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Fesselnde Orchesterwerke
Maxim Vengerov und Rinat Shaham übernehmen die Soloparts in einem fesselnden Programm, Chefdirigentin Marin Alsop steht am Pult des RSO Wien.
VON WALTER WEIDRINGER
»Weh, wie einsam sitzt da die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich die Große unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder ist zur Fron erniedrigt. Sie weint und weint des Nachts, Tränen auf ihren Wangen.« Das biblische Buch der Klagelieder betrauert die Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Babylonier 587/86 vor unserer Zeitrechnung. Orthodoxe Juden rezitieren den Text jede Woche an der Klagemauer; im Christentum ist das poetisch gefasste Heulen und Zähneknirschen in die Liturgie der tristesten Zeit des Jahres eingegangen, nämlich der Karwoche. Weil das Buch der Überlieferung nach vom Propheten Jeremias stammt, nennt man ganz allgemein Klagen über einen Verfall auch Jeremiaden.
Im Sommer 1939, bald nach seinem Studienabschluss in Harvard, hatte Leonard Bernstein einen »Hebrew Song« über die Klagelieder entworfen. 1942 sollte die Skizze schließlich im gesungenen Finale seiner Symphonie Nr. 1 aufgehen und dort zwei Instrumentalsätze beschließen, die Sätze lauten Prophecy (Prophezeiung), Profanation (Entweihung) und Lamentation (Klage). Dirigent Fritz Reiner war von der Partitur begeistert, doch es war Bernstein selbst, der die Uraufführung dirigierte. Und das in einer wahrlich beklagenswerten Zeit: am 28. Jänner 1944 in Pittsburgh, mit dem dortigen Symphony Orchestra und Jennie Tourel, die den Mezzosopranpart übernommen hatte. »Das Werk, das ich schon mein ganzes Leben lang schreibe«, sollte Bernstein 1977 feststellen, »handelt von jenem Kampf, der aus der Krise unseres Jahrhunderts geboren ist, einer Krise des Glaubens.« Seine Symphonie »Jeremiah« liefert das erste Kapitel dieses musikalischen Lebensthemas. Das weiß Marin Alsop wie kaum eine andere, sie war nicht nur Studentin Bernsteins, sondern setzt sich auch als Dirigentin für dessen Schaffen ein: »Er war ehrlich«, erzählt sie, »er hat das vermittelt, was er für das Wichtigste am Komponisten hielt. Das hat er uns beigebracht, oder zumindest habe ich das so mitgenommen: Dass es meine Aufgabe ist, diese Botschaft zu meiner eigenen zu machen.« Am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien beweist Alsop das mit zwei weiteren Werken. Das eine ist Sergej Prokofjews traumhaftes und zugleich kapriziöses Violinkonzert Nr. 1, das auch Kriegszeiten entstammt: Prokofjew stellte es 1917 fertig, knapp vor der Oktoberrevolution. Und beim anderen handelt es sich um die 1958 entstandene Musik für Streicher, Trompeten und Schlagwerk aus der Feder der polnischen Komponistin und Geigerin Grażyna Bacewicz: gestisch, beredt, fesselnd.
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Do, 08/12/22, 19.30 Uhr · Großer Saal
ORF Radio-Symphonieorchester Wien; Maxim Vengerov: Violine; Rinat Shaham: Mezzosopran; Marin Alsop: Dirigentin
Grażyna Bacewicz: Musik für Streicher, Trompeten und Schlagwerk
Sergej Prokofjew: Violinkonzert Nr. 1 D-Dur op. 19
Leonard Bernstein: Symphonie Nr. 1 für Mezzosopran und Orchester »Jeremiah«
Karten: konzerthaus.at/konzert/eventid/59711