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Neue Musik aus Italien

Patricia Kopatchinskaja spielt das für sie komponierte Violinkonzert Aureliano Cattaneos mit dem RSO Wien – eine österreichische Erstaufführung. Italienische Musik steht auch im Mittelpunkt unserer Zyklen PHACE, Klangforum Wien und Nouvelles Aventures

VON JURI GIANNINI

Wo könnte eine mögliche Geschichte der italienischen neuen Musik beginnen? Betrachtet man den Drang zum Experimentieren und die Suche nach Ungehörtem als Parameter, so müsste sie mit zwei flüchtigen, doch nachhaltigen »Zündern« in den 1910er-Jahren ansetzen – mit dem Futurismus und mit Ferruccio Busoni. Diese strebten nach der Überwindung des traditionellen Klangbegriffs und dem Verwischen der Grenzen zwischen Geräusch und Klang, kurz: nach einer Neudefinition der musikalischen Ästhetik, die in Italien bis dato von der Tradition des Musiktheaters beherrscht worden war.

Die faschistische Kulturpolitik förderte diese Ideen im Unterschied zur neuen Architektur der Zeit jedoch nicht, obwohl sich einige der Futuristen sogar zu Mussolinis Diktatur hingezogen fühlten. In den Jahren des Faschismus mangelte es – wie auch andernorts in Europa – an einer Anknüpfung an die musikalischen Innovationen der Vorkriegsmoderne.

Lehrer der Nachkriegsavantgarde

Einzelne Komponisten und Lehrer konnten der nächsten Generation jedoch das Bestreben nach Neuem weitergeben:

Alfredo Casella, Gian Francesco Malipiero, Goffredo Petrassi und Luigi Dallapiccola unterrichteten die wichtigsten Komponist:innen der Nachkriegsavantgarde – also jene, die zwischen 1920 und 1935 geboren wurden – und dienten somit in Italien als Katalysatoren der Moderne. Petrassi selbst war wie Salvatore Sciarrino, der möglicherweise am meisten aufgeführte lebende italienische Komponist, Autodidakt. Sciarrino sah aber wie er das Lehren als wesentliche Aufgabe eines Künstlers an, zu seinen Schülern gehörte u. a. Lorenzo Troiani. Die wie Troiani in den 1980er-Jahren in Rom geborene Clara Iannotta hat zwar nicht bei Sciarrino studiert, ihre Musik lässt sich aber wie seine als sinnliche, gleichsam körperliche Erfahrung verstehen.

Neue Identifikationsfiguren

Viele Komponisten der Nachkriegsgeneration wie Bruno Maderna, Luciano Berio oder Luigi Nono waren von Anfang an Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und wurden zu Identifikationsfiguren innerhalb der europäischen Kompositionsszene. Das Festival Wien Modern widmete sich 1995 bei einem Italien-Schwerpunkt der Musik dieser Generation.

Deren Kanonisierung führte allerdings auch dazu, dass die jüngere Generation, die sich in Italien in den 1980er-Jahren durchsetzte, im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde – was allerdings auch damit zusammenhängt, dass einige von diesen (z. B. Lorenzo Ferrero und Marco Tutino) eine im avantgardistischen Kanon wenig geschätzte neotonale Sprache pflegten. Die italienische Fortsetzung der musiktheatralischen Tradition wurde hingegen hauptsächlich aus logistischen Gründen nicht exportiert: Große Opernprojekte wären kostenaufwändig und nur mit viel Mühe außerhalb Italiens produzierbar gewesen.

Komponistinnen der Nachkriegszeit

Wenige Komponistinnen prägten die italienische neue Musik der Nachkriegszeit, was auch damit zu tun hat, dass viele von ihnen als elektroakustische Komponistinnen Stücke für Libraries und audiovisuelle Begleitungen anfertigten, d. h. (meist anonyme) Stimmungsstücke für die Produktionsmusikarchive der Fernseh- und Rundfunkanstalten, und als Komponistinnen angewandter Musik kaum sichtbar waren.

Teresa Rampazzi, Franca Sacchi, Maria Teresa Luciani, Giulia de Muittis, Irma Ravinale und Ada Gentile sollten aber in einem Überblick über die italienische Musik des 20. Jahrhunderts nicht fehlen. Heute hingegen besetzen Komponistinnen wichtige institutionelle Positionen: Lucia Ronchetti ist u. a. künstlerische Leiterin der Biennale Musica in Venedig; Iannotta hat seit 2023 in Wien eine Professur für Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst inne.

Standpunkt Österreich ...

In den letzten Jahren ist Österreich zu einem Zentrum für italienischstämmige Komponist:innen geworden. Viele von ihnen sind zum Studium nach Wien oder Graz gekommen und haben hier Fuß gefasst, etwa Pierluigi Billone, eine der wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Komponierens in Österreich und darüber hinaus. In Wien leben auch Troiani und Alessandro Baticci. Letzterer komponiert u. a. für selbst entworfene Instrumente und gewann 2023 mit seinem Ensemble Nimikry den Erste Bank Kompositionspreis.

... Frankreich und Spanien

Auch anderswo in Europa waren und sind italienische Komponist:innen erfolgreich, und vielleicht werden eines Tages die Musikgeschichtsbücher von einer italienischen Diaspora an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert berichten: Marco Stroppa lebt seit den 1980er-Jahren in Frankreich – wo auch der jung verstorbene Fausto Romitelli ansässig war, der die in Frankreich erlernte Spektralmusik mittels Anregungen aus dem Bereich der elektronischen Tanz- und Popmusik weiterentwickelte.

Aureliano Cattaneo lehrt in Barcelona. Seine Musik zeichnet sich durch die Bezugnahme auf andere Künste, aber auch durch das Suchen nach Zweideutigkeit aus, sowohl in formaler als in stilistischer Hinsicht. Zur selben Generation gehören Francesco Filidei, Silvia Colasanti und Daniela Terranova, alle in den 1970er-Jahren geboren.

Generazione dell’Ottanta

Der Musikwissenschaftler Gianluigi Mattietti hat Parallelen gezogen zwischen Komponist:innen, die in den 1980er-Jahren geboren sind, und jenen, die um 1880 geboren wurden und in der italienischen Musikgeschichtsschreibung unter dem Namen Generazione dell’Ottanta bekannt sind. Ging es bei den letzten (z. B. Alfredo Casella, Ildebrando Pizzetti, Ottorino Respighi, Gian Francesco Malipiero) um die Verbindung von Tradition und Moderne, so sieht Mattietti auch die jüngere Generation auf der Suche nach Überwindung eines dualistischen Denkens, hier zwischen Innovation und Kommunikation. Zu dieser Generation gehören in Italien u. a. Iannotta, Troiani und der in Südtirol geborene Hannes Kerschbaumer.

Erweiterung des Sensoriums

Mattietti nützt hierfür den Begriff der »Multisensoriellen Ästhetik«. Er bezieht sich dabei auf Kompositionen, die nicht nur akustisch wahrgenommen werden können, sondern die eine umfassende sensorische Erfahrung bieten, mit visuellen wie performativen Elementen. Als Schlüssel zur Interpretation der Werke, die im März aufgeführt werden, eignet sich diese Kategorisierung ausgezeichnet.

Auch das Werk von Carlo Elia Praderio, wenngleich in den 1990erJahren geboren, lässt sich so deuten. Sein musikalischer Ansatz basiert auf dem physischen Kontakt zwischen Interpret:in und Instrument und der Reibung zwischen Klangkörpern. Und mit dieser Vorstellung einer multisensoriellen Ästhetik schließt sich auch jener Kreis, den ich mit Busoni und dem Futurismus habe beginnen lassen.

Filmstill aus Peter Tscherkasskys "Outer Space"
©Peter Tscherkassky, courtesy sixpackfilm

Clara Iannotta (*1983 Rom)

Zunächst als Flötistin tätig, dann Studium der Komposition in Mailand, am Konservatorium und am IRCAM in Paris, Promotion an der Harvard University bei Chaya Czernowin, 2018 Ernst von Siemens Komponist:innen-Förderpreis, 2021 Premio Abbiati, seit 2014 künstlerische Leiterin der »Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik«, seit 2023 Professur für Komposition an der mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Lorenzo Troiani (*1989 Rom)

Studium der Komposition und Philosophie, u. a. am Conservatorio di Santa Cecilia in Rom und an der Harvard University in Cambridge (USA) bei Chaya Czernowin, Meisterkurse u. a. bei Salvatore Sciarrino und Beat Furrer, seine Werke werden aufgeführt von Ensembles wie dem Quatuor Diotima und dem Klangforum Wien

Luciano Berio (*1925 Oneglia, † 2003 Rom)

Eine Handverletzung im Militärdienst beendete 1944 seine Pianistenkarriere, Studium am Mailänder Konservatorium, 1955 gemeinsam mit Bruno Maderna Gründung des Studio di fonologia musicale (RAI), Italiens erstem Studio für elektroakustische Musik, 1965–1971 Lehre an der Juilliard School in New York, 1974–1980 Leitung des IRCAM in Paris

Salvatore Sciarrino (*1947 Palermo)

Als Komponist Autodidakt, 1974 Lehre an der Musikakademie in Mailand, anschließend in Perugia und Florenz, stark geprägt von bildender Kunst, viele musiktheatralische Werke, die am Teatro alla Scala in Mailand, beim Maggio Musicale Fiorentino und am Teatro La Fenice in Venedig aufgeführt werden

Aureliano Cattaneo (*1974, Codogno)

Meisterkurse bei Gérard Grisey und Mauricio Sotelo, 2003 am IRCAM in Paris, 2013 Erstaufführung von »Parole di settembre« auf Gedichte von Edoardo Sanguineti im Großen Saal des Wiener Konzerthauses mit dem Klangforum Wien, seit 2010 Professur in Barcelona

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So, 17/03/24, 19.00 Uhr · Mozart-Saal

Klangforum Wien · Deuter · Beckett · Pomàrico

»Quadro italiano«

Markus Deuter, Oboe
Paul Beckett, Viola
Emilio Pomàrico, Dirigent

Luciano Berio: Chemins II (su Sequenza VI) · Niccolò Castiglioni: Morceaux lyriques für Oboe und Orchester (UA) (Bearbeitung für Oboe und Ensemble: Emilio Pomàrico) · Emilio Pomàrico: Konzert. Paralipomena a »Caractères« di N. C. (UA)

Karten (Restkarten nach Verfügbarkeit): https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60865

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Mo, 18/03/24, 19.30 Uhr · Berio-Saal

Schallfeld Ensemble

Giacinto Scelsi: Trio à cordes · Lorenzo Troiani: Toccare. L’ abisso che dunque sono (EA) · Clara Iannotta: Limun · Hannes Kerschbaumer: firn · Carlo Elia Praderio: Brecce (EA) · Salvatore Sciarrino: Codex purpureus

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60870

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Mi, 20/03/24, 19.30 Uhr · Berio-Saal

PHACE

»Tiempo Suspendido«

Werke von Raquel García-Tomás, Lorenzo Troiani, Joanna Bailie, Daniela Terranova und Clara Iannotta (Film Peter Tscherkassky)

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60837

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Do, 21/03/24, 19.30 Uhr · Großer Saal

ORF Radio-Symphonieorchester Wien · Kopatchinskaja · Alsop

Patricia Kopatchinskaja, Violine
Marin Alsop, Dirigentin

Hannah Eisendle: Neues Werk (UA) · Aureliano Cattaneo: Not alone we fly. Konzert für Violine und Orchester (EA) (Kompositionsauftrag von Philharmonie Essen, Orchestre National de Lille, Milano Musica, ORF Radio-Symphonieorchester Wien und Wiener Konzerthaus) · Roxanna Panufnik: Two composers, four hands · Sir James MacMillan: Woman of the Apocalypse

Karten: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/60878

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