Leseprobe - Elf Meter

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Elfmeter-Ikone

Rik Coppens Rik Coppens hatte seine besten Zeiten schon hinter sich, als er einen Elfmetertrick probierte, den noch niemand gewagt hatte. Es war 1957, Belgien lag im WM-Qualifikationsspiel gegen Island mit 4:0 in Führung. Coppens sagte zu seinem Mitspieler André Piters „twee tijden“ („zwei Kontakte“). Er verließ sich darauf, dass Piters schon wüsste, was er meinte. Die beiden hatten über den Trick nie gesprochen, geschweige denn ihn trainiert. Coppens trabte los, machte einen Anlauf von sieben Schritten und passte dann quer in den Lauf von „Popeye“ Piters, der sich ziemlich strecken musste, um den Ball vor dem heranstürmenden Torhüter zu erreichen, aber er schaffte es. Er passte zurück auf Coppens, der mit der Innenseite locker ins leere Tor einschob. „Es war meine alleinige Entscheidung“, erzählte Coppens mir bei unserem Treffen kurz vor seinem Tod im Februar 2015. „Wir lagen klar vorne, es konnte also nichts anbrennen. Ich wollte den Zuschauern etwas Besonderes bieten. Ich war ein Angeber, war gerne kreativ. So eine Nummer abzuziehen, war für mich ganz normal.“ Der belgische Verband war von dem Manöver nicht besonders angetan. Für das Rückspiel zwischen den beiden Mannschaften wurde Coppens nicht mehr nominiert. Coppens war einer der besten Spieler, den Belgien jemals hervorgebracht hat. Leider gewann er nie einen großen Titel, und seine besten Jahre, 1950 bis 1954, fielen in eine Zeit, als es die großen europäischen Pokalwettbewerbe noch nicht gab. Nicht, dass er in vielen davon gespielt hätte: Den Großteil seiner Karriere verbrachte er bei Germinal Beerschot, einem Verein, dessen Vorstellung von Erfolg ein vierter Platz in der ersten belgischen Liga war (den er dank Coppens auch erreichte). Seine Eltern betrieben ein Fischgeschäft, in dem Coppens arbeitete, wenn er nicht gerade trainierte. Seine Ernährung half ihm. „Ich hatte starke Knochen und kräftige Beine, wegen der ganzen Proteine, die ich als Kind zu mir nahm“, sagte er. „Es gibt nichts Besseres für mich als ein Stück Stockfisch mit Senfsauce. Oder Rochen. Steinbutt! Ein schönes Stück Kabeljau. Schellfisch. Aal. Fisch mag ich 20-mal lieber als Fleisch!“ Wenn der Elfmeter gegen Island sein kühnster Moment war, so zeigte er seine wohl größte Leistung drei Jahre zuvor, kurz nach dem 4:4 der Belgier gegen England bei der WM 1954. „Wir traten gegen Deutschland in

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ihrem erstem Spiel seit ihrem WM-Gewinn an und schlugen sie mit 2:0. Das war das beste Spiel meiner Karriere.“ Coppens spielte Katz und Maus mit seinem Gegenspieler Werner Liebrich, der als Deutschlands bester Verteidiger galt. „Coppens ließ ihn ziemlich alt aussehen“, sagte Frank Raes, der Coppens’ Biografie Ik, Rik Coppens mitverfasst hat und in der Saison für Beerschot spielte, als Coppens dort Trainer war. „Coppens dribbelte um Liebrich herum und dann gleich noch einmal. Er war ein Dribbelkönig, technisch überragend: ein Held, ein Rebell, eine Ikone.“ Und als Trainer? „Als Spieler war er besser.“ 1954 gewann Coppens den erstmalig verliehenen Goldenen Schuh für den herausragendsten Spieler der belgischen Liga. Beerschot musste sich der Abwerbungsversuche zahlreicher Spitzenklubs erwehren: Neapel, Inter, Milan, Espanyol und auch Barça, das soeben das Rennen um Alfredo di Stéfano gegen Real verloren hatte, bekundeten alle ihr Interesse. „Beerschot lehnte sämtliche Angebote ab, sie wollten mich lieber behalten“, sagte Coppens. „Daraus habe ich ihnen nie einen Vorwurf gemacht.“ Ein Berater bot ihm einen Blankoscheck, aber Coppens wusste nicht einmal, welchen Klub er vertrat. „Damals blieb man seinem Verein treu, und genau das tat ich auch.“ Coppens lebte bis zu seinem Tod in Wilrijk. Von seiner Wohnung aus konnte er das Flutlicht des Germinal-Stadions sehen. Ich fragte ihn, ob es ihn mittlerweile langweile, über seinen „twee tijden“-Elfmeter zu reden. „Ja“, entgegnete er. Ich kann mir denken, warum das so ist: Sein Vermächtnis ist mehr als nur ein Elfmetertrick, den Johan Cruyff 25 Jahre später wiederholte. „Johan Cruyff nannte seinen Elfmeter einzigartig“, sagte Coppens. „Das passte mir nicht, Cruyff hätte das nicht sagen sollen.“ Wahrscheinlich hatte Cruyff einfach keine Ahnung, dass Coppens den Trick erfunden hatte: Er war zehn Jahre alt, als das Spiel gegen Island stattfand, und es wird vermutlich nicht im Fernsehen gezeigt worden sein. In den Nachrichtensendungen in örtlichen Kinos wurden bisweilen Ausschnitte aus Spielen gezeigt, aber Cruyff war schon seit 19 Jahren Profi, als er den Elfmeter probierte. Hätte er ihn kopieren wollen, hätte er sicherlich nicht so lange damit gewartet. 2005 versuchte sich Arsenals Robert Pires an einer Neuauflage des ZweiMann-Elfmeters. Seine Aufgabe war, zu Thierry Henry zu passen, der den Ball aber nicht zurückspielen, sondern selber abschließen sollte. Arsenal lag gegen Manchester City mit 1:0 in Führung, ironischerweise durch einen Elfmeter von Pires (Henry war im Strafraum gefoult worden, hatte aber nicht selbst ausführen wollen). Am Tag vor dem Spiel hatte Henry seinen französischen Kollegen überredet, den Trick am Ende des Trainingsspiels auszuprobieren. Elfmeter werden im Training nur selten gegeben, aber diesmal war Pat

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Erfinder des DoppelpassElfmeters: der Belgier Rik Coppens.

Rice Schiedsrichter, und er gab einen. Bezeichnenderweise legte in diesem Fall Henry vor, und Pires machte dann das Tor. „Als er mir den Trick erklärte, musste ich lachen und dachte: ‚Auf so eine Idee kann auch nur Titi kommen“, erinnerte sich Pires. „Aber damit hatte sich die Sache für mich eigentlich erledigt. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass wir die Nummer gleich am nächsten Tag wieder abziehen würden.“ Dann erzählte Pires, was gegen Manchester City geschah und warum er dem Drängen seines Landsmanns nachgab. Zehn Minuten nach dem ersten Elfer bekam Arsenal einen zweiten zugesprochen. „Titi kam an und meinte: ‚Okay, wir machen unseren Spezialelfer.‘ Ich sagte: ‚Du machst ja wohl Witze! Doch nicht in einem richtigen Spiel!‘ Aber er widersprach: ‚Doch, doch, das ist genau der richtige Moment, wir liegen doch schon in Führung.‘ Ich wollte es wirklich nicht machen, aber er überredete mich. Das Problem war, dass die Rollen diesmal vertauscht waren. Im Training hatte er zu mir gespielt und ich das Tor gemacht, aber diesmal sollte ich ausführen und er wollte reinlaufen und vollenden. Mir war die Sache überhaupt nicht geheuer. Ich sagte noch mal: ‚Wir sollten das lassen.‘ Aber er erwiderte nur: ‚Keine Bange, ich bin ja da.‘“ Pires fuhr in seinen Erinnerungen fort: „Ich trete also vor und lege den Ball auf den Punkt. Ich drehe mich um, um zu gucken, wo Thierry ist. Er steht hinter zwei City-Spielern. Jetzt komme ich erst recht ins Grübeln: Soll ich’s

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machen oder nicht? Okay, ich laufe an, erreiche den Ball, und ich schwöre, was ab dem Moment passierte, weiß ich nicht mehr. Ich kann mir bis heute nicht vergegenwärtigen, was ich gemacht habe. Alles wurde schwarz. Ich trat über den Ball, ich glaube, ich habe ihn nicht mal berührt, dann steht Titi neben mir, der fragt: ‚Was machst du da?‘ Ich kam mir vor wie ein Idiot. Ich hatte es total vermasselt. Ein Spieler von City, Danny Mills war es, machte mich zur Schnecke: Er schnauzte mich an, ich wolle sie wohl verscheißern und sei ein arroganter Franzmann. Ich konnte nicht mal was erwidern. Ich war wie betäubt und fühlte mich einfach miserabel.“ Arsenal gewann letztlich trotzdem noch 1:0. Pires erfuhr erst später, dass Cruyff einmal einen ähnlichen Trick probiert hatte. Den Namen Coppens hörte er zum ersten Mal, als er mit mir sprach. Hätte er es respektlos gefunden, wenn jemand das Gleiche gegen seine Mannschaft versucht hätte? „Ganz ehrlich, nein. Hätte es gegen uns einer versucht und getroffen, hätte ich sogar noch applaudiert. Es ist mutig, und wir brauchen Fantasie im Fußball. Ich wünschte nur, wir hätten es hinbekommen.“ An Fantasie fehlte es Coppens sicher nicht. Als er nach einer langen Verletzungspause zurückkehrte, kamen 10.000 Fans an einem Sonntagmorgen zum Spiel der Reserve gegen Beringen. Beerschot gewann 9:1. Coppens gelang kein Tor. „Er war wie Maradona, nur ohne die Drogen“, sagte Raes. „Ein einzigartiges Talent.“ Manchmal dribbelte er gleich zweimal um den Torhüter, sicher ist sicher, und einmal legte er sich auf die Torlinie und stupste den Ball mit der Nase über die Linie. Elfmeter schießen sei keine Kunst, sagte er, obwohl er sich den Ball manchmal vier- oder fünfmal zurechtlegte, bevor er bereit war, zu schießen. „Ein Elfmeter ist eine Sache für technisch gute Spieler“, fügte er hinzu. „Ich habe sie nie wirklich trainiert, aber ich verstehe nicht, wie man einen Elfmeter verschießen kann. Die sind doch so simpel.“

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