ADRIANA LECOUVREUR Francesco Cilèa
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Eine Partitur voller Bilder → Evelino Pidò
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Ehrlich zum Werk sein → Sir David McVicar
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Theater: Holde Lüge und tiefe Wahrheit → Arthur Kahane
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Cilèa und seine Opern → Alexandra Wilson
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Ohrwürmer und Blumen → Ulrich Schreiber
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Gehört Adriana Lecouvreur zum Verismo? → Walter Dobner
30
Hier gilts der KUNST → Oswald Panagl
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Er schrieb den Text der Adriana Lecouvreur → Andreas Láng
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Zwischen Intrigen und Dramatik → Mario Pilati
46
La Mort de Mademoiselle Lecouvreur → Voltaire
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Die echte Adrienne → Katherine Ibbett
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Brief Adrienne Lecouvreurs 60 Moritz von Sachsen → Oliver Láng
62
Historie und das Musiktheater → Daniel Wagner
68
Die barocke Bühne → Alexandra Steiner-Strauss
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Die Klage der Phädra → Jean Racine
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ADRIANA LECOUVREUR → Oper in vier Akten Musik Francesco Cilèa Libretto Arturo Colautti nach Eugène Scribe und Ernest Legouvé
Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotti, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Schlagwerk, 1 Celesta, 1 Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Spieldauer 2,5 Stunden (exklusive zwei Pausen) Autograf verschollen Uraufführung 6. November 1902, Teatro Lirico, Mailand Österreichische Erstaufführung an der Wiener Volksoper 1. Dezember 1969 Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 16. Februar 2014
DIE HANDLUNG
1. Akt Hinter der Bühne der Comédie-Française bereiten sich Schauspieler und der Inspizient Michonnet auf eine Aufführung vor. Unter ihnen die berühmte Tragödin Adriana Lecouvreur (Adrienne Lecouvreur), die von Michonnet geliebt wird. Sie wiederum liebt Maurizio (Moritz von Sachsen), der ihr gegenüber allerdings seine wahre Identität verbirgt und sich als Fähnrich ausgibt. Adriana schenkt ihm als Liebespfand einen Veilchenstrauß. Maurizio hatte allerdings auch ein Verhältnis mit der Fürstin von Bouillon; deren Ehemann wiederum unterhält eine Affäre mit der Schauspielerin Duclos. Als nun der Fürst von Bouillon einen Brief der Duclos an Maurizio abfängt, indem sie ihn nach der Vorstellung in ihre Villa einlädt, verdächtigt der Fürst die Duclos der Untreue. In Wahrheit hatte diese jedoch den Brief im Auftrag der Fürstin geschrieben. Um sich zu rächen, lädt der Fürst die Schauspieler der Comédie-Française am selben Abend zu einem Fest in die Villa ein, die er der Duclos geschenkt hat.
2. Akt In der Villa der Duclos erwartet die Fürstin von Bouillon den von ihr geliebten Maurizio, der sich von ihr politische Unterstützung erwartet. Die eifersüchtige Fürstin begreift, dass Maurizio sie nicht mehr liebt; um sie zu täuschen, schenkt er ihr jenen Veilchenstrauß, den er kurz zuvor von Adriana erhalten hat. Die beiden werden durch die Ankunft des Fürsten unterbrochen, der Fürstin gelingt die Flucht in ein Hinterzimmer. Die am Fest ebenfalls anwesende Adriana erfährt nun die wahre Identität Maurizios, doch eine Aussprache mit ihm verhindert das Zerbrechen der Beziehung. Im dunklen Hinterzimmer treffen die beiden Konkurrentinnen um die Liebe Maurizios – die Fürstin und Adriana – erstmals aufeinander, ohne aber die jeweils andere zu erkennen. Der Fürstin gelingt schließlich unerkannt die Flucht. DIE H A N DLU NG
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3. Akt Bei einem Fest erkennen die Fürstin und Adriana, dass Maurizio der Geliebte der jeweils anderen ist. Es kommt zum verdeckten Konflikt zwischen den beiden eifersüchtigen Frauen. Adriana rezitiert schließlich aus Racines Phädra und stellt mit einigen auf die Fürstin bezogenen Versen die Nebenbuhlerin bloß: »Ich kann mich nicht verstellen, so wie jene frechen Weiber, die Freude am Betrug haben, deren eisige Stirn niemals mehr erröten kann.« Die Fürstin schwört Rache.
4. Akt Adriana, vor Liebe krank, will sich von der Bühne zurückziehen. Sie fühlt sich von Maurizio verlassen; ein Gefühl, das sich noch verstärkt, als eine Schatulle abgegeben wird, in der sich der inzwischen verwelkte Veilchenstrauß befindet. Doch da trifft ihr Geliebter ein und bittet sie, seine Frau zu werden. Adriana bricht plötzlich zusammen – der Veilchenstrauß, an dem sie gerade gerochen hat, war in Wahrheit von der Fürstin geschickt und vergiftet. Adriana stirbt.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS
First Act Backstage at the Comédie-Française the actors and stage director Michonnet are preparing for a performance. Amongst them is the famous actress Adriana Lecouvreur, whom Michonnet loves. She however is in love with Maurizio of Saxony, who has concealed his true identity and is passing himself off as an ensign. As a token of her love, Adriana gives him a posy of violets. Maurizio has also had a relationship with Princess de Bouillon, whose husband is having an affair with the actress Mlle Duclos. When the Prince de Bouillon intercepts a letter from Mlle Duclos to Maurizio, inviting him to meet her at her villa that night, the Prince suspects that the actress is unfaithful to him. In fact, she had written the letter on behalf of the Princess to protect the latter’s good name. To take his revenge and expose the actress, the Prince invites the whole cast from the Comédie-Française to a supper party at the villa.
Second Act At the Duclos villa, the Princess de Bouillon awaits Maurizio, who is hoping to gain her political support. She realizes that he does not love her; to assuage her jealousy he gives her the posy of violets. The two of them are interrupted by the arrival of the Prince, and the Princess is able to take refuge in an inner room. Adriana joins the party – and Maurizioʼs true identity is revealed. The two rivals – the Princess and Adriana – meet in the dark inner room, but do not recognize each other. The Princess finally manages to escape unnoticed. SY NOPSIS
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Third Act At a party, the Princess guesses that Adriana is the Maurizioʼs lover. A furtive struggle begins between the two women – both are tormented by jealousy. Adriana finally recites a speech from Racineʼs Phèdre, exposing the Princess with these lines directed at her: »I cannot dissimulate like those audacious, impure women who love to betray, whose brow of ice can never blush.«
Fourth Act Adriana, sick with love, has decided to retire from the stage. She feels deserted by Maurizio. Her sense of desolation is reinforced when a casket is delivered, containing the wilted posy of violets. However, her lover arrives and asks her to become his wife. Adriana suddenly collapses; the violets were in fact sent by the Princess, who had poisoned them. Adriana dies.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Adriana Lecouvreur, die vierte und berühmteste Oper des italienische Komponisten Francesco Cilèa, erzählt von der letzten Affäre und dem Tod der französischen Schauspielerin Adrienne Lecouvreur. Diese lebte von 1692 bis 1730 und gehörte zu den besten und prominentesten Tragödinnen ihrer Zeit. Ihre langjährige Liaison mit dem erfolgreichen Feldherrn Moritz von Sachsen und das Gerücht, sie wäre von ihrer Nebenbuhlerin, der Fürstin von Bouillon vergiftet worden, beschäftigte ganz Paris – siehe in diesem Zusammenhang den Brief Voltaires auf Seite 50 sowie die Beiträge von Katherine Ibbett (Seite 52) und Oliver Láng (Seite 62). Zu den zahlreichen Künstlern, die sich vom Leben und Sterben der Lecouvreur inspirieren ließen, gehörte auch Eugène Scribe, der ein Schauspiel über sie verfasste. Dieses nahmen Francesco Cilèa und der Textdichter Arturo Colautti als Basis für ihre gemeinsame Oper Adriana Lecouvreur, die 1902 in Mailand ihre erfolgreiche Uraufführung feierte. Die Entstehung des Werkes und seine Struktur beschreiben der Komponist Mario Pilati (Seite 46), Andreas Láng (Seite 42) sowie Ulrich Schreiber (Seite 26). Mehrfache Überarbeitungen seitens des Komponisten führten zu einer immer größeren Verfeinerung der Partitur. Inwieweit Adriana Lecouvreur in ihrer letzten Fassung von 1930, die Cilèa als einzig gültige festgeschrieben hat und die hier zu erleben ist, überhaupt noch dem Verismo zuzuordnen ist, darüber befinden der Premierendirigent Evelino Pidò (Seite 10) und Walter Dobner (Seite 30). Welche Stellung Adriana Lecouvreur im Opernschaffen Cilèas einnimmt, erläutert Alexandra Wilson auf Seite 20, Anmerkungen zur aktuellen und zugleich ersten Produktion an der Wiener Staatsoper finden sich im Interview mit dem Regisseur ab Seite 14. Dem Kosmos Theater, einem der Grundthemen von Adriana Lecouvreur, zollt der Artikel über die barocke Bühne von Alexandra Steiner-Strauss Tribut (Seite 76). Oswald Panagl (Seite 38) und Daniel Wagner (Seite 68) widmen sich der Adriana im Kontext der Künstler- bzw. der Historienoper. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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» Adriana ist keine Schauspielerin, die die Rolle einer Schauspielerin spielt, sondern eine Sängerin, die singt und die Rolle einer Schauspielerin spielt. Diese doppelte Ebene der SchauspielGesang-Fiktion ermöglicht einen doppelten Grad an Künstlichkeit. Das schafft ein subtiles Spiel sich spiegelnder Referenzen, das Cilèa perfekt verstand, es sogar nutzte, um eine Art ästhetisches Manifest zu erstellen. « Bruno Cagli
EINE PARTITUR VOLLER BILDER
Anmerkungen des Premierendirigenten Evelino Pidò
Spricht man über Adriana Lecouvreur, kommt man um die Frage nicht herum, ob das Werk zur Gattung der veristischen Oper gehört, wie oft behauptet wird. Nun hat Francesco Cilèa genau in der Epoche des Verismo gelebt, gearbeitet und vor allem Adriana Lecouvreur komponiert und zur Uraufführung gebracht – ein Werk, in dem inhaltlich und atmosphärisch, aber auch formal manches eindeutig durch und durch veristisch ist. Trotzdem ist Cilèa kein typischer Verismo-Komponist wie etwa ein Mascagni, Ponchielli, Giordano oder Leoncavallo. Cilèas Musik, insbesondere Adriana Lecouvreur, ist auch nicht eindeutig »italienisch«. Man spürt zwar das Licht des Mediterranen, aber gleichzeitig auch anderes, »Französisches« etwa, und hier wiederum die Welt des 18. Jahrhunderts. Und es kommt noch etwas hinzu: Cilèa lag das Stück sehr am Herzen und so hat er 28 Jahre lang an der Partitur gearbeitet, verbessert, nachjustiert. Ein Work-in-Progress sozusagen. Mit anderen Worten: Die Uraufführungsversion von 1902 ist eine Sache, die letzte Fassung von 1930 eine andere. Und 1930 war der Verismo doch schon ein Kapitel der Vergangenheit; ein Umstand, der auch in der endgültigen Adriana-Partitur ihren Niederschlag fand. Aus den vorhandenen Dokumenten und Schriften Cilèas geht übrigens eindeutig hervor, dass er diese 1930er-Fassung als die richtige angesehen hat und alle anderen nur als Vor- und Zwischenstufen verstand. Darum wird an der Wiener Staatsoper im Wesentlichen auch diese letzte Version gespielt und zwar strichlos. Mir war wichtig, Cilèas Wunsch bezüglich der Gültigkeit der letzten Fassung nach Möglichkeit zu respektieren. Außerdem ist die 1930er-Version interessanter, vielfältiger und insgesamt qualitätsvoller als die früheren. Es gibt allerdings eine Einschränkung: Da leider keine gedruckte Version von 1930 existiert, haben wir nichts »Schriftliches« in der Hand. Nun stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Handschrift. Und tatsächlich ist mir als Basis für meine Arbeit zunächst das genaue Studium der jeweiligen Autografen immer besonders wichtig. Und da ich ausgezeichnete Kontakte zu Verlagen wie Ricordi oder Bärenreiter habe, bekomme ich auch regelmäßig den diesbezüglichen Zugang. Nur diesmal, bei der Adriana Lecouvreur, wollte es nicht klappen. Entweder hat der Verlag Sonzogno die entsprechende Handschrift tatsächlich nicht mehr oder sie wollten mir den Zugang einfach nicht gestatten. Ich bin also von der »letzten« offiziell einsehbaren Version der Partitur ausgegangen, jener, die der Originalversion von 1930 am nächsten kommt, und diese war dann die Basis für die Einrichtung unseres Orchestermaterials. Wo liegen nun die wesentlichen Unterschiede zwischen den doch zahlreichen Versionen? Zusammenfassend kann man vielleicht sagen: Je mehr sich Cilèa von der ursprünglichen Adriana-Fassung entfernt hat, desto delikater beziehungsweise eleganter und damit weniger veristisch wurde, grosso modo, die Partitur – sowohl in Hinblick auf das Orchester als auch auf die Gesangsstimmen. 11
EV ELINO PIDÒ
Darüber hinaus gibt es diverse Abweichungen und Unstimmigkeiten – beispielsweise in puncto Legati, Notationen zur Dynamik, genaue Platzierung der Akkorde beziehungsweise deren harmonische Zusammensetzung und ähnliche Details. Wenn ich jemandem, der Adriana Lecouvreur nicht kennt, die Musik dieser Oper beschreiben wollte, würde ich es vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: Wunderschöne, raffiniert geschriebene, melodiereiche Arien, von denen ja einige Eingang ins Arienrepertoire großer Interpretinnen und Interpreten gefunden haben. Stilistisch gesehen spürt man durch das gesamte Stück hindurch Cilèas Begeisterung für den französischen Impressionismus, außerdem hat er – wie schon angedeutet – die Musik des 18. Jahrhunderts genauer des früheren 18. Jahrhunderts, als bewusstes Stilzitat in die Partitur eingewoben; manches erinnert dann wieder an das Rokoko, die Wiener Klassik oder an die Grand opéra, wir haben echte Ballettmusik, rezitativische Passagen. Cilèa hat das alles gekonnt zu einem Ganzen geformt und die wesentlichen Themen des Theaters, also Liebe, Hass und Leidenschaft ideal zur Geltung gebracht. Mit anderen Worten: Eine hervorragend instrumentierte, sehr persönliche Klangsprache. Da ich aus einer Malerfamilie komme, betrachte ich Partituren immer wieder gerne auch mit den Augen eines Malers – und diesbezüglich ist die sehr farbenreiche Musik von Adriana Lecouvreur ergiebig. Es gibt regelrecht eine Aneinanderreihung von Bildern in dieser Partitur: Ich sehe zum Beispiel die textilartigen »Spitzenverzierungen«, wie sie im 18. Jahrhundert üblich waren, es gibt ferner sehr zarte Farben, wunderbare pastellartige Schattierungen, die wiederum impressionistisch sind. Cilèa ist vom Kompositorischen her sehr nobel und detailreich, was ein genaues Studium seiner Partituren erfordert. Sicher ist, dass diese Oper grundsätzlich für keinen der Beteiligten »leicht« ist – also auch nicht für den Dirigenten: Die rhythmischen Komponenten, die erwähnten Farben, das Sentiment, das Brillante, das rezitativische Element: Dies alles muss man herausarbeiten und zugleich unter einen Hut bekommen, ohne dass die Partitur in ihre einzelnen Bestandteile zerfällt. Dass das Werk gerne als Primadonnen-Oper bezeichnet wird, greift definitiv zu kurz. Natürlich ist Adriana die Hauptfigur, aber auch der Tenor, die Principessa und vor allem Michonnet sind dankbare und wichtige Rollen. Und die mittleren Partien wie der Abate, der Fürst, die Mitglieder der Comédie-Française, sie alle zusammen tragen in ihrer charakterlichen, aber auch musikalisch unterschiedlichen Vielfältigkeit zum Reiz dieses Stückes bei.
EIN E PA RT IT U R VOLLER BILDER
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» Die Theaterleidenschaft aller Klassen, aller Lebensalter, aller Stände hat die Unüberwindbarkeit und wilde Energie einer Naturkraft. Alle wollen irgendeine Beziehung zum Theater. Sie suchen leidenschaftlich die Bekanntschaft mit irgendeinem Schauspieler oder einer Sängerin, sie arrangieren unter großen Geldopfern Wohltätigkeitsveranstaltungen, weil sie das in Berührung mit den Bühnenleuten bringt, sie werden Theateraktionäre und verzichten gerne auf ihre Dividende, wenn sie dafür unbeanstandet hinter die Kulisse dürfen. «
Egon Friedell, 1922
EHRLICH ZUM WERK SEIN
Im Gespräch mit Regisseur Sir David McVicar
Die Oper spielt in zwei Welten – in der realen, gleichzeitig aber auch in der Scheinwelt des Theaters. Wie weit sind diese beiden sauber voneinander getrennt, gibt es Überschneidungspunkte, Berührungen? DAVID MCVICAR Die gibt es – in der Figur der Titelheldin. Das Spannende an der Oper Adriana Lecouvreur bzw. an dieser Figur ist, dass sie simultan in den beiden von Ihnen genannten Welten zu leben scheint. Also ist sie eine reale Person, gleichzeitig aber auch ein Theatergeschöpf. Sie kann ihre eigene Person nicht von der Schauspielerin trennen.
Das würde aber bedeuten, dass dies auch Auswirkungen auf ihre Beziehung zu Maurizio hat. DM Absolut. Es gibt natürlich Implikationen in Bezug auf die Liebes affäre zwischen ihr und Maurizio: denn diese Beziehung ist auf Fantasie, aber auch Schauspiel und Lügen aufgebaut. Übrigens auch, was Maurizio betrifft. Auch er spielt.
Warum macht er das? Warum verrät er anfangs seine wahre Identität nicht? DM Weil: Wenn er das täte – worin sähe Adriana ihre Zukunft? Als Königin von Polen? (lacht) Das geht doch nicht – sie ist Schauspielerin! Nein, er spielt meiner Meinung nach ein sehr grausames Spiel mit ihr. Und ein gefährliches Spiel.
Ist Adriana sich bewusst, dass er sie niemals heiraten wird, heiraten kann? DM Ja, am Ende schon. Sie wird sich dessen nach und nach bewusst. Im dritten Akt, wenn er dem Befehl der Principessa folgt, dann wird vieles klar. Er muss sich zwischen zwei Frauen entscheiden – zwischen Adriana und der Principessa. Und er entscheidet sich. Er kann es sich nämlich in Wahrheit nicht leisten, die politische Unterstützung der einflussreichen Principessa zu verlieren. Daher folgt er nach dem Monolog Adrianas aus Phädra nicht ihr, sondern eben der Adeligen.
Wie ist Maurizios Beziehung zur Principessa? Liebt er sie? DM Nein, es ist eine sexuelle Beziehung, die auf einer politisch mo tivierten Basis beruht. Wie gesagt, er braucht die Principessa für seine »Karriere«.
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GE SPR ÄCH MIT SIR DAV ID MCV ICA R
Liebt er Adriana? DM
Er liebt sie. Ohne Zweifel. Und trotzdem bleibt es ein gefährliches Spiel. Welche Funktion hat Michonnet in dieser Oper? Rein vom zentralen Handlungsablauf her hat er ja keine Schlüsselrolle? DM Der so hoffnungslos in Adriana verliebte Michonnet symbolisiert das Theater, ihre echte Heimat. Seine Liebe ist es, die ihr Herz mit dem Theater verbindet. Er ist also ein Symbol für die Welt des Theaters an sich. Und er ist damit auch der Gegenpol zur Sphäre von Maurizio und der Principessa.
Greift in dieser Oper dramaturgisch das Gut-Böse-Schema zu kurz? DM Es wäre eine zu simple, melodramatische Sicht auf dieses Werk. Denn es handelt sich in Wahrheit um eine Art Krieg zwischen den beiden Frauen um einen Mann. Man kann nicht sagen, dass die Principessa nur »böse« ist, sie ist es nicht. Sie ist voller Liebe für Maurizio. Wäre sie das nicht – wie könnte sie eine solche Auftrittsarie singen? Das ist eine Musik voller Leidenschaft!
Sie lassen Ihre Inszenierung in der Originalzeit, also 1730 spielen. DM Das scheint mir die beste und korrekteste Zeit zu sein. Die Epo che und der Ort sind ideal für die Handlung der Oper, warum sollte man also etwas ändern? Es geht ja schließlich um Menschen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Für mich wäre es falsch, zum Beispiel eine Transformation in die Gegenwart vorzunehmen. Wie sollte das auch funktionieren? Diese Figuren passen in kein modernes Umfeld. Der Abbé zum Beispiel – wie sollte er in der heutigen Zeit glaubhaft wirken? Nein, ich persönlich finde es interessanter, mit dem Werk ehrlich umzugehen und es in der Zeit und an dem Ort zu belassen, in die und an den es gehört.
→ Raúl Giménez als Abbé und Alexandru Moisiuc als Fürst, 2014
GE SPR ÄCH MIT SIR DAV ID MCV ICA R
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Arthur Kahane
THEATER: HOLDE LÜGE UND TIEFE WAHRHEIT
Erwachsene Menschen, die nicht aufhören zu spielen, wie sie als Kinder gespielt haben! Erwachsene Menschen, die ihre Kinderträume von adeligen und überlebensgroßen Menschen, von Schönheit und Leidenschaft nicht loswerden können und sich einbilden, sie in Wirklichkeit zu verwandeln, wenn sie sich Fett ins Gesicht schmieren, Fußsäcke ums Kinn hängen und ihre Leiber in lächerliche Fastnachtskostüme stecken! Erwachsene Menschen, die sich dazu hergeben, für Geld anderen Menschen mit Todesernst Spaß vorzumachen! Die glücklich sind, wenn andere Hände klatschen, und unglücklich, wenn andere Lippen pfeifen! Bis zur Selbstvernichtung vom Beifall und Missfallen der Leute abhängig, die sie im Grunde ihres Herzens verachten! Bemüht, andere mit Freude und Schönheit zu überschütten! Bemüht, den anderen Menschen ihre heimlichsten Wünsche zu entreißen und ihnen die lebendig gewordenen vorzugaukeln! Bemüht, anderen in wechselnden Gleichnissen und Verwandlungen den Sinn des Lebens zu deuten, der ihnen selbst verborgen bleibt! Tun sie es auf der Jagd nach dem eigenen Ich? Oder auf der Flucht vor sich selbst? Tun sie es aus Scham, die eigene Seele hinter Masken zu verstecken? Oder aus Schamlosigkeit, die sie treibt, die letzten Hüllen von der Seele zu reißen und die nackte der öffentlichen Schau preiszugeben? Sie verlieren den Gebrauch der eigenen Sprache und sprechen Worte, die andere gedacht haben und die sie nie gebraucht hätten. Sie fühlen Gefühle, die andere gefühlt haben. Und sie fühlen sie stärker, besser, schöner als die andern. Dadurch, dass sie sie fühlen, werden die Gefühle erst wahr, werden wirklich und leben. Seltsamer Beruf! Menschen schreien und brüllen, verstummen, regen sich auf bis zur Verzweiflung. Und warum? Um Hekuba!
Um ein zweckloses Nichts herum haben sie, fast unbewusst, aus Schein und Spiel eine zweite Welt geschaffen, die konzentrierter, sinnvoller, in tieferem Sinne wirklicher ist als die wirkliche. Wenn der Vorhang gefallen und das Spiel aus ist, dann entfernen sie mit Mastix den Bart vom Kinn, reinigen ihr Gesicht von der Schminke, ziehen ihre bürgerliche Gewandung an, gehen nach Hause oder ins Wirtshaus und sind wie die anderen. Sind sie wirklich wie die anderen? Nicht doch ein wenig leichter, freier, heißer, reicher? Theater: Auf dieses seltsame Wundergebilde, in dem Schein und Wirklichkeit zu einer neuen Einheit zusammenfließen, auf diese bessere Miniaturausgabe und Wiederholung des Weltganzen, die sie sich aus holder Lüge und einer tieferen Wahrheit, als es alle Wahrheit der Wirklichkeit ist, schöpferisch gebaut hat, wird die Kultur nie verzichten. Sie braucht das unvergängliche Gleichnis der Vergänglichkeit, das Theater heißt, um in ihm Schicksal und Gesetz des Lebens zu lesen, das Chaos der Zeit gespiegelt, entwirrt und gedeutet zu haben. Seine fortwirkende Kraft währt ewig, sein eigentliches Leben drei Stunden. Rätselhafte Macht einer in drei kurze Abendstunden zusammengepressten Falter- und Flitterherrlichkeit! Seine Schönheit benötigt den Abend und sein künstliches Licht. Festglanz der Abendstunde, den Feierabend braucht es. Da vollendet es sich erst. Erwartung starrt fasziniert auf den Vorhang, hinter dem sich das Bild zu Saïs verbirgt. Erst wenn auf das dritte Gebot der Zauberglocke der große Lüster über dem Zuschauerraum erlischt und mit einem Schlage die Rampenlichter aufleuchten, beginnt sein Leben sich zu entfalten, langsam, zögernd erst, sich aufrollend, im wechselnden Spiel von Hell und Dunkel, der Farben und Schatten, und strahlt auf unter der Flut von Licht, die sich von allen Seiten darüber ergießt, von vorn und hinten, von oben und von den Seiten, aus der Fuß- und der Oberrampe, vom Kulissenapparat und aus den Scheinwerfern. Im magischen Bann dieses künstlichen Lichts sehen die da unten eine zweite Wirklichkeit, die Wirklichkeit ihrer Könige und Helden, der Guten und der Bösen, der Männer und Frauen und alle Torheit und Weisheit der Liebe in allen ihren süßen und närrischen Formen. Sie sehen wirkliche Menschen, nur schöner, besser, größer, stärker, böser, leidenschaftlicher, deutlicher, näher an Gott und Tier. Sie sehen das Ringen der Persönlichkeit, die dunklen und doch unbeirrten Wege des Schicksals, und sie sehen den Zusammenhang der Dinge. Und durch den ganzen Betrug gestalteter Wahrheit hindurch finden sie im entschleierten Bilde zu Saïs – sich selbst. Im abendlich festlichen Spiel – Spiegel und Abbild ihres Lebens, alles Lebens.
Alexandra Wilson
CILÈA UND SEINE OPERN
Der Name Francesco Cilèa mag heute vergleichsweise unbedeutend klingen, wenn man an seine Zeitgenossen Mascagni, Leoncavallo und allen voran natürlich Puccini denkt. Wenn man sich seiner heutzutage überhaupt noch erinnert, dann wohl am ehesten wegen seiner Oper Adriana Lecouvreur, die im Repertoire zwar eher eine Nebenrolle spielt, jedoch immer noch genügend Interesse weckt, um mit einiger Regelmäßigkeit aufgeführt und eingespielt zu werden. Der Rest seines Werkes, das vier weitere komplette Opern und eine Reihe von Instrumentalstücken umfasst, ist dem Publikum außerhalb Italiens nahezu gänzlich unbekannt. Sein Leben scheint von Enttäuschungen und Fehlstarts gekennzeichnet zu sein. Die meisten seiner Opern gerieten rasch in A LEX A N DR A W ILSON
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Vergessenheit, die geplante Zusammenarbeit mit gefeierten Librettisten verlief im Sande, und im frühen mittleren Alter gab er schließlich das Komponieren von Opern gänzlich auf, obwohl er weit über 80 Jahre alt wurde. Dennoch ist Cilèas Karriere einen genaueren Blick wert. Seine weniger bekannten Stücke – auch jene, die er unvollendet ließ – erzählen uns viel über die kulturellen Strömungen in Italien um die Jahrhundertwende. Wer also ist der rätselhafte Cilèa, der Adriana schuf? Francesco Cilèa wurde am 26. Juli 1866 in der kleinen Ortschaft Palmi in Kalabrien geboren, nur einen Steinwurf weit von Sizilien entfernt. Er gehörte zur sogenannten »Giovane Scuola«, einer Gruppe italienischer Komponisten, die zwischen 1850 und 1870 geboren wurden und zu der neben Puccini, Mascagni und Leoncavallo Namen wie Alberto Franchetti, Franco Leoni, Alfredo Catalani, Ermanno Wolf-Ferrari und Umberto Giordano zählen. Viele Vertreter dieser Generation schrieben veristische Opern, die sich vorwiegend mit düsteren Situationen und »zwielichtigen« Charakteren befassten, in denen eine schonungslose Handlung auf einen meist rauen Musikstil trifft. Cilèa versuchte sich im Verismo, verwirklichte ihn jedoch niemals mit ganzer Überzeugung. Diese Ambivalenz war wohl auch eine Enttäuschung für seinen Schutzherren Edoardo Sonzogno, den Leiter des einflussreichen Musikverlags Sonzogno und Vorkämpfer des Verismo. Sonzogno half dabei, die Karrieren vieler junger italienischer Komponisten zu fördern, indem er einen alljährlichen Opernwettbewerb organisierte. Eine der ersten Gewinnerinnen, die Cavalleria rusticana, feierte großen internationalen Erfolg. Danach war er beständig auf der Suche nach dem nächsten Mascagni und dachte wohl auch, einen solchen in der Person Cilèas gefunden zu haben, nachdem er das Abschlussstück des jungen Komponisten am Konservatorium von Neapel gehört hatte. Sonzogno beauftragte Cilèa, La Tilda zu schreiben, eine melodramatische Oper über einen rachsüchtigen Straßensänger, mit der Sonzognos Ensemble 1892 auch in Wien gastierte. Die italienische Presse beschrieb die Aufführung in Wien als einen Triumph. In Wirklichkeit jedoch verrissen viele österreichische Kritiker das Libretto von La Tilda als »lächerlich«. Obwohl Cilèas Musik nicht gleichermaßen abgetan wurde, kritisierte man sie dennoch als zu konservativ und konventionell. In Italien verhallte der anfängliche Erfolg des Werkes rasch, und selbst Cilèa konnte sich nur wenig dafür erwärmen. Sein nächstes Opernprojekt war ein weiteres realistisches Werk, das jedoch die Sensationslust des Verismo vermied. L’Arlesiana (1897) basierte auf einem halb autobiografischen Stück von Alphonse Daudet, einem provenzalischen Dorfjungen, der von seiner Besessenheit für ein Mädchen aus der Stadt mit Vergangenheit in die Selbstvernichtung getrieben wird. Diese Femme fatale, deren Bild als Ahnung über der Handlung schwebt (die jedoch nie selbst auf der Bühne erscheint), war ein Beispiel der ikonenhaften Arlésienne (dem »Mädchen aus Arles«), das die traditionelle provenzalische Kul 21
CILÈA U N D SEIN E OPER N
Francesco Cilèa ←
tur symbolhaft verkörpert und auch Gemälde von Cézanne und Van Gogh inspirierte. Zu dieser Zeit, in der so viele veristische Komponisten, die in Norditalien große Erfolge feierten, ihre Inspiration durch den Blick in den malerischen, wenngleich »rückständigen« Süden ihres Landes bezogen (die Cavalleria rusticana spielt in Sizilien und Pagliacci in Kalabrien), erscheint es bemerkenswert, dass sich Cilèa, der mit dieser Region so eng vertraut war, anders entschied. Dennoch fand dieser Komponist aus dem Süden mit Sicherheit eine gewisse Resonanz in den Themen und Handlungen von Daudets provenzalischem Stück, das zu einem Zeitpunkt der französischen Geschichte geschrieben wurde, in der sich ein Aufstieg des Regionalismus und eine Gegenbewegung zu den Auswirkungen der Modernisierung auf die lokalen Traditionen abzeichneten. L’Arlesiana beeindruckte sein frühes Publikum, enthielt eine Reihe denkwürdiger Arien und verhalf der Karriere ihres ersten Haupttenors, Enrico Caruso, zum Durchbruch. Dennoch geriet die Oper bald in Vergessenheit, sowohl in ihrer ursprünglichen Form als Vierakter als auch in ihrer überarbeiteten Fassung in drei Akten, und nach weiteren Bearbeitungen im Jahr 1912 zog Cilèa die Oper für die darauffolgenden zwei Jahrzehnte gänzlich zurück. Der Erfolg stellte sich für Cilèa schlussendlich im Jahr 1902 mit Adriana Lecouvreur ein. Wiederum war Caruso der gefeierte Star, und diesmal sollte das Werk auch internationalen Ruhm erlangen und in den folgenden fünf A LEX A N DR A W ILSON
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Jahren seinen Weg in weit entfernte Metropolen wie Warschau, Buenos Aires, Kairo, St. Petersburg und New Orleans finden. Dieser Aufschwung sollte jedoch nicht von Dauer sein. Cilèas nächste Oper Gloria (1907) war ein Werk im Stil von Romeo und Julia und handelte von befehdeten Familien im Siena des 14. Jahrhunderts – ein Stück mit ehrgeizigem Ansatz und fortschrittlicher Musik. Die Premiere wurde von Toscanini dirigiert und die ersten Presseberichte waren positiv. Das Werk wurde für seine »melodische Klarheit«, »Aufrichtigkeit« und sein »italienisches Flair« gelobt. Wie L’Arlesiana fand jedoch dieses anfänglich erfolgreiche Werk nur unzureichende Verbreitung und geriet bald in Vergessenheit, möglicherweise auch überschattet durch die italienische Premiere der moderneren und sensationellen Salome von Richard Strauss. Darin liegt möglicherweise auch der Kern von Cilèas Problem: Abgesehen von den Innovationen in Gloria scheint sein Werk irgendwie einer früheren Ära anzugehören und er hatte nur wenig Interesse daran, sich mit der Avantgarde zu messen. Zunehmend desillusioniert von den Bemühungen der Firma Sonzognos zur Förderung seiner Arbeiten und vielleicht auch im Verlangen nach einer gefestigteren Existenz nach seiner Heirat im Jahr 1909 nahm er 1913 die Stelle des Direktors des Konservatoriums von Palermo an und danach auch jene seiner Alma Mater, dem Konservatorium von Neapel, an dem er zwanzig Jahre lang bleiben sollte. Obwohl das Interesse an Adriana Lecouvreur und L’Arlesiana in den 1930er Jahren wieder auflebte, tat Cilèa nicht mehr, als sich gelegentlich in kleineren Opernkompositionen zu versuchen und Änderungen an seinen früheren Werken vorzunehmen. Dennoch ist Cilèas Geschichte hier noch nicht zu Ende. In gewisser Weise sind die Geschichten jener Opern, die er nicht schrieb, ebenso interessant wie jene, die er tatsächlich schrieb. Sie deuten an, wie nahe er unter Umständen einer viel erfolgreicheren internationalen Karriere war, die ihm durch nicht verwirklichte Projekte nur knapp entging. Etwa jene Pläne für eine opernhafte Francesca da Rimini mit Gabriele D’Annunzio, einem dekadenten Romanautor, Dichter, Dramatiker und rechtsextremen Aktivisten, die an überzogenen Honorarforderungen des Librettisten scheiterten. Ein andermal ließ Renato Simoni Cilèa im Stich, indem er ein Libretto für eine geplante fantastische Oper, Il ritorno dell’amore, verwarf, weil ihm eine bevorstehende Schiffsreise nach China wichtiger war. (Diese Reise beflügelte zweifellos dessen Inspiration für das Libretto eines späteren, viel berühmteren fantastischen Werks, nämlich Puccinis Turandot.) Eine Reihe weiterer Fehlstarts offenbart vieles über die eklektischen Launen, Moden und die kulturelle Voreingenommenheit im Italien des Fin de Siècle. Cilèa erwog, eine Marionettenoper für Vittorio Podreccas Teatro dei Piccoli zu schreiben, ein Puppenensemble, dem professionelle Opernsänger ihre Stimme liehen und das die komischen Opern von Mozart, Paisello, Per 23
CILÈA U N D SEIN E OPER N
golesi und Rossini aufführte sowie eigens geschriebene Werke von Komponisten wie etwa Respighi. Cilèa kokettierte auch mit dem Symbolismus und erwog, La Princesse Maleine von Maurice Maeterlinck zu vertonen. Ferner arbeitete er zwischen den 1910er und den frühen 1920er Jahren mit dem Schriftsteller Ettore Moschino an einer Inszenierung für eine Oper mit Schauplatz Pompeji, Rosa di Pompei, die, wäre sie vollendet worden, einen starken Widerhall in der damals in Italien verbreiteten Verehrung der altrömischen Kultur und im Aufstieg eines zunehmend aggressiven Nationalismus gefunden hätte. Es gibt noch einen weiteren Handlungsstrang in Cilèas Karriere, der heute beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten ist. Während sich die meisten seiner Zeitgenossen auf die Oper spezialisierten, versuchte eine Handvoll von ihnen, Italien als Nation der Instrumentalmusik neu zu erfinden. Cilèa war bemerkenswerterweise in beiden Welten zuhause. Zu seinen Lehrern am Konservatorium von Neapel in den späten 1870ern zählte auch Giuseppe Martucci, der selbst nicht nur Orchester- und Instrumentalkomponist war, sondern auch ein Verfechter der Musik Mozarts, Beethovens und Brahms’, die damals in Italien noch wenig bekannt war. Es war eine Zeit in der Geschichte Italiens, als nicht opernhafte Musik die Vorliebe einer Minderheit war, meist intellektuelle Kenner in größeren Städten – eine Situation, die Martucci zu ändern suchte. Der Student Cilèa hatte einen besonderen Zugang zu dieser »Elitenkultur«: Er kam in Neapel gleich nach der Gründung der Quartet Society an und zu einer Zeit, als Martuccis Società Orchestrale ihre ersten symphonischen Konzerte gab. Cilèas eigene instrumentale Einflüsse waren erlesen. Bach, Chopin, SaintSaëns und Ravel zählten dazu. Seine Kompositionen umfassten Klavier- und Kammerwerke, Salonlieder und ein symphonisches Gedicht für Tenor, Chor und Orchester (Il canto della vita) zu Ehren von Verdis Jubiläum im Jahr 1913. Als Direktor des Konservatoriums von Neapel sollte Cilèa das Werk seiner früheren Lehrer weiterführen. Er förderte sowohl ausländische als auch italienische Instrumental- und Orchestermusik. Heute wird Cilèas Werk oft als Eintagsfliege angesehen (wobei die Frage interessant wäre, wie viele Opernbesucherinnen und Opernbesucher ein zweites Werk von Leoncavallo oder Mascagni nennen könnten). Er ist jedoch viel mehr als das. Seine Tendenz, sich in unterschiedlichen musikalischen und dramatischen Stilrichtungen zu versuchen, schadete in gewisser Weise seiner Karriere und trug dazu bei, dass er in der Opernwelt keinen echten Durchbruch schaffte. Gerade diese Vielseitigkeit macht seinen Werdegang jedoch so bemerkenswert. Cilèa umfasste das gesamte Spektrum der italienischen Musik des Fin de Siècle, vom großen Bühnenerfolg bis hin zu den wenig bekannten Werken. Die Lebensgeschichte Cilèas zu lesen, bedeutet, ein Panorama seiner Zeit aufzuschlagen – einer Zeit, die gewiss faszinierend gewesen sein muss. A LEX A N DR A W ILSON
→ Angela Gheorghiu als Adriana Lecouvreur und Massimo Giordano als Maurizio, 2014
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Ulrich Schreiber
OHRWÜRMER UND BLUMEN
Die Repertoirefähigkeit vieler Opern von Komponisten aus der um 1860 geborenen Generation der »Giovane Scuola Italiana« ist überhaupt ein Wirkungsmerkmal der als »Verismus« geltenden Epoche. Es ist in Italien selbst von den Kritikern, die an der Substanz der Werke Zweifel äußerten, kaum je bestritten worden, sehr wohl aber – mitsamt der Qualität der in Frage kommenden Opern – in den beiden anderen Ländern mit einer langen autochthonen Operntradition: Frankreich und Deutschland. Deutschland hatte die oft mit ihrem Wagner-Dünkel operierende Kritik bis in die Zeit des »Dritten Reichs« einen herablassenden Ton, der sich nach 1945 durch den Siegeszug des Musikdenkens und -beschreibens in Kategorien des aus der nicht-tonalen Musik abgeleiteten Materialfortschritts ideologisch verlagerte. Eine Wende, vorbereitet durch die zunehmende Musikverbreitung in den audiovisuellen Massenmedien und die Internationalisierung des Opernlebens, trat auf breiter Front in den späten 60er Jahren ein, zumal nach dem Tod der Sopranistin Maria Callas im Jahr 1977 viele ihrer Schallplatten – nicht nur Operngesamtaufnahmen, sondern auch einzelne Arien wie die von Cilèas Adriana Lecouvreur – zu mythisierten Inkunabeln eines Neo-Belcanto wurden. Konkret bezogen auf eine Aufführung von Giordanos Andrea Chénier hatte U LR ICH SCHR EIBER
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der Wiener Kritiker Julius Korngold, Vater des Komponisten Erich Wolfgang, schon in seiner 1922 erschienenen Sammlung von Kritiken die italienische Oper der veristischen Epoche bei allen Einwänden im Einzelnen gegen die überwältigende Mehrheit seiner Kollegen in Schutz genommen: »Wenn deutsche und französische Kritiker sich versucht fühlen, allzu geringschätzig auf die italienische Oper der letzten Jahre herabzusehen, mögen sie sich nur schleunigst der Produktion der Heimat erinnern« – ein deutlicher Hinweis darauf, dass im Schatten des übermächtigen Puccini erheblich mehr Blüten wuchsen als im Schatten von Debussy und Richard Strauss. Dieses Urteil beschreibt auch den Sachverhalt, dass mit der Uraufführung von Mascagnis Cavalleria rusticana 1890 ein gewaltiger Produktionsschub einsetzte, der in mancherlei Hinsicht zu einem Quantensprung führte: dem Umschlag in eine neue Qualität. Der Verismo, wie zweifelhaft oder zumindest einengend der in der zeitgenössischen Literatur so gern benutzte Begriff auch immer sei, hat die italienischen Opernkomponisten von der Übermacht Verdis be- freit, ihnen ein neues schöpferisches Selbstvertrauen gegeben. In Adriana Lecouvreur ist aus dem Bühnendrama von Scribe und seinem Assistenten ein Kriminalfall mit eindeutiger Schuldzuweisung geworden. Über die klassische Dreieckstragödie hinaus frappiert die anfangs im Theatermilieu angesiedelte, vieraktige Oper, die Cilèa bis zu der Aufführung in Neapel 1930 immer wieder mit zumeist kürzenden Eingriffen bearbeitete, durch ihre Übergänge zwischen Musik und Sprache. Adriana spielt im 1. Akt die Roxane in Racines Tragödie Bajazet, und ihr – auf der Bühne des Musiktheaters nicht gezeigter – Auftritt wird aus der Kulisse von dem in die Darstellerin verliebten Regisseurs Michonnet kommentiert: ein anfänglich zum Thema von Adrianas vorangegangener Arie Io son l’umile ancella (Ich bin eine niedere Magd der Kunst) als Sprechgesang angelegtes Arioso, das von der Beobachtung der Kunstwelt in die Offenbarung der inneren Gefühlswelt des Baritons übergeht. Als ein furios in den Gesang springendes Melodram – ein erst von Verdi mit den Briefszenen von Lady Macbeth und Violetta in La traviata behutsam in die ernste italienische Oper eingeführtes Stilmittel – rezitiert Adriana im 3. Akt bei fortlaufendem Orchesterkommentar einen Monolog aus Racines Phädra: dramaturgisch eine letztlich zu ihrer Ermordung führende moralische Pfeilspitze gegen ihre Nebenbuhlerin, stilistisch eine überzeugende Synthese von Sprech- und Musiktheater. Sie überführt die vereinzelten Spracheinwürfe aus der veristischen Oper der Zeit in einen größeren Form- und Sinnzusammenhang. Es ist, in Fortspinnung von Leoncavallos Pagliacci, die Dialektik von Sein und Schein. Sie trägt mit anderen Einschüben aus einer Komödie Die Torheiten der Liebe und einer Tanzpantomime Das Urteil des Paris zur Schaffung eines historisierenden Kunstambientes bei. Vor diesem Hintergrund gewinnt Cilèas musikalische Gefühlssprache umso mehr Gegenwärtigkeit. Der Komponist, der nach der 1907 erfolglos unter Toscanini kreierten Gloria keine 27
OHRW Ü R MER U N D BLUMEN
» Das Theater ist nicht nur der Punkt, wo sich alle Künste treffen. Er ist ebenso die Rückkehr der Kunst ins Leben. «
Oscar Wilde
neue Oper auf die Bühne brachte, hat mit diesem melodramatischen Stil dem italienischen Melodramma ohne jeden Neuerungsanspruch neue Facetten eingebracht. Obwohl die Oper weitgehend durchkomponiert ist, heben sich doch – leitmotivisch abschattiert im Orchesterpart auftauchend – organisch Einzelnummern aus der Partitur heraus: neben zwei Tenorarien für Moritz besonders die in der Tradition von Ebolis O don fatale aus Don Carlo stehende dämonische Selbstaussprache der Fürstin Bouillon Acerba voluttà. Zu Ohrwürmern sind Adrianas Soli geworden: nicht nur ihr das Ende vorwegnehmender g-Moll-Gruß an die (vergifteten) Blumen Poveri fiori, in denen sie fälschlich einen Liebesverrat des Grafen vermutet. Diese schon das Vorspiel IV motivisch bestimmende Arie verbreitet nach den lastenden Sekundschritten der Orchestereinleitung mit dem Oktavsprung im ersten Takt eine morbide Weltflüchtigkeit. Wie sehr Cilèas Vokalstil aus den Niederungen des Weltschmerz-Lyrismus der Jahrhundertwende herausragt, zeigt der Anfang von Adrianas Io son l’umile ancella. Es ist, von Des- nach As-Dur angehoben, dieselbe von einer Sekundreibung unterbrochene Folge von zwei aufsteigenden Dur-Terzen wie in Gustav Mahlers Rückert-Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen. Seit Angelica Pandolfini in der Uraufführung haben sich Primadonnen des italienischen Fachs immer wieder um die Partie gerissen: Claudia Muzio, Rosa Ponselle, Maria Caniglia und Gina Cigna seien genannt. Legendär ist der Fall der Magda Olivero, die 1939/40 in der Rolle brilliert hatte, sich aber ein Jahr später von der Bühne zurückzog, ehe sie – von Cilèa kurz vor seinem Tod immer wieder dazu gedrängt – als Adriana 1951 ein sensationelles Comeback feierte.
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U R LICH SCHR EIBER
Walter Dobner
GEHÖRT ADRIANA LECOUVREUR ZUM VERISMO?
Eine Annäherung
Manche Begriffe werden so selbstverständlich, dass man sie nicht mehr näher hinterfragt. Wie etwa »Verismo«. Man meint zur Genüge zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Kurz gefasst: eine Tendenz in der Entwicklung der europäischen, vor allem italienischen Oper des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das Alltagsleben auf die Bühne zu bringen. Als Hauptwerke dieser Stilrichtung werden stets Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana und Ruggero Leoncavallos Pagliacci genannt. Schließlich, wird zuweilen kolportiert, lasse sich aus dem Prolog dieses Einakters das Programm des Verismo herauslesen. Heißt es doch darin, dass der Autor versucht habe, »eine Episode des Lebens zu zeigen« und dass sich der Künstler nicht von den übrigen Menschen unterscheide. Die Idee zu dieser Einleitung stammt allerdings nicht vom Komponisten. Vielmehr kam er damit dem Wunsch des ersten Darstellers des Tonio, Victor Maurel, nach einem Solostück nach. Irgendwelche dramaturgischen oder sonstigen Überlegungen spielten also keine Rolle.
→ Plakat für die Oper Adriana Lecouvreur, 1902
Überhaupt ist über den Verismo weit weniger bekannt, als man meinen möchte, trotz vermehrter Forschungen in den letzten Jahrzehnten. Dies hat wenigstens dazu geführt, dass dieses Thema vermehrt in Lexika Eingang gefunden hat. Der Begriff findet sich erstmals bei Giuseppe Verdi in einem Brief an seinen Verleger Ricordi vom November 1880. Und zwar bezieht er »Verist« auf sich und seine Komponistenkollegen. Die erste Oper des Verismo wurde zehn Jahre später uraufgeführt und ist mit jener literarischen Be 31
WA LT ER DOBN ER
wegung in Italien verknüpft, dessen wichtigster Autor Giovanni Carmelo Verga war. Denn Pietro Mascagnis Welterfolg, der Einakter Cavalleria rusticana, beruht auf den Sceni popolari dieses Dichters. Dessen Sujet zielt genau auf das Anliegen der Veristen: in ihren Werken ein Abbild der Wirklichkeit zu geben. Bemerkenswert, dass davon bei der Uraufführung am 17. Mai 1890 am römischen Teatro Constanzi keine Notiz genommen wurde. Erst als dieses Melodramma in un atto (wie der Komponist sein Werk im Untertitel nannte) während eines vom Verleger Edoardo Sonzogno organisierten Gastspiels einer italienischen Theatertruppe anlässlich der Internationalen Musik- und Theaterausstellung in Wien im September 1892 aufgeführt wurde, war in den Kritiken über die aufgeführten Opern – darunter auch La Tilda von Francesco Cilèa, Mala vita von Umberto Giordano, Ruggero Leoncavallos Pagliacci und Leopoldo Mugnones Il Biricchino – plötzlich von »Verismo« die Rede. Am 18. September 1892 bei Wilhelm Frey im Neuen Wiener Tagblatt, drei Tage danach bei Eduard Hanslick in der Neuen Freien Presse und am 3. November bei Theodor Helm im Musikalischen Wochenblatt.
»Ein recht schwer greifbares Wesen« Hatte Sonzogno, den man in diesem Zusammenhang als »großen Mailänder Reklameverleger«, aber auch als »Gründer« des Verismo apostrophierte, unter diesem Begriff für seine neuen Opern geworben? Wurde, wie es dieser Gleichklang in den Kritiken vermuten lässt, der Begriff »Verismo« von ihm gar erfunden, um dieses Gastspiel besser und damit »seine« Opern nachhaltiger vermarkten zu können? Jedenfalls berichtet Theodor Helm: »Auf ihr eigenes Banner haben diese Vertreter Jung-Italiens das Schlagwort Verismo (Naturwahrheit) geschrieben.« Und der gleichfalls namhafte Wiener Kritiker Richard Heuberger, bis heute durch seine meisterliche Operette Der Opernball auch breiteren Kreisen ein Begriff, konstatierte, dass alle diese Komponisten »auf den Verismo schwören«. Er meldete in seinem Essay »über die an Mascagnis Rockschößen nach Wien gelotsten Komponisten«, die als »die besten unter den musikalischen Theatral-Veristen« annonciert wurden, aber auch ernste Zweifel an diesem Begriff an, den er als »recht schwer greifbares Wesen« umschrieb. Kalkül oder, wie wir heute sagen würden, ausgeklügeltes Marketing ist offensichtlich ein wesentlicher Ursprung dieses »Verismo«-Begriffs. Als der findige Verleger Sonzogno 1889 seinen zweiten Operneinakter-Wettbewerb ausrichtete, aus dem Cavalleria rusticana als Sieger hervorging, ging es ihm nicht um theoretische, gar opernästhetische Überlegungen. Er suchte, wie es für jeden Verleger legitim ist, nach zeitgenössischen Werken, aus denen sich ein gutes Geschäft schlagen lässt. Dass Leoncavallo ein veristisches Libretto vertonte, war Zufall. Aber dass im Gefolge dieses raschen Welterfolgs andere WA LT ER DOBN ER
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Komponisten versuchen würden, dem Vorbild zu folgen, war eine Entwicklung, die man durchaus erwarten konnte. Freilich, die Suche nach Sujets, die sich von den mythischen der übermächtigen Opernfigur Richard Wagners unterschieden, lag – zumindest im Hintergrund beeinflusst von den aktuellen literarischen Entwicklungen in Frankreich und Italien, so unterschiedlich sie auch sind –, damals in der Luft. Nur bedurfte es jemandes, der dies, wenn schon nicht direkt, so wenigstens mittelbar erkannte oder spürte, wie eben jener findige Sonzogno. So skeptisch die Kritik auf diese neue Tendenz reagierte, so enthusiastisch wurde sie vom Publikum begrüßt. Allein bis in die 1930er Jahre wurden in Italien über 80 Opern komponiert, die sich bei all ihrer Verschiedenheit in der musikalischen Ausgestaltung und den Libretti als veristisch bezeichnen lassen. Angeführt von – neben Mascagni und Leoncavallo – Umberto Giordano, Francesco Cilèa und Giacomo Puccini, die sich als die wesentlichen Repräsentanten dieser »Giovane Scuola Italiana« (»Jungitalienischene Schule«) verstanden. Zu den verbindenden Merkmalen dieser Komponisten gehört, dass sie – Puccini ausgenommen, dessen veristische Züge sich am deutlichsten in Il tabarro, zum Teil auch in La Bohème und in Tosca ausmachen lassen – meist nur mit einem Werk erfolgreich waren, zudem Handlungen vertonten, die vor allem in Süditalien, entweder in bäuerlichen oder, im Falle von Neapel, proletarischen Milieus spielten. Zumindest in der Anfangsphase des Verismo. Denn bald erkannte man, dass sich auch andere Atmosphären ideal dafür eigneten, grell kontrastierende, oft von sexuellen Motiven mitbestimmte Gefühlskonflikte aus dem Alltagsgeschehen effektvoll auf die Opernbühne zu bringen. Deshalb griffen Komponisten bald auch zu historischen Sujets oder Libretti, in denen Künstlerpersönlichkeiten im Mittelpunkt des Geschehens stehen.
Eine historisch inspirierte Dreieckstragödie
→ Nächste Seiten: Szenenbild aus Adriana Lecouvreur, 1. Akt, 2014
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Dass sich am Beispiel eines Künstlerambientes Lebenswirklichkeit in einem veristischen Sinn zwingend darstellen lässt, war spätestens seit Verdis La traviata bekannt, gleich Bizets Carmen eine Art Vorbild für die folgende Verismo-Mode. Auch Francesco Cilèas berühmteste Oper, Adriana Lecouvreur, spielt im Künstlermilieu. Ausgehend von einer wahren Geschichte: dem Tod einer der berühmtesten Schauspielerinnen der Comédie-Française, der für ihre noble Deklamationskunst berühmten, zwischen 1692 und 1730 lebenden Adrienne Lecouvreur, die am Ende einer Vorstellung von Voltaires Œdipe in den Armen des Dichters starb. Um das fünfaktige Schauspiel auf eine vieraktige Oper komprimieren zu können, entschieden sich Francesco Cilèa und sein Librettist Arturo Colautti den ersten Schauspielakt wesentlich zu kürzen und dabei nur jene Passagen zu berücksichtigen, die dem Verständnis der Handlung dienen. Später reviGEHÖRT A DR I A NA LECOU V R EU R Z UM V ER ISMO?
dierte Cilèa die Oper mehrfach gründlich, womit das Werk in unterschiedlichen Versionen vorliegt. Gegenüber der Erstfassung unterscheidet sich die letzte – sie wurde mit ebensolchem Erfolg wie die erste im Mai 1930 am Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt – u.a. durch ein Weglassen einzelner Arien und Szenen. Das bewirkt eine Straffung des Geschehens und schafft direktere Übergänge zwischen der Musik und der Sprache. Neben der Einbindung des gesprochenen Wortes, wie man es aus den Finali von Cavalleria rusticana und Pagliacci kennt, wartet Adriana Lecouvreur – auch das eines der Wesensmerkmale veristischer Opern – mit einem sich gegen jegliche Überhöhung wehrenden, betont realistischen Schluss auf. Wirkungssicher rückt Francesco Cilèa den Schauspielberuf der Titelfigur in den Vordergrund, als er sie im dritten Akt über den Klängen des Orchesters einen Monolog aus Jean Baptiste Racines Phädra zitieren lässt. Schon zu Beginn war ihr nicht sichtbarer Auftritt als Roxane in Racines Bajazet von dem in sie verliebten Regisseur Michonnet kommentiert worden. Realistischer, sprich: veristischer lässt sich das kaum darstellen. Zusätzlich beeindruckt in dieser finalen Adriana Lecouvreur-Fassung die Eleganz der Orchestersprache und die raffinierte vokale Diktion, mit welcher der sich auf der Höhe seines Schaffens befindende Komponist die packende, psychologisch vielschichtige Kriminalstory umsetzt. Wer sich, wie Cilèa, zur Aufgabe gestellt hat, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Radikalität zu beleuchten, muss mit vielfältigen Stilmitteln arbeiten. Freilich so, dass sie sich bei allem Kontrast zu einer selbstverständlichen Einheit formen lassen. Immerhin hatte er in Adriana Lecouvreur auch zwei sehr verschiedene Handlungsebenen miteinander zu verbinden: Auf der einen Seite die Reflektion geschichtlicher Ereignisse, auf der anderen das gleichfalls sehr präsente bürgerliche Drama, zugleich ein Hinweis auf kommende historische Entwicklungen. Solcherart erweist sich Adriana Lecouvreur nicht nur als eines der wesentlichen Beispiele des italienischen Verismo, sondern auch als ein die reale Zukunft vorausahnendes Werk. Eine Ironie des Schicksals, dass Cilèa diesen Faden nicht mehr weiterverfolgen konnte. Denn bald versagte, sieht man von einigen weniger bedeutenden Orchesterwerken und glücklosen Opernversuchen ab, seine Schaffenskraft. Deshalb konzentrierte er sich verstärkt auf administrative und pädagogische Aufgaben. Er lehrte Musiktheorie in Florenz, leitete die Konservatorien von Palermo und Neapel, ehe er, geplagt von Krankheiten und gequält von finanziellen Sorgen, sich nach Varazze an die italienische Riviera zurückzog, wo er 1950 im Alter von 85 Jahren starb.
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» In der Oper ist alles falsch: das Licht, die Dekorationen, die Frisuren der Balleteusen, ihre Büsten und ihr Lächeln. Wahr sind nur die Wirkungen, die von ihr ausgehen. « Edgar Degas
Oswald Panagl
Hier giltʼs der KUNST... Die Künstleroper – Versuch einer Typologie
I. Idealtypen – Mischtypen Die Gattung Oper lässt sich nach verschiedenen Kriterien klassifizieren. Zunächst bieten sich zeitliche Parameter wie Barockoper, Romantische Oper und Zeitgenössische Oper an, die in einem nächsten Schritt nach den Spezies Opera seria, Opera buffa bzw. als Singspiel, Grand opéra, Opéra comique, Musikdrama u.a. eingeteilt werden können. Wenigstens am Rande seien jene besonderen Charakteristika genannt, welche einzelne Komponisten ihren Werken als Untertitel beigegeben haben. Ich nenne in Auswahl »Handlung« (Wagner: Tristan und Isolde), »Bühnenweihfestspiel« (Wagner: Parsifal), »Lyrische Szenen« (Tschaikowski: Eugen Onegin) und »Musikalische Legende« (Pfitzner: Palestrina). In Ergänzung sowie zur Verfeinerung dieser eher formalen Wesenszüge sind quasi semantische Merkmale denkbar und mittlerweile in die Fachliteratur eingegangen, die sich jeweils untereinander und mit den chronologischen Mustern kreuzklassifizieren lassen. Am bekanntesten sind wohl das Genre der Literaturoper (Debussy: Pelléas et Mélisande; Strauss: Elektra; Berg: Wozzeck), das Psychologische Musiktheater (Britten: The Turn of the Screw, The Death in Venice), die Mythologischen Bühnenwerke (Berlioz: Les Troyens; OSWA LD PA NAGL
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Strawinski: Oedipus Rex; Strauss: Daphne) sowie eben die Künstleroper. Eine Wechselbeziehung und Annäherung der beiden zuletzt erwähnten Typen demonstriert exemplarisch die Figur des mythischen Sängers Orpheus als Urbild des schöpferischen Musikers. Seine Dauerpräsenz auf der Opernbühne reicht von Monteverdi über Gluck, Haydn und Offenbach bis zu Ernst Krenek. Und damit ist der Kreis keineswegs ausgeschritten. Denn auch das neue musiktheatralische Werk von Manfred Trojahn, dessen Premiere in Amsterdam für März 2022 angekündigt ist, hat das prekäre Liebesverhältnis von Orpheus und Eurydike zum Gegenstand.
II. Realität und Fiktion Sucht man nach weiteren Unterscheidungsmerkmalen auf dem Gebiet der Künstleroper, so bietet sich eine Differenzierung zwischen realen und erfundenen Figuren als Hauptpersonen an. Freilich sind auch dabei sorgfältige Analyse und behutsame Interpretationsraster am Platz. Denn Hans Sachs, der »Schuhmacher und Poet dazu«, ist zwar eine historische Gestalt aus dem Kreis der Nürnberger Meistersinger, aber der Dichterkomponist Richard Wagner hat in sein Profil auch autobiografische Problemfelder und Lebensfragen integriert: die Spannungen zwischen Kunst und Leben, zwischen egoistischer Selbstbehauptung und altruistischer Rücksicht, zwischen wachem Begehren und weisem Verzicht. Ähnliches gilt für den Titelhelden von Hans Pfitzners Palestrina. Der Schöpfer dieses Werkes betrachtete auch sich selbst als Vollender einer ehrwürdigen Tradition, als »den letzten Stein« an einem der »tausend Ringe« Gottes und litt sein Leben lang an dem Trauma einer vermeintlich mangelnden angemessenen Anerkennung. Der berserkerhafte Goldschmied und Bildhauer Benvenuto Cellini, dessen Autobiografie in Goethes Übersetzung in das kulturgeschichtliche Bewusstsein des 19. Jahrhunderts gerückt war, setzte als Figur rezeptionsästhetische Spuren: so in der Oper von Hector Berlioz, die auch als Bekenntnis zur überwindenden Kraft eines unbändigen künstlerischen Wollens gegenüber äußeren Hindernissen und Störfaktoren verstanden werden darf. Wenigstens erwähnen möchte ich den romantischen Dichter E.T.A. Hoffmann. In Jacques Offenbachs »phantastischer Oper« wird er zum Inbegriff des gefährdeten, seelisch labilen, an der Umwelt leidenden Genies. Nur die Muse, seine treue Gefährtin und zugleich die Signatur der schöpferischen Potenz, trägt ihn über die Anfechtungen und erlittenen Niederlagen des schlecht bewältigten realen Lebens hinweg und darüber hinaus. Eine seltsame Position zwischen Wirklichkeit und Erfindung nimmt die Partie des jungen Komponisten im Vorspiel von Straussʼ-Hofmannsthals Ariadne auf Naxos ein. Die ephebenhafte Gestalt, ein später Vertreter des Typus der Hosenrollen, trägt keinen individuellen Namen. Doch liegt es nahe genug, die jähen Stimmungsschwankungen, die bedingungslose Verteidigung 39
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des kreativen Anspruchs, die Auflehnung gegenüber der Obrigkeit und die heftige erotische Entflammbarkeit als authentische Charakterzüge des Jünglings Wolfgang Amadeus Mozart zu deuten.
III. Kunst und Politik Der französische Lyriker und Freigeist André Chénier, der als Protagonist von Umberto Giordanos Oper im vierten Akt sogar ein Gedicht aus eigener Feder als Arie vorträgt (»Come un bel dì di maggio«), gerät in die Konfliktzone zwischen hohem Ideal, leidenschaftlicher Liebe und politischer Wirklichkeit. Er wird dabei zum Archetyp der Sentenz: »Die Revolution frisst ihre eigenen geistigen Väter.« Auch die Titelfigur von Paul Hindemiths Mathis der Maler, hinter dem sich der reale Künstler Matthias Grünewald verbirgt, laboriert an einem tiefgreifenden inneren Zwiespalt. Er leidet am Widerspruch zwischen kreativer Mission und humanitärer Herausforderung und zerbricht letztlich an der Dialektik von Kunst und Leben. In Giacomo Puccinis Tosca geraten die Primadonna Floria Tosca und der bildende Künstler Mario Cavaradossi, beide von Victorien Sardou erfundene Personen, sukzessive in den erbarmungslosen Mahlstrom politischer Intrigen und Machtkämpfe sowie in das engmaschige Netzwerk unkontrollierter polizeilicher Willkür. Der finale Tod der beiden ist das absehbare Ende zerschlagener Träume und utopischer Hoffnungen. Einen Ehrenplatz in diesem typologischen Raster verdienen jedenfalls die beiden Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart und Antonio Salieri in Nikolai Rimski-Korsakows gleichnamigem Einakter, dessen Libretto auf einem Versdrama von Alexander Puschkin fußt. Es handelt sich hierbei zweifellos um zwei historische Persönlichkeiten, allerdings literarisch »gebrochen« und sublimiert, dazu noch ganz unter dem Eindruck der seinerzeit kolportierten Legende vom Giftmord Salieris an seinem schöpferisch überlegenen musikalischen Konkurrenten. Was an diesem Sujet thematisch besticht und letztlich den Anschlag Salieris ideell begründet, ist die (scheinbare) Unvereinbarkeit von Genialität und Trivialität sowie die Diskrepanz zwischen dem zündenden kreativen Funken und seinem Verlöschen im banalen Alltag.
IV. Liebe und Tod – Liebestod Schon beim Gedanken an die Gattung Künstleroper assoziiert man unwillkürlich eine ernste Thematik, wenn nicht ein tragisches Geschehen oder sogar ein letales Ende. Hehre Kunst, schöpferische Ideale, nicht selten begleitet von Naivität, Sorglosigkeit und fehlender Tüchtigkeit in praktischen OSWA LD PA NAGL
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Dingen vertragen sich schlecht mit dem rauen Leben, den Zwängen der Realität und den Mühen der Ebene. Tosca vertraut schier kindlich dem Versprechen Scarpias und glaubt die Mär von der bloß vorgeblichen Erschießung des Grafen Palmieri, obwohl ihr der Polizeichef laufend Beispiele für seinen Zynismus, seine Menschenverachtung und erbarmungslose Grausamkeit liefert. Es bleibt für mich fraglich, ob Cavaradossi im dritten Akt wirklich ihre Naivität teilt und auf eine gemeinsame Rettung hofft. Vielleicht möchte er bloß die letzten Momente einer ungetrübten Zweisamkeit unbeschwert genießen: »Parlami ancora cone dianzi parlavi...«. Adrienne Lecouvreur, die titelgebende Person des Schauspiels von Eugène Scribe und Francesco Cilèas Oper war ebenso wie ihr Liebhaber Graf Moritz (Maurizio) von Sachsen eine historische Figur, der freilich in der literarischen und musikdramatischen Rezeption Wesenselemente und begleitende Umstände hinzugewachsen sind. Als gefeierte Tragödin und Publikumsmagnet der Comédie-Française demütigt sie zwar mit ihrem pointierten Vortrag ihre erotische Konkurrentin, die Fürstin von Bouillon, erliegt aber ahnungslos ihrer Rache, indem sie das Gift eines als Geschenk empfangenen Veilchenstraußes einatmet. Kann man in diesem Fall von einer Spielart des Liebestodes reden? Sicher bin ich mir mit dieser Etikettierung beim gemeinsamen Ende auf dem Schafott von Andrea Chénier und Madeleine (Maddalena) di Coigny im Finale von Giordanos Oper. Die liebende Frau rettet eine zum Tod verurteilte junge Aristokratin, indem sie als Idia Legray zusammen mit Andrea den Todeswagen, ihren »Hochzeitswagen«, zur Guillotine besteigt. »Viva la morte insiem!«
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Andreas Láng
ER SCHRIEB DEN TEXT DER ADRIANA LECOUVREUR
Wenn sie nicht Hofmannsthal, Da Ponte, Zweig, Boito oder gar Wagner heißen, werden die Namen der unterschiedlichen Librettisten vom hiesigen Publikum – so überhaupt – dann nur am Rande wahrgenommen. Selbst wenn sie auf ihrem Gebiet durchaus Großes geleistet hatten – man denke beispielsweise nur an einen Piave. Nun lässt sich an diesem Umstand wahrscheinlich so schnell nichts ändern, umso mehr sei im Zusammenhang mit der ersten Adriana Lecouvreur-Produktion an der Wiener Staatsoper mit wenigen Worten auch Arturo Colauttis, des Textdichters dieses Werkes gedacht, zumal es A N DR EAS LÁ NG
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sich um eine durchaus interessante Persönlichkeit handelte. Zunächst einmal war er Österreicher, wenn auch wider Willen, denn seine Heimatstadt, das heutige kroatische Zadar, gehörte jenem Habsburgerreich an, das Arturo Colautti am liebsten in Stücke gehauen hätte. Für den italienischstämmigen, 1851 geborenen Journalisten und Librettisten stand nämlich ein Ziel das ganze Leben hindurch unveränderlich vor Augen: Die Eingliederung Dalmatiens in das italienische Königreich. (Colautti hat es nicht mehr erlebt, aber zwischen 1920 und 1945/1947 war sein Geburtsort als Folge des Vertrags von Rapallo dann tatsächlich Teil Italiens, ehe er nach dem Zweiten Weltkrieg an Jugoslawien fiel.) Nichtsdestotrotz absolvierte er seine Studien an der Grazer und Wiener Universität sowie seinen Präsenzdienst in der österreichischungarischen Armee. Er blieb auch bis zu seinem 30. Lebensjahr österreichisch-ungarischer Staatsbürger und verdiente seinen Lebensunterhalt als Journalist diverser Lokalblätter, die er zum Teil selbst gründete und herausgab, wie das Kultur- und Literaturmagazin Rivista Dalmatica. Ein besonders aggressiver anti-österreichischer Artikel in seiner irredentistischen Zeitung L’Avvenire führte 1880 zu einer tätlichen Attacke durch eine Gruppe von Soldaten, sodass er für einige Monate physisch außerstande war, seine Arbeit fortzusetzen. Dieser Zwischenfall sowie die allgemeine Zeitungszensur bewogen Arturo Colautti ins italienische Exil zu gehen, von wo aus er seine nationalistisch-italienische politische Mission bis zu seinem Tod im Jahr 1914 weiterführte. Daneben gründete und betrieb er einige italienische Zeitungen, schrieb literarisch hochstehende Gedichte, Romane, Schauspiele und Opernlibretti (neben Adriana Lecouvreur unter anderem das Textbuch zu Umberto Giordanos Fedora).
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ER SCHR IEB DEN T EX T DER A DR I A NA LECOU V R EU R
Mario Pilati
ZWISCHEN INTRIGENSPIEL UND DRAMATIK
Entstehung und Struktur von Adriana Lecouvreur
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1899 fand Cilèa ein neues Libretto: Er wählte eine Handlung aus, die Arturo Colautti aufgrund eines Werkes von Scribe entworfen hatte, eine gut ausgearbeitete Verflechtung von Ereignissen auf der Bühne und aus dem galanten Leben des 18. Jahrhunderts, wobei sich beides um die Person der berühmten Schauspielerin der Comédie-Française, Adrienne Lecouvreur, dreht. Das Thema sagte dem Musiker nicht nur wegen der Fülle verschiedenster Bühnenkonstellationen zu, die geschickt abgestuft und verteilt waren, sondern auch wegen der Faszination und Bühnenwirksamkeit der Charaktere, deren Umfang von dem Charakter der Adriana voll lieblicher und zugleich stolzer Weiblichkeit zu dem des Maurizio, des umstrittenen Liebhabers voll Leidenschaftlichkeit und soldatischem Heldentum, reichte, von dem des Michonnet mit seiner melancholischen Väterlichkeit zu dem der Fürstin, der hochmütigen und rachsüchtigen Rivalin, bis hin zu den leeren und oberflächlichen Charakteren des Fürsten und des Abbé. Was jedoch Cilèa am meisten für das Libretto einnahm, war die Atmosphäre, die klassische Umgebung des 18. Jahrhunderts mit seinen Galanterien und Intrigen und den süßlichen Madrigalen der von Müßigkeit erfüllten Schäferstücken, ein Stoff, wie er schon in Massenet einen raffinierten Interpreten gefunden hatte und wie er auch als Grundlage der Puccini’schen Manon Lescaut gedient hatte, die ansonsten reich ist an Menschlichkeit und dramatischer Kraft. Aber das 18. Jahrhundert, wie es Cilèa liebte, musste eine grundsätzlich verschiedene Note haben, wenn seine süditalienische Seele noch unbeschädigt und die noch nicht weit zurückliegenden Jahre seines Aufenthaltes in den Sälen von San Pietro a Majella nicht ohne Einfluss auf seine ganze geistige Bildung geblieben waren. Das 18. Jahrhundert der Adriana war tatsächlich nicht das von Massenet oder Puccini, sondern etwas typischer italienisch als das des Ersteren und tiefer empfunden und wiedergegeben als das des Zweiten, weil es wirklichkeitsgetreuer erlebt erscheint, und es war ein 18. Jahrhundert von neapolitanischer Feinheit, wie sie vielleicht der Leser, der die neapolitanischen Verhältnisse aufmerksam betrachtet hat, in gewissen parfümierten Theaterstücken für den Salon von Salvatore di Giacomo kennengelernt hat, Stücke in der Manier der alten »Intermezzi«. Wohlverstanden, keine angebliche Rekonstruktion des Stiles noch eine polemische Rückwendung hätte Cilèa beflügeln können, bei dem die musikalische Kultur und Bildung nur durch ein Ansprechen seiner Inspiration und seines Gefühls aktiviert werden konnte: Auch waren die Zeiten damals noch nicht den Ebenen zwischen Kunst und Kultur und den rein verstandesmäßigen Konstruktionen günstig. Ein Musiker hatte nur zu versuchen, den Erfordernissen des Publikums zu folgen, ohne sich selbst dabei aufzugeben; ja, er sollte sich sogar dabei vollständig und aufrichtig einem Publikum gegenüber ausdrücken, das man ohne Halbheiten und ohne die Hilfsmittel der Exegeten und Glossatoren zufriedenstellen musste.
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M A R IO PILAT I
Der Erfolg der Adriana, die am Abend des 6. November 1902 am Teatro Lirico von Mailand aufgeführt wurde, war stark und ohne Vorbehalte. Cilèa genoss hier zum ersten Mal die Freuden des Triumphes und erlebte, dass seine Oper an dreizehn aufeinanderfolgenden Abenden wiederholt wurde. Die melodische Form, stets klar und elegant geführt, immer inspiriert und sehr persönlich, die nicht manirierte Anmut der Atmosphäre des 18. Jahrhunderts, die Geziertes vermied, ja, sogar besonderen Charakter und Ausdruck aufwies, die Wärme der leidenschaftlichen und dramatischen Äußerungen, die geschickt in die Komödie eingebettet sind oder dort, wo die Komödie dem wahren und eigentlichen Drama weicht, großzügig entwickelt wurden, all dies wurde von einer farbigen, perfekt ausgearbeiteten Instrumentierung gestützt; auf diesen Qualitäten beruhte der Erfolg der neuen Oper, die im vierten Akt in der Szene der leidenden Adriana und ihrer Todesszene die Höhen echter Bewegung erreichte, einer Szene, die mehrere mit dem analogen Finale der Traviata verglichen. Interessant ist jener melodische Charakter und die harmonische Struktur der Oper, beides Elemente, die unserer Meinung nach zusammen mit der dramaturgischen Form, die ebenfalls bemerkenswert dafür ist, wie sie einem notwendigerweise episodenhaften Libretto musikalische Kontinuität verleiht, einen deutlichen Maßstab für die Persönlichkeit Cilèa liefert. Es ist eine Tonmalerei, deren Sauberkeit und Genauigkeit in den Passagen einiger Teile manchmal einen fast schulmeisterlichen Eindruck erwecken (und dafür könnte man die Gründe in seiner Lehrtätigkeit finden, die der Musiker neben seiner Kompositionsarbeit ausübte): Aber das ist eine rein äußerliche Frage, da man hier eine lebendige Sensibilität verspürt, die – während sie das wirkungsvolle, aber doch leichte Hilfsmittel klangvoller Tonanhäufungen auf der Basis von Nonen- oder Tredezim-Akkorden oder von übereinandergesetzten Tonreihen keineswegs ausnützt, ja diese geradezu vermeidet – sich dagegen mittels einer feineren und durchscheinenden Architektur äußert, wie zum Beispiel in gewissen unvorhergesehenen, ungewollten, jedoch immer ausdrucksvollen und sinnvollen Auflösungen und in der frischen Unbekümmertheit gewisser Steigerungen, die an den typischen Stil der alten neapolitanischen Schule erinnern. Ein glänzendes und anpassungsfähiges Vorgehen, das ganz ideal die Atmosphäre jener manchmal müßigen, manchmal perversen Frivolität stilisiert, in der Liebeleien, Rache, Galanterien und Rivalitäten ihre Intrigen spinnen und so das Spiel der Komödie immer mehr mit dramatischer Aussage erfüllen, die der Komponist mit einer musikalischen Sprache von strenger Ordnung zum Ausdruck bringt, wobei er meisterhaft die Bruchstückhaftigkeit, die die größte Schwäche des Librettos von Colautti darstellt, vermeidet. (geschrieben im Jahr 1932)
Z W ISCHEN IN T R IGENSPIEL U N D DR A M AT IK
→ Bryony Dwyer als Jouvenot und Ryan Speedo Green als Quinault, 2017
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La Mort de Mademoiselle Lecouvreur Was sehe ich? Was für ein Anblick! Diese charmanten Lippen – Diese Augen, von denen Blicke voller Glut ausgingen, Zeugen nun – bleiern und ohne Glanz – von einem schrecklichen Tod. Ihr Musen, deren irdisches Abbild sie war mit ihrer Anmut und ihrer Liebe, O meine, o ihre Götter, rettet euer Meisterwerk! Was sehe ich? Es ist um dich geschehen! Ich umarme dich, und du stirbst! Du stirbst! Diese schreckliche Kunde geht nun von Mund zu Mund. Mein tragischer Schmerz bewegt alle Herzen. Von allen Seiten höre ich die Schönen Künste klagen – Fassungslos, unter Tränen: »Melpomene ist nicht mehr!« Was werdet ihr sagen, kommende Geschlechter, Wenn ihr die entsetzliche Schande erfahrt, Die grausame Menschen diesen nun verwaisten Künsten angetan haben? In Griechenland hätte man Altäre ihr gebaut, Bei uns bekommt sie nicht einmal ein Grab. Solange sie noch auf der Welt war, hat man für sie geschwärmt. Die Leute habe ich gesehen, wie sie unterwürfig ihr zu Füßen lagen: Sobald sie nicht mehr ist, macht man sie zur Verbrecherin! Sie hat die Welt bezaubert. Und nun bestraft man sie dafür! Nein, dieses Ufer wird von nun an nicht profan sein. Denn deine Asche birgt es.
Dieser jämmerliche Hügel wird in Zukunft, Geehrt durch unsere Dichtung, geweiht durch deinen Geist Für uns zu einem neuen Heiligtum! Hier ist mein Saint-Denis. An dieser Stätte vereint mich die Andacht Mit deiner Seele, deinem Geist, mit deiner Anmut, deinem Wesen. Das alles liebte ich an dir, als du noch lebtest. Ich verehre es noch – Trotz der Schrecken des Todes, Trotz Irrung und Undank der anderen, Deren Schande allein dieser Hügel bloßstellt. Ach, soll ich ewig zusehen, wie meine schwache Nation, Auf deren Gelübde kein Verlass ist, das in den Dreck zieht, was sie bewundert, Wie unsere Sitten dauernd im Widerspruch stehen zu unseren Gesetzen, Wie der leichtlebige Franzose sich täuschen lässt von allmächtigem Aberglauben? Ist es denn nur in England erlaubt, Dass die Sterblichen nachzudenken wagen? O Rivalin Athens, London, glückliches Land! Mit den Tyrannen habt ihr auch die verhassten Vorurteile verjagt, Die den Krieg euch brachten. Dort ist es selbstverständlich, alles zu sagen und alles zu belohnen. Keine Kunst wird dort verachtet, jeder Erfolg wird anerkannt. Der große Dichter Dryden und der weise Staatsmann Allison, Die charmante Ophils und der unsterbliche Newton Haben alle ihren Platz im Ehrentempel. Und die Lecouvreur hätte in London ein Grabmal Neben den Geistesgrößen, den Königen und Helden bekommen. Wer in London etwas leistet, genießt Ansehen und Achtung. Reichtum und Freiheit Haben nach zweitausend Jahren in euch Den Geist von Griechenland und Rom neu belebt. Ist der Lorbeer Apolls in unseren unfruchtbaren Gefilden Vernachlässigt und schließlich verwelkt? Götter! Warum ist mein Land nicht mehr das Vaterland Des Ruhmes und der großen Geister?
Voltaire
Katherine Ibbett
DIE ECHTE ADRIENNE
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Die Geschichte der Adrienne Lecouvreur, wie sie in Anthologien über wahre Kriminalfälle, in Theaterstücken und Cilèas Oper erzählt wird, ist dermaßen überlagert von Klatsch, nachträglichen Erfindungen und romantischen Einflechtungen, dass es wohltuend sein kann, einige direkte Zitate der Schauspielerin zu lesen. In ihrer Zeit war sie allerdings am besten für ihre außergewöhnliche Darbietung der Worte anderer bekannt. Sie hatte sich von der gekünstelten Sprachgestaltung ihrer Vorgängerinnen gelöst und den Worten von Racine und anderen Größen eine neue und hoch geschätzte Natürlichkeit verliehen. Adrienne war jedoch auch selbst sehr wortgewandt, und in den zahllosen Briefen, die sie an ihren Geliebten Moritz von Sachsen sandte, hallt hinter dem geschriebenen Wort etwas von der echten Person wider. Lassen wir uns jedoch nicht voreilig von dieser »Echtheit« täuschen. Adrienne war keine Närrin, und in ihren frühen Briefen an Moritz schielte sie mit ihren poetischen Seufzern und Verführungskünsten ebenso auf ihr Publikum, wie sie dies auf der Bühne der Comédie-Française tat. Die Briefe zeichnen das Bild einer Frau, die mit dem Wort geschickt umzugehen wusste. Immerhin hatte sie sich Tausende der besten französischen Verse angeeignet. Kurz nachdem sie Moritz das erste Mal begegnet war, schrieb sie ihm und bat ihn, sie zu besuchen, bevor er auf eine militärische Expedition gehen sollte: »Ich empfinde vieles, das Dir zu sagen, ich nicht wage, mein lieber Graf. Die unheilvolle Stunde naht, und Gott allein weiß, wann wir einander wiedersehen werden.« Ihre Formulierung erinnert, mit etwas stärkerem Pathos, an Racines Phädra – die erste Rolle, in der Moritz Adrienne gesehen hatte. Ihre gewählte Ausdrucksweise ermöglichte es Adrienne, in gewisser Weise einen Schleier K AT HER IN E IBBET T
über ihr bis dahin turbulentes Liebesleben zu ziehen. Adrienne, die Tochter eines Hutmachers, war durch ihr außergewöhnliches Talent aus dem Schatten ihrer Herkunft ins Rampenlicht gerückt. Wie viele Schauspielerinnen erhielt jedoch auch sie ihre ersten Rollen zum Teil durch eine Reihe von Beziehungen. Der Vater ihrer ersten Tochter war ein einfacher Provinzschauspieler. Der Vater ihres zweiten Kindes war ein Beamter mit guten Beziehungen, der das Verhältnis mit ihr beendete, als er jemanden mit einer besseren Mitgift gefunden hatte. Moritz, der Sohn Augusts des Starken, bedeutete einen wirklichen Aufstieg. Adrienne war dennoch aufrichtig, wenn auch diskret, was ihr früheres Liebesleben anging, und ließ ihren neuen Liebhaber wissen: »Unglücklicherweise verfalle ich dem Zauber der Liebe nicht zum ersten Mal in meinem Leben.« Adrienne hatte jedoch genug gelernt, um zu wissen, dass sie sich in diesen frühen Tagen eine gewisse Macht sichern konnte, wenn sie sich nicht allzu leicht hinreißen ließ, und sie sagte Moritz, der eben erst vom Schlachtfeld zurückgekehrt war: »Du bist es zu sehr gewohnt, leicht und absolut zu siegen, und Du wirst mir dankbar dafür sein, dass ich für Dich eine ganz andere Art des Triumphes bereiten werde.« Dieser Triumph, den er unweigerlich feiern würde, und auch ihre Beziehung sollten mit einigen Höhen und Tiefen das gesamte letzte Jahrzehnt ihres Lebens währen. Dass wir aus den Briefen von Adrienne so viel über sie wissen, verdanken wir vor allem dem Umstand, dass Moritz nicht so häufig in Paris weilte. In den frühen Jahren schien diese Trennung eine gewisse erotische Spannung zu nähren: »In mir brennt ein je ne sais quoi, und ich hätte außergewöhnliche Dinge getan, um Dich heute sehen zu können«, schreibt sie etwa. Doch mit den Jahren wurde die ständige Abwesenheit von Moritz für Adrienne zunehmend eine Belastung und sie beklagte sich häufig über Langeweile. Im Jahr 1724 verbrachten die Schauspieler der Comédie-Française eine Saison am Hof von Fontainebleau, und Adrienne beklagte sich, dass die Unterkunft deprimierend sei, das Getratsche des Hofes unerträglich und sie wieder nach Hause wolle. Ab dieser Zeit litt Adrienne häufig unter Magenproblemen und musste manchmal sogar Auftritte absagen. In allen Einzelheiten klagt sie über ihre Erkrankungen und sorgt sich darüber, dass ihre Schönheit wohl bald darunter leiden würde. (Des Langen und Breiten erörtert sie etwa die Frage, ob Mineralwasser oder das städtische Wasser ihr wieder neue Kraft verleihen könnte. Man kann nur erahnen, wie sich solche Sorgen auf dem Schlachtfeld gelesen haben mögen.) Adriennes Briefe wechseln zwischen Zärtlichkeit und abgrundtiefer Angst, und der Gedanke an mögliche Nebenbuhlerinnen ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Diese Gedanken waren in der Tat durchaus berechtigt. Moritz hatte den Ruf eines Frauenhelden, und als einer der begehrtesten Junggesellen Europas wurde er ständig von zielstrebigen adeligen Müttern belagert. Bisweilen sorgte sich Adrienne, sie würde Moritz mit ihren Briefen langK AT HER IN E IBBET T
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← Adrienne Lecouvreur
weilen: »Ich weiß, meine Briefe müssen Dich langweilen, da sie zu traurig klingen. Deshalb versuche ich manchmal, für Dich ein wenig mutiger zu sein.« Trotz dieser Schwermut entwickelte sich ihre Karriere glänzend, jedoch sagen ihre Briefe nur wenig über ihren beruflichen Erfolg aus. Spätere Biografen spekulieren darüber, dass sie Moritz mehr geliebt habe als die Bühne. So viel zu ihrem Leben. Es war jedoch stets der Tod von Adrienne, über den mit größter Vorliebe jede Art von Klatsch verbreitet wurde. Adrienne war in ihrer Verehrung des großen Moritz von Sachsen nicht allein. Die junge Herzogin von Bouillon, die vierte Frau eines Gatten, der um die vierzig Jahre älter war als diese, hatte sich ebenfalls in Moritz verliebt und machte keinen Hehl aus ihren Absichten. In einer eher frommen Darstellung der Ereignisse aus dem 19. Jahrhundert war es Moritz, der die Herzogin verschmähte, die sich folglich rachsüchtig gegen Adrienne wandte. Diese Entlastung von Moritz scheint jedoch weit hergeholt, da er die Herzogin eingeladen hatte, bei ihm zu bleiben, während Adrienne im Frühling 1729 auf Tournee ging. Im selben Jahr erhielt Adrienne eine mysteriöse Nachricht, in der sie gewarnt wurde, jemand wolle sie vergiften. In dieser Nachricht wurde sie gebeten, deren Absender im Jardin du Luxembourg zu treffen. Vorsichtig und neugierig zugleich machte sich Adrienne auf den Weg dorthin, gemeinsam mit ihrer engen Freundin Mademoiselle de la Motte und la Mottes Liebhaber, 55
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der im Fall des Falles helfen sollte. (Damals wie heute wurden Schauspielerinnen oft von eigenartigen Charakteren verfolgt. Einige Jahre davor hatte es einen Gerichtsfall gegen einen Mann gegeben, der immer Steine an ihr Fenster geworfen hatte.) In den Gärten traf die kleine Gruppe auf einen buckeligen Priester mit Namen Abbé Bouret. Dieser behauptete, die Herzogin von Bouillon hätte ihn gebeten, Adrienne einen Zaubertrank zu geben, der ihre Liebe zu Moritz erkalten lassen solle. Er habe ursprünglich eingewilligt, jedoch sei ihm die Höhe des Bestechungsgeldes so exorbitant erschienen, dass der Verdacht in ihm keimte, es stecke noch etwas anderes dahinter. Bei dem Treffen übergab er den Trank (eigentlich einige merkwürdig aussehende Tabletten) an Adrienne und ihre Freunde. Man gab die Tabletten einem Hund, der augenblicklich verendete. Die Polizei wurde verständigt und die Geschichte drang unweigerlich an die Öffentlichkeit, zum großen Vergnügen der Klatschmäuler am Hof und am Theater. Die Herzogin beharrte freilich auf ihrer Unschuld und besuchte sogar Adriennes Auftritt in Racines Phädra, um zu zeigen, dass es zwischen ihnen keine Zwietracht gab. Adrienne jedoch ergriff die Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, dass sie sich von solchen Beteuerungen nicht täuschen ließ. Sie eilte zur Loge der Herzogin, um jene Zeilen der Phädra zu deklamieren, in der die edle Königin beteuert, keines dieser frechen Weiber zu sein, das »Ruhe kostet im Verbrechen, und der Welt ein schamloses Gesicht darbietet«. Das Publikum applaudierte begeistert, und die Herzogin nahm so lautstark Anstoß an diesem Vorfall, dass sich die Comédie-Française schließlich zu einer Entschuldigung genötigt sah. Es war für den Ruf der Herzogin, milde ausgedrückt ein unglücklicher Zufall, dass Adrienne einige Tage später ihre Darbietung inmitten einer Vorstellung abbrechen musste, weil sie ernstlich erkrankt war. Sie erholte sich zwar und kehrte auf die Bühne zurück, erlitt jedoch nach etwa einem Monat innere Blutungen und starb wenige Tage später in dem Armen von Moritz, im Beisein ihres engen Freundes, des Philosophen Voltaire. Die Nachricht, sie sei vergiftet worden, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Vergiftet, nicht durch Veilchen wie in der Oper, sondern durch einen Einlauf, den ihr ein Arzt mit Namen Silva verabreicht habe, der, wie die Klatschmäuler eifrig verbreiteten, wohl in den Diensten der Herzogin gestanden habe. Voltaire, ein erklärter Rationalist, trat gegen diesen Unsinn auf und bezahlte sogar eine Autopsie, um zu beweisen, dass sie eines natürlichen Todes gestorben war. Dennoch sollten die Gerüchte über ihren Tod niemals gänzlich verstummen. Adrienne verstarb am 20. März 1730 zu Hause in der Rue des Marais (nunmehr Rue Visconti) in einem Haus, in dem einst Racine gewohnt hatte. Sie hinterließ ihren beiden Töchtern 300.000 Livre (ein beachtliches Vermögen) – ein Erbe, das von ihrer entfremdeten Schwester erbittert angefochten wurde. K AT HER IN E IBBET T
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Die Bestandsaufnahme ihres Besitzes nach ihrem Tod gibt einen rührenden Einblick in ihr Privatleben: ein Tasteninstrument, in chinesischem Stil bemalt, ein blumenbestickter Satin-Wandschirm, eine Büste ihres Geliebten. Als Schauspielerin und daher Mitglied eines frevlerischen Berufsstandes wurde ihr ein christliches Begräbnis verweigert. Obwohl die Aussicht auf ein so elendes Ende oft benutzt wurde, um der Theaterwelt zu drohen, wurde diese Drohung nur selten in die Tat umgesetzt. (Im Jahr 1698 etwa entsagte Racines Hauptdarstellerin La Champmeslé dem Theater im letzten Augenblick.) Diesmal urteilte der Priester von Saint Sulpice, die Schauspielerin sei gestorben, ohne die Zeit zur Reue über ihr skandalöses Leben gehabt zu haben. Bevor das Getöse rund um diese Verweigerung zu großes Aufsehen erregte, drängte ein Minister der Regierung Adriennes Freunde, sie anderswo zu beerdigen. Rasch und in Stille, um eine Krise abzuwenden. Ihr Leichnam wurde bei Nacht und Nebel abgeholt und in Brandkalk auf einer Baustelle nahe der Seine beerdigt. Über den genauen Ort gab es stets unterschiedliche Meinungen. Wenn schon die Kirche ihr ihren Segen versagte, das Theater versagte ihn nicht. Die Comédie-Française blieb zu ihrem Andenken geschlossen, und bei ihrer Wiedereröffnung wurde auf der Bühne eine Elegie von Voltaire vorgetragen. Für Voltaire war die Verweigerung der letzten Ehre und eines christlichen Begräbnisses für Adrienne bezeichnend für das Spießbürgertum der modernen Welt. Das antike Griechenland hätte einer solchen Frau Altäre errichtet, schrieb er. Frankreich hingegen versage ihr sogar ein einfaches Grab. Wie jedoch erging es den übrigen Charakteren dieser Geschichte? Moritz von Sachsen begann ein Verhältnis mit einer anderen Schauspielerin, heiratete jedoch nie. ( Jahre später sagte er zu Madame de Pompadour: »Eine Frau ist nicht die rechte Art der Ausrüstung für einen Soldaten.«) Die Herzogin von Bouillon starb 1737 in weiterer Beteuerung ihrer Unschuld. Der ursprüngliche »Informant«, Abbé Bouret, kam für zwei Jahre ohne Prozess hinter Schloss und Riegel und wurde erst freigelassen, nachdem er schlussendlich gestand, die ganze Vergiftungsintrige nur erfunden zu haben, um die legendäre Adrienne treffen zu können.
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DIE ECH T E A DR IEN N E
» Die kleinsten Phrasen, die einfachsten Romanzen genießen eine Instrumentierung, die eines RimskiKorsakow würdig ist. Das ganze Orchester schwärmt, lebt, bebt, strotzt vor Gesundheit und Vitalität. « Henry Gauthier-Villars über die Patitur von Adriana Lecouvreur
Brief Adrienne Lecouvreurs an Moritz von Sachsen PARIS, 13. SEPTEMBER 1720
Mein schöner Graf, ich habe Ihren Brief erhalten und die Vorwürfe gelesen, die Sie mir wohl haben machen wollen. Aus dem Briefchen, das ich in das Paket meines Nachbarn gelegt habe, hätten Sie ersehen können, dass Sie ungerecht sind, und zwar im gleichen Maße, wie ich empfindlich bin, wenn es um die Freundschaft geht, deren Ehre Sie mir erweisen. Aus der Zuschrift, die ich hier beifüge, werden Sie erkennen, dass ich nicht die einzige bin, die die Erinnerung an all das bewahrt hätte, was Sie einem Menschen bedeuten, dass wir hier aber in unserer Zuneigung unbeirrbar sind. Geben Sie uns Zeichen von der Ihren. Dann wird das die hohe Meinung besiegeln, die wir von Ihrem Herzen haben. Alle Ihre anderen Werte sind so offenbar, dass uns nichts weiter fehlt als die glückliche Erfahrung, auf die Sie uns Hoffnung gemacht haben: an Ihre Vollkommenheit zu glauben und uns spüren zu lassen, welch unermessliches Glück es bedeutet, Ihnen zu gefallen. Sie haben uns berichtet, wie Sie sich in La Haye vergnügten. Damit haben Sie uns die denkbar größte Freude gemacht. Sie sollten uns häufig derartige Schilderungen von jenen Orten schicken, die Sie auf Ihrer Reise beehren. Adieu, mein großer Fürst! Nehmen Sie mit Wohlwollen die Versicherung unserer unbeirrbaren Zuneigung und unseres Dankes entgegen. Lassen Sie oft von sich hören! → Piotr Beczała als Maurizio, 2017
Adrienne
BR IEF A DR IEN N E LECOU V R EU RS A N MOR ITZ VON SACHSEN
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Oliver Láng
MORITZ VON SACHSEN
Moritz von Sachsen galt in seiner Zeit als einer der erfolgreichsten Feldherren. Geboren wurde er am 28. Oktober 1696 als uneheliches Kind des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen (August der Starke), mit dem ihn ein wechselhaftes Verhältnis verband: Der Vater schätze den illegitimen Sohn zwar als Kriegsherrn, sah ihn gleichzeitig als Gefahr für seinen legitimen Sohn und Thronfolger Friedrich August II. 1711 wurde Moritz schließlich von seinem Vater legitimiert und trug fortan den Titel des Grafen von Sachsen. Schon früh wandte er sich der Musik und Philosophie zu, wurde aber (auch) zum Offizier ausgebildet, trat 1709 ins sächsische Heer ein und nahm an einem Feldzug in Flandern teil. 1714 heiratete er die vermögende Johanna OLI V ER LÁ NG
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Victoria, die Ehe wurde 1721 – im Jahr, in dem er erstmals Adrienne Lecouvreur traf – geschieden. Eine militärische Karriere folgte, die ihn zu zahlreichen Kriegsschauplätze führte. Unter Prinz Eugen diente er bei der Belagerung von Belgrad im Jahr 1717. Nach wechselnden Aufenthalten zog er 1720 nach Paris, absolvierte einige diplomatische Missionen, u.a. vertrat er 1725 seinen Vater bei der Hochzeit König Ludwigs XV. Sein besonderes Bestreben galt stets der Erlangung einer Krone, die aus dem erfolgreichen Feldherren, aber Vasallen, einen souveränen Herrscher gemacht hätte. Mit dem Tod Herzog Friedrich Wilhelms wurde – quer durch Europa – die Frage nach Erbfolge des Kurlandes laut, Polen und Preußen, Russland und Schweden signalisierten Interesse. Auch Moritz von Sachsen war Teil dieses Spiels der Mächte, sah er doch im Gewinnen der Herrscherwürde sein höchstes Ziel erfüllt. Also trat er als Brautwerber auf: Anna Iwanowna, Halbnichte des Zaren Peter und Witwe Herzog Friedrich Wilhelms, sollte der Schlüssel zum kurländischen Thron werden. Moritz von Sachen geriet jedoch in das europäische Kräftespiel, in dem sein Vater – als König von Polen – eine nicht unbeträchtliche Rolle übernommen hatte. Dieser musste sich schließ-
Maurice Quentin de la Tour, Porträt des Graf Moritz von Sachsen
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lich – unter dem Druck des polnischen Adels – gegen seinen Sohn wenden und ihm mit Waffengewalt drohen: Moritz solle seine Interessen am Kurland aufgeben. In einem Brief schrieb August der Starke unverhohlen: »Ich stelle es Eurem Urteil anheim, ob dieses Unterfangen Euren schönen Tod verdient.« Doch Moritz wich noch nicht zurück. Immerhin hatten ihn die Stände von Kurland zu ihrem Herzog gewählt. Doch alles lief schief: Eine Affäre mit einer Kammerzofe ließ die geplante Ehe mit der Iwanowna platzen; dass Anna Iwanowna später Zarin von Russland wurde und Moritz von Sachsen somit zum Zaren aufgestiegen wäre, konnte er sich freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht träumen... Jedenfalls: Eine militärische Intervention Russlands, das sich auch für das Kurland interessierte, beendete die kurze Herrscher-Karriere von Moritz. Er musste außer Landes fliehen. Eine aber hielt ihm die Treue: Adrienne Lecouvreur, die ihre Diamanten verkaufte, um dem Bedrängten große finanzielle Mittel schicken zu können. Moritz von Sachsen kehrte nach Frankreich – und damit zu Adrienne – zurück. Schon zuvor hatte sie ihm den richtigen Umgang in der »besseren« Pariser Gesellschaft beigebracht und seine kulturelle Bildung vervollkommnet. Obgleich die Liaison stadtbekannt war, scheute sich Moritz doch davor, sie, zumindest im Familienkreis, zu benennen. Er schrieb noch 1728 an seine Mutter: »Die bewusste schöne Dame kann ich Ihnen im Vertrauen nicht nennen und Ihnen nichts Weiteres von ihr sagen, als dass sie unendlich reich an Geist und voller Empfindung ist.« Auch die in der Oper angesprochenen Zwistigkeiten zwischen Adrienne und der Herzogin von Bouillon sind historisch verbürgt, wenn auch die Vergiftungsaffäre Erfindung ist; die Geliebte Moritz von Sachsens war auch die Adelige jedoch ohne Zweifel. Die Legende erzählt, dass Adrienne deshalb, tief gekränkt, bei einer Aufführung von Phädra von der Bühne stürmte und Moritz seinen Degen entriss, um ihn zu ermorden. Mit Erfolg: Er blieb zwar unverletzt, verließ daraufhin jedoch die Herzogin, um sich wieder seiner Adrienne zuzuwenden. Moritz von Sachsen nahm am Polnischen Thronfolgekrieg (1733-1738) gegen die Habsburger teil, wurde 1734 zum Leutenant Général befördert. Im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) stand er mit einer französischen Armee knapp vor Wien, eroberte Prag und Eger. 1744 zog er mit seinen Truppen nach Flandern und bekämpfte die Engländer und Habsburger. Er stieg zum Marschall von Frankreich auf und triumphierte am 11. Mai 1745 in der Schlacht von Fontenoy. Soldaten der Franzosen kämpften dabei gegen Truppen u.a. Habsburgs, Englands und der Niederlande. Die Verluste nach einem halben Tag der Schlacht waren auf beiden Seiten gewaltig. Moritz selbst war an diesem Tag gesundheitlich schwer angeschlagen, vollbrachte jedoch strategische Meisterleistungen und ging in die Militärgeschichte ein. Der König schrieb ihm dankend, Paris jubelte und Voltaire widmete ihm berühmte Zeilen: OLI V ER LÁ NG
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Da ist der stolze Sachse, den man in Frankreich geboren glaubt, Moritz, der am tödlichen Ufer anlangt, seine fliehende Seele für seinen König zurückruft und Mars, dessen Wert er besitzt, bittet, noch einen Tag zu leben und als Sieger zu sterben. Nach seinen bereits zu Lebzeiten legendären Erfolgen als Feldherr wurde er 1747 zum Generalfeldmarschall Frankreichs ernannt; ein Titel, den nur sieben Militärs in der Geschichte Frankreichs trugen. Ein Jahr zuvor hatte er das prächtige Schloss Chambord erhalten, weiters wurde er Generalgouverneur der Niederlande und Gouverneur des Elsass. Der vielseitig gebildete Moritz von Sachsen war vor allem auch dafür bekannt, sich »nicht als Franzose oder Sachse einordnen zu lassen – er beanspruchte für sich das Recht, aus eigener Bedeutung und Kraft seines eigenen Talents zu urteilen«, wie der Historiker Gerd Treffer feststellt. Darüber hinaus gelang es ihm, ein umfassendes Vermögen zu erwerben und er galt als Liebhaber schöner Frauen – so war er u.a. nicht nur mit Adrienne Lecouvreur, sondern auch mit Marie Rinteau liiert. Letztere gebar ihm eine Tochter: Maria Aurora, die Großmutter der französischen Schriftstellerin George Sand. Moritz von Sachsen starb am 30. November 1750 auf seinem Schloss Chambord.
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MOR ITZ VON SACHSEN
Daniel Wagner
HISTORIE UND DAS MUSIKTHEATER Die Geschichte mit der Geschichte
Das veristisch verwöhnte Publikum nicht nur in Mailand war hingerissen, Francesco Cilèa hatte nach jahrzehntelanger Schwerstarbeit am kompositorischen Reißbrett den ersehnten Erfolg errungen. Es war doch eine fast echte Tragödie aus dem Pariser Alltagsleben von 1730: Adrienne (also Adriana) liebt den nicht minder großen Kurfürstensohn, Feldmarschall Moritz (nennen wir ihn Maurizio). Es kam, wie es kommen musste und die reizende Adriana fiel der mordlüstern-fürstlichen Widersacherin zum Opfer. Darüber hinaus war Cilèa mit der reichlich komplexen Oper mitunter ein gattungsspezifisches Crossover gelungen, das durchwegs richtungsweisend sein hätte können. Der Komponist und geschätzte Musikpädagoge verband das realhistorisch motivierte Musiktheater, wie es aus der mittleren Periode eines Giuseppe Verdi bekannt war (ein weiteres, erfolgreiches Scribe-Libretto: Les vêpres siciliennes von 1855), mit einigen Elementen der, seit Pietro Mascagnis in Rom preisgekrönten Cavalleria rusticana, endgültig zum Ausbruch gekommenen, intensiven Gefühlswelt des Verismo. Es war im Übrigen Mascagnis Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno, der nun auch Cilèa förderte. Blut und Liebe von Menschen wie du und ich lautete spätestens seit 1890 die Devise. Cilèa reicherte die Gattung mit der unerhört lyrischen Eleganz seiner Adriana Lecouvreur an. Der Plot war somit, wenn auch im verklärt hochadeligen Umfeld spielend, denkbar echt und damit (be)greifbar. Das eigentliche Geheimnis des dramaturgischen Erfolges auch dieser Oper liegt allerdings schlicht offen vor dem Betrachter: das Spielen mit mehr oder weniger historischen Stoffen, die ein publikumswirksames Eintauchen in andere Welten, in andere Zeiten gestattet, wurde immer als Notwendigkeit für eine erfolgreiche Opernproduktion angesehen. DA N IEL WAGN ER
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Was ist Geschichte? Was ist möglich? Vorbemerkung: Eine Tradition, beispielsweise vom Barock hergehend, wäre schön, eventuell einleuchtend, vielleicht sogar praktisch. Dennoch ist sie aus dem Kontext der Untermauerung des Machtanspruches eines Herrschers durch die Musik denkbar unableitbar. Das Barockzeitalter widmete seine Geschichten vorzugsweise der griechischen und römischen Antike. Orfeo, Giulio Cesare, Semiramide, Rinaldo, Radamisto, um nur einige wenige der wohlklingenden Gestalten zu nennen. Klassische Mythen waren en vogue, Königs- und Götterdramen boten verherrlichende Herrscherstoffe für eine herrschende Zuhörerschaft. Carl Dahlhaus lieferte in seinem Aufsatz zu Gattungsgeschichte und Werkinterpretation. Die Historie als Oper eine Interpretationsmethode als Lösungsansatz für spätere Zeiten, die das Werk nicht ästhetisch formuliert, sondern als geschichtliches Gebilde versteht. Bei Durchsicht vertonter Inhalte seit Entstehen des Typus Musiktheater von Claudio Monteverdi herauf lässt sich das Bilden einer homogenen Kontinuität in der Wahl wirklich ausschließen. Oper ist und war immer ein Ergebnis der momentanen Ereignisse, Anforderungen, Bedürfnisse der Rezipienten. Geschichte war, egal, ob auf Fiktion oder auf realen Geschehnissen der Vergangenheit basierend, immer die Historie der jeweiligen Gegenwart. Das Verwenden dieser Sujets hatte mitunter einen simplen pragmatischen Ursprung, der sich quer durch die Jahrhunderte zieht: dergestalt konnte jeder noch so systemkonforme oder sowieso schon »problematische« Komponist auch die vom Publikum oftmals verlangte heimliche Zeitkritik verwirklichen, vorbei an jeder staatlichen Zensurbehörde. Die Zeit der Aufklärung brachte den ersten Schwall der (bürgerlichen) Literaturoper. Wolfgang Amadeus Mozarts geniales Da Ponte-Tryptichon wurde hier zum großen Vorbild für die Entwicklung im folgenden Säkulum. Bot die Oper in der feudal absolutistischen Hierarchie der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch jede Menge Unterstützung beim Untermauern der Autorität, änderte sich der Anspruch, der Publikumsgeschmack nun maßgeblich: die neue Form der Unterhaltung forderte den Geist, alle wollten auf musikalischer Ebene mit den geliebten Stoffen der Literatur, des Sprechtheaters versorgt sein. Es kamen mannigfache Vertonungen von Säulen des Bildungskanons hinzu. Schillers dramatische Geschichtsschreibung war in aller Munde (Rossini schrieb seine letzte Oper Guillaume Tell 1829 für Paris). Frankreich wollte auch am Faust teilhaben (Gounods Faust von 1859). Geschichte um der Geschichte willen: Titel wie Demetrio e Polibio (Rossinis erfolgreicher echter Opernerstling), Tancredi (Ort und Zeit der Handlung: Syrakus, 1005 v. Chr.), Sigismondo (ein fiktiver Polenkönig), Elisabetta, Königin von England, Mathilde von Shabran oder Il viaggio a Reims (komische Oper rund um die Krönungsfeierlichkeiten von König Karl X.) geben perfekt wie 69
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der, mit welcher Präzision Rossini trotz, oder gerade wegen der Popularität dem Publikumsgeschmack, also mit dem jeweiligen Opernimpresario, entsprechend arbeitete. Das Wissen um diese marktwirtschaftliche Flexibilität, die Kunst, sich perfekt in ein Theatersystem den Umständen entlang einfügen zu können – das machte nach Rossini einen Giuseppe Verdi zum König der Auftragskompositionen, und in Folge, wie auch Francesco Cilèa verbittert festhielt »musste Verdis Erbe Puccini heißen«. An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs gestattet: Der geneigten Leserschaft wird nicht entgangen sein, dass in der hier keinesfalls abschließend taxativen Aufzählung von Opern ein Überhang in Richtung vorvoriges Jahrhundert besteht. Die Vielfalt dieser Zeit förderte bestimmt die Heterogenität der Gattung. Leider ist hier nicht genügend Platz, näher auf die Entwicklung der einzelnen Nationalopern des Ostens einzugehen. Daher nur ein Blick auf die drei zentraleuropäischen Hauptströmungen italienische, französische und deutsche Oper. Aus den Typen der beiden Erstgenannten heraus erwuchs aufgrund historischer Gründe eine friedliche Koexistenz. Die Freunde der deutschen Oper fühlten sich ständig benachteiligt. Es kam zur Suche nach Auswegen. Und zu mancher Blüte. Geschichte, das konnte auch bedeuten, dass sie in Sagen- und Märchenwelten mit der puren (kindlichen) Fantasie des Publikums spielte. Lohengrin, der Schwanenritter. Max und Kaspar, die Freischütze, unterwegs in Carl Maria von Webers teuflischer Wolfsschlucht. Wie vermisste der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick in Richard Wagners frisch veröffentlichtem Textbuch zum Rheingold doch spöttelnd das Herleiten der Abstammung von Göttervater Odin aus dem Belecken salziger Eisblöcke durch Überkuh Andhumbla. Gerade Engelbert Humperdincks märchenhafte Erzählung von Hänsel und Gretel, aber auch seine wunderbaren Königskinder sollten Hauptwerke im Kampf der hinter der italienischen Tradition immer nachstehenden deutschen Nationaloper gegen den in Aufführungszahlen logischerweise übermächtigen Verismo an deutschsprachigen Bühnen sein. Geschichten konnten auch mit tief eingeprägten religiösen Motiven behaftet sein. Eine der an der Wiener Hofoper populärsten Produktionen ihrer Zeit wurde Carl Goldmarks opulente Ausstattungsoper zur alttestamentarischen Königin von Saba, international weitaus erfolgreicher als bei ihrer neapolitanischen Uraufführung 1818 Gioachino Rossinis Moses in Ägypten. Erlaubt war also, was gefiel? Das stimmt so nicht ganz. Die Komponisten bis über das 19. Jahrhundert hinaus konnten sich großteils nicht an eigenen Vorlieben orientieren. Was bei der Auswahl der Stoffe allein zählte, war der vorherrschende Geschmack der zahlenden Zuhörer. In der italienischen Oper eines Rossini oder Verdi sowieso, aber fast noch mehr in der Tradition der Grande opéra lässt sich die Historizität als Bedingung ausmachen. Bestes Beispiel für das kundenorientierte Denken ist die Entwicklung der zuvor zitierten, historisch motivierten Grande opéra in DA N IEL WAGN ER
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Frankreich. Giacomo Meyerbeer (der Berliner, der in Italien den kompositorischen Feinschliff erhielt) entwickelte aus der Tradition Grétrys und Aubers kommend die von der Pariser Gesellschaft bereits fest reglementierten Abläufe auf der Bühne weiter. Die Tableaus, die einzelnen Bilder widmeten sich immer opulenteren Ausstattungen. Robert der Teufel, Die Hugenotten, Der Prophet – diese überzeichneten Ausstattungsopern, in denen Massenszenen, Ballette, Chöre, sprich, das ganze Drumherum immer wesentlicher wurden, waren symptomatisch für den paneuropäischen Grundtenor der Gründerzeit. Man wollte nun schlichtweg zeigen, was »man« erreicht hatte, die Historie wurde immer mehr zur bühnentechnischen Ausflucht. Die Informationsflut des industriellen Zeitalters kündigte sich in Ansätzen bereits an. Wer in die Oper ging (und das taten, speziell in Wien, alle Schichten) wollte eine optische Abwechslung vom Alltag, ein Eintauchen in fremde Welten, Kontraste durch die Aktwechsel, sprich, etwas erleben. Nach all der Opulenz dieser Ära erscheint die direkt anschließende Rückbesinnung, die »Verkleinerung« des Symbolismus logisch. Was Wagners Tristan und Isolde eröffnete, führte Debussys Pelléas et Mélisande weiter: in einer Art historischer Parallelwelt wurde die bühnentechnische Peripherie ausgedünnt, es wurde zugunsten der Einzelschicksale enger. Ein exemplarischer Vorreiter des echten Gefühlsdramas wurde Giuseppe Verdis Literaturoper von der Kameliendame La traviata. Auch solche Entwicklungen gingen am Komponist des heutigen Abends nicht vorbei. Der Kreis schließt sich. Francesco Cilèas Adriana Lecouvreur offenbart sich also nicht nur als Zwitterwesen aus mehreren Entwicklungen des Musiktheaters dieser Zeit, sondern subsumiert erfolgreich eben die Sehnsüchte des Publikums. Hier wird in aller gebotenen Opulenz ein historisch relevantes Umfeld dargestellt, dank des altertümlichen Stoffes konnte der Gesellschaft an möglichen Zensurbehörden vorbei das Bild der starken Frau und ihrer Emotionswelt offen dargelegt werden. Das Ganze fernab des grauen Alltags: Musiktheater als ganzheitliches Erlebnis, eine zeitlos gute Grundforderung.
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» Adriana Lecouvreur war das Ergebnis von nur 21 Monaten Arbeit, unterbrochen von langen krankheitsbedingten Unterbrechungen und fügt sich perfekt in die Gruppe der Opern ein, die der sogenannte »zweite italienische lyrische Frühling« in diesen Jahren hervorbrachte. Wobei ich hier eher an Tosca, Fedora, Chénier denke, als an La Bohème. Wir erleben eine neue Hinwendung zum Drama der kräftigen Farben, mit illustren Persönlichkeiten aus der Geschichte sowie Frauenfiguren, die deutlich energischer und aktiver agieren, als jene der frühen Puccini-Opern. Fedora, Tosca, Adriana sind Prototypen einer neuen Weiblichkeit, die am Ende des umbertinischen Zeitalters auftauchen, während Italien von
ernsthaften sozialen Problemen durchzogen wird, auf die ein Bava Beccaris mit der Macht der Kanonen antwortet, gewissermaßen als Vorahnung auf noch schlimmere autoritäre Involutionen. Der erhabene und stumme Abgang einer Manon oder einer Mimì weicht Geschichten, die mit brutalen Todesfällen – wie Selbstmorde und Vergiftungen – enden. Die kleinbürgerliche Komödie hat sich zum grausamen historischen Drama gewandelt, deren Protagonistinnen in der Tat Heldinnen geworden sind: Jene der »großen Welt«, wie Fedora und Maddalena di Coigny oder des Theaters, wie die Sängerin Floria Tosca und eben die Schauspielerin Adriana. « Cesare Orselli
Alexandra Steiner-Strauss
DIE BAROCKE BÜHNE
Theaterdekoration in Frankreich und Österreich von 1710 bis 1740
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Am 1. September 1715 verstarb Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. in Versailles. Zehn Jahre zuvor war sein größter europäischer Gegenspieler Kaiser Leopold I. gestorben. Das Ableben der beiden Regenten markierte auch das Ende einer glanzvollen Periode des europäischen Barocktheaters. Zu Lebzeiten der großen Herrscher hatte das Barocktheater große Triumphe gefeiert – nicht nur auf dem Gebiet der Politik, sondern auch im Bereich der Kultur waren das Haus Bourbon und das Haus Habsburg in Konkurrenz zueinander gestanden. Der Kampf um die Vormachtstellung in Europa spiegelte sich im Wettstreit der beiden Höfe um prunkvollere und teurere Feste und Aufführungen wider. Die noch relativ neue, aus Italien kommende Kunstform der Oper hatte das Theater der Höfe erobert; italienische Theateringenieure wie Bernardo Buontalenti (1536-1609) und Giacomo Torelli (1608-1678) entwickelten technisch ausgeklügelte Maschinerien, um für die »feste teattrali« an Italiens Fürstenhöfen raffinierte Effekte zu zaubern, die ganz Europa in Erstaunen setzten und zur Nachahmung anregten. In Wien bediente Hofingenieur Lodovico Giovanni Burnacini (um 1636-1707) meisterhaft die barocke Bühnenmaschinerie, stattete Hochzeiten, Feste, Opern und geistliche Aufführungen aus. Der Pariser Hof wurde von der Musikerpersönlichkeit Jean-Baptiste Lully (1632-1687) geprägt, dessen Werke König und Adel begeisterten. Kaiser und König hier wie dort komponierten oder tanzten selbst mit. Höfisches Theater war gleichbedeutend mit Oper und Ballett, zumeist in tagelange Feste integriert und dem Hof und Adel als kostspieliges Vergnügen vorbehalten. Feuerwerke, Flugmaschinen und Rossballette schlugen in Wien und Paris alle theatralen Rekorde. Die Aufführung von Il Pomo d’Oro (Antonio Cesti/Francesco Sbarra), ausgestattet von Burnacini und 1668 aufgeführt zu Ehren der Heirat Leopolds I. mit der spanischen Infantin Margerita Teresa, dauerte zwei Tage und gilt mit 23 verschiedenen Bühnenbildern und spektakulären Effekten bis heute als Meisterwerk barocker Bühnenkunst. Die Nachfolger der kunstbegeisterten Herrscher, Philipp von Orleans, Ludwig XV., Joseph I. und Karl VI. führten das Werk der beiden Regenten fort, wenn ihnen auch deren hervorragender Kunstsinn und künstlerische Begabung fehlten. So bevorzugte Karl VI. im Grunde die Jagd gegenüber großen Spektakeln. Dennoch konnte das hohe Niveau des Barocktheaters gehalten werden, bis um 1740 die Aufklärung einem neuen Theater den Weg ebnete. Gerade die Jahrzehnte zwischen 1710 und 1740 präsentieren sich als Umbruchphase des europäischen Theaters. Während das spätbarocke höfische Theater noch Triumphe feierte und der Jesuitenpater Franziskus Lang 1727 mit Dissertatio de actione scenica eine Zusammenfassung barocker Schauspielkunst veröffentlichte, erschien nur wenige Jahre später Johann Christoph Gottscheds richtungsweisendes Buch Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Dort stellte er die Barockkunst als überholt dar und forderte ein neues Theater: Vernunft und Wahrscheinlichkeit wurden nun die neuen Postulate. Die
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Künstlichkeit der barocken Oper wie auch deren opulente Ausstattung und fantasievolle Effekte kritisierte Gottsched ebenso heftig wie die im Volkstheater so beliebte Figur des Hanswurst. Noch aber regierten mit Karl VI. und Ludwig XV. zwei absolutistische Herrscher, für die das Theater über kurzweiligen Zeitvertreib hinaus wichtiges Mittel der Repräsentation und Selbstdarstellung war. Besonders der Dekoration und Ausstattung kamen folgerichtig große Bedeutung zu. Wiewohl Karl VI. der Bühne weniger Begeisterung entgegenbrachte als noch Kaiser Leopold I., engagierte er Künstler, die dem Kaiserhof zu Opernaufführungen ersten Ranges verhalfen und Wien zu einem Zentrum der theatralen Kultur Europas machten: Ferdinando und Giuseppe Galli Bibiena zeichneten für die prunkvollen Ausstattungen verantwortlich, die ihnen Aufträge in ganz Europa einbrachten. Die weitverzweigte Szenographen-Familie der Galli Bibiena stammte aus Italien und sorgte durch Generationen hindurch vor allem in Wien, aber auch an italienischen, spanischen, portugiesischen und deutschen Fürstenhöfen für die Ausstattungen von Opern, Theaterstücken und Festen. Besonders hervorzuheben ist Ferdinando Galli Bibiena (1657-1743), der 1712 aus Barcelona mit der Wahl von Karl von Habsburg zum Kaiser gemeinsam mit seinen Söhnen nach Wien zog und hier zum ersten »Theaterarchitekten, Fest- und Theatermaler« ernannt wurde. Besonders berühmt wurde Ferdinandos Freiluftinszenierung der Oper Angelica Vincitrice (Pietro Pariati/Johann Joseph Fux) in der Kaiserlichen Favorita anlässlich der Geburt von Erzherzog Leopold 1716: »Nothing of that kind was ever more magnificent, and I can easily believe what I am told, that the decorations and habits cost the Emperor 30000 sterling. The stage was build over a very large canal, and at the beginning of the 2nd act divided into 2 parts, discovering the water, on which there immediatelly came from different parts 2 fleets of little gilded vessels that gave the representation of a naval fight«, beschrieb Zuseherin Lady Wortley Montague in einem Brief nur einen der vielen theatralen Effekte der Aufführung. Giuseppe Galli Bibiena (1696-1757) übernahm das Amt des ersten Theaterarchitekten 1723. Gleich seinem Vater zeichnete er für zahlreiche Opernaufführungen verantwortlich ebenso wie für höfische Feste zu Ehren von Hochzeiten und Trauerfeierlichkeiten. Das Meisterwerk spätbarockerAusstattungskunst schuf Giuseppe Galli Bibiena 1723 anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten von Karl VI. zum König von Böhmen am Prager Hradschin: Für die Aufführung der Oper Costanza e Fortezza (Pietro Pariati/Johann Joseph Fux) erbaute Giuseppe ein offenes Gartentheater von riesigen Ausmaßen, das angeblich rund 8.000 Menschen Platz bot. Bühnentechnik und Dekorationen von Costanza e Fortezza wurden für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts so stilprägend wie es Burnacinis Il Pomo d’Oro für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts gewesen war. Auch einen der wenigen fast vollständig im Originalzustand erhaltenen A LEX A N DR A ST EIN ER-ST R AUS S
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Theaterbauten des 18. Jahrhunderts verdanken wir Giuseppe Galli Bibiena und seinem Sohn Carlo: Von 1746 bis 1750 erbauten die beiden das Opernhaus für die Markgräfin Wilhelmina von Bayreuth. Der ganz aus Holz gebaute Zuschauerraum perfektioniert die Form des Logentheaters. Das Wiener Opernhaus, das Joseph I. zu Beginn des Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte, war ein Bau von Francesco Galli Bibiena, dem Onkel Giuseppes, gewesen. 1709 wurde nach Plänen Antonio Beduzzis auch das Kärntnertortheater eröffnet, das zur Spielstätte der Truppe von Joseph Anton Stranitzky (um 1676-1726), besser bekannt als »Hanswurst« und Begründer der Altwiener Volkskomödie, wurde. Mit den Galli Bibiena hielt eine neue Form der Bühnendekoration Einzug in Europa. Ferdinando gilt als der Erfinder der scena per angelo, des schräg über Eck gestellten Raumes auf der Bühne, wie er es in seinem Lehrbuch Direzione della prospettiva teorica (1711/1731) beschrieb. Bislang hatte man die Bühnenbilder gemäß den perspektivischen Gesetzen auf einen Fluchtpunkt in der Mitte des Prospekts ausgerichtet; Symmetrie war die Folge. Barockes Theater war gleichzusetzen mit Kulissentheater, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch Giovanni Battista Aleotti in Italien eingeführt worden war. Die Scheinhaftigkeit dieses auf Illusion beruhenden Theaters konnte als Sinnbild für die im Barock geltende Auffassung vom »Theatrum mundi«, von der Scheinhaftigkeit der Welt, gedeutet werden: »Indem das Theater die in der sichtbaren Welt gegebene Illusion potenziert, sie in der Kulissendekoration ihrerseits scheinhaft repräsentierend, bringt es den Zuschauer daher zur Erkenntnis, dass die irdische Welt auch nur – genau wie die Kulissendekoration – eine Illusion darstellt, von der er sich in Zukunft nicht mehr täuschen lassen wird.« (Erika Fischer-Lichte). Ferdinando Galli Bibiena löste die Zentralperspektive auf, stellte die Architekturen über Eck und verband die einzelnen Teile mit Bögen. Diese Diagonalperspektive bot dem Betrachter nun eine optische Fülle an Architekturteilen wie Treppen, Hallen oder Gewölben. Illusionistische Effekte sorgten für Überraschung und Spannung. Perfektioniert und weitergeführt wurde diese Form der Bühnendekoration durch Sohn Giuseppe Galli Bibiena. Die opulente Kunst des Spätbarocks hatte damit ihre perfekte Entsprechung im Bühnenbild gefunden. In diesem Zusammenhang muss auch Andrea Pozzo (16421709) genannt werden, der als Maler, Architekt und Szenograph wirkte. In Wien schuf er unter anderem die Scheinkuppel der Jesuitenkirche (1703) und das Deckengemälde im Herkulessaal des Gartenpalais Liechtenstein. Dort lassen sich die spätbarocken Illusionskünste und vor allem die virtuos gemalte Scheinarchitektur genau studieren und vermitteln ein Bild der zeitgleichen Theaterdekoration. Architektur, Malerei und Dekorationswesen werden in diesen Jahrzehnten zu »Schwesternkünsten«, beeinflussen einander und liegen oft auch in der Hand eines Künstlers. Einen guten Eindruck vom Kostümwesen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann man an den 79
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rund 280 im Theatermuseum Wien erhaltenen Figurinen von Daniele Antonio Bertoli (1677-1743) machen, der von 1707 bis 1743 am Wiener Hof wirkte, Erzherzogin Maria Theresia im Zeichnen unterrichtete und für zahlreiche Theateraufführungen und Festlichkeiten die Kostüme entwarf. Seine Aquarelle zeigen unter anderem Kostüme für elegante Kavaliere und reizende Gärtnerinnen, Bäuerinnen und Chinesen, Perser, Türken und Tänzer – der Fantasie der höfischen Gesellschaft waren keine Grenzen gesetzt. In Paris wirkte zu dieser Zeit die herausragende Künstlerpersönlichkeit JeanNicolas Servandoni (1695-1766), der ebenfalls als Maler, Architekt und Szenograph tätig war. Ausgebildet in Rom, kam er 1724 nach Paris, wo er bis 1742 als Direktor der Ausstattung an der Oper im Théâtre du Palais Royale für zahlreiche Dekorationen verantwortlich zeichnete. 1731 wurde er Mitglied der angesehenen Académie Royale de Peinture et Scultpure. Später gründete Servandoni, der auch in England an der Londoner Oper tätig war, sein eigenes Theater im »Salle des Machines« in den Pariser Tuilerien. Er führte nach englischem Vorbild stumme Pantomimen auf – der eigentliche »Akteur« dieser Stücke aber waren die theatralen Effekte und spektakulären Dekorationen nach Vorbild der großen Maschinenausstattungen des 17. Jahrhunderts. Besonders berühmt wurden die Aufführungen Spectacle de Pandore (1739) und La foret enchantée (1754). Die Dekoration wird hier vollends zum Selbstzweck – Servandonis Schaffen kann als Höhepunkt barocker Begeisterung für aufsehenerregende Effekte, kombiniert mit perfekter, illusionistischer Theatermalerei angesehen werden. Sein berühmtestes Werk als Architekt schuf Servandoni mit der Fassade für die Kirche St. Sulpice in Paris.
Das Sprechtheater: Von der Comédie-Française zum Burgtheater
← Anna Netrebko als Adriana Lecouvreur, 2017
Die Comédie-Française war 1680 auf königliches Geheiß gegründet worden, galt als Frankreichs repräsentatives offizielles Sprechtheater und war damit Europa frühestes Staats-und Nationaltheater. Die Gründung der ComédieFrançaise und damit die Institutionalisierung der Schauspielkunst belegt die hohe Wertschätzung, die der König dem Schauspiel entgegenbrachte. Die klassische Tragödie eines Corneille und Voltaire sowie die »haute comédie« hatten hier ihren festen Platz. Mit dem Einfluss der Madame Maintenon auf Ludwig XIV. zog sich der König in seinem letzten Lebensjahrzehnt mehr und mehr vom Theater zurück. Sein Nachfolger Philipp von Orleans versuchte der Comédie-Française in den Jahrzehnten wieder ihre Bedeutung zurückzugeben. Die Zeit zwischen 1710 und 1750 ist geprägt von großen Schauspielerpersönlichkeiten wie Mademoiselle Duclos (1668-1748), Adrienne Lecouvreur (1692-1730) und Mademoiselle Clairon (1723-1803). In diesen Jahrzehnten fand an der Comédie-Française auch der Wechsel vom rhetorisch-deklamatorischen Schauspielstil der Barockzeit hin zu einem Darstellungsstil der Natürlichkeit und Innerlichkeit statt – ein Weg, der schließlich zum bürger-
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lichen Drama der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führen sollte. Das französische Theater wurde in diesen Jahrzehnten mehr und mehr zur eigenen Kunstform und strebte danach, neben Literatur und bildender Kunst als autonome Gattung anerkannt zu werden. In Frankreich wurden diese Bestrebungen durch eine Reihe erstklassiger Maler unterstützt, die dem Theater großes Interesse entgegenbrachten wie Antoine und Charles-Antoine Coypel, Nicolas de Largillière und Nicolas Lancret. Ab 1740 arbeiteten auch die großen Rokokomeister Jean-Honoré Fragonard und Francois Boucher für Theater und Oper, schufen Dekorationen und Kostüme. Am berühmtesten freilich wurden die Gemälde Jean-Antoine Watteaus, in denen er der Comédie Italienne ein Denkmal setzte: Die italienischen Komödianten waren in Paris immer so beliebt gewesen, dass sogar die Comédie-Française ihren Erfolg fürchtete: 1697 wurden sie mithilfe zahlreicher Intrigen aus Paris vertrieben. Philipp von Orleans holte die italienischen Schauspieler 1716 wieder zurück – an ihrer Spitze stand nun Louis Riccoboni, ein Theatermann ersten Ranges, der auch in theoretischen Texten seine Auffassung von der Schauspielkunst formulierte. Die Comédie Italienne überzeugte durch Improvisation, Akrobatik und spitzzüngige Parodien. Die Figuren waren der Commedia dell’arte gemäß festgelegt – eine davon zeigt Watteaus berühmter Pierrot, besser bekannt als Gilles (1718/19, Louvre). Zu diesem Zeitpunkt gab es am österreichischen Kaiserhof keine der Comédie-Française vergleichbare Institution. Das Sprechtheater wurde von den Habsburgern weitaus weniger gepflegt und geschätzt als die Musik. Während die Künstler der Familie Galli Bibiena der Oper zu größter Blüte in Sachen Ausstattung verhalfen, gab es unter Karl VI. kaum Berufsschauspieler, die Tragödie und Komödie auf ähnlich hohem Niveau pflegten. Im Gegensatz zu Frankreich gab es in den deutschsprachigen Ländern allerdings auch keine nationale Literatur vom Rang eines Corneille, Voltaire oder Molière, keine Schauspielerpersönlichkeiten wie die Duclos oder Lecouvreur. Erst Joseph II. sollte 1776 das Theater nächst der Burg am Michaelerplatz zum deutschen Nationaltheater erheben. Mit dem Tod von Karl VI. im Jahr 1740 begann in Wien der Aufbruch in eine neue Zeit: Maria Theresia und Joseph II. erließen eine Reihe tiefgreifender Theaterreformen, die das Theaterwesen strukturierten und in die Aufklärung hinüberführten. Das letzte große barocke Fest fand 1744 in der Winterreitschule anlässlich der Eheschließung von Erzherzogin Anna mit Karl von Lothringen statt, die Giuseppe Galli Bibiena mit gewohntem Können zu einem prachtvollen Ball- und Theatersaal umgestaltet hatte: Tausende Angehörige des Hofes genossen noch einmal barocke Festkultur auf höchstem Niveau und die Ausstattungskunst zur Festoper L’Ipermestra (Pietro Metastasio/Johann Adolph Hasse). Bald danach sollte die Umbildung des Theaters zu einer »moralischen Anstalt« – auch und gerade für eine bürgerliche Öffentlichkeit – beginnen und der Weg des Ausstattungswesens hin zu den nüchternen Formen des Klassizismus. A LEX A N DR A ST EIN ER-ST R AUS S
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» ICH LIEBE ES, THEATER ZU SPIELEN. ES IST SO VIEL REALISTISCHER ALS DAS LEBEN. « Oscar Wilde
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Jean Racine
KLAGE DER PHÄDRA Gerechter Himmel! Was hab’ ich getan? Schon machen sich mein Gatte und Sohn zur Rückkehr bereit. Der Zeuge einer ehebrecherischen Flamme, soll mich vor dem Vater feige erzittern sehen? Soll sehen, wie sich meine Brust mit Seufzern füllt und meine Tränen verspotten? Glaubst du, dass er vor Theseus nicht wagte, mein schreckliches Drama zu enthüllen? Dass er mich vor dem Vater und König lügen ließe und die unendliche Abscheu vor mir unterdrückte? Doch umsonst wäre sein Schweigen. Oenone, ich kenne meine Schuld. Ich kann mich nicht verstellen, so wie jene frechen Weiber, die Freude am Betrug haben, deren eisige Stirn niemals mehr erröten kann. Von Adriana im dritten Akt der Oper deklamiert.
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→ Piotr Beczała als Maurizio, Anna Netrebko als Adriana Lecouvreur, Roberto Frontali als Michonnet, 2017
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Impressum Francesco Cilèa ADRIANA LECOUVREUR Spielzeit 2021/22 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2014 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Poetsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Die Handlung (bearbeitete Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014), englische Übersetzung von Andrew Smith – Evelino Pidò, Eine Partitur voller Bilder (bearbeitete Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Sir David McVicar, Ehrlich zum Werk sein (Übernahme aus dem Adriana LecouvreurProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Arthur Kahane, Theater: Holde Lüge und tiefe Wahrheit, in: Tagebuch des Dramaturgen, Bruno Cassirer Verlag, 1928 Berlin – Alexandra Wilson, Cilèa und seine Opern (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft des ROH Covent Garden, 2010) – Ulrich Schreiber, Ohrwürmer und Blumen, in: Die Kunst der Oper: Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert, Büchergilde Gutenberg, 1991 Frankfurt am Main – Walter Dobner, Gehört Adriana Lecouvreur zum Verismo? (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Oswald Panagl, Hier gilt’s der KUNST…, in: Opernring 2, Oktober 2021, Magazin der Wiener Staatsoper – Andreas Láng, Er schrieb den Text der Adriana Lecouvreur (Übernahme aus dem Adriana LecouvreurProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Mario Pilati, Zwischen Intrigenspiel und Dramatik, Übersetzung: Ellen Noé (Programmheft der Oper Frankfurt) – Voltaire, La Mort de Mademoiselle Lecouvreur, Übersetzung: H.G. Uhl (Programmheft der Bayerischen Staatsoper, 1984) – Katherine Ibbett; Die echte Adrienne (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft des ROH Covent Garden, 2010) – Adrienne Lecouvreur, Brief an Moritz von Sachsen, Übersetzung: H.G. Uhl (Programmheft der Bayerischen Staatsoper, 1984) – Oliver Láng, Moritz von Sachsen (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Daniel Wagner, Historie und das Musiktheater (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Alexandra Steiner-Strauss, Die barocke Bühne (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014) – Jean Racine, Klage der Phädra (Übernahme aus dem Adriana Lecouvreur-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2014)
BILDNACHWEISE Coverbild: »Suzan Pitt, working on a set for her animated epic, Asparagus, 1975«, photo by Ken Brown. Szenenbilder Seite (2, 3, 17, 25, 34, 35, 44, 45, 49, 58, 61, 80, 85): Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 22, 31, 52, 55, 63, 66, 67, 74, 75: AKG-Images: Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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