Ausgespielt? – Leseprobe

Page 1

? T L E I P S E G S U A

VERLAG DIE WERKSTATT

S S BA U F N SCHE T U E DES D E S I R DIE K

LLS

Dietrich Schulze-Marmeling


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0455-4 Copyright © 2019 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: CPI, Leck Umschlagfoto: Imago sportfoto ISBN 978-3-7307-0449-3


Inhalt

Prolog

....................................................................

7

Vorwort

Deutsche Zustände

.....................................................

9

Kapitel 1

Die Europameisterschaft 2016: Schwächelnde Offensive

...........

15

Kapitel 2

Die Weltmeisterschaft 2018: In 270 Minuten in die „Krise“ . . . . . . . . 37 Kapitel 3

Die dritte Halbzeit, ein Neuanfang und eine Fußballkultur-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 EXKURS

Fußball, Frosch und Körpersprache (Bernd-M. Beyer)

................

93

Kapitel 4

Die Bundesliga: Top-Liga oder „nur“ Ausbildungs-Liga? . . . . . . . . . . . 97 Kapitel 5

Probleme in der Ausbildung: Zu viel Stress, zu wenig Geduld, zu wenig Spiel? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 EXKURS

Straßenfußball – das Geheimnis der Millionen-Stars vom Bolzplatz (Christian Dobrick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Kapitel 6

Beobachtungen vom Spielfeldrand: Fußball in der deutschen Wohlstandsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219



Prolog „Eine gewisse Bolzplatz-Mentalität ist abhandengekommen, aber für Kinder ist Spielen, Dribbeln, Ausprobieren ganz entscheidend.“ Meikel Schönweitz, Sportlicher Leiter aller Jugendnationalmannschaften des DFB

„Das Beste am Straßenfußball waren die fehlenden Erwachsenen.“ Hermann Hummels, ehemals Jugendtrainer beim FC Bayern München

„Wer ab und zu beim Training spanischer Jugendteams vorbeischaut und diese Eindrücke mit denen von deutschen Übungsplätzen abgleicht, braucht kein Fußballdiplom, um zu erkennen: Dort geht es freudvoller und fantasievoller zu als hier. Dort wird Fußball noch als Spiel begriffen und weniger als heiliger Ernst. Wir Deutschen brauchen ja nicht nur im Fachbereich Fußball mehr Mut zum Spaß.“ Jan-Christian Müller in der „Frankfurter Rundschau“

„Im Moment kommen auf jeden Deutschen, ehrlich gesagt, zwei interessante Franzosen, zwei interessante Engländer und Spanier sowieso.“ Michael Zorc, Sportdirektor bei Borussia Dortmund

„Es müssen alle bereit sein, etwas zu ändern. Wir haben generell nicht mehr fünf, sechs Talente eines jeden Jahrgangs, sondern es sind noch ein, zwei.“ Stefan Kuntz, Trainer der U21-Nationalmannschaft

„Im Fußball sollte man stets nach Innovation und positiver Veränderung streben, unabhängig vom aktuellen Erfolg oder Misserfolg.“ Matthias Kohler, Cruyff Football

„Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung. Stillstand ist Rückschritt.“ Norbert Elgert, U19-Trainer beim FC Schalke 04 7



VORWORT

Deutsche Zustände

Als die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 2018 bereits in der Vorrunde ausschied, versetzte dies ein ganzes Land in helle Aufregung. Nicht nur „Fußball-Deutschland“ war schockiert bis empört. Nein, auch Menschen, die sich für das Spiel nur peripher oder gar nicht interessieren, nahmen Anteil. Wutbürgertum und Populismus wechselten vom Feld der Politik auf das des Fußballs, wo beide schon immer zu Hause waren. Nicht mehr nur die Bundeskanzlerin musste weg, sondern auch der Bundestrainer. In einer fußballerisierten Gesellschaft wurde Jogi Löw zur Angela Merkel des deutschen Fußballs, Angela Merkel zum Jogi Löw der Bundesregierung. Und Mesut Özil wurde das „Deutschtum“ abgesprochen. In einer Mail an den Autor wurde kategorisch gefordert: „Merkel weg! Löw weg! Özil weg!“ In der „Frankfurter Rundschau“ kommentierte Harry Nutt diese geifernde „Weg, Weg!“-Mentalität treffend: „ Aus, aus, aus. Seine Zeit ist um. Das sagt fast jeder. (…) Selbst Menschen, die sich nicht für Fußball interessieren, sehen das so, obwohl es ihnen eigentlich egal ist. Es lässt sich ungeschützt behaupten, und es gilt als eine Art Selbstbeweis unbedingter Gegenwärtigkeit, ganz genau zu wissen, was an der Zeit ist und was nicht.“ Der apodiktische Ton, in dem festgestellt wird, dass jemandes Zeit abgelaufen ist, habe etwas Herrisches. Wer das vorzeitige Ende von Merkel und Löw in scharfer Diktion herbeirufe, betrachte sich als „Part eines Tuns, durch das man in den Genuss eines revolutionären Grundrauschens zu kommen vermag. Indem man die Zeit eines anderen für abgelaufen erklärt, wirft man sich in diese Pose eines Agitators, der sich durch bloße Meinungsbekundung auf die richtige Seite begibt und als jemand inszeniert, der in der Lage ist, über das Schicksal anderer zu entscheiden. Eine machtvolle Geste, die meist doch nur die eigenen Unterlegenheitsgefühle kompensiert.“ 9


Das Gefühl von der abgelaufenen Zeit habe derzeit Konjunktur. Die lustvollen Abgesänge auf dies und das und diesen oder jenen sollten allerdings nicht verwechselt werden mit der Idee, die der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter unter dem Begriff der schöpferischen Zerstörung zusammengefasst habe: „Schumpeter verwies auf die durch die kapitalistische Dynamik erzeugten Zerstörungsprozesse, die nicht selten Platz schafften für neue Kombinationen. Heute wird man indes den Eindruck nicht los, dass zwar viel von Dämmerung und Zeiten die Rede ist, die vorbei sind. Aber nur selten wird erkennbar, dass sich dahinter etwas Neues auftut, das mit dem Adjektiv schöpferisch zu bezeichnen wäre. Wer die Zeit eines anderen für beendet erklärt, ist darum bemüht, im Gespräch zu bleiben, hat aber meist selbst keine Idee.“ Diese Erfahrung machte der Autor nach der WM häufig. Die Pose des Kritikers, der hinterher schon alles vorher gewusst hatte, war weit verbreitet. Und was in der Diskussion über den Bundestrainer völlig übersehen wurde: Löw hatte einige der Probleme, die in Russland evident wurden, bereits in den Jahren zwischen den Weltturnieren wiederholt angesprochen. Vor allem aber lassen sich die Probleme des deutschen Fußballs nicht auf die Person des Bundestrainers, falsche Mannschaftsaufstellungen etc. reduzieren. Sie liegen tiefer und außerhalb des Löw’schen Wirkungsfeldes. Die „Früher war alles besser“- und „Wir waren die Größten“-Tiraden einiger Ex-Profis wie Mario Basler helfen nicht weiter. Sie sind weder dazu in der Lage, eine Arbeit zu goutieren, die immerhin bei den vergangenen drei WM-Turnieren zu einem Titel und zwei dritten Plätzen geführt hat. Noch können sie aufzeigen, worin eine Kurskorrektur genau bestehen sollte. Im Titel des Buches ist von einer Krise des deutschen Fußballs die Rede. Ich habe mich mit diesem Begriff schwergetan, weil man damit Gefahr läuft, Probleme und Defizite im hiesigen Spiel zu dramatisieren. Mit Hysterie und dem Bashing einzelner Verantwortlicher bekommt man aber nicht zu fassen, was es tatsächlich zu korrigieren oder weiterentwickeln gilt. Im Duden liest man über den Begriff „Krise“ u. a., er bedeute eine „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung dar10


stellt“. Ob es sich um einen Wendepunkt handelt, könne aber oft erst konstatiert werden, nachdem die Krise abgewendet oder beendet wurde. „Nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf, so spricht man von einer Katastrophe (wörtlich in etwa ‚Niedergang‘).“ Ob wir es im deutschen Fußball tatsächlich mit einer handfesten Krise zu tun haben, möglicherweise bereits im Übergang zu einer Katastrophe, möge der Leser nach dem Studium dieses Buches selber beurteilen. Fußball bietet ein ideales Spielfeld für eine aufgewühlte und aus der Hüfte schießende Gesellschaft – auch, weil der Ausgang eines Spiels von so vielen Zufällen abhängt. Kein Sport ist so ungerecht wie der Fußball. Nach dem Abpfiff wird ein Spiel häufig rein vom Ergebnis her diskutiert. Viele Dinge, die sich in den 90 Minuten ereignet haben, fallen dabei unter den Tisch. Was dazu verführt, aus dem Spiel falsche Schlüsse zu ziehen. Bei der WM 1982 unterliegt Brasilien dem späteren Weltmeister Italien 2:3. Die vielleicht beste Seleção aller Zeiten muss frühzeitig nach Hause fahren. Socrates, der Kopf dieser fantastischen Mannschaft, kann nicht verstehen, warum man verloren hat. „Wenn wir Fehler gemacht hätten, wäre es leichter, die Niederlage zu erklären. Aber ich sehe nicht, dass wir Fehler gemacht haben.“ Johan Cruyff kürt Socrates, Zico, Leandro und Co. zum „moralischen Champion“. Das Ergebnis hat Folgen, die weit über die vorzeitige Heimreise hinausgehen. Für Zico stirbt der Fußball an diesem sonnigen Abend in Barcelona. Für Socrates ist die Niederlage ein „vernichtender Schlag“ gegen die brasilianische Spielweise. Das Ergebnis stärkt diejenigen, für die beim Fußball allein das Ergebnis von Bedeutung ist. Es scheint so, als habe der Ausgang eines einzigen Spiels ein ultimatives Urteil darüber gefällt, wie wir das Spiel zu spielen haben. Die Folge: dröge Jahre auf dem Rasen. Bei der WM 2018 unterliegt Deutschland Südkorea mit 0:2. Die Nation konstatiert eine tiefe Krise, ja den Untergang. Zumindest aber das Ende des sogenannten „Ballbesitzfußballs“, mit dem Spanien und Deutschland in den Jahren 2008 bis 2014 die EM- und WM-Turniere dominiert hatten – spielerisch wie von den Ergebnissen her. In Kasan hätte es aber bei genauer Betrachtung auch anders laufen können. Was auch für die 0:1-Niederlage gegen Mexiko gilt. Das Löw-Team hätte 11


leicht weiterkommen können, auch ohne ein wirklich gutes Spiel abzuliefern. (Trotzdem hat man beide Spiele verdient verloren.) Vier Jahre zuvor besiegte Deutschland den fünffachen Weltmeister und WM-Gastgeber Brasilien mit 7:1. Was vermutlich nicht am Tag davor und auch nicht am Tag danach passiert wäre. Vielleicht 2:0 oder 3:1 – aber nicht 7:1. Die Nation konstatierte: Wir sind on top of the world! Nicht nur heute, sondern auch noch morgen! Der größte Fehler, den der DFB im Vorfeld der WM beging, war ein propagandistischer: die Ausrufung der schwachsinnigen Kampagne vom „fünften Stern“. Ich habe mich darum bemüht, die Entwicklung seit dem WM-Titel von 2014 möglichst nüchtern zu kommentieren, eine möglichst emotionslose Bestandsaufnahme „deutscher Zustände“ vorzunehmen. Das heißt: Ich habe auch versucht, gegen den Populismus, das Wutbürgertum und die Hysterie im hiesigen Fußball anzuschreiben. Dass ich eine bestimmte Form von Fußball lieber mag als eine andere – ich bevorzuge das Spiel mit dem Ball und nicht das ohne –, wird dabei nicht verschwiegen. Einen relativ großen Raum nimmt in diesem Buch die Diskussion um die Ausbildung ein. Dieses Thema bildet auch ein bisschen den roten Faden des Buches. Denn die Probleme, die man im Spiel der DFB-Elf bei der EM 2016 und WM 2018 beobachten konnte, aber auch in der Bundesliga (u. a. fehlende „Dribbler“), haben ihre Ursachen auch in der Ausbildung. Nicht umsonst schaut man nun wieder verstärkt nach Frankreich. Dabei geht es mir mitnichten darum, die Politik der DFB-Stützpunktsysteme und der Nachwuchsleistungszentren für grundsätzlich falsch und gescheitert zu erklären. Sowohl Nationalmannschaft wie Bundesliga haben enorm von ihnen profitiert. Was die Stützpunkte anbelangt, so muss man sogar sagen: auch die Niederungen des Amateurfußballs. Es geht um Korrekturen, Richtungsänderungen und Ergänzungen. Oder, wie es Martin Kohler von Cruyff Football formuliert: „Im Fußball sollte man stets nach Innovation und positiver Veränderung streben, unabhängig vom aktuellen Erfolg oder Misserfolg.“ Das Ganze unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass das soziale und kulturelle Milieu, in dem hierzulande Fußball gespielt wird, mit dem des neuen Weltmeisters Frankreich nicht identisch ist. Last but not least widme ich mich bedenklichen Entwicklungen an der 12


Basis, die auch ein Spiegelbild von Fehlentwicklungen in unserer fußballerisierten Gesellschaft sind. Denn Basis ist wichtig: Guter Fußball wächst wie gute Kultur von unten. 

Bei folgenden Personen möchte ich mich bedanken: ss Martin Krauss, dessen Gedanken in das dritte Kapitel einflossen, in dem es u. a. um den hiesigen „Fußball-Kulturkampf “ geht. Martin und ich hatten über dieses Thema bereits für die „tageszeitung“ geschrieben. ss Christian Dobrick, der in diesem Buch auch mit einem eigenen Beitrag vertreten ist. Seine Texte auf der Seite „talentkritiker.de“ kann ich nur wärmstens empfehlen. ss Peter Hyballa für viele Debatten über Nachwuchsfußball als Erwachsenenfußball, Defizite und notwendige Kurswechsel in der Ausbildung, ss Hermann Hummels für ein ausführliches Telefonat, ss Kieran Schulze-Marmeling für viele Debatten rund um die Nationalmannschaft und ihre Turniere, die Trainer Löw und Guardiola etc. In den Kapiteln eins und zwei finden sich viele seiner Gedanken und Beobachtungen wieder. Martin Kohler (Cruyff Football) bereicherte mein Wissen über Johan Cruyffs Ausbildungsphilosophie und ihre Relevanz für die aktuellen Diskussionen. Mit Norbert Elgert sprach ich anlässlich meiner Recherchen zu einem Buch über Manuel Neuer. Die Art und Weise, wie er Fachwissen mit Pädagogik und Menschenführung verbindet, hat mich sehr beeindruckt. Lars Mrosko verkörpert etwas, was uns im heutigen Fußball manchmal abgeht – Bodenständigkeit und Leidenschaft. Ich interviewte ihn für den Werkstatt-Blog. Der letzte Dank gebührt wie immer Bernd-M. Beyer – für Anregungen, Kritiken und das Lektorat. Dietrich Schulze-Marmeling

13



KAPITEL 1

Die Europameisterschaft 2016: Schwächelnde Offensive

Mitte der 2010er Jahre hatte der deutsche Fußball international den Gipfel erreicht. Zunächst war 2013 das Finale der Champions League zum ersten Mal eine rein deutsche Angelegenheit. Im Londoner Wembleystadion schlug Bayern München Borussia Dortmund mit 2:1 und holte damit zum fünften Mal den Henkelpott. Und ein Jahr später gewann die deutsche Nationalelf zum vierten Mal den WM-Titel. Der Triumph von Rio erschien als logischer Höhepunkt einer Entwicklung, die 2004 mit der Übernahme der DFB-Elf durch Jürgen Klinsmann und Joachim „Jogi“ Löw begonnen hatte. Bei den WM-Turnieren 2006 und 2010 war man bereits Dritter geworden, und bei der EM 2008 Zweiter. Dem Turnier in Brasilien war eine enttäuschende EM 2012 vorausgegangen, als man im Halbfinale Italien mit 1:2 unterlag – zu wenig für die gewachsenen Ansprüche, zumal die Niederlage klarer ausgefallen war, als das Ergebnis es andeutete. Aus der Perspektive des WM-Gewinns 2014 erschien dies aber nur als vorübergehendes Zwischentief, verursacht durch einige personelle und taktische Fehlentscheidungen des Bundestrainers im Spiel gegen die Squadra Azzurra. Nach Rio 2014 genoss der deutsche Fußball weltweit Bewunderung. Im Ausland erzählte man von der „deutschen Fußballschule“. Fast so, wie über 40 Jahre früher (und noch lange danach) von der niederländischen Fußballschule geschwärmt wurde. Nach dem Gewinn des WM-Titels sollte die Nationalmannschaft auch noch Europameister werden – so, wie es Frankreich 2000 und Spanien 2012 gelungen war. Doch daraus wurde nichts. Vielmehr begann bei der EM 2016 der Abstieg vom Fußballgipfel, der in Russland mit einem Crash endete. 15


Um dies besser zu verstehen, soll zunächst der Titelgewinn von Rio näher betrachtet werden.

Überschätzt: der Triumph von Rio 2014 wurde die deutsche Nationalelf verdient Weltmeister. Aber ein Durchmarsch war es nicht. In der Vorrunde startete man mit einem furiosen 4:0 gegen Portugal, aber anschließend stotterte der Motor erst einmal: Einem 2:2-Remis gegen Ghana (nach 1:2-Rückstand) folgte ein knappes (aber verdientes) 1:0 gegen die USA. Gegen Algerien drohte im Achtelfinale das Aus, das letztendlich ein überragender Manuel Neuer verhinderte (2:1 n.V.). Im Viertelfinale wurde Frankreich mit 1:0 besiegt, woran Deutschlands Nummer eins erneut einen entscheidenden Anteil hatte. Trotzdem ging das Ergebnis in Ordnung. Im Halbfinale folgte das legendäre 7:1 über Gastgeber Brasilien. Die damalige Seleção besaß allerdings weniger individuelle Klasse als viele ihrer Vorgänger, zumal gegen Deutschland auch noch „Superstar“ Neymar und mit Thiago Silva der wichtigste Abwehrspieler ausfielen. Im Finale schließlich behielt die DFB-Elf gegen Argentinien nach 120 Minuten mit 1:0 die Oberhand, hätte aber auch verlieren können, wie Philipp Lahm später gegenüber dem Magazin „11 Freunde“ gestand: „Argentinien hatte drei Riesenmöglichkeiten, in Führung zu gehen, und wir in der regulären Spielzeit eine.“ Aus dem Turnier konnte man also nicht den Schluss ziehen: Deutschland wird den Weltfußball über die nächsten Jahre dominieren. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Kampagne auf das zauberhafte 7:1 gegen Brasilien reduziert. Ein Spiel, in dem aus deutscher Sicht alles stimmte, auch und gerade die Dramaturgie. Nach weniger als einer halben Stunde stand es bereits 5:0, weil fast jeder Schuss ein Treffer war. Ein Spiel, wie es in 100 Jahren halt nur einmal passiert. Die Bedeutung des Triumphes von Rio wurde überschätzt – wie schon 24 Jahre zuvor der Triumph von Rom 1990, dem eine magere Europameisterschaft und ein fast schon peinlicher Auftritt bei der WM 1994 in den USA folgten. Die DFB-Elf beendete die EM 1992 zwar als Vize-Europameister, wurde aber in der Gruppenphase von den Niederländern vorgeführt und unterlag im Finale dem Underdog Dänemark, der ohne Vorbereitung in das Turnier eingestiegen war. Bei der 16


WM scheiterte man im Viertelfinale an Bulgarien. Mit einer Mannschaft, die im Vor-Turnier-Vergleich mit ihren Konkurrenten besser abschnitt als die von 2018. Anders als die WM 2018 war das Turnier von 1994 tatsächlich eine vertane Chance. Mehmet Scholl, ein Kritiker von Jogi Löw, behauptete später, Deutschland sei 2014 nur Weltmeister geworden, weil der Bundestrainer nach dem Achtelfinale seinem Beraterstab nicht mehr vertraut und das unsinnige Spiel mit vier Innenverteidigern aufgegeben habe. Tatsächlich war Löw ein exzellenter Manager seines Personals. Was Löw bis einschließlich des Achtelfinals spielen ließ, war nicht zuletzt den personellen Umständen geschuldet. Er besaß bis auf Philipp Lahm keinen Außenverteidiger von internationaler Klasse. Lahm wurde aber zunächst im defensiven Mittelfeld benötigt, da weder Sami Khedira noch Bastian Schweinsteiger zu Beginn des Turniers fit waren. (Lahms Einsatz auf der „Sechs“ wurde vielfach kritisiert. Allerdings war dies seine Lieblingsposition. Außerdem hatte ihn dort bereits sein Klubtrainer Pep Guardiola spielen lassen, der Lahms Potenzial auf der Position des Außenverteidigers verschwendet sah. Beim FC Bayern hatte Lahm bewiesen, dass er alle Voraussetzungen für die Position des „Sechsers“ mitbrachte: Spielintelligenz, strategisches Geschick, sauberes Passspiel und Pressingresistenz.) Wären Khedira und Schweinsteiger gemeinsam aufgelaufen, hätte im Verlauf der ersten Spiele eine Doppel-Auswechselung gedroht. Der Bundestrainer spielte auf Zeit. Beim Auftakt gegen Portugal begann die DFB-Elf mit nur einem „Sechser“ – oder einem echten und zwei „halben“. Die „echte Sechs“ war Lahm, Khedira und Toni Kroos spielten rechts bzw. links davor. So sollte vermieden werden, dass Khedira zu viel und in entscheidende Zweikämpfe geriet. Die Konsequenz war, dass die Abwehrkette nun aus vier Innenverteidigern bestand: In der Mitte verteidigten Mats Hummels und Per Mertesacker, auf den Außenpositionen Jérome Boateng (rechts) und Benedikt Höwedes (links). Als gelernter Innenverteidiger konnte Höwedes kaum für Angriffsschwung sorgen. Worunter insbesondere Mesut Özils Spiel litt, der gerne zentral gespielt hätte, wo Löw aber ausreichend Alternativen hatte. So musste Özil auf der linken Seite stürmen, wo ihm – aufgrund der fehlenden Unterstützung von Höwedes – häufig nur die Aufgabe 17


blieb, den Ball zu halten. Erst im Viertelfinale gegen Frankreich konnte Löw sowohl Khedira wie Schweinsteiger von Beginn an aufbieten. Lahm rückte nun auf die Position des rechten Außenverteidigers, Boateng von dort nach innen. Taktik besteht nicht nur darin, die Stärken des Gegners zu eliminieren und seine eigenen Stärken zum Tragen zu bringen. Taktik besteht auch darin, die eigenen Schwächen zu kaschieren. Dies war Löw in den ersten vier Spielen der WM 2014 gelungen.

Taktisch gut durch die EM 2016 Wenn man die Taktik bei Turnieren betrachtet, muss man die Ansprüche niedriger setzen als beim hochkarätigen Klubfußball. Die Taktikwechsel, die bei einem WM- oder EM-Turnier durch die Nationaltrainer vorgenommen werden, sind begrenzt. Veränderungen erfolgen durch Spielerwechsel, weniger durch grundsätzliche Eingriffe in die Statik des Spiels. Taktische Flexibilität à la Guardiola lässt sich mit einer Nationalelf nur praktizieren, wenn das Gros des Teams aus Spielern eines Vereins besteht, der einen mit der Auswahl (die dann eigentlich keine Auswahl mehr ist …) identischen Fußball spielt. Taktische Flexibilität bedeutet hier nicht nur einen Systemwechsel von Spiel zu Spiel – je nach Gegner, wie es Löw in Frankreich praktizierte (s. u.) –, sondern auch während eines Spiels. Bundesligatrainer Julian Nagelsmann: „Das ist für mich der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Trainer. Wenn er im Spiel unter größtem Erfolgsund Zeitdruck reagieren kann und die Veränderung funktioniert. Vor dem Spiel einen Plan zu entwickeln ist einfach. Aber wenn es nicht funktioniert, schnell Stellschrauben zu finden, das Spiel lesen und in Lösungen zu übersetzen, das ist die Kunst.“ Deutschland war taktisch und spielerisch die überzeugendste Elf des Turniers in Frankreich. Nach zwei Siegen und einem Remis in der Vorrunde traf die DFB-Elf im Viertelfinale auf Italien. In der 65. Minute schoss Mesut Özil sein Team in Führung, 13 Minuten später konnte Leonardo Bonucci für die Squadra Azzurra vom Elfmeterpunkt ausgleichen. Weitere Tore fielen auch in der Verlängerung nicht. Im anschließenden Elfmeterschießen behielt Deutschland die Oberhand. 18


Jogi Löw und sein Stab wurden anschließend vom ARD-Experten Mehmet Scholl heftig kritisiert. Die Entscheidung, gegen die Italiener mit einer Dreierkette zu spielen, sei falsch gewesen. Löw höre zu viel auf seinen Scouting-Experten Urs Siegenthaler, der lieber morgens im Bett bleiben solle. Deutschland habe sich dem Spiel der Italiener zu sehr angepasst. Als Weltmeister habe die DFB-Elf geradezu die Verpflichtung, den anderen Teams ihr Spiel aufzuzwingen und deren Stärken zu ignorieren. Dass Scholl seinen Feldzug gegen taktische Finessen und taktische Flexibilität ausgerechnet anlässlich eines Spiels der deutschen Mannschaft gegen Italien intensivierte, war ein bisschen absurd. Denn Italiens beeindruckende Erfolgsbilanz beruhte nicht zuletzt darauf, dass in dieser Fußballnation die Taktik schon immer groß geschrieben wurde. Das EM-Viertelfinale hatte gezeigt, dass Deutschland hier an Boden gewonnen hatte. Jogi Löw hatte analysiert, warum die Spanier gegen die Italiener verloren hatten. Sie hatten ihr Spiel dem der Italiener taktisch nicht angepasst. Sie hatten die Stärken des Gegners ignoriert und ausschließlich auf ihre eigenen vertraut. Die nach den ersten beiden Spielen hochgelobte Selección, die zum Kreis der Titelanwärter zählte, konnte ihr Spiel nicht durchziehen. Dem Gegner das eigene Spiel aufzwingen hört sich immer groß an. Gegen einen Underdog funktioniert dies auch häufig. Gegen ein Team, das mit dem eigenen auf Augenhöhe operiert, ist dies schon etwas schwieriger. Wenn ein Trainer immer und wieder erzählt, „Der Gegner muss sich nach uns richten!“, ist der Grund hierfür manchmal schlicht und einfach, dass er in taktischer Hinsicht ziemlich nackt ist. Es funktioniert nicht, wenn der Gegner nicht das geringste Interesse daran hat, sich nach dem eigenen Team zu richten. Für Julian Nagelsmann war die von Scholl kritisierte „Anpassung“ an das Spiel des Gegners alles andere als eine Schwäche: „Wenn ich erfolgreich sein kann, wenn ich mich an den Gegner anpasse, mache ich das. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Selbst Pep Guardiola richtet sich nach dem Gegner aus, obwohl er mit die besten Spieler hat. Um eben seine Idee vom Fußball besser aufs Feld zu bekommen. Ich nutze die Gegnerorientierung, um unsere Spielidee durchzudrücken.“ In der Saison 2015/16 ließ Guardiola den 19


FC Bayern gegen Ingolstadt und Darmstadt das Spiel zelebrieren, das man gemeinhin unter einem Bayern-Guardiola-Spiel verstand. Gegen den stärkeren BVB agierte er wiederholt anders – das erste Mal (zur Überraschung vieler „Experten“) im Pokalfinale 2014, als er mit einer Dreier- bzw. Fünfer-Kette operierte: Bei Ballbesitz spielten die Bayern mit der Dreier-Kette Boateng, Martinez, Dante. (Dante war gelernter Innenverteidiger, Martinez’ Zuhause war bis dahin die „Sechs“ gewesen, Boateng war vom Außenverteidiger zu einem der weltbesten Innenverteidiger mutiert. Wenn man so will, war dies der Anfang des „Drei-Innenverteidiger-Modells“.) Lahm und Kroos bildeten eine Doppelsechs, davor spielten Müller und Götze als „Halbstürmer“. Die Außen wurden von Rafinha (links) und Pierre-Emile Höjbjerg (rechts) besetzt, die bei Ballverlust die Dreier-Kette zu einer Fünfer-Kette ausbauten und die Offensivaktionen der BVB-Außenverteidiger eindämmten. Guardiola zog so Jürgen Klopps „UmschaltMonster“ erfolgreich die Zähne. Löws Entscheidung, gegen Italiens Doppelspitze und die hochstehenden Außen eine Dreierkette aufzubieten, hatte sich als goldrichtig erwiesen. Die Dreierkette aus drei Innenverteidigern verdichtete das Zentrum. Bei gegnerischem Ballbesitz verstärkten Hector und Kimmich diese zu einer Fünferkette. So hatten die Deutschen sowohl die Doppelspitze wie die Außen im Griff, die Hector und Kimmich immer wieder in die Tiefe der italienischen Hälfte drängten. Beim Angriff fehlte dann allerdings ein antrittsschneller Dribbler wie Draxler (oder ein weniger antrittsschneller wie Götze). Da die Zahl der Spieler auf elf begrenzt bleibt, kann man halt nicht alles zur gleichen Zeit haben. Aber alle vorausgegangenen Erfahrungen mit der Squadra Azzurra sprachen für Löws Taktik. Aus dem Spiel heraus ließ man kaum etwas zu. Jan-Christian Müller schrieb in der „Frankfurter Rundschau“: „Es war gut ersichtlich, dass die defensive Stabilität von Höwedes dringend benötigt wurde. Es gab also Gründe, sich so zu entscheiden, wie sich Löw am Samstagabend entschieden hat. (…) Die Abwehr stand stabil gegen umtriebige italienische Angreifer, die Abstände stimmten, jeder im DFB-Team wusste, anders als vor vier Jahren, was gegen den Ball zu tun ist. Ohne den auch vom Spieler selbst schwer zu erklärenden Blackout von Jérome Boateng, ohne den die Italiener wohl nicht mehr 20


ins Spiel zurückgekommen wären, hätte es keine einzige ernst zu nehmende Gegentorchance gegeben.“

Müde und überspielte Stars Im Halbfinale traf Deutschland auf Frankreich und unterlag dem Gastgeber mit 0:2. Die verletzungsbedingten Ausfälle von Mario Gomez, Hummels und Khedira – und während des Halbfinals auch noch Boateng – waren einfach zu viele. Hinzu kam eine höchst unglückliche Dramaturgie. Nach einer starken französischen Anfangsphase hatten die Deutschen das Spiel komplett dominiert, aber ohne ein Tor zu erzielen, was eine Schwäche des deutschen Auftritts war. Ein Tor fiel stattdessen auf der Gegenseite – durch einen Strafstoß in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Den Elfer hatte Schweinsteiger mit einem seltsamen Handspiel verursacht. Strafstöße, die wegen Handspiels ausgesprochen werden, sind besonders ärgerlich, denn oft liegt ihnen nicht einmal die Verhinderung einer Torchance zugrunde. Schweinsteigers Handspiel gehörte in diese Kategorie. Mit der Führung im Rücken war der Rest des Halbfinals für die Franzosen leichter, wenngleich die DFB-Elf auch in diesem Spiel über weite Strecken die bessere war. Aber Frankreich war auch kein unverdienter Sieger. Welt- und Europameisterschaften sind keine Bühne, auf der die Teilnehmer neue spielphilosophische und taktische Trends präsentieren. Bestenfalls wird wiedergegeben, was man zuvor schon im Klubfußball beobachten konnte. Häufig in einer schlechteren Version. Keine Abhandlung über die WM 1974 ohne die Erwähnung des „Totaalvoetbal“ der Niederländer. Aber bevor die Elftal ihn in Deutschland zelebrierte, wurde er bereits bei Ajax Amsterdam gespielt. Eingeführt von Rinus Michels, der bei der WM auch das Nationalteam betreute – mit Cruyff und anderen Ajax-Akteuren im Team. Spanien spielte beim WM-Sieg 2010 eine von Trainer Vincente del Bosque etwas veränderte Form des Barca-Fußballs – gestützt durch einige Akteure des FC Barcelona. Das 4:2:4-System, mit dem Brasilien 1958 die Welt überraschte, spielten dort bereits seit einigen Jahren Klubs wie Flamengo und Sao Paulo. Großartige neue taktische Erkenntnisse kann man bei Länderturnieren nicht erwarten. Hierfür sind die Teams in der Regel einfach 21


viel zu wenig eingespielt. Hinzu kommt, dass diese Turniere am Ende einer extrem strapaziösen Saison stattfinden. Thomas Müller bestritt in der Saison 2015/16 einschließlich des EM-Halbfinals 63 Einsätze, was man ihm anmerkte. Es mangelte an mentaler Frische. Als Spieler von Bayern München, das in der Champions League in der Regel das Halbfinale erreicht, und Teilnehmer der WMs 2010 und 2014 sowie EM 2012 absolvierte Müller ein solches Pensum bereits seit Jahren. In den sieben Spielzeiten 2009/10 bis 2015/16 kam Müller auf 429 Pflichtspiele – das macht 61,28 pro Saison. Nicht mitgezählt: die Touren mit dem FC Bayern nach Asien und in die USA, um deren Märkte zu erobern. Die Zeiten, in denen in der Saisonvorbereitung vorwiegend über die umliegenden Dörfer getingelt wurde, waren vorbei. Franz Beckenbauer spielte in 13 ½ Jahren (erste BL-Saison der Bayern bis Karriereende beim Hamburger SV) 679 Pflichtspiele bzw. 50,29 pro Spielzeit. Dabei muss man noch berücksichtigen, dass die Laufleistung eines Spielers seit Beckenbauers Tagen enorm zugenommen hat und das Spiel schneller und intensiver – also mental und physisch anstrengender – geworden ist. Ewald Lienen: „Unser Fußballbetrieb ist völlig aufgebauscht, die Spitzenspieler sind für mich völlig überlastet. (…) Es geht eben nicht, dass du 60 oder 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst. Und noch mal und noch mal und noch mal …“ Nicht nur die Zahl der Spiele war ein Problem, sondern auch die damit verbundenen Reisestrapazen (insbesondere Auswärtsspiele in der Champions League und mit der Nationalelf). Wenn der Kopf weitgehend leer ist, bleiben nur noch die Beine. Es dominiert der letzte Rest an Physis. Für kreative Momente reicht es hingegen nicht mehr. Im Vergleich mit Müller wirkte Jonas Hector in Frankreich körperlich und mental frisch – wohl auch, weil dem „Spätentwickler“ vom 1. FC Köln der europäische Fußball erspart blieb. Das Problem der Übermüdung von Spitzenspielern konnte man erstmals bei der WM 2002 beobachten, als ein überstrapaziertes französisches Starensemble in den drei Vorrundenspielen kein Tor schoss und nur einen Punkt gewann. Damals rannte das „starlose“ Südkorea erst Portugal, dann Italien und schließlich Spanien nieder. Erst im Halbfinale war auch der Akku der Asiaten leer. Um den Verlust an Physis aufzufangen, 22


mangelte es dem Team nun an Technik. Trotzdem lässt sich bei Turnieren beobachten, dass „Underdog“-Teams ihre spielerischen Mängel und das Fehlen individueller Qualität teilweise dadurch kompensieren können, dass viele ihre Spieler weniger strapaziert in die Veranstaltung gehen – was ihrem lauffreudigen und kampflustigen Fußball entgegenkommt. Wenn Löw nun vorgeworfen wurde, er habe zu viele Spieler mitgenommen, die vor der WM verletzt und beim Start in die Vorbereitung noch nicht wirklich fit waren, folglich in der Endphase zu wenig Spielpraxis gesammelt hatten, muss man berücksichtigen, dass das bei WM 2014 nicht viel anders gewesen war. Khedira hatte sich ein halbes Jahr vor der WM einen Kreuzbandriss zugezogen. Erst am 11. Mai 2014 wirkte Khedira wieder in einem Punktspiel seines Arbeitgebers Real Madrid mit. Schweinsteiger hatte in der Endphase der Saison mit der Patellasehne zu kämpfen und verpasste dadurch das DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund. Khedira und Schweinsteiger waren nicht nur Stammkräfte im defensiven Mittelfeld, sondern auch Führungskräfte des Teams. Die Lazarettliste komplettierten Keeper Manuel Neuer sowie Kapitän Philipp Lahm, die sich im Pokalfinale verletzt hatten. Besonders Neuers WM-Einsatz stand einige Wochen in Frage. Richtig fit wurden die drei Bayern-Akteure erst nach dem Eintreffen in Brasilien. Damals ging Löws Strategie voll auf: Schweinsteiger war im ersten Spiel nicht dabei, im zweiten erst ab der 70. Minute, im dritten nur bis zu 70. Minute – und war später einer der Finalhelden. Auch Khedira wurde zunächst nicht voll belastet. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als würden Spieler Zwangspausen in der Saison vor einem Turnier ganz guttun. Bei der EM 2016 galt dies für Jérome Boateng, der in der Saison 2015/16 nur 17 Bundesliga- und sieben Champions-League-Spiele absolvierte. Christoph Metzelder gelang es immer wieder auf wundersame Weise, bei Testspielen verletzt zu fehlen, um dann bei Turnieren voll dabei zu sein. Er bestritt 47 Länderspiele, davon waren aber 28 Pflichtspiele (knapp 60 Prozent) und 19 (gut 40 Prozent) WMbzw. EM-Endrundenspiele.

23


Es war ein tiefer Sturz: vom großen Triumph der Nationalmannschaft in Rio 2014 zum bitteren Vorrunden-Aus bei der WM 2018. Dietrich Schulze-Marmeling analysiert die Gründe, warum der deutsche Fußball an internationaler Konkurrenzfähigkeit verloren hat. Dabei widmet er sich nicht nur der Nationalmannschaft, sondern auch der Bundesliga und der Nachwuchs-Ausbildung. Seine Diagnose: Der deutsche Fußball benötigt einen neuen Reformschub, der vor allem bei jüngeren Kickern Kreativität und Spielfreude stärkt.

ISBN 978-3-7307-0449-3 VERLAG DIE WERKSTATT


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.