungen zu minimieren. Man drängte sogar auf die Schließung eines am Ort gelegenen FKK-Platzes für die Dauer des Wettbewerbs, allerdings ohne Erfolg. Zum Stab gehörten ferner ein Arzt, ein Zahnarzt, ein Übungsleiter, ein Schatzmeister, ein Psychologe sowie ein Beobachter, der Informationen über Gegner sammeln sollte. Nach den ersten medizinischen Untersuchungen verschrieb der Arzt der Mehrheit des Kaders Medikamente gegen Darmparasiten, und ein Spieler musste einer Syphilis-Behandlung unterzogen werden. Der Zahnarzt war ähnlich stark beschäftigt und zog dem erweiterten, aus 33 Spielern bestehenden Kader


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insgesamt 470 Zähne. Mit diesen Maßnahmen konnte Feola gut leben. Dem Psychologen Dr. João Carvalhães hingegen begegnete er mit offener Ablehnung. Normalerweise testete Carvalhães die psychologische Eignung von Busfahrerkandidaten. Die Tests, die er mit dem Kader durchführte – unter anderem sollten sie ein Männchen zeichnen –, sorgten für Spott und Hohn. Die Ergebnisse waren faszinierend: Je instinktiver ein Spieler war, desto eher malte er ein Strichmännchen, statt sich in Details zu ergehen. Seine Schlussfolgerungen waren allerdings lachhaft. Pelé, so sagte er, sei „augenscheinlich unreif “ und besitze „nicht das für eine Mannschaftssportart notwendige Verantwortungsgefühl“. Da Garrincha gerade einmal 38 von 123 möglichen Punkten erzielte und damit noch unter dem Minimum lag, das für das Steuern von Bussen notwendig war, behauptete Carvalhães, dass er mit hohem Druck nicht umgehen könne. Feola ignorierte die Urteile des Psychologen und nahm beide Spieler mit nach Schweden. Allerdings kam keiner von beiden in Brasiliens erstem Auftritt, einem ungefährdeten 3:0-Sieg gegen Österreich, zum Einsatz. Pelé hatte sich verletzt, während Garrincha wegen arroganter Spielweise in einem Vorbereitungsmatch gegen den AC Florenz in Ungnade gefallen war: Nachdem er den Torwart umspielt hatte, entschied er, den Ball nicht ins leere Gehäuse kullern zu lassen. Stattdessen wartete er, bis der Schlussmann wieder auf den Beinen war, woraufhin er ihn ein zweites Mal bezwang und dann mit dem Ball über die Linie spazierte. Wahrscheinlich hätte Feola Garrincha trotzdem gebracht, hätte Santos nicht vor den vier starken Mittelfeldspielern in Österreichs W-M gewarnt. Auf der linken Seite konnte Feola auf Mário Zagallo bauen, der sich immer wieder zurückfallen ließ und damit quasi die Rolle Osórios einnahm. Allerdings entsprach diese Spielweise so gar nicht Garrincha, weshalb Feola stattdessen den disziplinierteren Joel von Flamengo Rio vorzog. Gegen England blieben ebenfalls beide draußen. Auch die Engländer verfügten über einen erweiterten Stab – ein Anzeichen für die weltweit wachsende Professionalisierung im Fußball. So war Tottenhams Trainer Bill Nicholson damit beauftragt worden, Brasilien zu beobachten. Er empfahl, Didi auszuschalten, nur so könne man Brasilien aufhalten. Englands Trainer Walter Winterbottom beherzigte seinen Rat


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und nahm einige taktische Veränderungen vor. Der schlaksige Don Howe, Außenverteidiger bei West Bromwich Albion, kam als zweiter Mittelläufer neben Billy Wright in die Mannschaft, während Thomas Banks und Eddie Clamp, rechter Läufer bei den Wolverhampton Wanderers, als offensive Außenverteidiger auf ihren Flügeln agierten. Bill Slater erhielt den Auftrag, Didi eng abzuschirmen. Englands System zeigte Wirkung, auch wenn Vavá einmal die Querlatte traf, Clamp auf der Linie klären musste und Colin McDonald zwei Kopfbälle von José Altafini (der in Brasilien eher als „Mazzola“ bekannt ist) mit einer Glanzparade parierte. Am Ende stand es torlos unentschieden. Damit musste Brasilien im letzten Gruppenspiel die UdSSR schlagen, um sicher unter die letzten acht zu kommen. Carvalhães nahm weitere Tests vor und bat die Spieler, aufzuzeichnen, was ihnen als Erstes durch den Kopf schoss. Bei Garrincha war das ein Kreis mit einigen davon ausgehenden Strahlen. Es sah halbwegs wie eine Sonne aus. Doch als Carvalhães fragte, was das denn sein solle, antwortete Garrincha, dass dies der Kopf von Quarentinha sei, eines Mannschaftskameraden bei Botafogo. Carvalhães sortierte ihn umgehend aus. Insgesamt hatte er aus der Elf, die schließlich gegen die Sowjets auflief, neun Spieler als ungeeignet für ein Spiel unter solch hohem Druck befunden. Glücklicherweise vertraute Feola seinem eigenen Urteil und stellte sowohl Pelé als auch Garrincha auf. „Vielleicht haben Sie ja recht“, soll Feola zu Carvalhães gesagt haben. „Aber leider verstehen Sie nichts von Fußball.“ Feola war wegen der Berichte über die hervorragende Fitness der Sowjets besorgt und plante, sie von Beginn an mit brasilianischer Finesse einzuschüchtern. „Denk dran“, sagte er unmittelbar vor dem Verlassen der Kabine zu Didi, „den ersten Pass kriegt Garrincha.“ Es dauerte knapp 20 Sekunden, da erreichte der Ball den Außenstürmer. Boris Kusnezow, der erfahrene Linksverteidiger der Sowjets, ging ihm entgegen und wollte ihn stellen. Garrincha täuschte links an und ging rechts vorbei. Kusnezow fand sich auf dem Boden wieder. Garrincha hielt kurz an und überwand ihn erneut. Und noch einmal. Und schickte ihn dann noch einmal zu Boden. Garrincha stieß weiter vor und ließ Juri Woinow hinter sich. Er flitzte in den Strafraum und feuerte aus spitzem Winkel einen Schuss ab, der gegen den Pfosten klatschte. Eine Minute später traf Pelé den Querbalken, und eine


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weitere Minute später brachte Vavá Brasilien nach Didis Steilvorlage in Führung. Gabriel Hanot bezeichnete dies einmal als die großartigsten drei Minuten Fußball, die jemals gespielt worden seien. Brasilien gewann zwar nur mit 2:0, aber die Leistung war jener, die die Brasilianer acht Jahre zuvor bei den Kantersiegen gegen Spanien und Schweden gezeigt hatten, absolut ebenbürtig. Wales leistete im Viertelfinale überraschenden Widerstand, obwohl ihnen mit John Charles verletzungsbedingt einer der wichtigsten Spieler fehlte, und verlor gerade einmal mit 0:1. Dennoch war diese brasilianische Mannschaft nicht mehr aufzuhalten. Frankreich, das durch eine Verletzung von Robert Jonquet geschwächt war, wurde im Halbfinale mit 5:2 fortgefegt, und Schweden ging im Endspiel mit dem gleichen Resultat unter. „Dieses Mal gab es keinen Zweifel“, schrieb Glanville, „dass das absolut beste … Team gewonnen hat.“ Laut Feola war der Schlüssel zum Erfolg Zagallo gewesen, dessen Spiel ein Gegengewicht zu Garrinchas wilder Brillanz darstellte. Zagallo war ursprünglich ein Halbstürmer gewesen, schulte dann aber auf Außenstürmer um, weil er erkannt hatte, dass er nur so eine Chance auf einen Platz in der Nationalmannschaft hatte. Er war ideal dafür geeignet, auf dem linken Flügel vor- und zurückzupreschen. Bei der WM 1962 spielte er schließlich so tief, dass man immer öfter von einem 4-3-3 sprach. „Den Altersfaktor mussten wir in Chile stets mit einbeziehen“, erklärte Aimoré Moreira. Er hatte Feola abgelöst, nachdem sich dessen Gesundheitszustand immer weiter verschlechtert hatte. Für die WM 1962 stellte er jedoch einen ähnlichen Kader wie sein Vorgänger zusammen. „[Das fortgeschrittene Alter der Spieler] war dafür verantwortlich, dass unsere Taktik weniger flexibel war, als manche in Erinnerung an unseren brillanten Auftritt in Schweden erwarteten. In Chile mussten wir genau gucken, was jeder Spieler für die Mannschaft leisten konnte und diese entsprechend aufstellen. Beispielsweise war Didi immer mehr ein Spieler, der gern im Mittelfeld wartete und dann den Gegnern das Zentrum zustellte. … Der schnellere und dynamischere Zito konnte dafür vor- und zurückrennen und das die vollen 90 Minuten durchhalten. Eine Position musste also vorsichtig auf die andere abgestimmt werden, weshalb wir in unseren Angriffen nicht so flexibel waren. Kompensiert wurde diese mangelnde Beweglichkeit dadurch,


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Brasilien, WM 1962

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dass die Spieler die Freiheit und das Können hatten, ihre eigene Initiative einzubringen und das Ganze zu variieren.“ In dieser Hinsicht am wichtigsten war Garrincha. Die Gegner setzten regelmäßig zwei oder drei Mann auf ihn an, er aber umspielte diese ganz einfach. Pelé konnte aufgrund einer Verletzung nur in den beiden ersten Begegnungen in Chile antreten, aber Garrincha reichte aus. Er verschoss einen Strafstoß, traf aber im Viertelfinale gegen England, das man mit 3:1 deklassierte, dennoch zweimal. Beim 4:2-Sieg gegen Chile im Halbfinale war er zwei weitere Male erfolgreich, wurde aber des Platzes verwiesen. Für das Endspiel wurde er begnadigt, ging beim 3:1 über die Tschechoslowakei aber ziemlich unter. Dennoch: Die WM 1962 war sein Turnier gewesen, der letzte Triumph des Außenstürmers, bevor man sich Mitte der 1960er Jahre seiner entledigte. In einem Beitrag in A Gazeta schrieb Mazzoni 1949: „Fußball [ist] für den Engländer eine Athletikübung, für den Brasilianer ist es ein Spiel.“ „Der Engländer betrachtet einen Spieler, der dreimal hintereinander dribbelt, als Nervensäge; der Brasilianer sieht in ihm einen Virtuosen.“ „Englischer Fußball gleicht, wenn er gut gespielt wird, einem Symphonieorchester; gut gespielt, gleicht brasilianischer Fußball einer äußerst heißen Jazzband.“ „Im englischen Fußball bewegt sich der Ball schneller als der Spieler; im brasilianischen Fußball bewegt sich der Spieler schneller als der Ball.“ „Der englische Spieler denkt, der brasilianische improvisiert.“ Niemand hat diese Unterschiede besser zum Ausdruck gebracht als Garrincha. Beim FC São Paulo hatte Guttmann einst einen Linksaußen namens Canhoteiro, den man als den linksfüßigen Garrincha ansah. „Taktik“, so sagte Guttmann einmal, nachdem Canhoteiro ihn zum wiederholten Male ignoriert hatte, „gilt für alle, nur nicht für ihn.“ Das Schöne am Spiel mit vier Verteidigern war, dass es zwar nicht auf diesen Typ Spieler ausgelegt war – wie Wiktor Maslow und Alf Ramsey bald beweisen sollten. Dafür aber schuf es eine Umgebung, in der er erfolgreich agieren konnte. Auch die restliche Welt hatte das bald verstanden, und bis zur Weltmeisterschaft 1966 war das W-M-System in der Versenkung verschwunden.


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Totaalvoetbal Von Zeit zu Zeit ist die Welt ganz einfach reif für eine Innovation. Genau wie Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz ungefähr zur gleichen Zeit unabhängig voneinander auf die Infinitesimalrechnung stießen, so kamen Rinus Michels und Walerij Lobanowskyj an den entgegengesetzten Enden Europas zu ganz ähnlichen Auffassungen, wie Fußball gespielt werden sollte. Dabei ging es vor allem um den Raum und dessen Kontrolle. Ziel war es, den Platz bei Ballbesitz in seiner ganzen Breite zu nutzen und dadurch den Ball zu halten bzw. den Raum bei gegnerischem Ballbesitz eng zu machen und es so dem Gegner zu erschweren, in Ballbesitz zu bleiben. Beide animierten ihre Spieler zu Positionsrochaden, beide bauten auf die Teamkameraden als Absicherung, und beide formten Mannschaften, die begeisterten. Ihr Fußball war eine Fortentwicklung der Passowotschka der 1940er Jahre oder der ungarischen Spielweise der 1950er Jahre, wobei man den niederländischen Stil sicherlich vor allem mit Letzterem verglich. Entscheidend für diese neue Spielweise war jedoch die aggressive Abseitsfalle, mit der Ajax Amsterdam und Dynamo Kiew spielten. Auch Pressing war wichtig, ließ sich wahrscheinlich aber erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wirklich umsetzen. Im Amateurbereich ist Pressing vollkommen unmöglich. Es ist körperlich extrem anspruchsvoll, fordert fast ständige Bewegung und damit ein Höchstmaß an Fitness. Zur Zeit von Michels und Lobanowskyj waren die Engpässe der Kriegsjahre vorbei. Die Ernährung war gut, und die Sportwissenschaften hatten – legale wie illegale – Methoden erforscht, damit die Spieler 90 Minuten ununterbrochen laufen konnten. Die Entwicklung des Fußballs dieser Zeit beruhte genauso sehr auf den größeren physischen Möglichkeiten wie auf theoretischen Fortschritten. rs


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Angesichts des freizügigen Rufs, den Amsterdam seit den 1960er Jahren genießt, kann man sich nur noch schwer vorstellen, wie es dort in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg gewesen sein muss. Dass dort revolutionäre Ideen wunderbar gedeihen können, ist aus heutiger Sicht leicht nachzuvollziehen. Damals, in den 1950er Jahren, war das noch nicht so. In seinem 1956 veröffentlichten Roman Der Fall schreibt Albert Camus davon, wie gelangweilt er von Amsterdam gewesen sei, einer Stadt, in der „Pfeifenraucher seit Jahrhunderten dem ewig gleichen Regen über dem ewig gleichen Kanal zuschauen“. Ähnlich bieder wie das Amsterdam der 1950er Jahre war der damalige niederländische Fußball. Auch wenn die Schnurrbärtchen und die viktorianische Aufmachung der ersten, anglophilen Vereine inzwischen der Vergangenheit angehörten, war die Spielweise antiquiert und die Nationalmannschaft ein schlechter Witz. Zwischen einem 4:1-Sieg gegen Finnland im Juni 1949 und einem 1:0-Erfolg gegen Belgien im April 1955 gewannen die Niederländer gerade mal zwei von 27 Länderspielen und brachten es dabei sogar fertig, zweimal gegen Norwegen zu verlieren. Als England 1948 in Huddersfield ein 8:2-Schützenfest gegen die Niederländer feierte, spielten diese immer noch ein klassisches 2-3-5, obwohl das W-M-System schon lange die Standardaufstellung in Europa war. Englands Mittelstürmer Tommy Lawton, der in diesem Spiel viermal traf, schwärmte hinterher davon, dass er „noch nie so viel Platz hatte“. Die Einführung des bezahlten Fußballs im Jahr 1954 war zwar der wichtigste Impuls für den Aufstieg des niederländischen Fußballs in den 1960er Jahren, erklärt jedoch noch nicht die Art und Weise dieses Aufstiegs. Ein wesentlicher Faktor war sicherlich, dass die Niederländer das W-M-System in ihrer Entwicklung vollständig übersprangen und so nie das Konzept einer strikten Manndeckung verinnerlicht hatten. Überdies standen ihre ersten Lehrmeister nicht unter dem Druck von Ligastrukturen – die niederländische Ehrendivision wurde erst 1956 eingeführt – und konnten deshalb befreiter arbeiten. Insbesondere britische Trainer wagten hier Experimente, die man in ihrer Heimat als hoffnungslos idealistisch verworfen hätte. So auch Jack Reynolds, der Gründungsvater des niederländischen Fußballs. Obwohl er es in seinem Leben kurzzeitig zum Spieler des Reserveteams von Manchester City gebracht hatte, war Reynolds’ Karriere als Kicker eher unspektakulär. Er wechselte von Grimsby Town über Shef-


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field Wednesday zum FC Watford. 1912 zog er in die Schweiz, wurde dort Trainer des FC St. Gallen und war eigentlich bereits als deutscher Nationaltrainer vorgesehen, als 1914 der Krieg ausbrach. Er floh in die Niederlande und erhielt 1915 seinen ersten Vertrag als Trainer bei Ajax Amsterdam. Im Verlauf der folgenden 32 Jahre sollte er in drei verschiedenen Amtszeiten insgesamt 25 Jahre bei diesem Klub tätig sein. Seine erste Trennung war Folge einer Auseinandersetzung mit dem Vorstand, und seine zweite erzwang der Zweite Weltkrieg, den er in dem Gefangenenlager des oberschlesischen Örtchens Tost, das in einer ehemaligen Irrenanstalt eingerichtet war, zubrachte. Dort hielt man ihn gemeinsam mit seinem Landsmann und Schriftsteller P.G. Wodehouse fest, den man im französischen Ferienort Le Touquet ergriffen hatte. „Nachdem einmal ein Mann von Associated Press für ein Interview zu mir gekommen war, schrieb er in seinem Artikel, dass die Irrenanstalt von Tost nicht gerade Blandings Castle [Titel und fiktiver Ort einer Buchreihe von Wodehouse] sei“, sagte Wodehouse. „Nun, natürlich war sie das nicht, aber sie war trotzdem geräumig. Man hätte problemlos eine Katze darin herumschleudern können, hätte man denn eine gehabt …“ Als Reynolds 1945 nach Amsterdam zurückkehrte, nahm er dort Rinus Michels unter seine Fittiche. Die Ähnlichkeiten bei ihrer Arbeit als Trainer sind offensichtlich. Reynolds war ein Disziplinfanatiker und glaubte an den Primat der Technik. Dementsprechend sorgte er dafür, dass seine Spieler im Training mit dem Ball arbeiteten. Zudem legte er die Grundlagen für die Jugendabteilung von Ajax und arbeitete gewöhnlich 14 Stunden am Tag, um sicherzustellen, dass sämtliche Mannschaften auf allen Ebenen die gleiche Art von Fußball spielten. Reynolds verwandelte eine zunächst unbedeutende Mannschaft in eine der führenden der Niederlande und behielt dabei gleichzeitig den Offensivgeist bei: „Für mich ist und bleibt der Angriff die beste Verteidigung.“ Die Grundlagen für den typischen Ajax-Stil waren gelegt, und Vic Buckingham, der 1959 als Trainer verpflichtet wurde, entwickelte sie weiter. Er hatte mit Arthur Rowe bei Tottenham Hotspur gespielt und ähnliche Vorstellungen von Fußball wie dieser: Bei Ballbesitz sollten vor allem durch Kurzpassspiel das Mittelfeld und gegnerische Spieler zügig überwunden werden, jeder Spieler sollte den Ball schnell weiterleiten und sich wieder Freiräume erlaufen, um anspielbar zu sein. „Im Fußball geht es um Ballbesitz, nicht um Kick-and-rush“, sagte Bucking-


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ham 1993 in einem Interview mit David Winner in dessen Buch Oranje brillant. „Lange Bälle sind zu riskant. Meistens zahlt sich intelligente Technik aus. Wenn man den Ball hat, soll man ihn behalten. Dann kann der Gegner kein Tor erzielen …“ Das ist die Basis des Kurzpass-Fußballs, von Queen’s Park in den 1870er Jahren über McWilliam und Tottenham bis hin zu Guardiola und Barcelona. Buckinghams Überzeugungen deckten sich mit denen von Ajax. „Der holländische Fußball war gut, nicht diese grobe Gewinnen-­ müssen-Mentalität“, sagte er. „Sie hatten eine andere Technik, einen anderen Intellekt, sie spielten richtigen Fußball. Das hatten sie nicht von mir, es war schon vorhanden und wartete nur darauf, geweckt zu werden. … Es ging lediglich darum, ihnen zu erklären, dass sie den Ball mehr in den eigenen Reihen halten sollten. Ich war schon immer der Ansicht, dass Ballbesitz neun Zehntel des Spiels ausmacht, und Ajax’ Spiel war auf Ballbesitz angelegt. … Ich habe sie beeinflusst, aber dann sind sie weitergegangen und haben von sich aus Sachen gemacht, die mich entzückt haben. So bewegten sie sich etwa als Pärchen auf der linken Außenbahn vorwärts, passten den Ball hin und her – einfach peng-peng-peng – über 30 Meter, spielten so zu zweit drei Verteidiger aus und schufen einen riesigen freien Raum.“ Buckingham war ein Anhänger des W-M-Systems, und mit diesem System – wenn auch in einer weitaus fluideren Form, als es damals in Großbritannien üblich war – gewann Ajax 1960 den Titel in der niederländischen Liga. Man spielte einen Offensivfußball und erzielte im Schnitt 3,2 Tore pro Match. Nach zwei Spielzeiten wechselte Buckingham zu Sheffield Wednesday. Als er 1964 zu Ajax zurückkehrte, konnte er nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Im Januar 1965 krebste man in Sichtweite der Abstiegsränge herum, und Buckingham wurde gefeuert. Neuer Trainer wurde Rinus Michels. Er hatte seine Karriere als Spieler 1958 beendet und im Anschluss Sportwissenschaft studiert. Danach unterrichtete er Turnen an einer Schule in Amsterdam, bevor er Trainer des Amateurvereins JOS Amsterdam wurde. Schließlich kehrte er zu dem Klub zurück, bei dem er den größten Teil seiner Laufbahn als Spieler verbracht hatte: Ajax Amsterdam. Wie Lobanowskyj war auch Michels als Trainer ganz anders als in seiner Rolle als Spieler. Der Spieler Michels war nach den Worten Winners „auf dem Platz ein unbekümmerter Künstler und jenseits davon ein zu Streichen aufgelegter


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Lausbub“ gewesen. Als Trainer war „das Wichtigste für ihn jetzt Disziplin“, wie sich sein langjähriger Assistent bei Ajax, Bobby Haarms, erinnert. „Fanatische Disziplin. Selbst mit seinen Trainerassistenten ging er um wie ein Dompteur mit seinen Tieren.“ In seiner ersten Saison hielt Michels Ajax in der Liga, in der darauffolgenden gewann man sie. Auch wenn Ajax damals schon einen attraktiven und flüssigen Fußball spielte, war von Totaalvoetbal, totalem Fußball, noch keine Rede. Mit Sicherheit hatte Michels damals auch noch keinen konkreten Plan, wie er Fußball spielen lassen wollte. „Am Anfang hat man keine genauen Vorstellungen von den Zielen, die man anstrebt“, sagte er. Den Abstieg zu verhindern hatte zunächst oberste Priorität. „Dafür musste ich den Teamgeist und die taktische Ausrichtung der Mannschaft verbessern“, erklärte er. „Die taktische Schulung und die Entwicklung der mannschaftlichen Geschlossenheit gingen natürlich immer weiter.“ Michels änderte die Grundausrichtung des Trainings und stellte die Ballarbeit noch mehr in den Mittelpunkt als seinerzeit Reynolds. Auf diese Weise schulte er die technischen Fertigkeiten, die zum absoluten Schlüsselelement des Fußballs von Ajax werden sollten. Außerdem sorgte er für professionellere Strukturen im Verein. Am Ende seiner zweiten kompletten Saison war schließlich jeder Spieler seiner Truppe Vollprofi und konnte sich voll und ganz seinem Trainingsplan widmen. In taktischer Hinsicht bestand Michels’ erste Veränderung in der Abkehr vom W-M-System zugunsten eines 4-2-4, in dem Piet Keizer, Johan Cruyff, Sjaak Swart und Henk Groot vorne und der kampfstarke Bennie Muller neben dem technisch stärkeren Klaas Nuninga im Mittelfeld spielten. Für sich genommen war das noch nicht besonders radikal. Eher entsprach es einem Trend, der in den Jahren nach der WM 1958 ganz Europa erfasste. Doch es lag eine gewisse Radikalität in der Luft. Das Amsterdam der 1960er Jahre war, wie sich der britische Anarchist Charles Radcliffe ausdrückte, „die Hauptstadt der Jugendrevolte“. Die Errichtung eines Sozialstaates, die nach dem Krieg erfolgt war, und der wachsende Wohlstand Europas hatten wie anderswo auch zu einem Verschwimmen der traditionellen gesellschaftlichen Trennlinien geführt. Kunst und Kultur wurden zunehmend avantgardistisch, und im Dezember 1962 erlebte Amsterdam mit dem Improstück Open het graf


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(„Öffnet das Grab“) des Dichters Simon Vinkenoog sein erstes „Happening“. Darin wurde verkündet, dass „der Sieg über die alten Strukturen im magischen Zentrum Amsterdam seinen Anfang nimmt“. Mitte der 1960er Jahre herrschte in Amsterdam eine geradezu surreale anarchistische Atmosphäre. Die ganz in Weiß gekleideten Provos hielten regelmäßig Anti-Massenkonsum-Demonstrationen ab. Am bekanntesten ist ihre Reaktion auf die Hochzeit von Prinzessin Beatrix mit Claus von Amsberg, einem deutschen Aristokraten und ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, die 1966 stattfand. Die Provos kündigten an, die Zeremonie stören zu wollen. Daraufhin kursierten wilde Gerüchte, wie man dies zu tun gedachte. Es hieß, man wolle LSD in die Wasserleitungen geben. Außerdem sollte Löwenmist auf den Straßen verteilt werden, damit die Pferde vor den Hochzeitskutschen aufschreckten. Schließlich sollte noch Lachgas durch die Orgelpfeifen in die Kirche gepumpt werden. Am Ende wurden lediglich ein paar Rauchbomben in der Raadhuisstraad gezündet. Das reichte allerdings bereits. Die Polizei drehte durch und ging mit Schlagstöcken auf die Protestierenden los. Zwar war es auch vorher schon zu ähnlichen Zwischenfällen gekommen, nicht aber in diesem Maße und niemals live im öffentlichen Fernsehen. Die Zuschauer waren entsetzt. Als dann drei Monate darauf noch ein Streik für ein jährliches Urlaubsgeld zu weiteren Ausschreitungen führte, änderte sich schließlich auch die Stimmung der breiten Masse. Eine Untersuchung der Krawalle führte zur Entlassung des Bürgermeisters und des Polizeichefs. Zugleich entschied die Obrigkeit, dass der beste Umgang mit der Jugendrevolte ganz einfach ihre Tolerierung sei. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich der Damplein in ein Lager ausländischer Hippies, und die Amsterdamer Polizei erwarb sich den Ruf, die entspannteste in ganz Europa zu sein. Es ist kein Zufall, dass John Lennon und Yoko Ono im Amsterdamer Hilton ihre Hochzeit mit einem einwöchigen „Bed-in“ feierten. Die meisten Spieler aus Michels’ Mannschaft bei Ajax bestreiten zwar eine Verbindung zwischen der kulturellen und der fußballerischen Revolution. Man kann allerdings Winner bei seinem Fazit, dass es sie eben doch gebe, kaum widersprechen – auch wenn die Verbindung womöglich nur in der Haltung bestand, Althergebrachtes in Frage zu stellen.


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Im Mittelpunkt stand dabei Johan Cruyff, der schon zu dieser Zeit der offensichtliche Leitwolf der Mannschaft war. Er war jung, spielte revolutionär und kümmerte sich nicht darum, seinem Wert entsprechend bezahlt zu werden – was für sich genommen bereits ein Ergebnis der neuen klassenlosen Gesellschaft darstellte. Solcherart wurde er zu einer Ikone der wachsenden niederländischen Jugendbewegung jener Zeit. Karel Gabler, der ehemalige Jugendtrainer von Ajax, verglich ihn in dieser Hinsicht gar mit John Lennon. In einem Artikel, der anlässlich des 50. Geburtstags von Cruyff in der Zeitschrift Hard Gras erschien, schrieb der Journalist Hubert Smeets, dass „Cruyff der erste Spieler war, der begriff, dass er ein Künstler war, und der erste, der in der Lage und willens war, die Kunst des Sports zu kollektivieren“. Cruyff war kein Provo – dafür war seine Einstellung in Dingen wie Familienwerten zu konservativ. Und doch teilte er mit den Provos eine unbequeme, anarchische Haltung sowie eine Lust an der Provokation des Establishments. Beispielsweise weigerte er sich, bei der WM 1974 die drei Streifen von Adidas auf seinem Trikot zu tragen, hatte er doch einen Exklusiv-Vertrag mit Puma. Daraufhin ließ Adidas für Cruyff ein Trikot mit nur zwei Streifen anfertigen. Smeets weiter: „Die Holländer sind am besten, wenn sie ein System mit individueller Kreativität kombinieren können. Johan Cruyff ist einer der wichtigsten Repräsentanten dieser Idee. Er hat dieses Land nach dem Krieg geschaffen. Ich glaube, er war der Einzige, der die Sixties wirklich kapiert hat.“ Individualität innerhalb eines Systems – diese Vorstellung sei charakteristisch für die Niederlande jener Zeit, behauptet David Winner. Der strukturalistische niederländische Architekt Aldo van Eyck schrieb beispielsweise, dass „alle Systeme … so miteinander harmonisiert werden [sollten], dass ihre kombinierte Wirkung und Interaktion als die eines komplexen Systems wahrgenommen werden kann.“ Auch wenn er sich damit speziell auf Architektur bezog, hätte er damit doch auch genauso gut den Fußball von Michels’ Ajax beschreiben können. Der Begriff Totaalvoetbal selbst wurde erst als Reaktion auf die Leistungen der Nationalmannschaft bei der WM 1974 geschaffen, aber die Vorsilbe „totaal“ hatte bereits in einer Reihe verschiedener Disziplinen Verwendung gefunden. Ein weiterer niederländischer Architekt, J.B. Bakema, der für die einflussreiche Zeitschrift Forum schrieb, sprach von „totaler Urbanisierung“, „totaler Umwelt“ und „totaler Energie“.


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Johan Cruyff, die Ikone des Totaalvoetbal, im Zweikampf mit Bayern Münchens Paul Breitner im Europapokal der Landesmeister 1972/73.

In einem 1974 gehaltenen Vortrag sagte er: „Um die Dinge zu verstehen, muss man die Beziehung zwischen den Dingen verstehen. … Ursprünglich war das höchste Abbild gegenseitiger Beziehungen durch das Wort ‚Gott‘ ausgedrückt, und dem Menschen wurde gestattet, sich die Erde und das gesamte Universum unter der Bedingung untertan zu machen, dass er Sorge für das trug, was er nutzte. Wir aber müssen diese Art des Sorgetragens und Respektierens an unsere Zeit anpassen, weil die Menschheit sich aufgrund ihrer Erkenntnis dem Phänomen einer Wechselbeziehung angenähert hat, die sich Verhältnis der Atome nennt. Die Menschheit wurde sich bewusst, Teil eines totalen Systems von Energie zu sein.“ Das galt nicht nur für die Architektur jener Zeit und eine Reihe weiterer Disziplinen – z. B. die literarische Theorie und Semiotik von Roland Barthes, die anthropologische Theorie von Claude Lévi-Strauss oder die psychoanalytische Theorie von Jacques Lacan –, sondern auch für den Fußball. Im Modell von Ajax leiteten sich die Bedeutung und der Stellenwert der Spieler aus ihrer Wechselbeziehung mit anderen Spielern ab. Die Annahme, dass dies nicht ohne einen schwindenden religiösen Glauben möglich gewesen wäre, geht möglicherweise einen theoretischen Schritt zu weit. Doch erneut lässt sich eine Verbindung zwischen dem niederländischen Fußball und dem intellektuellen Zeitgeist nur schwer bestreiten – und es ist ein hübscher Zufall, dass mit


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Ajax Amsterdam und Dynamo Kiew die beiden wichtigsten Vertreter des Offensivgeistes den Niederlanden und der UdSSR entsprangen, den beiden wohl säkularsten Gesellschaften jener Zeit. Die ersten Anzeichen dafür, dass bei Ajax etwas Besonderes im Werden begriffen war, gab es 1966, als der FC Liverpool in der zweiten Runde des Landesmeisterpokals im Stadion De Meer mit 1:5 unter die Räder kam. Dieses Ergebnis kam zunächst dermaßen überraschend, dass die Prahlerei von Liverpools Trainer Bill Shankly, man würde dann eben zu Hause an der Anfield Road 7:0 gewinnen, tatsächlich ernst genommen wurde. Zwei Tore von Cruyff verhalfen Ajax im Rückspiel jedoch zu einem komfortablen 2:2-Unentschieden. Im Viertelfinale gegen Dukla Prag wurden Ajax’ Schwächen aber offenbar, als auf ein 1:1-Unentschieden im Stadion De Meer eine 1:2-Niederlage in der Tschechoslowakei folgte. Daraufhin zeigte Michels zum ersten Mal seine unbarmherzige Seite. Tonny Pronk, der im Rückspiel einen Strafstoß verursacht hatte, wurde aus der Verteidigung ins Mittelfeld versetzt. Ajax’ Kapitän und Vorstopper Frits Soetekouw, der ein Eigentor geschossen hatte, wurde sogar an den PSV Eindhoven verkauft. Auch wenn Ajax später vor allem wegen seines Offensivgeistes berühmt wurde, so baute Michels seine Mannschaft doch von der Abwehr her auf. Dafür holte er als Ersatz für Soetekouw, der neben Barry Hulshoff gespielt hatte, den erfahrenen Libero Velibor Vasović von Partizan Belgrad. Ajax gewann zwischen 1966 und 1970 viermal die Meisterschaft und erreichte 1969 das Endspiel des Landesmeisterpokals, das jedoch gegen AC Mailand verloren ging. Zuvor hatte Ajax im Viertelfinale gegen Benfica Lissabon eine 1:3-Niederlage im Hinspiel zu Hause durch ein 3:1 im Rückspiel ausgeglichen, so dass es zu einem Entscheidungsspiel in Paris kam. Dass dorthin 40.000 Fans mitreisten, zeigt, wie beliebt Ajax inzwischen bei den Niederländern geworden war. Zu diesem Zeitpunkt bestand das System immer noch aus einem modifizierten 4-2-4, bei dem Vasović sich sowohl hinter die übrigen Verteidiger fallen ließ als auch vorpreschte, um dem Mittelfeld einen dritten Mann zu verschaffen. Allerdings konnte Ajax im Zentrum immer noch in Unterzahl geraten. Arsenals Trainer Bertie Mee bezeichnete die Niederländer gar als „amateurhaft“, nachdem seine Schützlinge im Halbfinale des Messepokals 1970 Ajax in Highbury mit 3:0 besiegt hatten. Ajax strahlte einen Idealismus aus, der an Naivität


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grenzte. Noch im selben Monat spielte man 3:3 unentschieden gegen Feyenoord Rotterdam. Daraufhin kam Michels zu demselben Schluss wie Brasilien acht Jahre zuvor und ein wenig später Wiktor Maslow und Alf Ramsey: Mit vier Angreifern zu spielen, machte es deutlich schwerer, Bälle zurückzuerobern. Feyenoord selbst befand sich unter Ernst Happel auf dem besten Weg zum Gewinn des Landesmeisterpokals. Happel hatte bei der WM 1954 für die österreichische Nationalmannschaft gespielt, die damals den dritten Platz erreichte und das letzte Team war, das relativ erfolgreich einen offensiven Mittelläufer eingesetzt hatte. Happel allerdings war kein Nostalgiker und hatte den Schritt zum 4-3-3 bereits vollzogen. Rinus Israël agierte als grimmiger Ausputzer, während die kreativen Aufgaben im Mittelfeld Wim van Hanegem zufielen. Flankiert wurde er dabei vom Österreicher Franz Hasil und von Wim Jansen. Auf dem linken Flügel erzeugte der pfeilschnelle Coen Moulijn zusätzlichen Angriffsschub. „Michels war ein Experte darin, vor einem Spiel eine Taktik auszutüfteln und seine Spieler physisch und mental auf das Match vorzubereiten. Happel dagegen konnte ein Spiel ausgezeichnet sezieren“, erklärte Theo van Duivenbode, der bei der Niederlage im Endspiel des Landesmeisterpokals 1969 gegen den AC Mailand als linker Verteidiger bei Ajax gespielt hatte. Danach war er an Feyenoord verkauft worden, weil Michels ihn als zu unsolide beurteilte. „Er erkannte die Dinge derart schnell, dass er häufig schon nach ein paar Spielminuten Änderungen von der Bank vornahm. Happel hatte bei Feyenoord nicht die herausragenden Spieler, die Michels bei Ajax zur Verfügung standen. Also beschäftigte er sich mehr mit taktischen Details und legte mehr Wert auf Teamwork.“ Feyenoord spielte aber keineswegs langweilig, sondern lediglich einen etwas weniger fluiden Fußball als Ajax. Michels überzeugte dieses Unentschieden, und Ajax’ 4-2-4 wurde ein 4-3-3. Wann immer möglich, preschte Vasović weiterhin nach vorne, um ein 3-4-3 zu erzeugen. Dann konnten sich immer noch zwei Manndecker um die beiden gegnerischen Mittelstürmer kümmern. Außerdem gab es noch einen freien Mann als Reserve. „Ich habe als letzter Mann in der Abwehr gespielt, [als] Libero“, sagte Vasović. „Michels hat den Plan eines sehr offensiven Fußballs entworfen. Wir haben darüber diskutiert. Ich war zusammen mit Michels der Architekt dieser sehr aggressiven Verteidigung.“


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Vasović war nie ein Mann, der sein Licht unter den Scheffel stellte, und seine Behauptungen sollten mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Gewiss aber hatte er als ein Verteidiger, der aus der Abwehrreihe vorstieß und so zu einem zusätzlichen Mittelfeldspieler wurde, eine Pionierrolle inne. Dieses Konzept wurde in Form von Liberos wie Horst Blankenburg, Arie Haan (in der späteren Phase seiner Karriere) und Danny Blind zu einer Konstante des niederländischen Fußballs. In Kombination mit Pressing ergab sich daraus eine äußerst effektive Waffe. Das Pressing bei Ajax rührte hauptsächlich aus Johan Neeskens’ Aggressivität her. Gewöhnlich hatte er den Auftrag, sich um den gegnerischen Spielmacher zu kümmern. Haarms erinnerten seine Verfolgungsjagden, die oftmals tief in den gegnerischen Raum reichten, an einen „Kamikaze-Piloten“. Zunächst blieben dafür andere Spieler von Ajax weiter hinten, seit den frühen 1970er Jahren aber folgten sie Neeskens. Im Ergebnis spielten sie mit einer sehr hoch agierenden Abwehrreihe und machten so den Raum für den Gegner ziemlich eng. Das war zwar riskant, aber Vasović war sehr versiert darin, die gegnerischen Stürmer ins Abseits laufen zu lassen, indem er einen Schritt nach vorne machte. Brasiliens Kapitän und Vorstopper Marinho Peres hatte bei der 0:2-Niederlage gegen die Niederlande bei der WM 1974 die Spielweise der Oranjes bereits kennengelernt. Dennoch hatte er 1974 nach seinem Wechsel zum FC Barcelona, der damals von Michels trainiert wurde und bei dem inzwischen auch Cruyff und Neeskens spielten, große Eingewöhnungsschwierigkeiten. „In Brasilien wären Abwehrspieler nie so weit aufgerückt“, sagte er. „Als ich nach Barcelona kam, wollte Michels die Vorstopper aufrücken lassen, um eine Abseitslinie herzustellen. In Brasilien war sie als die Esellinie bekannt: Die Leute hielten sie für dämlich, weil der Stürmer beim Vorbeigehen an einem Verteidiger auch an allen anderen vorbeigehen konnte.“ Seit der Copa América 1919 galt im brasilianischen Fußball: Wenn ein Abwehrspieler zum Ball geht, lässt sich ein anderer als Deckung zurückfallen. Dieser Grundsatz lebte auch im Konzept des Quarto Zagueiro, das Lito bei Villa Nova entwickelte, fort. „Cruyff sagte mir, dass Holland gegen die technisch hochversierten Brasilianer oder Argentinier auf einem so großen Platz nicht ankommen konnte“, fuhr Marinho fort. „Die holländischen Spieler sahen zu, dass sie den Raum verkleinerten. Die gesamte Logik der Abseitsfalle


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ergibt sich aus dem Engmachen des Spiels. Das war brandneu für mich. In Brasilien dachten die Leute, dass man den Ball hinüberlupfen, jemand vorbeilaufen und so die Abseitsfalle außer Gefecht setzen könnte. Aber so läuft das nicht, weil man nicht die Zeit dazu hat.“ Das Pressing hatte indessen eine Doppelfunktion: Es ging nicht nur darum, den Gegner zu frustrieren. Marinho erinnerte sich: „In einer Trainingseinheit ging ich vor, und wir ließen vier oder fünf Spieler ins Abseits laufen. Ich freute mich, weil das alles noch neu für mich war und ich es schwierig fand, aber Michels kam zu mir und schrie mich an. Er wollte nämlich von uns, dass wir daraufhin den ballführenden Kerl attackierten, weil beim Gegner durch die Abseitsposition Männer aus dem Spiel waren und wir dadurch mehr freie Männer hatten. Genau so wird Abseits zum Offensivfußball. Wenn wir aus einer solchen Balleroberung keine Chance machen konnten, zogen sich die Abwehrleute wieder zurück und machten den Platz größer. Es ging immer nur um Räume.“ Winner stellt in Oranje brillant die Theorie auf, dass die Niederländer deshalb so gut mit Räumen umgehen konnten, weil sie aufgrund ihrer flachen und regelmäßig überschwemmten Landschaft stets dazu gezwungen waren, innovativ und kreativ mit Raum umzugehen. Mehr als die Hälfte des Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels und konnte der Natur nur durch ausgeklügelte Deichsysteme abgerungen werden. Das klingt überzeugend. Und genau wie die Wiener KaffeehausSchriftsteller eine Verbindung zwischen Sindelars Genialität und ihrem eigenen literarischen Werk sahen, scheint es kein großartiger Sprung zu sein, eine Verbindung zwischen der präzisen und eiskalten Brillanz eines Dennis Bergkamp und der eines, sagen wir mal, Piet Mondrian zu erkennen. Totaalvoetbal, wie er von Ajax Amsterdam und später auch der Nationalmannschaft gespielt wurde, scheint aber weniger das Ergebnis theoretischer Planungen als eines natürlichen Prozesses gewesen zu sein. Buckingham erwähnte einmal, wie die Spieler von Ajax schon zu seiner Zeit „Instinktfußball“ spielten, wie er es nannte: „Sie fanden sich gegenseitig blind. Sie hatten einen Rhythmus, in dem sie das Spiel von links nach rechts verlagerten und dabei auch noch 30 Meter Raum gewannen, immer in Ballbesitz.“ Diese intelligenten Fußballer spielten eben oft und lange genug miteinander, um schließlich „Instinktfußball“ praktizieren


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zu können. „Wenn ich sah, dass Suurbier nach vorne ging, wusste ich, dass ich mich zurückfallen lassen musste“, sagte Swart. „Das musste mir keiner sagen. Und nach zwei Jahren wussten alle, was sie zu tun hatten.“ Zu behaupten, der niederländische Stil hätte sich nur zufällig ergeben, würde der Rolle von Cruyff und Michels jedoch nicht gerecht, auch wenn diese keine Visionäre wie Lobanowskyj waren. Vielmehr reagierte man auf die Verhältnisse auf dem Platz. Die blitzschnellen Positionsrochaden beispielsweise, die zum Markenzeichen von Ajax werden sollten, waren ursprünglich als Mittel erdacht worden, um die dichten Defensivreihen zu knacken, mit denen die Gegner den Angriffsfußball von Ajax zu bekämpfen versuchten. In gewisser Weise war dies die Lektion, die man aus Celtic Glasgows Sieg gegen Inter Mailand im Endspiel des Landesmeisterpokals 1967 gelernt hatte: Massive Verteidigungen überwand man am besten durch massive Angriffe. Das bedeutete, dass die Verteidiger aufrückten, um Angriffsoptionen aus der Tiefe heraus zu schaffen. „Im vierten oder fünften Jahr versuchte ich, Richtlinien zu entwickeln, mit denen wir diese Mauern überraschen konnten“, sagte Michels. „Ich musste Mittelfeldspieler und Abwehrspieler in den Spielaufbau und den Angriff einbauen. Das sagt sich leicht, ist aber schwer umzusetzen. Dabei ist es gar nicht das Schwierigste, einem Verteidiger beizubringen, sich in die Offensive einzuschalten – weil ihm das Spaß macht –, sondern jemanden zu finden, der für ihn nach hinten absichert. Wenn die Spieler schließlich die Beweglichkeit entwickelt haben, denkt jeder, der das variable Positionsspiel einer solchen Mannschaft sieht: ‚Da kann ich auch mitmachen, das ist doch ganz einfach.‘ Dann hat man die Spitze erreicht, den Höhepunkt der Entwicklung.“ Der Wechsel zum 4-3-3 erleichterte das Ganze tendenziell noch, weil dieses System das Spielfeld längs in drei Teile unterteilte. Da die Positionswechsel meist entweder entlang einer der Außenbahnen oder im Mittelfeld stattfanden, konnten sich die Akteure nun relativ leicht mit den Kollegen auf der gleichen Seite abstimmen. Suurbier, Haan und Swart rochierten auf Rechts, Vasović (bzw. Blankenburg oder Hulshoff), Neeskens und Cruyff im Zentrum sowie Ruud Krol, Gerrie Mühren und Keizer auf Links. „Die Leute erkannten nicht, dass wir manche Dinge einfach automatisch machten“, sagte Hulshoff. „Das kommt, wenn man lange zusammenspielt. Fußball ist immer am besten, wenn er instink-


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tiv ist. Wir sind in diese Spielweise hineingewachsen. Total Football bedeutet, dass ein Angreifer in der Verteidigung spielen kann – er kann es, mehr nicht. … Man schafft Raum, man stößt in den freien Raum. Wenn der Ball nicht kommt, räumt man die Position wieder, und ein anderer Spieler rückt nach.“ Das Revolutionäre daran war, dass die Positionen längs statt quer getauscht wurden. In Boris ArkaRinus Michels, der Erfinder des diews Mannschaft bei Dynamo Totaalvoetbal. Moskau waren die Außen in die Mitte gezogen, und die Halbstürmer hatten auf den Flügeln gespielt. Die Abwehr-, Mittelfeld- und Angriffsreihen waren dabei personell im Großen und Ganzen unverändert geblieben. Durch das Zurückziehen ihres Mittelstürmers und das tiefe Positionsspiel des linken Läufers hatten die großen Ungarn die Reihen jedoch verwischt. Mit dem 4-2-4 waren dann offensiv ausgerichtete Außenverteidiger entstanden. Nie zuvor aber waren die Positionen derart radikal rochiert worden wie bei Michels’ Ajax. Möglich gemacht wurde dies durch das Pressing. Mit einem Mal machte es nichts mehr aus, wenn hinter dem Feldspieler, der am weitesten hinten stand, noch 40 Meter Platz waren. Denn wenn ein Gegner den Ball bekam, wurde er sofort attackiert, so dass er kaum noch in der Lage war, einen akkuraten Pass zu schlagen. „Wir konnten 60 Minuten Pressing spielen“, sagte Swart. „Ich habe nie einen anderen Verein gesehen, der das konnte.“ Nach ein paar Jahren konnte Lobanowskyjs Dynamo Kiew das wohl sicherlich auch, aber ansonsten konnte da tatsächlich niemand mithalten. Das wirft die Frage auf, wie diese beiden Mannschaften ein solch kräfteraubendes Spiel so lange durchhielten. Sowohl Ajax als auch Dynamo legten großen Wert auf die körperliche Vorbereitung und arbeiteten mit Ernährungs- und Trainingsplänen. Beide sahen sich allerdings auch nach pharmazeutischen Mitteln um. In einem Interview mit der Zeitschrift Vrij Nederland im Jahr 1973 erzählte Hulshoff, dass man ihm sechs Jahre zuvor vor einem Spiel


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gegen Real Madrid Medikamente gegeben habe: „Wir nahmen die Pillen zusammen mit etwas ein, was wir Schokoladenstreusel nannten“, sagte er. „Ich weiß nicht, was das war, aber man fühlte sich bärenstark und kam nicht außer Atem. Zu den Nachteilen gehörte, dass der Mund ganz trocken wurde, so dass ich nach 35 Minuten würgen musste.“ Salo Müller, Ajax’ Masseur von 1959 bis 1972, berichtete in seiner 2006 veröffentlichten Autobiografie Ähnliches. Er enthüllte, dass sowohl Hulshoff als auch Johnny Rep zu ihm gekommen seien, weil sie sich wegen der Pillen, die ihnen der Vereinsarzt John Rollink verabreichte, sorgten. Nach und nach sammelte Müller die von Rollink verteilten Pillen von weiteren Sportlern ein und ließ sie analysieren. „Die Ergebnisse waren keine Überraschung für mich“, schrieb er. „Sie reichten von Schmerzmitteln, Muskelentspannungsmitteln und Beruhigungspillen bis hin zu Amphetaminkapseln.“ Rollink war schon vor seinem Engagement bei Ajax aufgefallen. Der erste Dopingskandal im niederländischen Sport ereignete sich während der Olympischen Spiele 1960 in Rom, als eine Schwimmerin aus der Tasche einer Mannschaftskameradin zwei Rezepte entwendete und der Presse übergab. Ein Arzt sagte, dass das eine davon auf Doping hinweise und das andere wahrscheinlich Teil einer medikamentösen Behandlung sei. Auf einem der Rezepte befand sich Rollinks Unterschrift. Als schließlich Dopingkontrollen eingeführt wurden, trat er aus dem niederländischen Radsportverband aus. Zudem sagte er, dass Ajax die Zusammenarbeit verweigert hätte, wenn im niederländischen Fußball Dopingkontrollen eingeführt worden wären. Er gab sogar zu, selbst Amphetamine zu nehmen, wenn er lange arbeitete. Auch wenn dem systematischen Doping in den Ostblockstaaten die größte Aufmerksamkeit zuteil wurde, muss man feststellen, dass sie damit nicht alleine waren. rs

Michels mochte der Vater des Totaalvoetbal gewesen sein. Tatsächlich erlebte Ajax die größten Erfolge aber erst, nachdem er sich 1971 gen Barcelona verabschiedet hatte. Nach Michels’ Weggang soll Ajax 15 Kandidaten für seine Nachfolge im Visier gehabt haben. Am Ende machte es mit Ştefan Kovács der preiswerteste. Er war Rumäne ungari-


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scher Abstammung und hatte in seiner vierjährigen Amtszeit bei Steaua Bukarest einen Meistertitel und drei rumänische Pokalsiege geholt. In den Niederlanden aber war er vollkommen unbekannt, obwohl er während seiner Spielerkarriere auch einen kurzen Abstecher zum belgischen Team von Olympique Charleroi gemacht hatte. Kein Wunder, dass er zunächst mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Skepsis empfangen wurde. Und auch er schien ob seiner Berufung überrascht: Es heißt, er habe sich noch in Rumänien eine Rückfahrkarte von Amsterdam besorgt, weil er selbst nicht recht glauben konnte, dass sein Aufenthalt von langer Dauer sein würde. „Was halten Sie von unserer Haarlänge?“, soll ein Spieler Kovács während der ersten Trainingseinheit gefragt haben. Vermutlich sah er nach den harten Tagen unter „General“ Michels ein leichtes Opfer in Kovács. „Man hat mich als Trainer eingestellt, nicht als Friseur“, habe Kovács geantwortet. Als er einige Minuten später an der Grundlinie stand, zischte auf Kniehöhe ein Ball auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung fing Kovács ihn ab und spielte ihn zurück. Er hatte den Test bestanden. Die Fragen bezüglich seines Temperaments sollten allerdings nie verstummen. „[Kovács] war ein sehr guter Trainer“, sagte Gerrie Mühren, „aber er war zu nett. Rinus Michels war professioneller. Er war für totale Disziplin, sehr streng und alle auf gleicher Höhe. Im ersten Jahr unter Kovács haben wir dann sogar noch besser gespielt, weil wir gute Spieler waren und nun die Freiheit hatten, unsere eigenen Phantasien auf dem Feld umzusetzen. Aber danach kam uns die Disziplin abhanden, und es war vorbei. … Wenn wir die Mannschaft zusammengehalten hätten, hätten wir acht Jahre lang Europas Champions sein können.“ Das mag sein. Aber vielleicht wäre die Mannschaft auch aufgrund der Chemie, die zwischen den Spielern herrschte, auseinandergefallen. Aus Vertrautheit wächst häufig Uneinigkeit. So gab es in der Kabine von Ajax oft Streitereien. Andere glaubten dagegen, dass es nach dem strengen Michels notwendig war, die Zügel wieder lockerzulassen. „Die Spieler hatten die Nase voll von Michels’ Härte und Disziplin“, meinte Rep. In ähnlicher Weise war ja auch der FC Liverpool aufgeblüht, nachdem der kumpelhafte Bob Paisley den groben Bill Shankly abgelöst hatte. Mit Sicherheit lief es bei Ajax 1971/72 am besten, als Kovács Vasović durch Blankenburg ersetzte und Letzteren sowie Suurbier und Krol zu


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Vorstößen ermunterte – in dem sicheren Wissen, dass Neeskens, Haan und Mühren sich als Absicherung nach hinten fallen lassen konnten. Vasović selbst betonte immer wieder, dass Kovács Bedeutung sehr gering war. „Alle, die sagen, Total Football hätte mit Kovacs angefangen, liegen falsch“, sagte Vasović kurz vor seinem Tod im Jahr 2002. „Kovács hatte gar nichts damit zu tun. Er hat eine sehr gute Mannschaft übernommen, den Europapokalsieger, und hat sie einfach so weiterspielen lassen.“ Kovács’ Fürsprecher hielten jedoch dagegen, dass es für einen Trainer mitunter nichts Schwierigeres gäbe, als sich zurückzulehnen und nichts zu tun. Kovács wurde stets von Zweifeln geplagt. Seine Bilanz war hervorragend: In seinen zwei Spielzeiten bei Ajax holte er zwei Landesmeisterpokale, einen Weltpokal, zwei europäische Supercups, zwei niederländische Meisterschaften und einen niederländischen Pokal. Und doch hatte man immer das Gefühl, er sei nur ein Interimstrainer. Kurz nachdem Ajax durch ein torloses Unentschieden bei Benfica Lissabon im April 1972 zum zweiten Mal in Folge in das Finale um den Europapokal der Landesmeister eingezogen war, hielt der Vorstand eine Krisensitzung ab und beschloss seine Entlassung. Zu diesem Zeitpunkt führte Ajax die Liga mit fünf Punkten Vorsprung an, hatte gerade erst Feyenoord in Rotterdam mit 5:1 abgefertigt und das niederländische Pokalfinale erreicht. Der knappe Triumph über den portugiesischen Meister – 1:0 im Hinspiel, 0:0 in Lissabon – schien vielen jedoch nicht zu reichen. Zudem gab es immer wieder Gerüchte über Undiszipliniertheiten, und Co-Trainer Han Grijzenhout und Teamarzt Rollink machten dem Vorstand gegenüber Andeutungen, dass Kovács die Kontrolle über seine Truppe verloren habe. Doch die Spieler zeigten sich loyal gegenüber ihrem Trainer. Sie begehrten auf, und Kovács blieb. „Die Ergebnisse zeigen, dass Kovács richtig lag“, sagte Cruyff. „Unsere Mannschaft war weit genug, sich an den Entscheidungen zu beteiligen.“ Im Halbfinale gegen Benfica mochte man nicht überzeugt haben, doch der 2:0-Erfolg im Finale gegen Inter Mailand, zu dem Cruyff beide Tore beisteuerte, war ein Beleg für die Überlegenheit von Ajax’ Methode und gab dem Catenaccio alter Schule den Rest. „Ajax bewies, dass kreative Offensive das eigentliche Lebenselixier des Fußballs ist, dass absolute Defensive ausgetrickst und ausmanövriert werden kann, und … machte so die Schatten der letzten


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Nacht ein wenig heller“, hieß es am darauffolgenden Morgen im Bericht der Londoner Times. Im folgenden Jahr gewann Ajax erneut den Landesmeisterpokal und war damit die erste Mannschaft seit Real Madrid, der das dreimal in Folge gelang. Ausgerechnet Real Madrid war dann auch der Halbfinalgegner, nachdem man Bayern München im Hinspiel des Viertelfinales mit 4:0 weggeschossen hatte. Ajax gewann das Hinspiel zu Hause 2:1 und das Rückspiel mit 1:0 – Ergebnisse, mit denen Real Madrid noch gut bedient war. Unvergesslich, wie Mühren während des Rückspiels im Bernabéu den Ball jonglierte, voller Arroganz und Lebensfreude zugleich, ganz im Geist von Kovács’ Ajax. „Ich wusste, dass ich [den Ball] zu Krol spielen würde, brauchte jedoch noch ein bisschen Zeit, bis er auf meiner Höhe war“, erinnert sich Mühren. „Also habe ich mit dem Ball jongliert. So etwas kann man nicht planen. Man denkt nicht darüber nach. Man macht es einfach. Ja, es war ein Ausdruck von Überlegenheit. Aber es war auch der Moment, in dem Ajax und Real die Position getauscht haben. Vorher war es immer das große Real Madrid und das kleine Ajax. Als die Leute mich mit dem Ball haben jonglieren sahen, haben sich die Gewichte verschoben. Die Spieler von Real Madrid haben mir zugeschaut. Sie hätten beinahe applaudiert. Das ganze Stadion hat sich erhoben. Es war der Moment, in dem Ajax die Macht übernommen hat.“ Im Finale in Belgrad schlug Ajax Juventus Turin mit 1:0 – sicherlich einer der klarsten Siege aller Zeiten mit nur einem Tor Unterschied. Nachdem man in der vierten Minute in Führung gegangen war, verhöhnte Ajax die Italiener mit ewigen Ballstafetten geradezu. Ein Jahr darauf versuchte es die niederländische Nationalmannschaft im WM-Finale nach einer Führung in der ersten Minute auf die gleiche Weise und verlor gegen die Bundesrepublik Deutschland. Winner weist auf die demokratischen Strukturen bei Ajax hin: „Nie wieder wurde eine große Fußballmannschaft so sehr wie eine Kooperative geführt.“ Doch ohne Zweifel gab es in dieser Mannschaft eine zentrale Figur. „Cruyff hatte großen Einfluss“, sagte Haarms, „besonders, als er älter wurde und mehr und mehr mit anderen Spielern über die Taktik redete.“ Kovács stand Cruyff zwar nahe, ließ sich aber nicht vollständig von ihm einschüchtern. Es heißt, dass sich Cruyff einmal vor einem Spiel über Schmerzen im Knie beklagte. Im Wissen um den


318 Ajax Amsterdam â€“ Juventus Turin 1:0, Endspiel im Europapokal der Landesmeister, 30. Mai 1973, Marakana, Belgrad.

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Ruf seines Kapitäns, dem Geld nicht abgeneigt zu sein, nahm Kovács eine 1.000-Gulden-Banknote und massierte damit die betroffene Stelle. Cruyff bestätigte lächelnd, dass er sich nun besser fühle, und spielte dann ohne irgendwelche Anzeichen einer Verletzung. Doch letzten Endes war Kovács nicht taff genug. Wo sich bei Paisley unter der abgewetzten Strickjacke eine gewisse Unbarmherzigkeit verbarg, scheint Kovács zu nett gewesen zu sein. Ihm fehlte die Härte, um Cruyff in die Schranken zu weisen, als dieser in Kovács zweiter Saison zunehmend an Einfluss gewann. Rep beschuldigt Kovács, „nicht die Eier [gehabt] zu haben“, ihn auf die Position von Swart zu befördern, bis Cruyff schließlich seine Einwilligung gab. Es dauerte nicht lange, da begannen die Spieler Cruyff seinen Einfluss übel zu nehmen. Nach seinem zweiten Erfolg im Landesmeisterpokal ging Kovács und wurde Nationaltrainer Frankreichs. Als sein Nachfolger George Knobel über den Mannschaftskapitän für die Saison 1973/74 abstimmen ließ, wurde Cruyff abgewählt und Piet Keizer zum neuen Kapitän ernannt. Cruyff spielte nur noch zweimal für Ajax und wechselte dann zum FC Barcelona. Die Mannschaft zerfiel nun zusehends. Knobel wurde 1974 gefeuert, nachdem er kurz zuvor ein Zeitungsinterview gegeben hatte, in dem er seine Spieler der Sauferei und der Frauengeschichten bezichtigte. Kovács Karriere erreichte in der Folge nie wieder dieselben Höhen. In der Qualifikation zur Europameisterschaft 1976 gelang ihm mit der französischen Nationalmannschaft gerade einmal ein Sieg, woraufhin er durch Michel Hidalgo ersetzt wurde. Anschließend wurde er rumänischer Nationaltrainer und scheiterte nur knapp an der Qualifikation für die WM 1982. Dennoch nahm seine Amtszeit ein trauriges Ende. Das kommunistische Regime bezichtigte ihn nämlich in geradezu grotesker Weise, absichtlich ein Spiel gegen Ungarn verloren zu haben. „Wir müssen anerkennen, dass Ajax sein großes Werk gewesen ist – eines der größten im Fußball überhaupt“, sagte der altgediente rumänische Vereinstrainer Florin Halagian einmal. Das Paradoxe daran war, dass Kovács dadurch, dass er dieser Mannschaft die Freiheiten gab, ihren Zenit zu erreichen, gleichzeitig auch zum Wegbereiter ihrer Zerstörung wurde. Totaalvoetbal aber lebte einstweilen beim FC Barcelona unter Rinus Michels fort.


Warum spielen die Engländer so gern Kick-and-rush? Wer erfand den Totaalvoetbal? Und warum hasst ausgerechnet Pep Guardiola Tiki-Taka? In seiner fesselnden Geschichte der Fußballtaktik durchleuchtet Jonathan Wilson die Entwicklung des Spiels: von den chaotischen Anfängen in England bis zum Hochgeschwindigkeitsspiel von heute. Dabei erinnert er an große Trainer und Spieler, die immer wieder den Fußball revolutionierten und ihm mit Innovationen wie dem „W-M-System“, dem „Riegel“ und der „Raute“ völlig neue Dimensionen eröffneten. In dieser überarbeiteten und erweiterten Neuauflage hat Wilson seine Darstellung nun um die taktischen Entwicklungen der letzten 20 Jahre speziell in Deutschland ergänzt: von Ralf Rangnick über Jürgen Klopp bis Julian Nagelsmann. „Ein Meilenstein zur Fußballtaktik.“ 11Freunde „Fußballexpertentum, bei dem man wirklich etwas Interessantes erfährt.“ Süddeutsche Zeitung „Das Standardwerk schlechthin. Jeder, der sich nur ein klein bisschen für Fußballtaktik interessiert, muss dieses Buch lesen.“ Spielverlagerung.de

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