DIE TOTE STADT Erich Wolfgang Korngold
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Traumbilder, Traumstädte → Willy Decker
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Mise en abyme → Sergio Morabito
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Liebe, Tod und Auferstehung → Peter Blaha
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Wiederkehr → Georges Rodenbach
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»Wirkung ohne Ursache« oder »Oper pur« → Arne Stollberg
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Kontrastdramaturgie. Zur Musik von Korngolds Die tote Stadt → Martin Schüttö
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Der Triumph des Lebens → Olaf Kiener
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»…eigentlich habe ich es immer nur für Papa getan.« → Bernd O. Rachold
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Traum → Arthur Schnitzler
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»Solche Dinge müssen mit Bedacht gemacht sein.« → Oliver Láng
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Und sie lebt doch… → Andreas Láng
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Neig dein blass Gesicht Sterben trennt uns nicht. Musst du einmal von mir gehn, glaub, es gibt ein Auferstehn. Marietta / Paul, 1. Bild
DIE TOTE STADT → Oper in drei Bildern Musik Erich Wolfgang Korngold Text Paul Schott (eigentl. Julius und Erich Wolfgang Korngold) nach Georges Rodenbachs Bruges-la-Morte und Le Mirage
Orchesterbesetzung 3 Flöten (2. und 3. auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, Basstrompete, 3 Posaunen, Bassposaune, Pauken, Schlagwerk, 2 Harfen, Celesta, Klavier, Harmonium, Mandoline, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 2 Klarinetten, 2 Trompeten, Schlagwerk, Glocken, Windmaschine, Orgel Spieldauer 2 Stunden 30 Minuten (inkl. einer Pause) Autograf verschollen Uraufführung 4. Dezember 1920, Stadttheater Hamburg / Opernhaus Köln Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 10. Jänner 1921
DIE HANDLUNG Seit Jahren lebt Paul in Brügge nur noch für die Erinnerung an seine tote Frau Marie. In einem Zimmer seines Hauses, das für ihn zur »Kirche des Gewesenen« wurde, verwahrt er alle Dinge, die ihn an sie erinnern, darunter eine Haarflechte der Verstorbenen. Als sein Freund Frank ihn besucht, erzählt ihm Paul von der Begegnung mit einer Unbekannten, die Marie völlig gleicht. Es ist Marietta, die als Tänzerin in Brügge gastiert und Pauls Einladung, ihn zu besuchen, angenommen hat. Sie nimmt seinen Rosenstrauß entgegen und singt, sich selbst auf Maries Laute begleitend, das alte Lied »Glück, das mir verblieb«. Immer stärker fließen die Bilder der toten Marie für Paul mit jenem Mariettas zusammen. Als er sie in die Arme schließen möchte, entwindet sie sich ihm und geht zur Probe, nicht jedoch ohne ihn zu einem Wiedersehen im Theater zu ermutigen. Paul versinkt in einen tiefen Traum, in dem ihm Marie aus ihrem Porträt entgegentritt und ihn an seine Treue mahnt. Plötzlich findet er sich am Kai vor Mariettas Haus wieder. Frank taucht auf, mit dem Schlüssel zu ihrem Zimmer. Paul schlägt ihn nieder und reißt den Schlüssel an sich. Marietta kehrt mit ihrer Komödiantentruppe vom Theater heim und improvisiert auf offener Straße zu Ehren des Grafen Albert die Erweckungsszene aus Meyerbeers Oper Robert der Teufel. Marietta spielt darin die von den Toten auferstandene Héléna. Paul fährt dazwischen und beschuldigt sie der Blasphemie. Marietta nimmt den Kampf mit der toten Rivalin auf. Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht plagen Paul Schuldgefühle. Als eine Prozession an seinem Haus vorbeizieht, verhöhnt ihn Marietta wegen seiner Frömmigkeit. Schließlich ergreift sie Maries Haarflechte. Paul will sie ihr entreißen, wirft Marietta nieder und erwürgt sie. Paul erwacht aus seinem Traum. Marietta erscheint, um den vergessenen Rosenstrauß zu holen. Auch Frank kehrt zurück und Paul beschließt, mit ihm Brügge, die »Stadt des Todes«, zu verlassen.
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DIE H A N DLU NG
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SYNOPSIS Paul has lived in Bruges for years, mourning the loss of his wife, Marie. He keeps everything that reminds him of her in a room in his house that he has turned into a »Temple of the Past«; the articles include a braid of his dead wifeʼs hair. When his friend Frank visits him, Paul tells him of his meeting with an unknown woman whose resemblance to Marie is remarkable. It is Marietta, a dancer who has an engagement to perform in Bruges and who has accepted Paulʼs invitation to visit him. She accepts his bouquet of roses and, accompanying herself on Marieʼs lute, sings an old, sad song. For Paul, his images of the dead Marie mingle increasingly with those of Marietta. When he tries to take her in his arms, she escapes his embrace and leaves for rehearsal, however not before encouraging him to see her again at the theatre. Paul sinks into a deep reverie in which Marie steps out of her portrait and reminds him of his loyalty to her. Suddenly he finds himself on the quay in front of Mariettaʼs house. Frank appears and has the key to her room. Paul strikes him down and grabs the key. Marietta returns from the theatre with the troupe of comedians and improvises the resurrection scene from Meyerbeerʼs opera Robert le diable on the street in honour of Count Albert. Marietta plays the resurrected Héléna. Paul rushes onto the scene and accuses her of blasphemy. Marietta takes up the struggle with her dead rival. After spending the night with her, Paul is filled with guilt. When a procession passes outside the house, Marietta mocks his piety. Finally, she seizes the braid of Marieʼs hair. Paul tries to wrest it from her, pushing her to the floor and strangling her. Paul then awakes from his dream. Marietta appears to fetch the bouquet of roses she had forgotten. Frank also returns, and Paul decides to leave Bruges, the »city of death«, with him.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Erich Wolfgang Korngold schuf erst 23jährig mit seiner 1920 uraufgeführten Toten Stadt eines der großen Meisterwerke seines Komponistenlebens: Basierend auf Vorlagen des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach entstand eine Oper, die, wie Korngold schrieb, den »Kampf zwischen Leben und Tod«, die Spannung zwischen Vergangenheitsfixierung und erotischer Gegenwart zum Thema hat. Korngolds Musik, die in expressiven Ausbrüchen, in harmonisch faszinierender Vielschichtigkeit ebenso wie in bittersüßen Schlagern spricht, ist von einer Kontrastdramaturgie geprägt, die Martin Schüttö ab Seite 44 auffächert. In seiner maßstabsetzenden Inszenierung leuchtet Willy Decker, der in einem Essay ab Seite 8 Einblick in seine konzeptionellen Überlegungen gibt, in das weite Land der Seele hinein, entfaltet eine suggestive Bildsprache und zeigt die Tote Stadt im gefährlichen Schwebezustand zwischen innerer und äußerer Welt. Sergio Morabito verknüpft ab Seite 14 eine Analyse von Deckers Inszenierungsarbeit mit einem Einblick in die Erzählstrategien des Themas der Liebe zu einer wiederkehrenden Toten von Edgar Allan Poe bis Alfred Hitchcock. Peter Blaha beleuchtet ab Seite 20 die Entstehungsgeschichte der Oper, das komplexe und nicht immer unbelastete Verhältnis des (einstigen) Wunderkindes Erich Wolfgang zu seinem mächtigen Musikkritiker-Vater Julius Korngold beleuchtet Bernd O. Rachold ab Seite 62 mit zahlreichen Quellen aus dem Korngold-Archiv. Arne Stollberg setzt sich mit den – teils durch Antisemitismus und Nationalsozialismus – geprägten Klischees der Korngold-Rezeption ab Seite 32 auseinander, Oliver Láng umreißt die »zweite« Karriere des Komponisten als Bearbeiter von Operetten (ab Seite 82). Auf das weitgespannte thematische Bezugsnetz des Tote Stadt-Sujets im Europa zur Entstehungszeit der Oper verweist Olaf Kiener ab Seite 52 und Andreas Láng zeigt ab Seite 88 auf, dass der einstige Sensationserfolg Tote Stadt seit seiner Renaissance heute wieder zum festen Repertoirebestand der Wiener Staatsoper zählt. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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Die tote Stadt
Willst du zum Herrn dich über Tod und Leben schwingen? Ein lebend Sein zur Puppe des Verstorbnen zwingen? Frank, 1. Bild 7
Willy Decker
TRAUMBILDER, TRAUMSTÄDTE
Wo liegt Korngolds Tote Stadt, in welchem Land, in welcher Gegend, in welcher Wirklichkeit? In Georges Rodenbachs Romanvorlage heißt sie Brugesla-Morte, und dieser viel komplexere Titel verschränkt die beiden wichtigsten Motive dieser toten Stadt miteinander – Brügge und die Tote –, so wie Paul es in der Oper immer wieder ausspricht: Die tote Stadt, die tote Frau. Über das Gesicht der Stadt schiebe sich das Gesicht einer Toten. Aus den dunklen Winkeln Brügges schauen die toten Augen einer verlorenen Geliebten. Korngolds Brügge ist kein wirklicher Ort, es ist ein poetischer, ein unwirklich verschwommener Ort, ein Ort der Fantasie – es ist das Bild einer Stadt als Traumkulisse im doppelten Sinn: Kulisse für einen Traum, in den sich der hoffnungslos Trauernde hineinflüchtet wie ein Schauspieler in eine Filmdekoration, in der er das Schauspiel einer eigenen verlorenen VergangenW ILLY DECK ER
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heit nachspielen kann. Dieses Traum-Brügge ist aber nicht nur der gemalte Hintergrund des Traumes, es ist der Traum selbst. Paul fantasiert sich in die Atmosphäre dieser Traumstadt hinein, um sich in ihrem verschwimmenden Zwielicht vor der gnadenlosen Wirklichkeit des Todes in Sicherheit zu bringen. In allen Silhouetten, Spiegelungen, verwischten Konturen erkennt er seine Tote. Ihr Gesicht und seine Trauer fließen ineinander. Die »Tote Stadt« ist ein Ort der Seele, ein tiefer, abgedunkelter Raum, in dem die Trauernden mit den Schatten ihrer Toten ein Scheindasein führen. Dieser Ort ist überall da, wo vitale Trauer zu steinerner Verzweiflung erstarrt ist, wo Schmerz sich zu Lebensverneinung und Lebensverweigerung wandelt; ein totenstiller, blinder Winkel der menschlichen Seele, wo die Untröstlichen Zuflucht finden vor dem unbarmherzigen und vulgären Anspruch des Lebens, das über dem Tod des Geliebten einen neuen Tag, ein neues Leben heraufdämmern lässt, als wäre nichts geschehen. Die beiden Städte, von denen im Stück die Rede ist, Brügge und Venedig, sind trotz ihrer großen Verschiedenheit auch zutiefst verwandt. Beide sind Lieblingsorte der Liebenden und der Lebensmüden. Und Paul ist beides. Beide Städte ziehen dunkle Geschichten magisch an, düstere Erzählungen von Vergänglichkeit und Tod. Man denke nur an Thomas Manns Tod in Venedig oder eben an Rodenbachs Bruges-la-Morte. Tod und Vergänglichkeit umwehen unser Bild dieser Städte, weil sie beide im Wasser stehen – dem Zerfall und dem Untergang preisgegeben. In vielfachen Spiegelungen in Grachten und Kanälen löst sich die äußere Wirklichkeit auf, Konturen verschwimmen, um zu Traumbildern, zu Traumstädten zu werden. Das direkte und harte Nebeneinander von Stein und Wasser, von Starre und Fluss markiert die scharfe Grenze zwischen Realität und Vision, an der entlang das ganze Stück verläuft. Paul versucht auf diesem schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit die Balance zu halten und gerät doch immer mehr in den tödlichen Sog seiner eigenen obsessiven Trauminszenierung. Er ist wie Orpheus, der glaubt, Eurydike aus dem Reich des Todes zurückholen zu können, doch steigt er nicht zum Hades hinab, sondern in die Tiefe seines eignen Unterbewusstseins, einer Insel des Todes, immer weiter entfernt von der Realität des Lebens. Paul will dieses Leben nicht. Er verweigert sich einer Welt, in der Marie fehlt. Beim Tod dieser geliebten Frau, dem schlimmsten Moment seines Lebens, ist er wie unter einem fürchterlichen Schlag zu Stein geworden, in der kalten Wucht des Todes zu Eis erstarrt, wie die dunklen Mauern seiner toten Stadt, die in Wirklichkeit in seinem Inneren liegt, in den dunklen Kanälen seiner trauernden Seele. Er hat sich abgewandt von jedem äußeren Leben, hat sich nach innen gekehrt, um in der Traumstadt seiner Psyche nur mit dem Bild seiner Frau weiterzuleben. Er nimmt die äußere Wirklichkeit nur dort wahr, wo sie ihm Material und Stoff für die Bebilderung und Belebung seines Traumes liefert. Wenn er Marietta in seiner toten Stadt begegnet und in einen Taumel großer Hingerissenheit gerät, so ist dies nicht wirkliche Be 9
T R AUMBILDER, T R AUMSTÄ DT E
geisterung über ihre Schönheit oder ein echtes, neu beginnendes Interesse für eine andere Frau, ein neues Leben, sondern es ist das sprachlos glückliche Staunen über ihre Ähnlichkeit mit Marie. Sie ist die langgesuchte, langersehnte Hauptdarstellerin für seinen »Traum der Wiederkehr«, sein Schauspiel der »Auferstehung des Fleisches«. Er will sie in seine Welt locken, nicht als individuelle Person, nicht als Individuum Marietta, sondern als wiedergefundene Marie, als »Puppe des Verlorenen«: Marietta soll zu Marie werden, auch wenn sie als Mensch sterben muss, um zu seiner Marionette werden zu können. Marietta aber ist eine reale Figur und erscheint gleichzeitig als die traumatische Verzerrung ihrer selbst. Sie lebt zum einen in der Wirklichkeit und ist zum anderen ein manipuliertes, vom Unterbewusstsein Pauls auskoloriertes Abbild. Dennoch entwickelt sie auch als Traumfigur eine Art von eigenem Bewusstsein, so, als würde die Traum-Marietta versuchen, sich aus dem ihr aufgezwungenen männlichen Zerrbild zu befreien und in die Wirklichkeit zurückzufinden, wie eine Marionette, die gegen ihren Puppenspieler aufbegehrt. Pauls Traum ist eben viel mehr als das Heraufbeschwören von geliebten Erinnerungen, mehr als das fantasierende Umherschweifen in Bildern von verlorenem Glück. Sein Traum ist radikaler, ist hypertroph und obsessiv. Er träumt von der Wiederkehr, will, dass Marie als lebendes Wesen zu ihm zurückkommt. Die Handlung setzt dort ein, wo sich die Realität Pauls Manipulationsversuchen verweigert, verkörpert in den drei realen Figuren Marietta, Frank und Brigitta, denen Paul in der Rahmenhandlung begegnet. An dem Einspruch und der Verweigerung dieser drei Figuren entzündet sich ein tiefer innerer Konflikt, den Paul in seiner Seele auskämpft und der sich in Träumen, Visionen und alptraumhaften Sequenzen seines Unterbewusstseins entlädt. Anders aber als Orpheus aus dem Hades, kehrt Paul aus seinen Träumen ohne Marie zurück, denn auf der Bühne seines Unterbewusstseins hat er sich im Labyrinth dieser Träume, in bedrängenden Visionen von obsessivem Erinnern und Festklammern, in fantastischen Bildtafeln der nicht eingestandenen Wahrheit des Todes endlich doch von der erstickenden Übermacht seiner Vergangenheit gelöst, hat Marie wirklich und unwiderruflich sterben lassen.
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T R AUMBILDER, T R AUMSTÄ DT E
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Rainer Maria Rilke, 1908
» DASS DEIN STARKER TOD UNS DUNKEL UNTERBRACH, DAS BISDAHIN ABREISSEND VOM SEITHER: DAS GEHT UNS AN; DAS EINZUORDNEN WIRD DIE ARBEIT SEIN, DIE WIR MIT ALLEM TUN. «
Sergio Morabito
MISE EN ABYME
Willy Deckers virtuoses Vexierbild von Korngolds Toter Stadt
Die »Mise en abyme«, so entnehmen wir dem Sachwörterbuch der Literatur, ist eine von André Gide 1893 eingeführte Bezeichnung für eine – dem Spiel im Spiel des Dramas entsprechende – Technik der Rahmenerzählung, bei der eine gerahmte Binnenerzählung Widerspiegelung der RahmenHaupthandlung ist, welche hierdurch – wie zwischen zwei Spiegeln stehend – ihre unendliche Fortsetzung erfährt. Der Begriff »Mise en abyme« – nach altfranzösisch abyme – stammt aus der Wappenkunde und bezeichnet dort ein Wappenfeld im Wappen. abîme bedeutet zum andern aber auch »Abgrund« (von altgriechisch abyssos: »ohne Boden, grundlos, unendlich«); »Mise en abyme« könnte daher im Deutschen am ehesten umschrieben werden als: »in den Abgrund unendlicher Wiederholung gesetzt«. Genau dieser Technik bedient sich Willy Decker bei seiner im Dezember 2004 an der Wiener Staatsoper erstmals vorgestellten Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt. Ihr außerordentliches Gelingen beruht nicht allein auf der hochmusikalischen analytischen Durchdringung der Charaktere, der zugleich subtilen wie äußerst plastischen Personenführung und den Arrangements, die in kunstvoller Stilisierung die Stationen der inneren Handlung konkret und genau erzählen; denn es ist eine innere Handlung, die das Stück erzählt, und die – so möchte es uns glauben machen – zu einer inneren Wandlung des Protagonisten führt. Der verwitwete Paul hat sich in das verfallende Brügge zurückgezogen, um sich nur noch dem Andenken seiner verstorbenen Frau Marie zu widmen, »allein zu sein mit meiner Toten«. Maries Hinterlassenschaft, darunter einer unter einem Glassturz konservierten Flechte ihres blonden Haares, zollt er geradezu kultische Verehrung, den ihr gewidmeten Gedächtnisraum nennt er »Kirche des Gewesenen«. Aus seiner Versenkung reißt ihn – kurz vor Einsetzen des 1. Bildes der Oper – die Begegnung mit einer Doppelgängerin der Verewigten, Marietta, einer Tänzerin, die mit ihrer Truppe regelmäßig Gastspiele in Brügge absolviert. Marietta sieht Marie zum Verwechseln ähnlich, wobei nicht nur ihr Äußeres, sondern auch der Klang ihrer Stimme die Illusion einer Wiederauferstehung der Betrauerten nährt. Gegen den Rat seines Freundes Frank und den passiven Widerstand seiner Haushälterin Brigitta wird sich Paul wissentlich und willentlich dieser Illusion ergeben. Das 2. und 3. Bild der Oper erzählt die Geschichte dieser Amour fou: Je weniger Paul sich freilich über die charakterliche und moralische Ungleichheit der leichtsinnigen und lebenshungrigen Tänzerin mit seiner Ehefrau hinwegtäuschen kann, umso tiefer gerät er in die sexuelle Abhängigkeit von Mariettas Körper. Alle Versuche Pauls, Marietta als bloßes Substitut der Verstorbenen zu demütigen, verstärken seine Hörigkeit. Die nicht nur mit den Artisten ihrer Truppe, sondern auch mit Pauls Freund Frank erotisch sich verausgabende Marietta will Pauls Eingeständnis erzwingen, dass er in ihr nicht etwa die Verstorbene, sondern einzig sie selbst begehrt. In der »Kirche des Gewesenen« nimmt Marietta den Kampf mit der Verstorbenen auf, indem sie 15
SERGIO MOR A BITO
sich, während eine Heilig-Blut-Prozession durch die Gassen der Stadt zieht, Maries Haarsträhne bemächtigt, diese sich um den Hals legt und zu tanzen beginnt. Paul beendet diese Entweihung, indem er sie zu Boden wirft und im Ringen mit der Haarflechte erdrosselt. Die Bühne verdunkelt sich. Als sie sich wieder aufhellt, sehen wir uns mit Paul an das Ende des 1. Bildes zurückkatapultiert, als Paul nach einer Vision, in der die orgiastisch tanzende Marietta die Erscheinung der Toten verdrängt hatte, zusammengesunken war: Das Erlebte war nur eine Vision, ein Traum der Angst-Lust des Protagonisten. Die Tänzerin schaut noch einmal kurz vorbei, um ihren vergessen Schirm abzuholen, und verabschiedet sich kokett. Doch Pauls Begehren ist erloschen, sein Traum hat ihm Mariettas Erscheinung entzaubert. Freund Frank schlägt Paul vor, gemeinsam die Stadt zu verlassen, und der allein zurückbleibende Paul sagt sich von der Illusion einer Wiederauferstehung seiner Gattin in diesem Leben los: Der »Traum der bittren Wirklichkeit« habe ihm »den Traum der Phantasie zerstört«. Dem bürgerlichen Realitätsprinzip, dem sich das Ende der Oper damit beugt, haben auch schon vor Willy Decker die Regisseure misstraut: So legte Götz Friedrich in seiner 1983 an der Deutschen Oper Berlin herausgebrachten, seit 1985 auch an der Wiener Staatsoper gezeigten Inszenierung nahe, dass Paul nach dem Fallen des letzten Vorhangs Selbstmord begeht. Inga Levant ließ 2001 in Straßburg Paul sich die Pulsadern aufschlitzen und im Kellerraum seiner »Kirche des Gewesenen« verenden. Auch wenn Decker vor solcher Drastik zurückschreckt, so fällt seine Hinterfragung der offiziellen Moral nicht weniger nachdrücklich aus. Mit seinem Bühnenbildner Wolfgang Gussmann hat er ein szenisches Dispositiv geschaffen, das seinem Protagonisten die Flucht aus seinen Alpträumen zurück in eine Realität vermeintlich geordneter bürgerlicher Verhältnisse und Entscheidungen verunmöglicht. Denn ihr Raum zeigt zwei hintereinander gestaffelte Bühnen, von denen die erhöhte zweite eine exakte Wiederholung der ersten vorgelagerten Bühne darstellt. Zunächst scheint der bürgerliche Salon im Vordergrund die Realitätsebene vorzustellen, während seine Spiegelung im Hintergrund Pauls Traumbühne entspricht. Doch die Realitätsebenen vermischen sich und sehr bald greifen Pauls Obsessionen auf die Vorderbühne aus. Und je mehr sich der Zuschauer auf das Spiel des zunehmend ununterscheidbar werdenden realen und imaginierten Geschehens einlässt, desto klarer wird ihm die wahrhaft abgründige Konstruktion der Oper bewusst. Diese potenziert ihre »Mise en abyme« von Realität und Traum durch Reflektion ihrer eigenen Theatralität. Denn Marietta ist Tänzerin, und nicht nur das: Sie tanzt im berüchtigten Nonnenballett in Meyerbeers Grand opéra Robert der Teufel (1831) die Rolle der Héléna, die Rolle einer verstorbenen Priorin also, die auf dem Friedhof zu neuem lasterhaften Leben erwacht. Marietta zitiert und persifliert diese Szene sogar vor Pauls und unseren Augen im 2. Bild der Oper. An dieser Stelle unterbricht Paul ihr Spiel, »fasst sie mit eisernem Griff bei der Hand SERGIO MOR A BITO
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und schreit ihr ins Gesicht«: »Halt ein! Du eine auferstandne Tote? Nie!« und »reißt ihr das Laken«, das ihr Leichentuch vorstellt, »vom Leibe«. Diese erotische Aggression antizipiert seine Erdrosselung der Tänzerin vor der Zäsur zum Epilog. Die erfolgte Erdrosselung kommentiert Paul mit den Worten: Paul starrt entsetzt die Tote an »Jetzt – gleicht sie ihr ganz –« aufschreiend »Marie!« Die Wortwahl ist verräterisch. Offenbar setzt die restlose Umschaffung der Marietta in Marie ihre Mortifikation voraus: Die Phantasiearbeit dieses pervertierten Pygmalions führt sein weibliches Artefakt nicht zur Be- sondern zur Entseelung. Nicht länger abzuweisen ist die Frage, ob nicht schon Marie Pauls erstes Mordopfer war (und Marietta vielleicht nicht sein letztes). Korngolds Oper steht in in der Tradition der schwarzen Romantik, die das Thema der Nekrophilie, der Liebe zu einer Toten, über Edgar Allan Poes Ligeia (1838) und Villiers de l’Isle-Adams Véra (1874) an Georges Rodenbach, den Autor der literarischen Vorlagen der Oper, der Erzählung Bruges-la-Morte (1892) und des Theaterstücks Le Mirage (1894) weiterreichte. Im Wien Sigmund Freuds griff Arthur Schnitzler diesen Faden mit der Erzählung Die Nächste 1899 auf. An Rodenbach und Korngold hat das Autorentandem Pierre BoileauThomas Narcejac angeknüpft; deren Psychothriller D’entre les morts (1954, 1959 auf deutsch als Von den Toten auferstanden) wurde in der Verfilmung Alfred Hitchcocks als Vertigo (1958) weltberühmt. Der subtile Schwindel, in den uns dieser Film versetzt, ist dem von Korngolds Oper verwandt, nicht nur weil für beide Protagonisten, den Rentier Paul und Scotty, den Kriminalkommissar im Ruhestand, die blonde, im Film zu einer Spirale aufgedrehte Haarsträhne der Protagonistin zum unverzichtbaren Fetisch wird. In beiden Werken werden die jeweils kontrastierenden Frauengestalten, Marie-Marietta und Madeleine-Judy von der gleichen Darstellerin verkörpert. Denn auch Marie hat in der Oper einen Auftritt, am Ende des 1. Bildes, gesungen und gespielt von… Marietta (die sich kurz zuvor mit den Worten »Es gibt ein Wiedersehen im Theater!« von uns verabschiedet hatte). Denn natürlich sind Marie und Marietta ebenso wie die kühl-elegante Blondine Madeleine und die vulgäre rothaarige Judy ein und dieselbe Frau, deren Imago vom Blick des männlichen Protagonisten aufgespalten wird. In diesem Zusammenhang sei auch an die Ariadne-Zerbinetta-Dyade erinnert: Vorbild für Hofmannsthal war die Fallstudie einer Schizophrenen des Bostoner Psychiaters Morton Prince (The dissociation of a personality, 1908); vor der gemeinsam mit Strauss geschaffenen Oper war Hofmannsthal durch diese Fallstudie bereits zu dem Doppelwesen Maria-Mariquita im Andreas-Romanfragment inspiriert worden.
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MISE EN A BYME
Erich Wolfgang Korngold
»Die beiden Hauptgestalten mit ihren fesselnden seelischen Konflikten, der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt – all das zog mich an.«
Peter Blaha
LIEBE, TOD UND AUFERSTEHUNG Er war erst 23 Jahre alt, und doch galt sein Name 1920, als Die tote Stadt am 4. Dezember zeitgleich in Köln und Hamburg zur Uraufführung gelangte, in der musikalischen Welt schon viel. Denn Erich Wolfgang Korngold blickte bereits auf eine glanzvolle Wunderkind-Karriere zurück, die ihm Respekt und Hochachtung, da und dort allerdings auch Misstrauen eingetragen hatte. Letzteres vor allem deshalb, weil sein Vater Julius Korngold als Nachfolger Eduard Hanslicks bei der Neuen Freien Presse in Wien einer der einflussreichsten Musikkritiker des deutschsprachigen Raums gewesen ist. Man unterstellte dem Vater, auf Musiker indirekt Druck auszuüben, die Werke seines Sprösslings aufzuführen, wollten sie sich seiner Gunst versichern. Ja, es wurde sogar der Vorwurf laut, Julius selbst sei der Schöpfer dieser Werke, deren überlegene Form man ebenso rühmte wie ihre kühne Harmonik. Das ist natürlich Unsinn, denn Julius Korngold, der studierte Jurist, verstand von Musik zwar eine Menge, ein schöpferisches Talent besaß er jedoch nicht. Und was den Vorwurf betrifft, er hätte seinen Sohn protegiert, ergibt eine genauere Betrachtung ein differenzierteres Bild. Die bei der Universal-Edition als Privatdrucke erschienenen Werke des elfjährigen Knaben – eine Klaviersonate, sechs Charakterstücke zu Don Quichotte für Klavier sowie die Ballettpantomime Der Schneemann – hat Julius Korngold zwar an zahlreiche Musikerpersönlichkeiten versandt, weil er, wie es im Begleitbrief heißt, sich »nicht PET ER BLA H A
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mehr für berechtigt (hielt), Musikern und Musikkennern die Erscheinung dieses Kindes vorzuenthalten«. Doch sämtliche Adressaten dieser Sendung, darunter die Komponisten Richard Strauss und Engelbert Humperdinck sowie der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Arthur Nikisch, wirkten zu jener Zeit vorwiegend außerhalb Wiens. Die Erstaufführung des Schneemann an der Wiener Hofoper am 4. Oktober 1910 kam sogar gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters und allein dank der Fürsprache höchster adeliger Kreise zustande. Außer Frage steht jedoch, dass Korngold senior die Promotion seines Sohnes fest in die Hand nahm und diese bis zur Emigration 1938 in die USA mit niemals nachlassendem Eifer betrieb. Der Einfluss von Julius Korngold auf seinen Sohn beschränkte sich jedoch keineswegs nur auf Fragen des Managements. Auch in ästhetischer Hinsicht prägte er ihn und gab ihm die Richtung vor. Das musikalische Wien, in dem der Knabe heranwuchs, war vom Aufbruch in die Moderne geprägt. Arnold Schönberg sowie seine Schüler und Weggefährten Alban Berg und Anton Webern stießen weit in musikalisches Neuland vor. Die Tonalität wurde preisgegeben, und mit ihr verschwand, was man bis dahin als Melodie und Wohlklang bezeichnete. Atonalität und Zwölftontechnik gaben die neuen Richtlinien für das Komponieren vor. Der Kritiker Julius Korngold machte aus seiner Abneigung gegenüber diesen Tendenzen kein Hehl. Atonalität und Zwölftontechnik waren ihm ebenso ein Gräuel wie der Verzicht auf Melodik. Gerade in der Oper schien ihm Letztere aber unabdingbar. Im Vorwort seiner gesammelten Rezensionen schrieb er 1921, also ein Jahr nach der Uraufführung der Toten Stadt: »Was melodisches Bilden und dramatisches Gestalten gefährdet, schließt sich (in der Oper) selber aus. So alle Atomisierung der Melodie zu motivischen Brocken, ihr Herabsinken zur bloßen ›Stimme‹, ihre Abtrennung von der harmonischen Basis, einseitiger Ersatz durch bloße Rezitation. Und so auch, was den Rhythmus erweicht und auflöst, den tonalen Ordnungen Krieg ansagt.« Niemals hat Erich Wolfgang Korngold den »tonalen Ordnungen Krieg« angesagt. Den Grundsätzen seines Vaters blieb auch er in seinem Schaffen treu, weshalb er wohl nach 1945 in Europa, das er bis zu seinem Tod 1957 nur noch fallweise besuchte, als veraltet galt. Offen muss die Frage bleiben, ob er sich als Komponist anders entwickelt hätte, wäre es ihm gelungen, den übermächtigen Einfluss des Vaters abzustreifen. Immerhin hatte Alban Berg großes Interesse bekundet, mit dem um zwölf Jahre jüngeren Kollegen in Kontakt zu treten, was Julius Korngold allerdings unterband (vgl. hierzu den Beitrag von Bernd O. Rachold in diesem Programmheft). Vielleicht hätte Berg ihn für die Ausdrucksmöglichkeiten atonalen Komponierens sensibilisieren können. So aber hielt Erich Wolfgang Korngold zeitlebens an der Tonalität ebenso fest wie an einem Verständnis von Oper, das von Wagners Idee des Musikdramas zwar die Funktion des Orchesters als allwissenden Kommentator übernahm, Wagner aber nicht in der Forderung folgte, die Musik müsse Dienerin des 21
LIEBE , TOD U N D AU FE RS T EH U NG
Dramas sein. In einem Punkt freilich wusste er sich mit Wagner eins: Oberstes Ziel der Oper musste es sein, die Zuhörerinnen und Zuhörer am komplexen Innenleben der Figuren mitfühlend teilhaben zu lassen. Im Grunde besteht genau darin der gemeinsame Nenner aller Spielarten der bürgerlichen Oper. Ihre einzelnen Varianten unterscheiden sich lediglich in der Wahl der Mittel, diesem Zweck am besten gerecht zu werden. Die Grundannahme, dass der singende Mensch im Zentrum stehe, wird erst von einer neuen Generation erschüttert, die bald schon nach dem Erfolg der Toten Stadt an Bedeutung gewinnen sollte.
Entstehung und Dramaturgie Erich Wolfgang Korngold, das gefeierte Wunderkind, hatte mit 16 Jahren seine erste Oper komponiert: Der Ring des Polykrates. Diesem komödiantischen Einakter folgte ein Jahr später der tragische Einakter Violanta. Beide Werke wurden am 28. März 1916 unter der Leitung von Bruno Walter, der zeitlebens ein großer Bewunderer Korngolds blieb, an der Münchner Oper uraufgeführt. Knapp vier Wochen später fand die umjubelte Wiener Erstaufführung statt, mit Maria Jeritza als Violanta, die mit dieser Rolle später auch an der Metropolitan Opera in New York brillieren sollte. Durch diesen Erfolg ermutigt, fasste Erich Wolfgang Korngold 1916 ein neues Opernprojekt ins Auge. Siegfried Trebitsch, der sich als Shaw-Übersetzer einen Namen gemacht hatte, wies ihn auf das Schauspiel Das Trugbild hin, das der belgische Symbolist Georges Rodenbach (1855-1898) nach seinem berühmten und seinerzeit viel gelesenen Roman Bruges-la-Morte gedichtet und das Trebitsch ins Deutsche übersetzt hatte. Korngold war, nachdem er das Stück gelesen hatte, von dem Stoff begeistert und entwarf noch am selben Abend ein erstes Szenarium für die Oper. Was ihn daran so faszinierte, war zum einen die eigentümliche Atmosphäre Brügges, jener Stadt in Flandern, die – einst am Meer gelegen – im späten Mittelalter zu großem Wohlstand gekommen war, durch Versandung der Küste jedoch ihres Zugangs zum Meer verlustig ging, verarmte und mit ihren zahlreichen Kanälen und dunklen Wassern als »Venedig des Nordens« schließlich zum Symbol des Untergangs wurde. Zum anderen fesselten Korngold die seelischen Konflikte des Sujets, »der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten«, wie er schreibt, sowie »die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt«. Als Librettist war ursprünglich der Schriftsteller Hans Müller vorgesehen, ein Freund Erich Wolfgang Korngolds, der schon das Buch zu Violanta verfasst hatte. Müller schlug, auf Korngolds einaktiges Szenarium aufbauend, eine Version in drei Akten mit dem Titel Der Triumph des Lebens vor. Doch bald darauf trat er aufgrund eigener Theaterarbeiten von der Aufgabe zurück, und PET ER BLA H A
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nun war es Vater Julius, der gemeinsam mit seinem Sohn die Arbeit zu Ende führte. Sie wurde durch Erichs Einberufung zum Militärdienst – er leistete ihn bei der Musikkapelle eines Infanterieregiments – zunächst unterbrochen und fand am 15. August 1920 ihren Abschluss. Julius Korngold verbarg seine Mitarbeit hinter dem Pseudonym Paul Schott: Der Vorname steht für die männliche Hauptfigur der Oper, der Nachname für Korngolds Verlag, dessem Teilhaber Ludwig Strecker das Werk auch gewidmet ist. Was die Korngolds nicht wussten war, dass sie zur Vertonung eigentlich gar nicht die Rechte besaßen. Denn sie hatten sie von Siegfried Trebitsch, dem Übersetzer von Rodenbachs Stück, erworben, der keineswegs Rechtseigentümer war. Die Rechte lagen bei der Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques in Frankreich, die dazu ihre Einwilligung hätte geben müssen. Man muss wohl annehmen, dass Trebitsch entweder keine Möglichkeit oder keine Veranlassung sah, sich mitten im Weltkrieg diesbezüglich mit einer Organisation im feindlichen Ausland in Verbindung zu setzen. Nach dem Krieg jedoch sollten genau daraus Probleme entstehen. Denn nach der Wiener Erstaufführung 1921 machten Rodenbachs Erben ihre Rechtsansprüche geltend, die der Verlag Schott zu bestehen hatte. Doch man einigte sich, und als Erich Wolfgang Korngold jungvermählt mit seiner Gattin Luzi 1924 auf Hochzeitsreise ging, traf das Paar in Paris auch mit Rodenbach junior zusammen. Rechtsprobleme waren auch dafür, dass der ursprüngliche Titel Der Triumph des Lebens fallengelassen werden musste. Dieser war schon durch eine andere, heute längst vergessene Oper von Wilhelm Mauke belegt, und so kam der Alternativvorschlag Die tote Stadt zum Zug. Der Einfluss von Julius Korngold auf die endgültige Gestalt des Werkes ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Ihm vor allem ist es zuzuschreiben, dass sich die Oper in einem sehr entscheidenden Punkt von Rodenbachs Vorlage unterscheidet. Während Hugues – so der Name der männlichen Hauptfigur in Bruges-la-Morte – Jane, die Doppelgängerin seiner verstorbenen Frau, wirklich zu seiner Geliebten macht und sie zuletzt erdrosselt, erlebt Paul, die Hauptfigur der Oper, dies alles nur in einer alptraumhaften Vision. Doch es ist ein Traum von geradezu kathartischer Wirkung. Paul lebt nur in der Erinnerung an seine verstorbene Frau Marie. Er will das bereits Verlorene bewahren und hat daher aus seinem Haus eine »Kirche des Gewesenen« gemacht, in der ihm alle persönlichen Gegenstände der Toten zu Reliquien werden. Damit aber hat er sich dem lebendigen Strom des Lebens entgegengestellt und ist selbst zum »lebenden Toten« erstarrt. Er kann nicht vergessen, nicht loslassen. Da begegnet ihm eines Tages auf der Straße Marietta, die ihm als Maries Doppelgängerin erscheint. Seiner Einladung, ihn zu besuchen, kommt sie nach. Beim Eintritt überreicht er ihr einen Rosenstrauß, sie singt, sich selbst auf Maries Laute begleitend, ein altes Lied. Immer stärker fließen die Bilder der toten Marie mit jenem Mariettas für Paul zusammen. Und 23
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nachdem sie wieder gegangen ist, fällt Paul in einen traumartigen Zustand, in dem er sich eine Marietta erfindet, die es im realen Leben so gar nicht gibt. Da sie ihm als Femme fatale erscheint, deren Verführung er letztendlich erliegt, drängt sich die Vermutung auf, dass Pauls Beziehung zu Marie eine Liebe ohne Sexualität gewesen ist. Nun will er seine »Schuld« sühnen und mit der erträumten Doppelgängerin Maries die Liebe auch sexuell nachholen. Marietta kommt dabei eine höchst ambivalente Rolle zu: Gegenüber Marie, der toten Frau, symbolisiert sie das Leben. Doch in der Sexualität, bei der das Leben am vitalsten ist, fallen Tod und Leben zusammen. Nicht umsonst wird der Orgasmus auch »petite morte« genannt. So gesehen, wird Marietta für Paul zum Inbegriff des Todes. Und indem er Marietta tötet, bezwingt er den Tod. Sein nachfolgendes Erwachen ist nicht nur eines aus einem traumerfüllten Schlaf, sondern auch aus seiner »Totenstarre« – er ist geheilt. Als die reale Marietta noch einmal zurückkommt, um den zuvor vergessenen Blumenstrauß zu holen, ist sie ihm nicht mehr als eine beliebige Frau, die seiner toten Gattin gleicht, die nun auch für ihn endgültig gestorben ist. Jetzt erst wird es ihm möglich, Brügge zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. »Ein Traum hat mir den Traum zerstört«, singt Paul am Ende der Oper, das Leben hat über den Tod triumphiert.
Die Musik Der Orchesterapparat, den Erich Wolfgang Korngold in der Toten Stadt vorschreibt, ist gewaltig. Neben einer vollen Streicherbesetzung, dreifachem Holz, vier Hörnern, drei Trompeten, Basstrompete, drei Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, Harfen, Klavier, Celesta, Orgel, Harmonium, Kirchenglocken und Mandoline kommen noch zwei Bühnenorchester und eine Windmaschine hinzu. Der Korngold-Experte Brendan G. Carroll sieht darin einen direkten Einfluss von Gustav Mahlers 8. Symphonie. Auf Einladung des Komponisten hatte der 13jährige Korngold 1910 den Proben zur Münchner Uraufführung dieser Symphonie der Tausend beigewohnt, die auf den Knaben einen nachhaltigen Eindruck ausgeübt hatte. Musikalisch liegen der Oper vier Hauptmotive zugrunde. Gleich zu Beginn erklingt das »Auferstehungsmotiv«, im weiteren Verlauf werden ein »Haarmotiv«, ein »Brügge-Motiv« und ein »Marietta-Motiv« exponiert. Doch anders als bei Wagner wird ihnen keine leitmotivische Funktion übertragen. Sie sind nicht die kleinsten musikalischen Bauteile, aus denen das musikalische Netz als Ganzes geflochten wird, sondern stellen eher einen assoziativen Zusammenhang her. Auch das berühmte Lautenlied Mariettas »Glück, das mir verblieb« wird auf diese Weise in die dramaturgische Struktur des Werks eingebunden. Als Marietta es erstmals vorträgt und es von Paul aufgenommen wird, schlägt es die Grundstimmung der gesamten Oper an, PET ER BLA H A
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die um die Themen Liebe, Tod und Auferstehung kreist. Das nächste Mal erklingt es bei der Erscheinung von Pauls verstorbener Gattin Marie und wird damit gleichsam zur Chiffre von Pauls Obsession. Und wenn es am Schluss der Oper ein letztes Mal wiederkehrt, so dient es als Reminiszenz des Vergangenen, das unwiderruflich dahin ist. Das Lautenlied Mariettas wurde ebenso wie Pierrots Ständchen »Mein Sehnen, mein Wähnen« zu einem regelrechten Schlager. Beide Nummern sind aber nicht typisch für die Musik der Toten Stadt, sondern ragen als »Inseln des Wohlklangs« aus dem expressionistischen Fluss heraus, in dem Korngold seinem Hang zur kühnen und schillernden Harmonik, die reich an pointillistischen Vorhaltsspannungen und bitonalen Fortschreitungen ist, aber auch zur opulenten Instrumentation freien Lauf ließ. Einflüsse von Richard Strauss, den Korngold sehr bewunderte, sind zweifellos vorhanden, die melodische Erfindungskraft wiederum lässt einen unwillkürlich an Giacomo Puccini denken, der sich übrigens voller Begeisterung über die Partitur äußerte, nachdem er sie 1924 kennengelernt hatte. Der 23jährige Korngold war, als er Die tote Stadt vollendete, zwar gewiss noch nicht auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft angelangt, aber auf dem besten Wege dazu, die höchsten Gipfel zu erklimmen.
Tod und Auferstehung einer Oper Die glanzvollen Uraufführungen am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg bescherten der Toten Stadt einen gewaltigen Erfolg, der sich auch bei der Wiener Erstaufführung am 10. Jänner 1921 einstellte. Innerhalb weniger Jahre wurde das Stück von vielen Bühnen nachgespielt, doch das Interesse daran begann schon Ende der zwanziger Jahre zu erlöschen. Eine neue Zeit war angebrochen, mit neuen ästhetischen Vorstellungen, denen Korngold nicht mehr entsprach. Die sogenannte Zeitoper, deren berühmteste Vertreterin Křeneks Jonny spielt auf ist, hatte der großen Emphase der bürgerlichen Oper den Kampf angesagt. Sie war frech und angriffslustig, warf allen bedeutungsschweren Ballast über Bord und scheute sich auch nicht, neue Klänge aus Jazz und Unterhaltungsmusik aufzugreifen. Nicht erst die Machtübernahme der Nazis 1933 versetzte Korngolds Musik, die den braunen Machthabern als »entartet« galt, den Todesstoß. Ihre Zeit schien zuvor schon abgelaufen. Doch Korngolds Schaffen, insbesondere Die tote Stadt, erlebt seit Mitte der 1970er Jahre eine Auferstehung. Heute, nach dem »Ende der Avantgarde«, herrschen mehr Offenheit und Toleranz gegenüber den unterschiedlichsten musikalischen Sprachen. Auch tonalitätsbezogenes Komponieren, freilich mit hohem reflexivem Bewusstsein, hat seine Berechtigung neben dem experimentellen Erkunden neuer Klangbereiche. Das hat die Augen für die eigentliche Modernität der Toten Stadt geöffnet, die vielleicht weniger im 25
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Bereich der musikalischen Sprache als in ihrer Dramaturgie zu suchen ist. Denn mit der Überblendung von Traum und Wirklichkeit übertrug sie ein Mittel des damals noch jungen Mediums Film zukunftsweisend auf die Oper. Paradox ist freilich, dass zu jener Zeit, als Korngold Die tote Stadt schrieb, seine spätere Karriere als Filmkomponist in Hollywood sich noch nicht einmal andeutungsweise abzeichnete.
← KS Stephen Gould als Paul, 2004
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Lotte Lehmann an Erich Wolfgang Korngold, 1921
» DIE OPER IST SO SCHÖN, DASS ICH SIE MORGEN ZUM 15. MAL HÖRE. «
Georges Rodenbach
WIEDERKEHR
Die Liebe erhält sich, ganz wie der Glaube, durch kleine Mittel. Und so kam ihm eines Tages ein seltsames Gelüsten und verfolgte ihn, bis er es erfüllte: Jane in einem dieser Kleider zu sehen, genauso angezogen wie die Tote! Sie war ihr ohnehin so ähnlich: nun sollte zur Gleichheit des Gesichtes auch noch die der Kleidung treten, die er einst an ihren völlig gleichen Körperformen gesehen. Dann würde sie noch mehr seine wiedergekehrte Frau sein. Ein göttlicher Augenblick, wo Jane so angetan auf ihn zuschreiten würde, eine Minute, die Zeit und Wirklichkeit ungeschehen machen, die ihm das völlige Vergessen schenken würde! Sobald er diesen Gedanken einmal gefasst hatte, wurde er ihm zur fixen Idee, die ihn berückte und wie mit einer Schelle verfolgte. Eines Morgens entschloss er sich also. Er rief nach seiner alten Magd und ließ sich vom Boden einen Koffer herunterbringen, um einige der kostbaren Kleider fortzuschaffen. GEORGE S RODEN BACH
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Hugo wusste nicht recht, wie er Jane seinen tollen Gedanken beibringen sollte, denn niemals hatte er ihr etwas von seiner Vergangenheit erzählt; eine Art Zartgefühl und Scham vor der Toten hatte ihn stets davor zurückgehalten. Nicht einmal eine Anspielung auf die holde und grausame Ähnlichkeit, derentwegen er sie verfolgt hatte, war ihm entschlüpft. Als der Koffer ankam, brach Jane in ein Freudengeschrei aus und sprang in die Höhe. Welche Überraschung! Er hatte sie scheinbar reich bedacht. »Wie? Geschenke? Wohl gar ein Kleid?« ... »Jawohl, Kleider«, sagte Hugo mechanisch. »O, das ist nett von dir! Also mehr als eins?« »Zwei.« »Welche Farbe? Schnell, lass sehen!« Sie kam näher und streckte die Hand nach dem Schlüssel. Hugo wusste nicht, was er sagen sollte. Er wagte den Mund nicht aufzutun, um sich nicht zu verraten; er mochte das krankhafte Verlangen, dem er hemmungslos gefolgt war, nicht gestehen. Als der Koffer auf war, begann Jane die Roben herauszunehmen. Sie überflog sie schnellen Blicks, und ihre Mienen verrieten sofort eine große Enttäuschung. »Was für eine hässliche Fasson! Und diese gemusterte Seide, wie altmodisch ist das! Aber wo hast du denn solche Roben gekauft? Diese Volants auf dem Rock! Vor zehn Jahren war das Mode! Ich glaube, du willst mich zum Besten haben!« ... Hugo war ganz bestürzt und verlegen; er suchte nach Worten, nach einer Erklärung, nicht der wahren, sondern einer anderen, die wahrscheinlich klang. Er begann das Lächerliche seines Vorhabens einzusehen, und doch ließ der Gedanke ihn nicht los. Er erklärte ihr also mit einschmeichelnder Stimme: Jawohl, es wären alte Kleider ... Erbstücke ... Kleider von einer Verwandten ... Er hätte nur Spaß machen wollen ... Er hätte solche Lust darauf, sie in einer dieser alten Roben zu sehen. Es sei verrückt, aber er hätte solche Lust darauf ... Einen einzigen Augenblick! ... Jane begriff nichts von alledem. Sie lachte, drehte jedes Kostüm nach allen Richtungen hin und her, wog den Stoff, eine schwere, kaum verblasste Seide, mit der Hand und kam nicht aus dem Staunen heraus über diesen sonderbaren, ans Komische streifenden Schnitt, der trotzdem einst die Mode und Eleganz selbst gewesen war... Aber Hugo ließ nicht nach. »Du wirst mich hässlich darin finden!« So verdutzt sie anfangs über diesen Einfall war, so fand sie es schließlich doch selbst drollig, die geerbten Kleider anzuziehen. In übermütigster Laune legte sie ihren Frisiermantel ab und die Spitzenuntertaille an, schlug diese, da sie ihr die Brust bedeckte, mit ihren bloßen Armen zurück, ebenso die Spitzen ihrer Hemdborte, und schlüpfte in die eine Robe, die ausgeschnitten war. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und lachte über ihren eigenen Anblick. »Ich sehe ja aus wie ein altes Familienbild!« sagte sie. 29
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Dabei zierte und verdrehte sie sich, stieg, ihre Röcke aufhebend, auf den Tisch, um sich ganz zu sehen, und schüttelte sich immerfort vor Lachen, während ein losgegangener Hemdzipfel unter der Taille hervorkam und, keuscher als sie, ihr nacktes Fleisch bedeckte, dafür aber die Intimitäten der Wäsche recht peinlich offenbarte... Hugo sah zu. Diese Minute, von der er sich die höchsten Wonnen erträumt hatte, kam ihm jetzt besudelt und gewöhnlich vor. Jane schien an diesem Spiel Gefallen zu finden. Sie wollte auch die andere Robe anprobieren und begann in einer Anwandlung von toller Ausgelassenheit plötzlich zu tanzen und ihre Kreuzsprünge zu variieren; die Balletttänzerin kam wieder einmal zum Durchbruch. Hugo ward es immer weher ums Herz; es kam ihm vor, als wohnte er einer schmerzlichen Maskerade bei. Es war das erste Mal, dass der Bann der körperlichen Ähnlichkeit seine Wirkung versagte. Er hatte zwar noch gewirkt, aber im umgekehrten Sinne. Ohne ihre Ähnlichkeit wäre Jane ihm höchst gewöhnlich erschienen. Durch ihre Ähnlichkeit verursachte sie ihm einen Moment lang den grausamen Eindruck, als sähe er die Tote wieder, aber herabgewürdigt, trotz derselben Robe und desselben Gesichtes – den Eindruck, den man an Prozessionstagen hat, wenn man die Darstellerinnen der Maria oder der heiligen Frauen am Abend wiedertrifft, noch in ihre Mäntel und frommen Gewänder gehüllt, aber berauscht und in einen mystischen Karneval herabgesunken, zu dem die Straßenlaternen wie blutige Wunden im Finstern leuchten. Aus: Das tote Brügge
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Ernst Voller: Frau mit Spiegel
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Arne Stollberg
»WIRKUNG OHNE URSACHE« ODER »OPER PUR«
Die tote Stadt hinter den Klischees ihrer Rezeption
I. Als Rudolf Stefan Hoffmann 1922 die erste Biografie über den gerade 25jährigen Komponisten Erich Wolfgang Korngold veröffentlichte, sah er sich im vorletzten Kapitel genötigt, »dem zivilisierteren Leser des Westens [zu] verraten, was hierzulande ein Problem der Kunst und des Künstlers zu sein vermag«, nämlich die Frage des »Jüdischen«.1 Seine Verteidigungsrede entfaltet sich in drei Schritten: Zunächst werden die Kernthesen aus Richard Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik mit deutlich ironischem Tonfall referiert, um dann – nach dem angewiderten Ausruf »Genug« – einer ernsthaften Erörterung der Frage Platz zu machen, ob es überhaupt möglich sei, »Jüdisches in der Musik« zu lokalisieren.2 Hoffmanns Strategie, diese Behauptung Lügen zu strafen, besteht darin, antisemitisch gefärbte Urteile über Mendelssohn, Goldmark, Offenbach, Meyerbeer, Schönberg und Mahler gegeneinanderzuhalten und ihre offenkundige Divergenz dahingehend auszulegen, dass »jüdische« Charakteristika in der Musik »immer nach Bedarf« gefunden werden könnten, was das Fehlen jeder faktischen Grundlage nur zu deutlich beweise.3 Am Ende kommt Hoffmann mit einer überraschenden Volte auf Spenglers Untergang des Abendlandes zu sprechen, dem er die These entnimmt, dass jegliche »Kulturepoche« eines Tages dort enden müsse, wo sich die Juden heute schon befänden, nämlich in einem Stadium der Entwurzelung von »Boden, Glauben, Sprache, Rasse«. Insofern sei auch der »Mitteleuropäer« längst auf dem Weg zur Existenz des Juden und täte gut daran, sich nicht über diesen erheben zu wollen.4 Angesichts des Antisemitismus, der wenige Jahre zuvor dem Hofoperndirektor Gustav Mahler entgegengeschlagen war und seither nichts an Virulenz eingebüßt hatte, musste es Hoffmann bei einem jüdischen Komponisten aus Wien doppelt notwendig erscheinen, gleichsam mit offenem Visier zu kämpfen. Und dies umso mehr, als der Werdegang und die Musik Erich Wolfgang Korngolds wie dafür gemacht schienen, alle Stereotypen dessen zu bestätigen, was Richard Wagner 1850 als Inbegriff des »Jüdischen« in der Musik etabliert hatte.5 Auf Korngold, das gefeierte und skeptisch beäugte Wunderkind,6 schien Wagners Charakterisierung des jungen Mendelssohn zuzutreffen, er sei »mit einer spezifisch musikalischen Begabung ausgestattet [gewesen] wie wenige Musiker überhaupt vor ihm« und habe doch aufgrund seiner jüdischen Herkunft niemals einen unverwechselbar individuellen Ausdruck zur Kundgebung echter, wahrhaftiger Leidenschaften entwickeln können.7 »Unsere ganze europäische Zivilisation und Kunst ist [...] für den Juden eine fremde Sprache geblieben [...]. In dieser Sprache, dieser Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich [...] Kunstwerke schaffen. [...] Die Möglichkeit, in ihr zu reden, ohne etwas Wirkliches zu sagen, bietet jetzt keine Kunst in so blühender Fülle als die Musik, weil in ihr die größten Genies bereits das gesagt haben, was in ihr als absoluter Sonder 33
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kunst zu sagen war. War dieses einmal ausgesprochen, so konnte in ihr nur noch nachgeplappert werden, und zwar ganz peinlich genau und täuschend ähnlich, wie Papageien menschliche Wörter und Reden nachpapeln, aber ebenso ohne Ausdruck und wirkliche Empfindung, wie diese närrischen Vögel es tun.«8 Nur zu leicht ließen sich diese Schmähungen mit Blick auf den jungen Korngold aktualisieren. War er nicht von seinem ehrgeizigen Vater, dem berühmten Musikkritiker Julius Korngold, schon in frühester Jugend wie ein Papagei dazu abgerichtet worden, ohne inneren Drang eine Musik zu schreiben, die sich bei aller handwerklichen Souveränität doch im Kopieren fremder Stile erschöpfte? Mussten nicht alle Aufführungen in Wien dem Einfluss der Neuen Freien Presse zugeschrieben werden, jener Zeitung, für die Julius Korngold als Musikreferent tätig war, also den Machenschaften »Jehovah[s] und seine[r] ›allgewaltigen Blätter‹«, wie Franz Schalk einmal gegenüber Richard Strauss bemerkte?9 Konnte sich ein besserer Beweis für Richard Wagners Theorie einer »nur von den Juden dirigierte[n] Presse« finden als der Umstand, dass die berühmtesten Musiker Wiens unter dem erpresserischen Druck potenzieller Verrisse durch Julius Korngold die Werke des Sohnes zu Gehör brachten?10 Vor allem aber: Ließ die auf blendenden Glanz polierte Oberfläche der Partituren Erich Wolfgang Korngolds nicht unmittelbar an Wagners Diagnose denken, dass Juden wie Meyerbeer, die »keine Muttersprache« ihr eigen nennen, aber »Äußerliches mit leichter Mühe« nachzuäffen vermögen, schließlich den »Effekt« als »Wirkung ohne Ursache« zur höchsten Perfektion bringen, um die innere Leere ihrer kunstgewerblichen Schöpfungen zu bemänteln?11 Eklektizismus und Effekt – mit dieser Formel könnte man die wissenschaftliche und journalistische Beurteilung der Werke Korngolds bis in die 1970er Jahre hinein charakterisieren, auch wenn offenbleiben muss, ob sich die jeweiligen Autoren der Tradierung antisemitischer Klischees bewusst waren oder nicht. 1958, ein Jahr nach Korngolds Tod, fasste beispielsweise Wilhelm Pfannkuch für die Erstauflage der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart den Stil des Komponisten folgendermaßen zusammen: »Aus heutiger Sicht betrachtet, sind seine Werke die Schöpfungen eines reifen Spätromantikers, der einen starken Sinn für impressionistische Klangreize, straussische Klangschärfen, blühende Melodik bis hin zu Puccini, in erster Linie aber für theatralische Effekte entwickelt hat.«12 Der pauschale Hinweis auf Korngolds Beeinflussung durch Strauss, Puccini und die Klangvaleurs des Impressionismus mag – wie das hilflose Etikett »Spätromantik« – dem Gebot lexikalischer Knappheit geschuldet sein. Doch es bleibt die Frage, ob Pfannkuch den ausdrücklich hervorgehobenen »Sinn für theatralische Effekte« wertfrei als Eigenschaft des Opernkomponisten Korngold ansah oder ob er hierin eine ästhetische Gewissenlosigkeit erblickte, gewissermaßen einen Hang zu »Wirkungen ohne Ursache«. A R N E STOLLBERG
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Zur Entlastung Pfannkuchs muss jedoch angeführt werden, dass der Vorwurf, Korngolds Opern seien von einer allzu deutlichen Spekulation auf den Effekt geprägt, auch solchen Autoren nicht fremd war, denen man aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gewiss keine antisemitischen Beweggründe unterstellen kann. Richard Specht warf dem Komponisten 1921 vor, er lasse in der Toten Stadt einen »Drang nach Wirkung um jeden Preis« erkennen, der sich aus purer »Lust am szenischen Blendwerk« speise: »[Korngold] wird zu entscheiden haben, ob er ein großer Künstler oder nur ein berühmter sein will, ob Meyerbeer und Puccini seine Wegweiser sein sollen oder Beethoven und Wagner.«13 Ähnlich kritisierte Paul Bekker mit Blick auf die Tote Stadt, dass es nicht genüge, »einen Theatereffekt neben den anderen zu setzen«, um das Fehlen einer »dramatischen Grundkonzeption« auszugleichen.14 »Wenigstens hat man nicht den Eindruck, dass Korngolds Opernschaffen aus einem starken dramatischen Antrieb quillt. Korngold will auch auf der Bühne zunächst Musik machen, er bedient sich der szenischen Mittel, der Verschiedenheiten der Erscheinungen, der bunten Bilder, der äußeren Kon traste, um aus ihnen Anregungen zum Musizieren zu schöpfen. [...] Korngold wollte eine Oper schreiben, er wollte den Theaterapparat mit allen seinen szenischen Künsten in Bewegung setzen [...].«15 Auch wenn Bekker den Komponisten im gleichen Artikel gegen orthodoxe Wagnerianer mit der Bemerkung verteidigt, dass die »Ablehnung der alten Oper wegen ihrer angeblich undramatischen Texte und Formen ein Irrtum war«,16 so lässt er hier – sicherlich unbeabsichtigt – die harsche MeyerbeerKritik aus Oper und Drama nachhallen. Zumindest konnten sich voreingenommene Leser an Wagners Urteil erinnert fühlen, Meyerbeers »Grand opéra« habe die Instrumentalisierung des Dramas zum Zweck absolut musikalischer Wirkungen auf die Spitze getrieben und alles Szenische der »Dekorationsmaschinerie des Theaters« und dem »stumme[n] Prunk der Kulissen« überantwortet.17
II. Dass sogar Paul Bekkers Äußerungen im Sinne von Wagners Konstruktion des »Jüdischen« missverstanden werden können, lenkt den Blick auf ein kaum zu vermeidendes Dilemma. Denn es wäre töricht, den »Theatereffekt« und die Anpassung von Text und Szene an spezifisch musikalische Bedürfnisse in Abrede zu stellen, gehörte doch beides zu den Angelpunkten der Opernästhetik Julius und Erich Wolfgang Korngolds. Womöglich mit direktem Bezug auf Bekkers Kritik an der Toten Stadt machte sich Julius Korngold im programmatischen Vorwort zu einer 1921 veröffentlichten Sammlung von Rezensionen gerade für die Nobilitierung des vielgescholtenen »Theatereffektes« stark: 35
»W IR K U NG OHN E U RSACHE« ODER »OPER PU R«
← KS Camilla Nylund als Marietta, 2017
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»Unerlässlich auch, dass sich die Oper nicht zu weit in Künstlichkeit verirre, nicht den Boden des Volkstümlichen unter sich verliere. Sie ist und bleibt die Stätte sinnlicher Fassbarkeiten, an die Lebensnotwendigkeiten des Theaters mehr gebunden als andere dramatische Gattungen. [...] Opernmusik, die wahre und echte Theatermusik ist, die Szene sieht, sich auf den Theatereffekt versteht, hört darum noch nicht auf, wahre und echte dramatische Musik zu sein, soferne sich nur elementare Kraft, Gefühl und Leidenschaft, das Vermögen der Gestaltung und Charakterisierung in ihr aussprechen. An der Wiege der Oper stand die Schaulust neben der Hörlust. Sie wird sich nie zu weit von ihrer Quelle in der Sinnlichkeit entfernen dürfen, ohne es mit Einbuße an lebendiger Wirkung zu entgelten.« 18 Dass Paul Bekker in seiner 1919 publizierten Schreker-Broschüre über die »Theater-Oper« Eugen dʼAlberts abschätzig geurteilt hatte, sie sei »nur auf den dramatischen Zweck des Bühnengeschehens« berechnet,19 rief ebenfalls Julius Korngolds Widerspruch hervor, und er nahm dʼAlbert ob dessen »Begabung, dem Theater zu geben, was des Theaters ist« ausdrücklich gegen »jene törichte Missachtung« in Schutz, »die nun einmal in deutschen Landen der ›Theateroper‹ gegenüber im Schwange ist«.20 Hatte Wagner die Reduktion des Dramas auf ein dekoratives Spektakel als Konsequenz des prinzipiellen Irrtums der Gattung Oper ausgelegt, so schrieb Julius Korngold gerade umgekehrt gegen die Neigung mancher Wagner-Epigonen an, das mit dem Text identifizierte Drama der Musik überzuordnen. Was Julius Korngold vorschwebte, war ein Musiktheater im Sinne Eduard Hanslicks, seines prominenten Vorgängers bei der Neuen Freien Presse,21 also eine Opernform, in der Drama und Musik, da sie »nur auf Grund von Kompromissen« miteinander auskommen, ihre jeweiligen Eigenheiten bis zu einem gewissen Grad dem »neuentstehenden ›Opernmäßigen‹« opfern.22 Wesentlich erschien Julius Korngold vor allem, dass die Eigengesetzlichkeit musikalischer Formbildung durch den Bezug auf Text und Szene keinen Schaden nehmen dürfe. Im Gegenteil: Auch Opernmusik könne »ordnender Zusammenfassungen nicht entraten«23 – ein Standpunkt, der sich zumindest implizit gegen das Zerfließen jeder festen Struktur in Wagners »unendlicher Melodie« richtete und damit abermals dem klassizistischen Ideal Hanslicks verpflichtet war.24 Dass Partitur und Textbuch der Toten Stadt durch diese ästhetischen Vorgaben entscheidend geprägt wurden, liegt auf der Hand, zumal sich Julius Korngold – verborgen hinter dem Pseudonym »Paul Schott« – höchstpersönlich als Librettist betätigte. Erich Wolfgang Korngold schrieb in fast wörtlicher Übereinstimmung mit seinem Vater, er habe an jener musikalischen »Zusammenfassung der einzelnen Szenen oder mindestens wichtigsten Szenenteile [...] festgehalten«, die bereits für den Ring des Polykrates und Violanta konstitutiv gewesen sei.25 Und nicht nur das: Hatten die an Oper und Drama anknüpfenden Wagner-Exegeten der Musik die Aufgabe zugewiesen, bloßes »W IR K U NG OHN E U RSACHE« ODER »OPER PU R«
Mittel zum Zweck des Dramas zu sein, so kehrte sich dieses Verhältnis bei Julius und Erich Wolfgang Korngold um, indem Text und Szene nun daran gemessen wurden, welche Möglichkeiten sie der Musik zur Entfaltung ihrer ganzen Ausdruckspalette zu bieten vermochten. Bezeichnend daher, dass Julius Korngold mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Toten Stadt berichtete, er habe zuallererst die »Operneignung dieses Stoffes« ins Auge gefasst,26 wie auch Erich Wolfgang Korngold gerade die »eminente Musikfähigkeit« des Sujets als Voraussetzung für dessen Umwandlung in eine Oper hervorhob.27 Wenn Hans-Klaus Jungheinrich im Sommer 2004 in einer Kritik der Salzburger Festspielpremiere leicht süffisant bemerkte, die Tote Stadt sei mit ihrer »Spekulation auf operngemäße Zünftigkeit« als »Oper pur« zu apostrophieren, war er der Intention des Komponisten und seines Vaters dichter auf der Spur, als ihm selbst vielleicht klar gewesen sein dürfte.28
III. Die exponierten Liednummern, von denen das Ständchen des Pierrot »Mein Sehnen, mein Wähnen« und vor allem die Ohrwurm-Melodie »Glück, das mir verblieb« zu regelrechten »Schlagern« avancierten, aber auch effektvolle Tableau-Szenen wie die Prozession im dritten Bild – sie gehören unverkennbar zu den Ingredienzien dessen, was man mit Hans-Klaus Jungheinrich »Oper pur« nennen könnte, und zwar durchaus im Sinne der bei Wagner und seinen Jüngern so abschätzig behandelten »Grand opéra«. Dass Korngold sogar deren obligatorische Balletteinlage, wenn auch als parodistisch gebrochenes Zitat, in die Dramaturgie seiner Toten Stadt einbezieht, wirft ein Schlaglicht auf die Intention des Komponisten, sich der Theaterwirksamkeit von Meyerbeers Opern auf szenischer Ebene zu versichern, ohne freilich die innere Logik der Handlung dabei aus den Augen zu verlieren.29 Das erste Bild zeigt, wie der Witwer Paul eine geheimnisvolle Fremde namens Marietta bei sich zu Hause empfängt, weil ihre Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Ehefrau ihm als Wunder einer leibhaftigen Auferstehung erscheint. Gegen Ende der Begegnung erfährt Paul von Marietta fast beiläufig, dass sie Tänzerin sei und in Meyerbeers Robert le diable die Äbtissin Héléna darstelle. Diese Information wandert – nach der Theorie Sigmund Freuds 30 – als »rezenter Tagesrest« in seinen anschließenden Traum ein und entfaltet sich dort zur gespenstischen Phantasmagorie: Paul träumt, dass Marietta die Ballettszene aus Robert le diable mit ihrer Theatertruppe nachstellt, und zwar auf einem öden, einsamen Kai in Brügge, hinter dem die Mauern eines Beghinenklosters drohend in den Nachthimmel ragen. »Das Kloster, die Beleuchtung passen vortrefflich« (Kl.A. S. 117),31 so ruft der Regisseur Victorin begeistert aus, geht es doch in der besagten Szene darum, dass verstorbene Nonnen von dem Ritter Bertram aus ihrem Todesschlaf erweckt werden, die Gräber verlassen und sich A R N E STOLLBERG
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zu einem schaurigen Bacchanal versammeln. Victorin pfeift das »Stichwort der Musik« (Kl.A. S. 119), eine Dreiklangsbrechung in Moll, die bei Meyerbeer den beschwörenden Weckruf Bertrams begleitet, und sofort erhebt sich Marietta »von ihrem Lager mit Geste und Mimik einer zum Leben erwachten Toten« (Kl.A. S. 122). Ganz Brügge scheint bei diesem blasphemischen Spiel lebendig zu werden: »Im Kloster sind plötzlich mit einem Schlage alle Fenster beleuchtet. In den Fenstern erscheinen Beghinen in weißem Nachtgewand als unbeweglich starrende Zeugen der Ereignisse. Das erleuchtete Zifferblatt der Uhr zeigt Mitternacht. Die allegorischen Figuren des Uhrwerkes bewegen sich aus der einen Öffnung heraus in die andere hinein. Dazu stürmischer Wolkenzug am Nachthimmel. Aufgeregtes Glockengetümmel.« (Kl.A. S. 122) Dann jedoch gebietet Paul – wohlgemerkt als Protagonist seines eigenen Traumes – dem bizarren Treiben Einhalt, indem er Marietta zurechtweist: »Du eine auferstandne Tote?! Nie!« (Kl.A. S. 124) Dass Korngold mit dieser Szene einen »brillante[n] Theatercoup« landete, dürfte kaum zu bestreiten sein.32 Doch mangelt es tatsächlich – wie Paul Bekker glaubte – an dramatischen Motiven, an einer den »Effekt« legitimierenden »Ursache«? Keineswegs: Die Auferstehungsparodie bildet zugleich eine wichtige Etappe in der inneren Entwicklung Pauls. Sie gehört zur Substanz des psychischen Geschehens ebenso wie zur Außenseite des zweifellos intendierten »Theatereffektes« und kann – im Sinne Freuds – als »manifester Trauminhalt« verstanden werden, hinter dem sich ein »latenter Traumgedanke« verbirgt. Um die Frage zu beantworten, worin dieser »latente Traumgedanke« besteht, muss man sich den Grundkonflikt vor Augen führen, der die Handlung von Korngolds Toter Stadt vorantreibt: Es geht – kurz gesagt – um einen Fall von verweigerter Trauerarbeit. Paul hat sich nach dem Tod seiner geliebten Ehefrau Marie derart in den Kokon eigener Erinnerungen versponnen, dass die Gegenwart von der nostalgisch verklärten Vergangenheit förmlich ausgelöscht wurde. Anstatt die Bande, mit denen er an die Verstorbene geknüpft ist, so weit zu lockern, dass ein Weiterleben im Hier und Jetzt möglich wäre, zurrt er sie durch die Rituale eines hybriden Totenkultes immer wieder fest, bis sich seine Existenz schließlich im Nichtvergessen erschöpft und damit einer Erstarrung anheimfällt, die dem Tod gleichkommt. Doch die »Rechte des Lebens« – so Erich Wolfgang Korngolds eigene Formulierung33 – können selbst durch Pauls zwanghafte Bemühungen nicht daran gehindert werden, sich als unbewusste Triebwünsche zu artikulieren, als Triebwünsche, die nach Befriedigung der aufgestauten Sehnsucht in den Armen einer lebenden Frau verlangen. Pauls Dilemma besteht nun darin, dass diese Sehnsucht infolge des obsessiven Charakters seiner Trauer als Sünde und Treulosigkeit gegenüber der Toten moralisch diskreditiert ist – mit der Konsequenz einer vollständigen Verdrängung in jene psychischen Schichten, die das bewusste Ich nicht zu erkennen vermag, die sein Handeln aber dennoch untergründig steuern. Die Begegnung mit der Tänzerin Marietta scheint indessen einen 39
»W IR K U NG OHN E U RSACHE« ODER »OPER PU R«
Ausweg zu bieten: Indem Paul sich der Illusion hingibt, dass die verstorbene Marie im Körper ihrer Doppelgängerin Marietta leibhaftig wiedergekehrt sei, kann er das neu erwachte Begehren vor seinem Gewissen als vermeintlichen Treuebeweis rechtfertigen. Um das Phantasma der Auferstehung zu vollenden, kostümiert der Witwer Marietta im ersten Bild mit dem Schal und der Laute seiner toten Gattin; er zwingt sie gewissermaßen dazu, die Verstorbene buchstäblich wie auf einer Bühne darzustellen. Dass es sich hierbei um eine plumpe Maskerade handelt, um ein selbst inszeniertes und für die eigene Imagination aufgeführtes Theaterspiel, muss ihm schlagartig bewusst werden, als er Marietta tatsächlich in der Rolle einer auferweckten Toten erblickt. Die Illusion der Identität beider Frauen verflüchtigt sich und lässt bei Paul die bittere Erkenntnis zurück, dass er Marietta um ihrer selbst willen begehrte und nicht etwa deshalb, weil sie Marie wieder ins Leben zurückzubringen schien. Der Traum entlarvt den Glauben an das Wunder der Wiederkehr als bloßes Hirngespinst und befreit Paul von der Umklammerung durch eine Vergangenheit, die er gewaltsam in der Gegenwart festzuhalten hoffte, selbst um den Preis einer Unterdrückung und Verdrängung neu aufkeimender Lebenssehnsucht. Paul findet »Lösendes und Erlösendes durch die reinigende Kraft des Traumes«, so Julius Korngold,34 und diese psychische Katharsis ermöglicht am Ende, was nach ursprünglicher Planung bereits der Titel der Oper ankündigen sollte: einen »Triumph des Lebens«.
IV. In einem Einführungstext zur Toten Stadt schreibt Erich Wolfgang Korngold, ihn habe am Sujet seiner Oper vor allem »der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teure Tote durch die Rechte des Lebens« fasziniert.35 Wenn man bedenkt, dass es sich bei der Vorlage, dem Schauspiel Le Mirage von Georges Rodenbach, das seinerseits auf dem Roman Bruges-la-Morte desselben Autors basiert, um ein melancholisch umflortes Stück DécadenceLiteratur handelt, mag diese Aussage überraschen. Tatsächlich erhebt die Tote Stadt eher Einspruch gegen Rodenbachs Drama, als dass sie es bloß in die Sprache des Musiktheaters übersetzen würde. Während sich bei Rodenbach ein Grauschleier permanenter Todesgegenwart über die Geschehnisse in der »toten Stadt« Brügge legt, so geht es Korngold gerade darum, diesen Schleier zu zerreißen und das Leben von der drückenden Last des Vergangenen zu befreien, ganz im Sinne Friedrich Nietzsches, der bereits 1874 postuliert hatte: »[Der Mensch] muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können [...]. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Unheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht.«36 A R N E STOLLBERG
→ KS Adrian Eröd als Frank und Klaus Florian Vogt als Paul, 2017
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Was bei Nietzsche dem aufgeblähten Historismus der Gründerzeit galt, liest sich wie ein geheimes Motto von Korngolds Tote Stadt, auch wenn der geschichtliche Hintergrund kaum zu vergleichen ist. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und dem Untergang der Monarchie schien es Vater und Sohn Korngold offenbar dringend geboten, den Lähmungserscheinungen einer Gesellschaft entgegenzuwirken, die in Trauer über das Verlorene zu erstarren drohte. Nur so ist der von Julius Korngold 1921 aufgestellte Grundsatz zu erklären, dass die Gattung Oper insgesamt eine Entwicklung »zum Sinnlichen und Sinnenfreudigen, zum Instinktmäßigen, Freiphantastischen, Unvergrübelten und Unverwickelten« nehmen müsse, wenn sie ihre »besondere Sendung erfüllen« wolle, nämlich »zur Stärkung der Lebensenergien beizutragen, deren diese schwere, verdüsterte Zeit bedarf«.37 Der solchermaßen formulierten Prämisse ist die Tote Stadt in doppelter Weise verpflichtet: Auf der Ebene des Handlungsgeschehens durch die psychische Läuterung Pauls, der am Ende seines »reinigenden« Traumes die Bürde der Vergangenheit abstreift, um mit allen Gedanken und Empfindungen wieder ins gegenwärtige Leben einzutreten; und auf der Ebene der Form durch die unverkrampfte Rückwendung zum szenisch-musikalischen »Effekt«, wie er der »Grand opéra« von Wagner und seinen Anhängern zur Last gelegt worden war. Dass Korngold damit dem Stereotyp »jüdischen« Komponierens entsprach und seine Kunst nach 1933 bzw. 1938 unter das Verdikt fiel, nicht etwa eine »Stärkung der Lebensenergien« herbeizuführen, sondern im Gegenteil deren Zersetzung zu betreiben, ist eine musikgeschichtliche Pointe von wahrhaft tragischer Ironie. 1) Rudolf Stefan Hoffmann: Erich Wolfgang Korngold, Wien 1922, S. 121. 2) Ebd., S. 122. 3) Ebd., S. 123. 4) Ebd., S. 125. 5) Zur unheilvollen Wirkungsgeschichte des 1850 unter dem Pseudonym »K. Freigedank« erschienenen Aufsatzes Das Judentum in der Musik und seiner erweiterten Neuveröffentlichung 1869 vgl. vor allem die Publikationen von Jens Malte Fischer: Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt am Main und Leipzig 2000; Das »Judentum in der Musik«: Kontinuität einer Debatte, in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur, hrsg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler, Teil 3: Vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938, Tübingen 1993, S. 227-250; Gustav Mahler und das »Judentum in der Musik«, in: Merkur 51 (1997), S. 665-680. 6) Zur Biographie des Komponisten vgl. Luzi Korngold: Erich Wolfgang Korngold. Ein Lebensbild, Wien 1967 (Österreichische Komponisten des 20. Jahrhunderts 10); [Julius Korngold]: Die Korngolds in Wien. Der Musikkritiker und das Wunderkind – Aufzeichnungen von Julius Korngold, Zürich und St. Gallen 1991; Jessica Duchen: Erich Wolfgang Korngold, London 1996 (20th Century Composers); Brendan G. Carroll: The Last Prodigy. A Biography of Erich Wolfgang Korngold, Portland/Oregon 1997. 7) Richard Wagner: Das Judentum in der Musik, in: Neue Zeitschrift für Musik 33 (1850), Nr. 19 (3. September), S. 101107, und Nr. 20 (6. September), S. 109-112. Zitiert nach der kritischen Ausgabe der Zweitpublikation (Leipzig 1869) in: Jens-Malte Fischer: Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, wie Anm. 5, S. 139-196, hier S. 163. 8) Ebd., S. 150, 156. 9) Brief Franz Schalks an Richard Strauss vom 23. Oktober 1922, in: Richard Strauss – Franz Schalk. Ein Briefwechsel, hrsg. von Günter Brosche, Tutzing 1983 (Veröffentlichungen der Richard-Strauss-Gesellschaft München 6), S. 322. 10) Richard Wagner: Das Judentum in der Musik, wie Anm. 7, S. 181. Noch 1940 stand im Lexikon der Juden in der Musik zu lesen, Julius Korngold habe »skrupellos seinen außerordentlichen Einfluss« benutzt, »um die öffentliche Aufmerksamkeit auf seinen Sohn zu lenken« (Lexikon der Juden in der Musik, bearb. von Theo Stengel in Verbindung mit Herbert Gerigk, Berlin 1940, Sp. 142).
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11) Richard Wagner: Oper und Drama, hrsg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart 1984 (UniversalBibliothek 8207), S. 92, 93, 101. 12) Wilhelm Pfannkuch: [Artikel] Erich Wolfgang Korngold, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 7, Kassel u.a. 1958, Sp. 1630-1632, hier Sp. 1631. Zu der Problematik, dass bestimmte Werturteile und ideologische Prämissen aus der Zeit des Nationalsozialismus in die seit 1949 erschienene »alte MGG« übernommen wurden, vgl. Roman Brotbeck: Verdrängung und Abwehr. Die verpasste Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie »Die Musik in Geschichte und Gegenwart«, in: Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung, hrsg. von Anselm Gerhard, Stuttgart und Weimar 2000, S. 347-384. 13) Richard Specht: Neue Musik in Wien, in: Musikblätter des Anbruch 3 (1921), S. 245-256, hier S. 254, 255, 254. 14) Paul Bekker: Erich W. Korngold: »Die tote Stadt«. Uraufführung in Hamburg am 4. Dezember 1920, in: Frankfurter Zeitung 65 (1920), Nr. 908 (5. Dezember), 1. Morgenblatt, S. 1-2. Zitiert nach dem Wiederabdruck in: Paul Bekker: Klang und Eros, Stuttgart und Berlin 1922 (Gesammelte Schriften 2), S. 98-103, hier S. 102. 15) Ebd., S. 100 f. 16) Ebd., S. 102. 17) Richard Wagner: Oper und Drama, wie Anm. 11, S. 65 f 18) Julius Korngold: Deutsches Opernschaffen der Gegenwart. Kritische Aufsätze, Leipzig und Wien 1921, S. VI. 19) Paul Bekker: Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper, Berlin 1919, S. 15. 20) Julius Korngold: Die Korngolds in Wien, wie Anm. 6, S. 221. 21) Vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Dietmar Strauß, Mainz u.a. 1990, S. 66f (Hervorhebungen original): »In ihre Consequenzen verfolgt, müssen das musikalische und das dramatische Princip einander nothwendig durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem menschlichen Auge eine beträchtliche Strecke hindurch parallel zu scheinen. [...] Darum wird das Augenmerk des echten Operncomponisten [...] ein stetes Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein principiell unverhältnißmäßiges Vorherrschen des einen oder des andern Moments. Im Zweifel wird er sich aber für die Bevorzugung der musikalischen Forderung entscheiden, denn die Oper ist vorerst Musik, nicht Drama.« 22) Julius Korngold: Deutsches Opernschaffen der Gegenwart, wie Anm. 18, S. V. 23) Ebd. 24) Vgl. hierzu Arne Stollberg: Durch den Traum zum Leben. Erich Wolfgang Korngolds Oper »Die tote Stadt«, Mainz 2003 (Musik im Kanon der Künste 1), S. 45-57. 25) Erich Wolfgang Korngold: Die tote Stadt. Anlässlich der bevorstehenden Erstaufführungen, in: Blätter des Operntheaters [Wien], hrsg. von Richard Strauss und Franz Schalk, 1 (1921), Nr. 9, S. 3-6, hier S. 6. 26) [Julius Korngold]: Die Korngolds in Wien, wie Anm. 6, S. 250. 27) Erich Wolfgang Korngold: Die tote Stadt. Anlässlich der bevorstehenden Erstaufführungen, wie Anm. 25, S. 3. 28) Hans-Klaus Jungheinrich: Quatsch vom Feinsten. Psycho-Thriller als Oper: Korngolds »Tote Stadt«, die letzte Salzburger Festspiel-Premiere, in: Frankfurter Rundschau, 17. August 2004, S. 15. 29) Die Einbeziehung der Ballettsequenz aus Meyerbeers Oper Robert le diable findet sich zwar bereits in den literarischen Vorlagen von Georges Rodenbach, dem Roman Bruges-la-Morte (1892) und seiner 1903 posthum uraufgeführten Schauspielfassung Le Mirage, doch erst Korngold schlägt daraus szenisches Kapital (in Le Mirage wird die entsprechende Episode nur berichtet, nicht aber auf der Bühne dargestellt); vgl. hierzu Arne Stollberg: Durch den Traum zum Leben, wie Anm. 24, S. 64-88. 30) Zur Beeinflussung der Dramaturgie von Korngolds Tote Stadt durch Sigmund Freuds psychoanalytische Schriften, in erster Linie durch die 1899 (mit der Jahreszahl 1900) erschienene Traumdeutung vgl. ausführlich Arne Stollberg: Durch den Traum zum Leben, wie Anm. 24 bes. S. 88-91 und 162-183. 31) Kl.A. = Die tote Stadt. Oper in 3 Bildern frei nach G. Rodenbachs Roman »Bruges-la-Morte« von Paul Schott [Julius und Erich Wolfgang Korngold]. Musik von Erich Wolfgang Korngold, opus 12. Vollständiger Klavier-Auszug mit Text, vereinfacht gesetzt von Ferdinand Rebay, Mainz: B. Schottʼs Söhne 1920. 32) Sieghart Döhring: [Artikel] Die tote Stadt, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, Bd. 3, München und Zürich 1989, S. 317-321, hier S. 319. 33) Erich Wolfgang Korngold: Die tote Stadt. Anlässlich der bevorstehenden Erstaufführungen, wie Anm. 25, S. 3. 34) [Julius Korngold]: Die Korngolds in Wien, wie Anm. 6, S. 250. 35) Erich Wolfgang Korngold: Die tote Stadt. Anlässlich der bevorstehenden Erstaufführungen, wie Anm. 25, S. 3. 36) Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München u.a. 1980, Bd. 1, S. 243-334, hier S. 269. 37) Julius Korngold: Deutsches Opernschaffen der Gegenwart, wie Anm. 18, S. VI, VII.
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»W IR K U NG OHN E U RSACHE« ODER »OPER PU R«
Martin Schüttö
KONTRASTDRAMATURGIE
Zur Musik von Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt
Die Bewältigung einer lastenden Vergangenheit, das lustvolle Drängen zur Gegenwart, zum Dasein als diesseitiger Lebendigkeit – vor dieser Polarität spannt sich das dramatische Geschehen von Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt auf. Es sind die psychologischen Dispositionen der handelnden Figuren, zwischen Traum und Wirklichkeit wandelnd, die Korngold an diesem Stoff gefesselt haben. Aus jener Konstellation erwächst ein Orchestersatz, der in einem weit aufgespannten Klangraum die Gefühlswelten konturiert und selbst des Geschehens teilhaftig wird. Die virtuosen Anforderungen an das Orchester, die Korngold in beinahe jedem Takt stellt, werden auch als Ausdruck der wechselnden Gefühle fasslich, die sich auf der Bühne, im Orchestergraben – und im besten Fall auch im Publikum – abspielen. Opulente Blechbläserklänge, weit ausgeschwungene melodische Linien durchziehen die orchestrale Faktur, eine reichhaltige Palette an Holzbläserfarben dient der differenzierten Beleuchtung des szenisch-äußeren und des psychologisch-inneren Geschehens, während das vielfach erweiterte Schlagwerk von einer Partitur des beginnenden 20. Jahrhunderts kündet, für die der klangliche Reiz unbedingtes Mittel ihrer musikalischen Dramaturgie ist. Kargheit gehört nicht zu den vornehmlichen »Qualitäten« der Korngold’schen Partitur. Aber auch gegenüber dem von Wagner geprägten Klangideal zeugt die Verwendung des orchestralen Apparates bei Korngold, vergleichbar den Symphonien von Gustav Mahler und den Opern eines Richard Strauss, von einer Ausweitung hin zu hellen, teils grellen Farben in der Höhe und dem Entdecken dunkelst-schwärzester Schattierungen in der Tiefe. Der künstlerische Anspruch an das Gesangsensemble steht dem in nichts nach. Die Partie der Marietta ist genauso fordernd wie die großen StraussPartien, die im zeitlichen Umfeld zu Korngolds Toter Stadt auf die Bühne kamen. Maria Jeritza etwa sang an der Wiener Oper die Kaiserin in Die Frau ohne Schatten und die Titelpartie in Ariadne auf Naxos von Richard Strauss ebenso wie die Marietta in der Wiener Erstaufführung der Toten Stadt am 10. Jänner 1921. Für einen Tenor gehört der Paul durch seine erstaunlich hohe Tessitur bei gleichzeitig heldentenoralen Ansprüchen zu den Herausforderungen seines Stimmfachs.
I. Die Atmosphäre im Zimmer des Witwers Paul atmet Vergangenheit, seine »Kirche des Gewesenen«, in der das Andenken an die verstorbene Marie bewahrt wird, ist ein musealer, ein morbider Schauplatz. Kontrastierend dazu hebt Korngold in der Musik gleich zu Beginn in leuchtenden Klangfarben die Gegenwart hervor: Drei scharf akzentuierte Akkorde in Celesta, Klavier, gezupften Streichern und Blechbläsern sowie in Akkordbrechungen hinabrauschende Holzbläser bilden den Ausgangspunkt der Partitur. Motivisch 45
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fasst Korngold hierin die Auferstehung, ein musikalisches »Sinnbild der Rückkehr ins Diesseits« (Arne Stollberg). Dann schwingt sich das Orchester hinauf und antizipiert damit Pauls enthusiastische Erregung, die von der Begegnung mit Marietta, in der er seine verstorbene Frau erblickt, zehrt. Die helle, rhythmisch konturierte Textur der Musik, Ausdruck der lebenszugewandten Sphäre, bietet somit die Kontrastfolie zur Todesnähe Pauls, von der sich dieser loszulösen versucht. Ein tiefer Posaunenakkord, immer leiser werdendes Pochen in der Pauke und eine verschattete, beinahe amorphe Bewegung der tiefen Streicher bieten den Hintergrund für Brigittas Charakterisierung des Raumes: »Behutsam! / Hier ist alles alt und gespenstisch.« Emblematisch akzentuiert Korngold an ebenjener Stelle mit dem Tamtam die morbide Stimmung – leise zwar, aber »deutlich« fordert der Komponist in der Partitur. Auch später, wenn von Maries Tod gesprochen wird, nutzt Korngold das Tamtam. Gerade den leisen Schlägen dieses Instrumentes bescheinigte fast achtzig Jahre zuvor Hector Berlioz eine »Trauerstimmung«, die er insbesondere in der »Auferstehung der Nonnen« aus Meyerbeers Robert le diable ausmachte: Im 2. Bild der Toten Stadt wird es genau diese Szene sein, die Korngold als Theater auf dem Theater heraufbeschwört. Gleichzeitig rekurriert die Verwendung des Tamtams als Symbol des Todes auch auf die Mahler’sche Symphonik: Der Uraufführung der achten Symphonie hatte der junge Korngold im Jahr 1910 beigewohnt. Unüberhörbar ist die Mahler-Nachfolge auch in den Verwandlungsmusiken und in der Waldwegszene des dritten Aktes von Alban Bergs Wozzeck: »Bist weit gegangen, Marie. / Sollst dir die Füße nicht mehr wund laufen.« Differenzierte Orchesterfarben und eine erweiterte Harmonik, unter den Bedingungen der Tonalität ausgereizt, erlauben es Korngold, die kontrastierenden Sphären, Stimmungen und psychologischen Dispositionen miteinander zu überblenden. Gefühle verbleiben nicht auf der Ebene klar abzugrenzender Affekte, sondern werden als gemischt, als einander bedingende und doch widerstreitende Elemente gezeigt. Eros und Thanatos, Todesnähe und Liebeslust, verschränken sich und offenbaren ein modernes Psychogramm der Figuren. Tonmalerische Momente und leitmotivische Prägungen, die in ihrem oft gestischen Gehalt unmittelbar wirken, dienen gleichzeitig der Schilderung szenischer Vorgänge, der atmosphärischen Gestaltung und einer »psychologisch-dramatische[n] Charakteristik«, wie es Korngold selbst im Vorfeld der Wiener Erstaufführung präzisierte. Ein knapper szenischer Vorgang in der Regieanweisung kann hier zum Anlass einer mehrdimensionalen kompositorischen Gestaltung werden: Brigitta »zieht die Gardine hoch. Die Sonne dringt in einem breiten Strahl ins Zimmer.« Die verdunkelte Vergangenheit weicht einem veränderten, helleren Blick. »Licht in meinem Tempel«, hatte Paul von Brigitta vor Erregung bebend gefordert. Wenn der Vorhang gelüftet wird und das Sonnenlicht in Pauls Zimmer eindringt, fangen die flirrenden Repetitionen der Flöten die veränderte Lichtstimmung ein – sichtbarer ImM A RT IN SCH Ü T TÖ
→ Spiegelszene mit Janet Gaynor, 1935
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puls einer Lösung von der Vergangenheit und hörbares Ereignis im Flatterzungenspiel der Holzbläser. Beim erneuten Auftreten dieser tonmalerischen Prägung ist die Partitur fülliger orchestriert und lässt die erotische Wiedererweckung Pauls erahnen. Das Fenster bleibt unverhüllt, den neu erleuchteten Raum betritt Marietta und führt ihn in aufgeheizten Tanzrhythmen in andere Daseinszustände. Erst ganz am Ende der Oper, wenn Paul von seinem Traum erwacht ist und den Entschluss fasst, Brügge zu verlassen, »lässt er die Gardine des Fensters herab, ergreift die Tischlampe und schreitet gesenkten Hauptes auf die Ausgangstüre zu.« Ein ätherischer Epilog des ganzen Orchesters zum wiederaufgegriffenen Lautenlied des ersten Bildes lässt musikalisch Pauls Erinnerung an Marie aufscheinen, eine Erinnerung, die des Versuches der Wiedererweckung seiner geliebten Frau in einer anderen, in Marietta nicht mehr bedarf. Mit dieser Erkenntnis lässt er die Gardine wieder fallen; die Beleuchtung seines Psychogramms wird durch den Rekurs auf die Bedingungen des Theaters beendet – der Vorhang fällt.
II. Bloß als ein assoziatives Spiel, als ein hübsches Detail der Regieanweisung müsste diese Verwechslung von Kulissengardine und Theatervorhang erscheinen, wenn sie nicht auch komponiert wäre. Das Theater verhandelt sich in Korngolds Toter Stadt immer wieder selbst, agiert metareflexiv und eröffnet damit weitere Seh- und Hörperspektiven. Mariettas berühmtes Lautenlied »Glück, das mir verblieb«, sicher die bekannteste Nummer der Oper, ist nicht nur Möglichkeitsraum zur kantablen Entfaltung mit zurückhaltender Instrumentierung des Orchesters, sondern auch Verhandlung der eigenen Gattungstradition. Die Steigerung zum Duett zwischen Paul und Marietta, in einmütigem unisono, umschmeichelnden Terzen oder sich zart umflechtenden Linien gesungen, zeigt die Ingredienzien eines Opernduetts der Belcanto-Tradition. Nicht unerheblich ist dabei, dass es sich um eine Bühnenmusik handelt: Marietta singt das Lied für Paul, der die zum verwechseln Ähnliche nach dem Vorbild seiner Marie auf dem Gemälde ausstaffiert. Zu ihrem »Kleide passt ein alter Schal«, die alte Laute kommt hinzu, sodass Marietta fragt: »Sie sind wohl Maler, brauchen ein Modell?« Auf dem Theater wird das Inszenieren selbst ausagiert, die berühmte »Stelle« erscheint so in gebrochener Perspektive von Schein und Wirklichkeit, noch bevor die Traumhandlung des zweiten Bildes einsetzt. Hier nun wird das Theater ganz unmissverständlich zum Gegenstand der Handlung. Mariettas Theatergruppe akklamiert die Freiheit der Kunstausübung und stellt selbst, den Übrigen bloß scheinbar zur Freude, ein abwechs lungs- und kontrastreiches Repertoire einzelner Nummern, mal solistisch, mal im Ensemble, auf ihre Probebühne. Victorins Chanson »Doch bei Fest M A RT IN SCH Ü T TÖ
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und Tanz« ist kammermusikalisch begleitet, gedämpfte Solo-Violine und Solo-Bratsche werden harmonisch von gebrochenen Harfenakkorden und Flageolett-Tönen der zweiten Violinen eingefärbt, eine virtuose Flötenpassage umspielt die Gesangslinie. Der leichtfüßige Tonfall bietet einen wohlplatzierten Kontrast zum schwermütigen Charakter des Pierrot-Liedes »Mein Sehnen, mein Wähnen«, eine »langsame sentimentale Tanzliedweise«, die sich Marietta wünscht: »Pierrot, auf! / Du triffst es fein! / Ein Deutscher bist du, / bist vom Rhein!« – Kurz flackert im Orchester Wagners Rheingold im Pianissimo auf. Jenseits der Theaterbühne ist das zweite Bild jedoch ein »düsteres Nachtstück«: Paul schleicht umher, sich nach Marietta verzehrend, während der Traum sein geplagtes Gewissen offenbar werden lässt. Das Zusammentreffen mit Frank, der in Pauls Traumhandlung als Nebenbuhler erscheint, ist musikalisch geprägt vom Nächtlich-Unheimlichen. Die obere Grenze des orchestralen Ambitus ist nur noch spärlich gebraucht, allenfalls abrupt akzentuierend oder schneidend in der Höhe, Ausdruck des leidenschaftlich gedrängten Paul. Instrumentale Spielweisen zur Charakterisierung des Unheimlichen durchsetzen die Partitur. Gestopfte Horn-Akzente, kreisende Bewegungen im tiefen Klarinettenregister sowie nervös trillernde und tremolierende dunkle Streicher grundieren das geisterhafte Geschehen. »In geheimnisvoller Hast«, beinahe im Flüsterton und doch »sehr drängend« offenbart Frank, dass auch er Marietta verfallen ist, so imaginiert Paul es zumindest. Korngold reduziert die Orchesterbesetzung an dieser Stelle nur auf die Streicher, eine Hälfte nah am Griffbrett des Instrumentes spielend, die andere Hälfte entgegengesetzt am Steg. Die Mischung aus obertonreduziertem und besonders obertonreichem Klang ist selbst schon musikalischer Kontrast, der eine unheimliche Stimmung evoziert.
III. »In vollem Bewusstsein gegensätzlich zum Nachtstück des II. Bildes concipiert« sei die Fronleichnamsprozession des dritten Bildes: »ihre Musik ist für Glanz und Sonnenlicht komponiert.« Gegenüber Rudolf Hartmann offenbart Korngold hier brieflich jene Kontrastdramaturgie seiner Partitur, die nicht nur auf den engen Raum einer einzelnen Szene, auf die tönende Zeichnung einer einzelnen Gefühlsäußerung beschränkt ist, sondern zur musikalischen Konzeption seiner Oper im Ganzen gehört. Mariettas stürmische Evokation von diesseitiger, gelebter Liebe, die sie dem Bildnis der toten Marie entgegenwirft, wird durch den schlichten, nicht mehr als eine Quarte umspannenden Gesang der Kinder, »die sich zum Ausgangspunkt der Prozession begeben«, kontrastiert. Ihre Reaktion auf die Kinderstimmen verwischt schließlich musikalisch die Grenzen zwischen 49
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rituellem Umzug und zum Leben drängender Emphase: Die aufsteigende Geste der Solo-Violine, als Zwischenspiel zunächst, dann sich der kantablen Linie Mariettas anschmiegend, erlaubt den Rekurs auf die erotische Bedeutung der Solo-Violine im Wagner’schen Musikdrama. Begeistert beobachtet nun Paul die Prozession, die an seinem Haus vorbeizieht, ein »seelisch bewegende[r] Anblick«, den er »in sanfter Ekstase« verfolgt: »Ein flutend Meer von goldnen Messgewändern! / Und zwischendurch, / Blutstropfen gleich / versprengt, das Chorhemdrot der Sängerknaben, / die Weihrauchfässer schwänken, den heilgen Duft kredenzen. / Berauschend wogt die farbige Flut.« Rauschende Beweglichkeit in Flöten und Celesta im Verbund mit einer chromatisch changierenden Harmonik fasst das Empfinden in dieser Szene musikalisch. Farbliche Eindrücke und Gerüche mischen sich in der Wahrnehmung zu einem synästhetischen Erleben, das in der Literatur der Jahrhundertwende etwa bei Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr und Rainer Maria Rilke bereits vorgezeichnet ist. Neben Korngold beschäftigten sich auch andere Komponisten mit der musikalischen Darstellung von Synästhesie, beispielsweise Franz Schreker in seinem Schatzgräber. Oft spielt dabei ein fetischisierender Umgang mit dem Objekt eine Rolle. Die von Paul in einer »Kristalltruhe« einer Reliquie gleich aufbewahrte Haarflechte steht im Zentrum der Eskalation des dritten Bildes vor der Auflösung des Traumes, sie ist also eben solch ein fetischisiertes Objekt: Leuchtend blitzen Glockenspiel und Xylophon in gezielten Nuancen hervor, Harfenakkorde und ein Glissando »über die Obertasten« des Klaviers kolorieren die auratische Wirkung der Haarflechte in dem Moment, als Marietta Pauls »Heiligtum« ergreift. Ein ekstatischer Walzer, seit dem Beginn der Oper Sinnbild für Mariettas diesseitige Lebenslust, »immer steigernd«, schließlich »sehr drängend«, steuert auf die Katastrophe zu. Völlige Stille, eine Generalpause lässt Pauls Worte drohend im stummen Raume stehen: »Gib oder stirb!« Ein Zwischenspiel vor der finalen Szene, wiederum auskomponiertes Psychogramm Pauls, der nun langsam aus seinem Traum erwacht und schließlich seiner Situation gewahr wird, ist zunächst gesättigt von scharfen Sekundreibungen. Noch glaubt er einen Mord begangen zu haben. Langsam erst lösen sich die musikalischen Spannungen auf, immer wieder kontrastiert Korngold alptraumhafte Sphäre und Erkennen des Geträumten. Den Traum hinter sich lassend, steht die Reprise von »Glück, das mir verblieb« im Zeichen einer veränderten Haltung und erfolgt vor dem Hintergrund des Entschlusses, das tote Brügge zu verlassen: Den tenoralen Spitzenton vor dem elegisch ausklingenden Orchesterepilog hat Korngold auf das »Leben« gesetzt.
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Gustav Mahler über Erich Wolfgang Korngold
» EIN GENIE! EIN GENIE! «
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Olaf Kiener
DER TRIUMPH DES LEBENS
»Sein und Schein, Realität und Traum rinnen so verwandt ineinander über, dass wir von keinem geliebten Wesen Abschied nehmen müssen, solange unsere Erinnerung es wandeln, es atmen lässt...« ARTHUR SCHNITZLER, BRIEF AN HANS MÜLLER, 1918
»Den Ort, wo sich die geliebten Toten befinden, weiß ich nicht; den, wo sie sich nicht befinden, weiß ich: das Grab.« FRIEDRICH HEBBEL, TAGEBÜCHER
Auf den ersten Blick scheint es seltsam widersprüchlich, dass ein unangekränkelter, wunderkindlich begabter 19jähriger Wiener Komponist eine Affinität entwickelt zur todesmatten Décadence des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach, zum nekrophilen Bruges-la-Morte der Jahrhundertwende. Bei näherer Betrachtung aber lagen Brügge und Wien damals nicht so weit voneinander entfernt, wie es die Geographie ausweist. Brügge hat mit seinem morbiden Reiz auf viele Wiener Literaten des Fin de siècle eine stille Faszination ausgeübt, deren Prosa und Dichtung befruchtet. Stefan Zweig und Rainer Maria Rilke erlagen den grauen Morendo-Stimmungen und der müden Melancholie dieser oft auch »Venedig des Nordens« genannten Stadt. Das verfallene Brügge wurde verstanden als Synonym für die beginnende Auflösung des großen Habsburger-Reiches, die in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs enden sollte. Wien war hier ein überaus hellhöriger Resonanzboden kommender Erschütterungen. Um die gleiche Zeit, als Korngold in Wien seine Konzeption der Toten Stadt in Musik setzte, machte der nur um ein Jahr ältere Carl Zuckmayer im Sommer 1917 während eines Fronturlaubs von der Flandernschlacht als 21jähriger Soldat am Originalschauplatz von Korngolds Oper Station. Bei einer gespenstisch-unwirklichen Bootsfahrt durch die toten Grachten des nächtlichen Brügge erlebte er die halluzinogene Atmosphäre des Ortes und empfand sie als alptraumhaft-beklemmendes Symbol des Untergangs der alten Vorkriegswelt. Das in Zuckmayers Autobiographie Als wärʼs ein Stück von mir geschilderte surreale Brügge-Erlebnis des Autors gleicht auf frappante Weise den kathartischen Traumerfahrungen des Protagonisten Paul in Korngolds Tote Stadt. »Da entschwand mir das Gefühl des Daseins, des Diesseits, der Wirklichkeit, bis zu einem Grad von Bewusstlosigkeit. Ich sah zwei Schwäne vorübertreiben. Totenschwäne. Dann ertrank ich im Styx. Ich glaubte nicht mehr zu leben, gefallen zu sein. Ich weiß nicht, ob ich einschlief oder die Besinnung verlor. Als ich zu mir kam, dämmerte es bereits. Die Morgenkühle weckte mich auf, ich merkte, dass ich noch lebte und mit der hereinkommenden Flut zu dem Ausgangspunkt meiner Fahrt zurück 53
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getrieben war. In dieselbe Zeit fiel das Erwachen. Mein Kopf wurde hell und klar. Ich begann zu denken, scharf, logisch, nüchtern, ohne Illusion, ohne Hoffnung, ohne Selbstbetrug. Das ganze Kriegserlebnis [...] erschien mir wie ein dunkler, verworrener Traum.« Nicht nur die Literatur, auch das junge Medium Film inspirierte sich an der düsteren Aura der Vergänglichkeit des flandrischen Städtchens. Der angehende Regisseur Fritz Lang gewann dort nach eigenem Bekunden visuelle Schlüsseleindrücke: »1909 in Brügge mein erstes entscheidendes Zusammentreffen mit dem Film. In der Einsamkeit dieser Stadt haftete ein Filmbild in mir. Das lässt mich nicht wieder los. Ich ahne neue Möglichkeiten. Wieder in Paris, bin ich schon ganz im Banne des Films.« Tatsächlich hat Korngolds Tote Stadt ein cineastisches Gegenstück in Fritz Langs Stummfilm Der müde Tod (1921). Der Wiener Fritz Lang gestaltete hier wie Korngold den »schmerzlichen Zwiespalt des Gefühls« zwischen überirdisch fortdauernder Liebe und der Unwiderruflichkeit des Todes: Das Liebespaar, vom Tod auseinandergerissen, und die Frau, die verzweifelt das Leben des Geliebten zurückfordert und den Kampf mit dem Tod aufnimmt, um ihn zu besiegen durch die Liebe. Wenn ihr darauf der Tod entgegnet: »Ich bin der Unbesiegbare. Geh zurück zu den Lebenden – und lebe!«, wird die Parallele zur Marie der Toten Stadt offenbar, und die Vermutung liegt nahe, dass Langs Filmkunstwerk mit seiner visionären Friedhofsprozession in dem verträumten »flämischen Dorf« (als solches erschien es Luis Buñuel) von Korngolds Oper nicht unbeeinflusst sein könnte. Dass zwischen dem deutschen expressionistischen Film und der Toten Stadt durchaus Verbindungslinien bestehen, zeigt auch der ebenfalls 1920 uraufgeführte Stummfilm-Klassiker Das Cabinet des Dr. Caligari, dessen verwirrendes Vexierspiel zwischen wahnhafter Zerrissenheit und Zukunftsangst das Gefühlsklima einer durch die Schrecken des Weltkriegs aus den Fugen geratenen Nachkriegsgesellschaft eindrucksvoll widerspiegelte. Der Toten Stadt und Caligari gemeinsam ist dabei die an E.T.A. Hoffmann gemahnende alptraumhafte Fantastik, beide besitzen eine »versöhnende« Rahmenhandlung (deren Idee bei Caligari von Fritz Lang stammt). Der Paul der Toten Stadt ist, ähnlich dem Somnambulen in Caligari, ein von Phantasmagorien getriebener Traumwandler, und Film wie Oper enden mit der angedeuteten Perspektive der Heilung des Helden. Nicht zufällig spielte eine der frühesten Inszenierungen der Toten Stadt 1921 in Frankfurt/Main in einer stark von Caligari inspirierten, schiefbizarren Kulissenwelt, die den Stil des »caligarisme« (so der in Frankreich geprägte Begriff ) vom expressionistischen Film auf die deutsche Opernbühne übertrug. Die große Publikumsresonanz der Toten Stadt in den frühen 1920er Jahren gründete nicht zuletzt in ihrer Sensibilität und wachen Aufnahme politischer Grundströmungen. Mariettas populär gewordenes Lautenlied (bereits 1916 entstanden) »weckte mir bedrückende Ahnungen«, schreibt Julius Korngold OLA F K IEN ER
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1942 in seinen Erinnerungen. »Ich glaubte so etwas wie den Schwanengesang des von den Gefahren des Krieges Bedrohten herauszuhören.« Dem Begeisterungstaumel der ersten Kriegsjahre war 1918 die Ernüchterung gefolgt, und die Tote Stadt verlieh der demoralisierten Stimmungslage von Millionen Menschen beredten Ausdruck, die im Schmerz um ihre vom Krieg entrissenen Angehörigen Trost und zugleich neuen Lebensmut suchten (und womöglich auch der alten politischen Ordnung nachtrauerten). Vom ehemaligen k.u.k. Weltreich blieb 1919 nur noch ein österreichischer Rumpfstaat übrig und dessen Zentrum Wien »war plötzlich von allem abgeschnitten, es war eine tote Stadt«, so der ehemalige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky in seinen Memoiren. Zweifellos besaß Korngolds Oper bei ihrem Erscheinen eine aktuelle Bedeutungsebene, hatte doch Julius Korngold selbst, neben Erich immerhin der Hauptlibrettist des Werkes, im Vorwort zu einer Kritikensammlung vom Oktober 1920 es als die »besondere Sendung« des deutschen Opernschaffens der Gegenwart bezeichnet, »zur Stärkung der Lebensenergien beizutragen, deren diese schwere, verdüsterte Zeit bedarf«. Korngolds Oper ist so, vergleichbar Alban Bergs Wozzeck, auch ein (Kriegs-)Zeitdokument. Die bis heute ungeklärte Frage, ob Erich Wolfgang Korngold schon im Jahre 1913 Brügge persönlich besuchte (wie Vater Julius überliefert) oder ob er die Stadt zum ersten Mal im Jahr seines letzten Europa-Aufenthaltes 1955 gesehen hat (wie seine Gattin Luzi berichtet), ist vor diesem Hintergrund müßig: denn Korngolds Brügge, das lag in Wien. Der wie Korngold aus Brünn gebürtige Wiener Schriftsteller Hans Müller (1882-1950), Textbuch-Autor von Korngolds Opern Violanta und Das Wunder der Heliane (von ihm stammt auch ein erster Libretto-Entwurf zur Toten Stadt), schreibt in seinen Wien-Erinnerungen: »Wien lebt vom Kontrast. [...] Ernst, ja Trauer tritt ohne hieratische, starre Würde in den Hof der Heiterkeit hinaus, [...] an der Vergänglichkeit und ihren sakralen Feiern rankt sich, schon in den Säulen, Bäumen, Türmen und strahlenden Kirchenfenstern, die Lust der Gegenwart empor. Wer jenes alte Wien [...] betrat, empfing als ersten, halb ergreifenden, halb beseligenden Eindruck diese geschwisterliche, durchaus gebieterische Unzertrennbarkeit von Sein und Tod.« Aus diesen »wienerischen« Kontrasten zwischen dem grauen Nebel der sterbenden Stadt, ihren »schwarzen Wassern« und den prallbunten Farben der übermütig-vitalen Theater-Truppe, dem Wechselspiel von Eros und Frömmigkeit, von Traum und Wirklichkeit bezieht auch die Tote Stadt ihre Wirkung. Wiens Katholizismus, von den spanischen Wurzeln Habsburgs herrührend, seine Liebe zum frommprozessionalen Prunk und Schaugepräge, sein Hang zur »schönen Leich«, seine Atmosphäre des Kirchenkults lieferten Korngold in überreichem Maße alle Ingredienzien, um seine Tote Stadt lebendig werden zu lassen. Die Glocken der Toten Stadt (ihre »Beichtiger aus Erz«) brauchte Korngold nicht im Belfried von Brügge zu suchen, er konnte sie daheim in der 55
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Donaumetropole finden: »Über uns schwangen die Mittagsglocken der Stephanskirche. Unwillkürlich hemmten wir eine Minute unseren Weg. Und hörten zu. In Wien wandert, um diese Stunde, der dunkle oder hellere Schall unendlich vieler Glocken von Stadtteil zu Stadtteil, von Turm zu Turm. Man kann die einzelnen Stimmen, wenn man das Ohr nur recht in die Luft hält, unterscheiden.« (Hans Müller) Nur in Wien, der Stadt der »Sinnlichwerdung alles Inwendigen« (noch einmal Hans Müller), dem Ort, »darin die dunklen, frommen Bilder leben« und »gnädige Standarten über hohen Prozessionen schweben« (so der österreichische Dichter Hans Kaltneker in seinem Sonett für Wien, von Korngold 1948 erinnerungsschwer als letztes Liedopus vertont), konnte diese Tote Stadt entstehen. Korngold hätte nicht einmal zwingend des Rodenbachʼschen Romanvorwurfs bedurft, denn auch Arthur Schnitzler behandelte, ein Jahr nach Rodenbachs Tod, das Thema des trauernden Witwers, der Wiederkehr der geliebten toten Gattin in Gestalt der lebenden Doppelgängerin (bis zur Namensgleichheit beider) und schließlich deren als Katharsis gedachte Tötung. Es ist dies Schnitzlers Erzählung Die Nächste (bereits 1899 geschrieben, doch erst posthum 1932 in der Neuen Freien Presse veröffentlicht), Schauplatz der Handlung ist Wien zwischen Volksgarten, Stadtpark und Ringstraße, und das Ganze wirkt mit frappierender Ähnlichkeit wie das österreichische Spiegelbild von Rodenbachs Bruges-la-Morte. Nicht überraschend daher, dass Schnitzler und Korngold auch privat Kontakt hielten und der Dichter noch vor der Uraufführung der Toten Stadt Musik daraus kennenlernte. Am 2. Oktober 1920 notierte er in sein Tagebuch: »In Hietzing bei Trebitsch. Korngold spielte aus seiner neuen Oper vor. Wohllautquellend, nicht ohne Einflüsse von Puccini und Rich. Strauss. [...] K. spielte vorzüglich, war mir persönlich wieder sehr sympathisch.« Als ein Wiener Komponist mit stark affirmativer Dur-Tendenz musste Korngold allerdings die Grabestrübsal und »krankhafte Todesliebe« (S. Trebitsch) in Rodenbachs Original transformieren, und er extrahierte daraus, ohne Rodenbach Gewalt anzutun, über das Hilfskonstrukt einer Traumhandlung, gleichsam als wienerische Essenz, den »Triumph des Lebens«. Bezeichnenderweise war dies auch Korngolds ursprünglicher Arbeitstitel für die Tote Stadt. In Rodenbachs lyrischer Romanerzählung erscheinen die Figuren passiv und schemenhaft, fast alle Vorgänge sind aus der Innenschau des Witwers Hugues Viane gesehen; im schwarzen Schlagschatten Brügges, der eigentlichen Hauptperson, klingt die »sordinierte Musik verblassender Konturen und bleicher Silhouetten« (Gaston Deschamps). Hugues ist kein Agierender, sondern willenloses Opfer seiner Fantasie. Rodenbachs eigene Stoffdramatisierung unter dem Titel Le Mirage (dt: Das Trugbild) macht die Geschehnisse greifbarer, die Tote (im Roman noch namenlos) erscheint hier, Geneviève genannt, dem Witwer als sichtbare Vision (wie später Marie in der Oper) OLA F K IEN ER
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und mahnt ihn im innigen Zwiegespräch: »Sei nicht so traurig. Erinnere dich an unser Glück. Unsere Liebe ist stärker als der Tod.« Die Doppelgängerin der Toten, Jane Scott, bleibt hingegen im Roman wie im Theaterstück eindimensional, Rodenbach betont durchweg ihren verderbten Charakter, sie wird als »Dirnenseele« gezeichnet, niederträchtig, teuflisch und grausam. Im Unterschied zu beiden Rodenbach-Vorlagen hat Korngold die Rolle der lebenden Kontrahentin bedeutend aufgewertet und seine Marietta bewusst als positive Gegenmacht zur Verstorbenen aufgebaut: »zu bannen das Gespenst für immer.« Korngolds tiefempfundenes Mitleiden gilt Paul, seine unverhohlene Sympathie aber gehört Marietta (im Charakter zwar kokett und leichtfertig, doch stets liebenswürdig), dem lebensbejahenden Prinzip, verkörpert in der überschäumenden Vitalität wienerischer Weiblichkeit (»heißatmend Leben gegen Tod« stehen im Libretto als unversöhnliche Antagonisten). »Gehe ins Leben, schau und erkenne«, diese Mahnung der toten Marie, gleichsam ein Fingerzeig aus dem Jenseits, ist Korngolds eigene Zutat und zugleich zentrale »Botschaft«, die sich vollends erschließt in der tödlichen Konfrontation des 3. Bildes. »Ich tanz des Lebens siegende Macht«, verkündet Marietta triumphierend im orgiastischen Walzerrausch, und Korngold kontrapunktiert ihren Sieg mit der in Fis-Dur aufsteigenden Quarten-Fanfare seines »Motivs des fröhlichen Herzens«, das wie ein unbezwingbarer cantus firmus in Korngolds Gesamtwerk konstant wiederkehrt und als feststehende Klangchiffre »Glück« und »Leben« symbolisiert. Durch die »reinigende Kraft des Traumes« ( Julius Korngold) hat sich die gleich schon im ersten Bild aufgestellte Prophezeiung des Freundes Frank schließlich erfüllt: »Das Trugbild weicht, der Nebel wird sich teilen.« Der »Traum der bitteren Wirklichkeit« musste das Phantom der Vergangenheit therapeutisch zerstören, weil es sonst den Trauernden selbst zerstört hätte. Desillusioniert kann Paul aus dem Todesschatten der »Kirche des Gewesenen« heraustreten, mit der Akzeptanz des Unabänderlichen ist die seelische Balance zurückgewonnen, ein Neuanfang möglich; das Ganze war eine »lebenssüchtige Wunschfantasie« (R. St. Hoffmann), womit die Tote Stadt über Sigmund Freud nach Wien heimfindet. Dem flüchtigen Betrachter, der in dieser scheinbar apokryph optimistischen, von Paul Bekker als »banale Moral« missverstandenen Konfliktlösung der Oper argwöhnisch eine allzu simple oder gar triviale Psychologie am Werke zu sehen vermeint, dem mag das im 3. Bild »mit innigster Empfindung« vorgetragene Bekenntnis Pauls als ein Schlüssel zum Werk dienen: »Mein Glaube ist die Treu.« Denn im Kern hat Korngold in der Toten Stadt allgemeingültig und nachgerade buchstäblich auskomponiert, was Hugo von Hofmannsthal im Juli 1911 in einem erläuternden Brief an Richard Strauss zur Ariadne auf Naxos als deren Leitidee formulierte: »Es handelt sich um ein simples und ungeheures Lebensproblem: das der Treue. An dem Verlorenen festhalten, ewig 57
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beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren«. Sätze, die gleichsam den »Ariadnefaden« zur Toten Stadt knüpfen und die auch Pauls »Lebensproblem«, seinen schmerzlichen Gefühlszwiespalt, nicht treffender und konziser zusammenfassen könnten. So verstanden, schließt sich der Kreis im Hofmannsthalʼschen Sinne zu dem von Korngold intendierten und seinem Werk als »tiefere Grundidee« eingeschriebenen »Triumph des Lebens«. Ganz offensichtlich hatten nekrophile Dekadenz und resignative Grabessehnsucht in Korngolds Denken keinen Platz. Morbidität war ihm wesensfremd, jene deutsche »Sympathie mit dem Tode«, von der Hans Pfitzner spricht, in dessen Palestrina alles dem Vergangenen zuneigt, war nicht Korngolds Sache. Seine gleichwohl im gesamten Œuvre immer wieder anzutreffende Präokkupation mit dem Jenseits, die zahlreichen Abschieds- und Todesstimmungen sind indes bei ihm nie Ausdruck von Defätismus. Korngold unterliegt ihnen nicht, stets wandeln und verdichten sie sich am Ende, den Todesgedanken überwindend, zur Apotheose des Lebens. Der Dichter Erich Fried, ein anderer exilierter jüdischer Wiener, hat den scheinbaren Widerspruch in die prägnante Formel aufgelöst: »Auch was ich gegen das Leben / geschrieben habe / ist für das Leben geschrieben / Auch was ich für den Tod / geschrieben habe / ist gegen den Tod geschrieben.«
DER T R I UMPH DE S LEBENS
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↑ Lillian Gish vor zwei Spiegeln, um 1930
Richard Strauss an Julius Korngold, 1910, nach Durchsicht einer frühen Komposition Erich Wolfgang Korngolds
» Heute habe ich die Composition Ihres Sohnes erhalten u. mit größtem Erstaunen durchgelesen. Zu gratulieren ist ihm kaum: das erste Gefühl, das Einen überkommt, wenn man hört, dass dies ein 11jähriger Junge geschrieben hat, ist Schrecken u. Furcht, dass ein so frühreifes Genie auch die normale Entwicklung nehmen möge,
die ihm so innig zu wünschen wäre… diese Sicherheit im Styl, diese Harmonik, es ist wirklich staunenswert. Glücklicher Vater, nehmen Sie aber jetzt dieses junge Genie vom Schreibtisch u. von der Musik weg, schicken Sie ihn aufs Land zum Rodeln, Skilaufen… «
Bernd O. Rachold
» … EIGENTLICH HABE ICH ES IMMER NUR FÜR PAPA GETAN. «
Chronik einer Vater-Sohn-Beziehung
JULIUS LEOPOLD KORNGOLD (1860-1945) Berufe: Jurist, Musik-Kritiker, Librettist, Vater eines Wunderkindes ERICH WOLFGANG KORNGOLD (1897-1957) Berufe: Wunderkind, Komponist, Pianist, Dirigent, Arrangeur, Sohn eines Musik-Kritikers Moriz Rosenthal zu seinem Pianisten-Kollegen Artur Schnabel: »Ich höre, Sie spielen die Sonate des kleinen Korngold. Ist sie dankbar?« – »Die Sonate nicht, aber der Vater!« Dieses vielen Protagonisten in den Mund gelegte und 100 Jahre überdauernde Bonmot ist zu schön, um nicht auch wahr zu sein. Unterstreicht es doch in aller Kürze, wie das kulturelle und meinungsbildende Wien des frühen 20. Jahrhunderts die erstaunlichen Erfolge des komponierenden Wunderkindes Erich und die kaum verdeckten Aktivitäten des einflussreichen Kritiker-Vaters Julius mit Argwohn, aber auch mit Hochachtung betrachtete. Kritiker Eduard Hanslick über den Knaben Erich Wolfgang Korngold: »Ein kleiner Mozart.« Gustav Mahler über den Knaben Erich Wolfgang Korngold: »Ein Genie! Ein Genie!« Komponist Alexander von Zemlinsky 1910 – nach seiner Übersiedlung nach Prag – an seinen ehemaligen Schüler: »Lieber Erich, höre, Du lernst jetzt mit Hermann Graedener. Macht er Fortschritte?« Wilhelm Grosz, Komponist, in seinen Erinnerungen: »Den äußeren Anstoß, auch Musiker zu werden, gab der junge Korngold, dessen mit elf Jahren komponierte Pantomime Der Schneemann mit Recht das ungeheuerste Aufsehen erregte.« Felix von Weingartner, Hofoperndirektor und Nachfolger Gustav Mahlers, in seinen Erinnerungen: »Erichs Musikalität war erstaunlich. Ich konnte mich mit ihm über fachliche Dinge oft besser unterhalten wie mit manchen alten und erfahrenen Kollegen.« Luzi Korngold, Ehefrau Erichs: »Die Mutter fand den Zehnjährigen in Tränen aufgelöst am Klavier. Erst nachdem sie lange Zeit in ihn gedrungen war ... gestand Erich, dass er sich so sehr fürchte, den Vater einmal enttäuschen zu müssen.« Der Vater beginnt, ein für 30 Jahre perfekt funktionierendes Ein-Mann-Management zur Förderung des Sohnes aufzubauen und überzieht Verleger und die gesamte Musikwelt mit Tausenden von Briefen, stets geschrieben auf dem Briefpapier seines Arbeitgebers Neue Freie Presse. Einher geht die strenge Überwachung von Erichs Finanzen. Julius Korngold 1909 an eine Anzahl ausgesuchter Musiker wie Richard Strauss, Engelbert Humperdinck, Arthur Nikisch und Kritikerkollegen: »Ich 63
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erlaube mir, Ihnen Compositionen meines kleinen Söhnchens zu übersenden. Bisher jeder Publizität in dieser außerordentlichen Sache abhold, halte ich mich nicht mehr für berechtigt, Musikern und Musikkennern die Erscheinung dieses Kindes vorzuenthalten. Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Sonate mit dem passacaglia-artigen Schlusssatz hinlenken? Kein Takt hat eine Revision erfahren.« Kritikerkollege Ernst Décsey 1910: »Der Vater hat mit dem feinen Takt, der ihn als Kritiker auszeichnet, jede Reklame vermieden und die Begabung des Sohnes eher verschwiegen, als in die Öffentlichkeit posaunt...« Publizist Karl Kraus 1910: »Wenn der kleine Korngold ›einer bedeutenden Zukunft entgegengeht‹, so möge ihm die Genie-Korrespondenz des Vaters den Weg nicht verstellen ... Wunderkinder ... sprechen druckreifer, als die Väter geschrieben haben. Sie musizieren besser, als die Väter gehört haben.« Und weiter 1913: »Sämtliche ausübende Musiker wissen von der Güte des Alten ein Lied zu singen, wenn sie die Güte haben, ein Lied vom Jungen zu singen ... Vater Korngold ruft und man ist begeistert.« Pianist Artur Schnabel 1911 an seine Frau, nachdem er Korngolds 2. Sonate in Wien gespielt hatte: »Für Korngold habe ich mich mit größter Intensität ins Zeug gelegt. Der sehr anspruchsvolle kritische junge Herr war auch überaus zufrieden und glücksstrahlend. Die Aufnahme bei dem übrigens zahlreichen, aber ekelhaften Publikum kälter als in Berlin und Frankfurt. Die Kollegen voll Missgunst und andere in der Furcht, aus ihrem Beifall könnte man eine Abhängigkeit von der Neuen Freien Presse finden.« Die sich formierenden Gegner übersehen nur zu gern, dass sich eher unbekannte Künstler väterliches Wohlwollen vom Musizieren Korngold’scher Werke versprechen, als dass es die namhaften unter ihnen wirklich nötig gehabt hätten. Ihnen allen muss die allgemeine Aufmerksamkeit an den Kompositionen eines ›Meisters, der vom Himmel fiel‹ (R. St. Hoffmann) und die Werbetrommel der Verleger und des Vaters eher dienlich als unangenehm sein. Man befindet sich in bester symbiotischer Gesellschaft, eine Ausnahmeerscheinung der Musikwelt zu fordern. Trotzdem ordnet Julius an, Uraufführungen außerhalb Wiens stattfinden zu lassen. Julius Korngold 1911 an seinen Kollegen Max Kalbeck: »Ihr gewichtiges, sachverständiges, dabei gemüt- und liebevolles Wort richtet mich zugleich in der gedrückten Stimmung auf, in die mich der Versuch eines rastlos lauernden Feindes versetzt hat, Wesen und Charakter des guten, sich seiner selbst nicht bewussten Knaben anzutasten, die für dergleichen immer empfänglichen Wiener gegen ihn einzunehmen. Vor Ihrem Wort zerstiebt diese Intrige.« Und an seinen Kollegen Julius Bauer, ebenfalls 1911: »Ist es nicht bezeichnend, dass man selbst angesichts einer solchen Erscheinung, wie dieses Kind, die als wunderbares Spiel der Natur neidlose, gerührte Würdigung erfahren sollte, das Gezänk mit den Collegen fürchten muss?« Felix von Weingartner in seinen Erinnerungen: »Des Vaters hatte sich, als der Sohn begann, in die Öffentlichkeit zu gehen, der typische VerfolBER N D O. R ACHOLD
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gungswahn bemächtigt, der ihn überall Nachstellungen wittern ließ und seine chronische Nervosität zu Übertreibungen steigerte, die schwer zu ertragen waren. Er übersah, dass er gerade dadurch sich selbst und seinem Sohn ursprünglich nicht vorhandene Feinde schuf.« Der Schauspieler Walter Slezak erinnert sich: »Seine beiden Eltern, die sehr dominierend waren, führten, stießen, schoben und drängten ihn fortwährend, so dass er kaum Gelegenheit hatte, sein großes Talent in ruhiger Entwicklung wachsen zu lassen.« Die Ur- und Erstaufführungen der Schauspiel-Ouvertüre op. 4, der Sinfonietta op. 5 gehen einher mit der Organisation von Korngold-Wochen, und das behütete Kind macht erste Gehversuche außerhalb Wiens, stets in Begleitung der Mutter Josefine und täglichen Briefen des Vaters an seinen »Eritschko« und die Veranstalter. Geheimrat Ludwig Strecker vom Schott-Verlag 1912 an Julius Korngold: »Jedes Mal, wenn ... ich mich mit Anderen über Ihren Erich unterhalte, befällt mich eine gewisse Angst, wie es sich um die Weiterentwicklung dieses eigenartigen Organismus verhalten mag. Die hohe Spannung, unter der seine Gehirnnerven sich befinden, wenn er produktiv ist, muss diese unendlich zarten Organe unbedingt bei ihm mehr angreifen, als bei einem normalen Erwachsenen ... Sind Sie gar nicht besorgt, dass Erichs kindliche Gehirnkonstitution darunter leiden könnte?« Kritiker Maximilian Harden 1912: »Sobald der feurige Knabe mit den großen schwarzen Augen am Klavier sitzt und seine Sachen spielt, verliert man ihn als die Erscheinung eines Kindes ... Kein Kind, kein Mann, ein Meister spielt Dinge, die ein Meister geschaffen hat ... Der Vater Julius ist Musik-Kritiker ... der Bub leidet darunter, hat weder den liebenden Eifer nötig noch die Aufmachung durch Wohlwollen ... Das Orchester meistert er wie ein Gereifter und klatscht in die Hände wie ein richtiges Kind, das neugierig ist, obʼs auch schön klingen wird. Die Erwachsenen schütteln den Kopf. Ärgern sich auch. Sind wild darüber, dass hier einem Kinde gegeben ist, was sie durch Arbeit und Mühe erwerben. Vertrusten sich gegen das Wunder. Aber das nützt wenig.« Eine »normale« Entwicklung ist dem Knaben Erich nicht vergönnt. Julius Korngold sieht in seinem Sohn das Genie und tut alles, um es zur Entfaltung zu bringen. Im Gegenzug unterbindet er alles, was diesem Ziel nicht zuträglich ist. Luzi Korngold in ihren Erinnerungen: »Vater Korngold ... begann in seiner Art, mit Unmut und Misstrauen Erichs Freundschaften mit den seiner Meinung nach ›raffinierten‹ Mädchen zu betrachten, und unterließ es auch nicht, dem Sohn das Leben mit pessimistischen Prophezeiungen schwer zu machen. Erich nahm es seinerseits dem Vater übel, dass er ihm die unschuldigen Freuden seiner Jugend vergällte, und so ergab sich schon damals [1912] eine gewisse Spannung in den Beziehungen zwischen Vater und Sohn. Zum erstenmal bemerkte der Vater mit Staunen, dass sein Kind, von dem er selbst 65
» … EIGEN T LICH H A BE ICH E S IM MER N U R F Ü R PA PA GETA N. «
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← KS Bo Skovhus als Fritz, 2004
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sagte, es sei ›so sanft und fügsam, als fehle ihm jede Willenskraft‹, sich plötzlich entschieden und trotzig auflehnte.« Willenskraft beweist der Knabe aber nicht nur im Umgang mit dem Vater, sondern auch mit Autoritäten wie Staatsopern-Direktor Felix von Weingartner, wenn es um seine Werke ging. Der 14jährige Erich Wolfgang Korngold 1911 an Felix von Weingartner: »Ich habe Freitag nach langer Zeit den Schneemann wiedergehört. Ich muss betrübt sagen, dass ich meine Musik nicht erkannt habe. Die Melodien waren nicht zu hören, die Einsätze verfehlt, die Tempi ohne Rücksicht auf den Kapellmeister verhetzt, der Flötist blies Rouladen, die nicht in seiner Stimme sind, und behielt ebenso zum Spaße im ganzen 2. Bilde ›Piccolo‹ statt der vorgeschriebenen großen Flöte, so dass das ganze wie eine ›Hetz‹ aussah, da auch die Hornisten jedes Piano, selbst in Mittelstimmen, absichtlich f-fortissimo bliesen. Ich hatte den bedrückenden Eindruck, dass sich die Musiker mit einem Werke einen Scherz machten, das großen Erfolg gehabt hat und in wenig Monaten 19mal gegeben wurde ... Mir unbekannte Leute aus dem Publikum kamen zu mir und drückten mir ihre Entrüstung über das Vorgehen des Orchesters aus ... Sollte es nicht möglich sein, durchzusetzen, dass meine Musik so aufgeführt wird, wie es der Künstlerschaft des Hofopern-Orchesters und der Hofoper selbst würdig ist, so stelle ich, da mir nichts andres übrig bleibt, die Bitte, mein Werk nicht mehr aufzuführen.« Antwort der Hofoper: »Wohlgeboren, Herrn Erich Wolfgang Korngold ... und kann Sie [sic!] versichern, dass ich derartige Pflichtwidrigkeiten unter keiner Bedingung dulden werde.« Zwischen 1913 und 1914 schreibt Erich Wolfgang Korngold seine beiden ersten Opern, die Einakter Der Ring des Polykrates und Violanta. Sie werden 1916 in München uraufgeführt. Arthur Schnitzler 1914 in seinem Tagebuch: »Hans Müller [Librettist] erzählt amüsant von seiner Zusammenarbeit mit dem kleinen Korngold [Violanta] und den Störungen durch den alten Korngold.« Müller wird zwei Jahre später die Aufgabe erhalten, Siegfried Trebitschs Übersetzung von George Rodenbachs Schauspiel Le Mirage zum Opern-Libretto zu formen, übergibt jedoch nach wenigen Monaten an Julius Korngold, der dann zusammen mit Erich Wolfgang Korngold das Libretto zur Toten Stadt selbst verfasst. 1917 wird Erich Wolfgang Korngold zum Militär einberufen und versieht seinen Dienst bei der Musikkapelle eines Infanterieregiments. Julius Korngold in seinen Erinnerungen: »Welche Zeit der Aufregung, der Angst für uns Eltern, diese Militärzeit eines bis dahin so peinlich behüteten Kindes! Dieses bange Ausblicken nach ihm, wenn die Stunde nahte, da er aus der Kaserne kommen müsste! Diese aufwühlende Unruhe, wenn er unerwartet im Nachtdienst ausblieb! Diese ständige Furcht vor einem Marschbefehl...« Erich Wolfgang Korngold 1917 an den Hofopern-Direktor Hans Gregor vor dem ersten Dirigat seiner beiden Einakter: »Ich erlaube mir, Sie, » … EIGEN T LICH H A BE ICH E S IM MER N U R F Ü R PA PA GETA N. «
hochverehrter Herr Director, an Ihre Zusage zu erinnern, dass ich dieselbe Besetzung wie am 12. April – Jeritza, Piccaver, Miller – bekommen werde ... Ich schreibe Ihnen dies, weil ich ... hauptsächlich auf diejenige Besetzung Gewicht lege, mit der ich bereits geprobt habe, die meine Intention kennt und ohne die ich den würdigen und immerhin einigermaßen festlichen Charakter der von mir geleiteten Vorstellung nicht verbürgen könnte.« Dazu Hans Gregor: »Erich, wenn Sie sich selbst lieben, Sie müssen fort aus Wien! Gleich nach dem Kriege hinaus! Irgendwohin, wo man sich den Kuckuck um die Neue Freie Presse und den Einfluss ihres eminenten ersten Kritikers schert. Unter den Fittichen Ihres Vaters werden Sie sich nie finden...«
Aus dem »kleinen« Korngold wird der »junge« Korngold, der »alte« Korngold bleibt der alte Erich Wolfgang Korngold 1918 an den Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Arnold Rosé: »Dass Direktor Mahler und meinen Vater eine aufrichtige Freundschaft auf Verehrung und gegenseitigem Verständnis beruhend jahrelang verbunden hat, weiß ich aus meiner Kindheit. Ganz abgesehen jedoch von diesen persönlichen Beziehungen glaube ich, könnte und sollte es doch nicht ganz vergessen werden, dass es gerade mein Vater war, der als einer der wenigen gegen die gesamte Wiener Presse für Mahler als Director und Componisten ungezähltemale aus Überzeugung und (wie die Zeit lehrte) mit Recht öffentlich eingetreten ist und ihm wiederholt ganze Feuilletons und stützende Artikel gewidmet hat, wodurch er sich nicht zum geringsten Teil Feindschaften, an denen wir heute noch zu leiden haben, zugezogen hat ... Mein Vater hat von diesem Brief nicht Kenntnis; es wäre mir peinlich, erführe er seinen Inhalt.« Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Richard Strauss gemeinsam mit Franz Schalk in die Direktion der Wiener Staatsoper berufen. Die Einakter von Erich Wolfgang Korngold bleiben weiterhin auf dem Spielplan, obwohl Julius Korngold Straussʼ Amtsführung als Wiener Operndirektor kritisiert. Richard Strauss 1918 an seinen Direktions-Kollegen Franz Schalk als Wiener Staatsopern-Direktor: »A propos Korngold: ich will es dem braven Erich nicht entgelten lassen, was sein mürrischer Alter an mir gesündigt. Also bringen Sie ruhig Violanta. Ich verlange dafür, dass der alte Julius unverzagt weiter auf mich schimpft, damit ich nicht in den Ruf komme, ich hätte der Aufführung nur zugestimmt, um den Alten mir geneigt zu machen.« Julius Korngold beanstandet weiterhin die häufige Abwesenheit Straussʼ und die – wie er glaubt – Bevorzugung Straussʼscher Opern, nicht etwa dessen QualiBER N D O. R ACHOLD
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tät als Komponist. Im März 1919 ist Erich mit seiner Violin-Sonate Op. 6 das einzige Mal in einem Konzert des Schönberg-Vereins vertreten. Edwin Eisler, Direktor des Grazer Opernhauses, berichtet, dass die von Alban Berg gewünschte künstlerische Beziehung zum zwölf Jahre jüngeren Komponisten-Kollegen vom Vater Julius unterbunden wurde. Am 15.8.1920 ist die Partitur der Toten Stadt fertig. Erich fährt zur Premiere am 4.12.1920 nach Hamburg und lässt sich als »composer in residence« und als Dirigent, Carl Alwin folgend, ans dortige Stadttheater verpflichten. Mitte 1921 stirbt Korngolds Mentor, Direktor Hans Löwenfeld. Aus Wien folgt der Regisseur Wilhelm von Wymétal als sein Nachfolger, allerdings nur für wenige Monate, und hinterbringt Julius Korngold Berichte über verfängliche Situationen, denen der Sohn in der Hafenstadt ausgesetzt sei, und kehrt mit diesem schließlich nach Wien zurück. Bei dieser Gelegenheit streicht Julius auch Erichs bereits gebuchte New York-Reise, zusammen mit Richard Strauss der Premiere der Toten Stadt an der Metropolitan Opera beizuwohnen. Die sicher auch in Hamburg täglich eingegangenen Briefe des Vaters sind nicht erhalten geblieben, im bemerkenswerten Gegensatz zum ansonsten fast lückenlosen Bestand. Sollte der 24jährige tatsächlich Gründe gehabt haben, die Ermahnungen seines Vaters einmal nicht zu befolgen? Dem wachsenden Selbstbewusstsein des jungen Künstlers schadet die Hamburger Zeit jedenfalls nicht. Erich Wolfgang Korngold am 29.3.1922 an Franz Schalk: »Leider kann ich der heutigen Aufführung nicht beiwohnen; wenn Herr Dr. Strauss es mit ›seiner Würde für unvereinbar‹ erklärt, mich als Sohn eines ihm seiner Meinung nach feindlich gesinnten Kritikers ›als Gast des Hauses weiter zu betrachten‹, so muss auch ich es ›mit meiner Würde für unvereinbar‹ halten, mich als Gast in dieses Haus einzudrängen. (Die Premiere der Josephslegende, bei der ich anwesend war, bildete eine Ausnahme: ich bin ja ›Straussianer‹!)« Richard Strauss (zit. nach Luzi Korngold): »Hören Sie, das geht doch nicht! Sie dirigieren hier an der Oper, und Ihr Vater lässt keine Gelegenheit vorübergehen, um meine Direktionsführung anzufallen!« Erich: »Dann bitte ich, meine Opern abzusetzen.« Strauss: »Seiʼn Sʼ kein Kindskopf, Erich, ich bin froh, wenn ich neben meinen eigenen Werken noch ein paar kassensichere moderne Opern aufführen kann.« 1924 löst Strauss seinen Vertrag als Wiener Operndirektor. Giacomo Puccini 1924 an Erich Wolfgang Korngold: »Ich habe die Orchesterpartitur Ihrer Toten Stadt erhalten ... Vorwärts, mein teurer Erich, Sie sind jung und der Weg ist Ihnen geebnet zu den Sternen!« Nach dem Erfolg der Toten Stadt, die von zahlreichen Bühnen nachgespielt wird, fasst Erich Wolfgang Korngold die Eheschließung mit Luzi Sonnenthal ins Auge. Luzi Korngold in ihren Erinnerungen: »1923 sprach Erich nochmals davon, dass einer Heirat zwischen uns nichts mehr im Weg stehen würde ... Unsere Verlobung sollte vorläufig geheim bleiben... Die Eltern Korngold waren von ihrem Sohn informiert worden und das einzige Zeichen, dass sie 69
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von der Verlobung wussten, war ein unbeschreiblich kummervoller Ausdruck in den Augen des ›alten Korngold‹«. Und zum offiziellen Brautbesuch: »Der Vater gab seinem Weltschmerz Ausdruck, und die Mutter entzog sich dem Kuss. Dunkle Ahnungen stiegen in mir auf. Trotz meiner Jugend konnte ich verstehen, was in dem älteren Mann vorging.« Auf die kombinierte Konzertund Hochzeitsreise im Mai 1924 »gab uns Vater Korngold – tief bekümmert – [den Pianisten Robert] Pollak mit und flüsterte ihm eindringlich zu: ›Lassen Sie mir die Kinder nicht allein!‹«
Aus den Augen ist nicht auch aus dem Sinn Julius Korngold an Erich auf dessen Hochzeitsreise 1924 nach Paris: »Geliebtes Kind! Es ist das erste Mal, seitdem wir zusammengehören, dass Du Deinen Geburtstag fern von uns, ich darf sagen, fern von mir verbringst. Unter den Kränkungen, die unser Zusammenleben erfahren hat, muss ich auch diese hinnehmen, muss mich damit bescheiden, an einem Tage, an dem ich mich meiner Liebe zu Dir immer besonders hinzugeben gewohnt war, Dich nicht in die Arme schließen, Dir nicht für alles danken zu können, was Du mir bist, Dir nicht für Dein weiteres Leben und Streben meine väterlichen Wünsche mündlich auf den Weg geben zu dürfen. Umso zärtlicher geschieht dies auf brieflichem Wege und umso intensiver auf Deine neue Lebensperiode gerichtet ... Möge sie Dir an der Seite der Frau, die Du erwählt hast, nur alles Ersehnte und Erträumte bringen! Uns bleibe Du der wahrhafte, reine Sonnenglanz, der Du warst, das gute, innerlich treu verbundene Kind, mir der Freund, als der ich Dich von Deiner Kindheit auf immer geführt und von Herzen gehegt habe. Dass ich Dir weiters Schaffenskraft, weitere heitere Frische in Deiner Kunst wünsche, weitere Unbefangenheit und weiteres Vertrauen auf Deine seltene Begabung, weißt Du. Weil ich selbst der unverbesserliche Pessimist bin, seit meiner Jugend Opfer der Lebensangst und des Zweifels, fühle ich mich besonders an Deinen Optimismus, an Deine Lebensfreude, durch die auch Deine Musik Freude bringt, gekettet, richte mich an ihnen auf. Meine Wünsche für Dich sind also auch solche für mich, den alternden und nicht mehr ganz gesunden Vater. Bleib Du mir gesund, stark und glücklich! ... Ich schreibe auf der Hohen Warte, wo ich seit zwei Tagen der besseren Luft wegen und weil die Mama schon die Sommerordnung hergestellt hat, wohne. Man behauptet, dass ich schon besser aussehe; es hat mich wieder einmal überfallen. Die letzte Analyse war gut in Zucker, war noch nicht zufrieden stellend in Aceton (wegen plötzlicher Diät, die ich wohl nicht vertrage) ... Die Schreiberbande ist nach Prag zum Musikfest der Universal Edition und der Internationalen-Atonalen gefahren. Der Claqueur Grosz mit. Auch Herr Bekker [Kritiker] ist in Wien, bei Dir. Hertzka [Verleger] wohnend, eingetroffen. Der Magen dreht sich einem um, aber die Leute sind rührig und die Partei hat BER N D O. R ACHOLD
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offenbar englisches Geld ... Das Beste wäre, Du wärst sofort nach Berlin gefahren (von wo noch keine Antwort [zur Toten Stadt] gekommen ist) und dann sofort nach Altaussee, wo ich Deine Ankunft schon anvisiert habe und Clavier und Koffer bereits eingetroffen sein müssen ... Warum schreibst Du uns nicht?« Luzi Korngold über diese Sommerferien in Altaussee: »Dem Zusammenleben mit den Eltern sah ich mit naiver Zuversicht entgegen und glaubte fest daran, sie endlich für mich gewinnen zu können, wenn sie mich erst einmal richtig kennenlernen würden. Bei Vater Korngold schien in den ersten Wochen der Erfolg beinahe gesichert. Er war, wie Erich mir glücklich berichtete, ›geradezu verliebt‹ in mich. Leider aber erwuchs mir in meinem Schwiegervater etwas Schlimmeres als ein eifersüchtiger Ehemann. Er sah nicht nur mit Misstrauen auf meine ›dunkle Herkunft‹ – ein Wiener Mädel aus einer Schauspieler-Familie, das außerdem selbst noch Filmschauspielerin gewesen war –, er sah auch mit wachsendem Missfallen, dass ich mich in heiterer Gesellschaft unbefangen-frei gehen ließ ... Zu einem ersten Bruch kam es, als ich so sündhaft war, im Hause Friedrich Buxbaums, des Cellisten des Rosé-Quartetts ... mit einigen jungen Leuten ... mehrmals zu tanzen. Vater Korngold verließ sofort das Haus und ging in pechschwarzer Nacht allein und grollend den langen Weg hinauf zu unserem Bauernhäuschen. Mutter Korngold nahm mir die Wirtschaft gänzlich aus der Hand. Wir lebten also wie Kinder im Haushalt der Eltern, der Tag wurde von den Eltern geplant, unser Umgang mussten Freunde der Eltern sein ... Täglich gab es offene und versteckte Kritik an meiner Person, und es kam immer häufiger zu Szenen, bei denen Erich sich männlich und dezidiert für mich einsetzte.« Das junge Paar zieht Ende 1924 für vier Jahre zur Großmutter mütterlicherseits, wo 1925 der erste Sohn, Ernst, geboren wird. Rechtzeitig hatte sich Erich, einer Empfehlung von Witwe Adele Strauß und dem Impresario Hubert Marischka folgend, für einige Jahre als Dirigent und Arrangeur an verschiedene OperettenTheater verpflichtet, um so bei täglicher Gagen-Barzahlung den Unterhalt für seine Familie bestreiten zu können. Noch ruhte Julius Korngolds Hand schwer auf jedem Sparkonto. Eine Maßnahme, die sich 14 Jahre später bei der Flucht ins Exil »auszahlen« sollte. Schott-Verlag Dezember 1924 an Erich Wolfgang Korngold: »Die Tantiemen-Abrechnungen wurden auf Wunsch Ihres Vaters aus bekannten Gründen hier behalten ... Es tut mir leid, wenn in der Kontoaufstellung für Sie nicht die volle Klarheit existiert, wie ich sie vom geschäftlichen Standpunkt wünschte, doch sind die Gründe hierzu Ihnen ja wohl bekannt...« Julius Korngold 1926 an Schott: »Eben lese ich aus einer Zusammenstellung im Anbruch, dass ... [Das Wunder der] Heliane bisher nur für drei Bühnen in Aussicht genommen ist, während Golem und Cardillac schon vor der Uraufführung Dutzende von Bühnen haben. Ich erkläre mir das so, ... dass eine Oper, die nicht fertig ist ... selbstverständlich im Nachteil sein musste gegen bereits mit verschickbarem Klavierauszug fertige Opern ... So stehen 71
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wir vor dem unerfreulichen Resultate, dass es für Freund und Feind den Anschein haben muss, als begegnete ein viel aufgeführter Opernkomponist, der nach dem Erfolge der Toten Stadt steht, mit seinem neuen Werke einem unverständlich geringen Interesse ... Und in dieser Stimmung kommt mir unwillkürlich auch die sonstige gegenwärtige Vernachlässigung von Erichs Musik in Deutschland zu Bewusstsein. Gewiss ist die ›Konkurrenz‹ in letzter Zeit gewachsen; auf allen Musikgebieten ist eine Produktion in die Halme geschossen, für die Presse, Musikzeitungen ... Propaganda machen. Und gewiss muss Erich seinen fabelhaften Aufstieg seit den Wunderkindzeiten büßen, und gewiss wird er seines Vaters, seiner Abstammung und auch seiner tonalen Modernität, ja seines melodischen und dramatischen Talentes wegen von der deutschen Kritik wenig wohlwollend behandelt, von der Berliner geradezu verfolgt. Gleichwohl habe ich das Gefühl, dass wir nicht alles vorgekehrt haben ... insbesondere aber auch seinen Rang und seine Stellung in Wien bei Publikum und Kritik nicht genug ausgenützt haben ... An irgendeine Konkurrenz mit H[indemith] denkt Erich wirklich nicht. Warum sollte es nicht zwei oder mehrere junge Komponisten mit Bühnentalent und Bühnenerfolg geben? Und H. ist sicher das stärkste Talent unter den Atonalen (vielleicht das einzige), wenn auch leider meines Erachtens ein gründlich missgeleitetes, was die [Paul] Bekker und [Ernst] Křenek am Gewissen haben ... Für mich ist jede ernste Diskussion seit der Ausrufung ausdrucksfeindlicher, seelenloser, klangphysiologischer, Nurbewegungs-, ja Maschinenmusik ausgeschlossen. Warum machen Leute mit solchen Grundsätzen Musik? Menschen und menschliche Konflikte sind mit den Faxereien retrospektiven Zurückgreifens auf scheinbar ausdrucksarme Formen und Formeln der älteren konzertanten Musik, bei Vernichtung des Dramatischen in Gesang und Orchester unter Wahrung tonalitätsfeindlicher ›Modernität‹ durch linear-kontrapunktische Missklänge nicht gestaltbar; von dem Verzicht auf Schönheit, Sinnlichkeit und Wohlklang ganz abgesehen.« 1927 erfolgt die Vergabe einer Honorardozentur für Musiktheorie und Komposition an Erich seitens der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Pressemeldung: »Der jüngste Musikprofessor der Welt.« 1927 wird aber auch in Hamburg Korngolds Oper Das Wunder der Heliane uraufgeführt, die bald schon in Konkurrenz mit Křeneks Jonny spielt auf gerät, die ebenfalls 1927 erstmals gegeben wurde. Erich Wolfgang Korngold 1928 nach einer Vorstellung seiner Heliane an Richard Strauss: »Hochverehrter Herr Dr.! Ich danke Ihnen aufrichtig und von ganzem Herzen für Ihre lieben und warmen Worte! Ihre gütige Anerkennung macht mich froh und stolz! Nehmen Sie meinen innigsten Dank sowie die Versicherung meiner Treue und meiner Verehrung! Ihr ergebener...« Von Julius Korngold verfasster und von Erich unterzeichneter Brief an den Chefredakteur des New Yorker Musical Courier 1928 über die Rivalität von Křeneks Jonny spielt auf und der Heliane: »Ihr Wiener Berichterstatter konsBER N D O. R ACHOLD
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truiert eine Art Misserfolg meiner Oper, berichtet mangelndes Interesse des Publikums, fruchtlose Anstrengungen der Direktion, das Publikum ins Haus zu bringen u.s.f. Er entstellt damit die Wahrheit, berichtet Unwahrheiten ... Ich bin umsomehr berechtigt, diese Berichterstattung als eine tendenziöse zu bezeichnen, als der Berichterstatter Herr Paul Bechert bereits Jahre hindurch gegen meinen Vater, der den Tendenzen der atonalen Musikpartei überzeugungstreue kritische Gegnerschaft entgegenbringt, sich verunglimpfender Ausstreuungen beflissen und mich, der der Sohn dieses Kritikers ist und auch als moderner Komponist seine eigenen, von Parteien und Richtungen unberührten Wege geht, mit Herabsetzung verfolgt hat ... Und auch anlässlich der jüngsten Jonny-Aufführung in Wien hat Herr Paul Bechert durch eingestandene Provozierung eines Applauses bei einem unsachlichen Angriff des Jonny-Autors gegen meinen Vater und mich von neuem seine Gesinnung dokumentiert.« Schott 1928 zum gleichen Thema: »Das Martyrium, welches Sie durchmachen, steht mir lebhaft vor Augen und Sie können versichert sein, dass wir alle innigen Anteil daran nehmen. Wir verehren Sie für Ihre Tapferkeit und Überzeugungstreue, die in Ihrem Beruf wirklich zu den Seltenheiten gehört.« Aber »... der sensationelle Erfolg von Jonny lässt sich nicht abstreiten und es ist nicht schwierig, diese Tatsache auszunutzen. Es ist also ungerecht, wenn Sie von meinem Verlag erwarten, in ähnlich marktschreierischer Weise ein Werk zu vertreiben, welches tief und still sich an diejenigen Kreise wendet, welche außerhalb der augenblicklichen Zeitströmung stehen.« 1928 erfolgte der Umzug in die Wiener Sternwartestraße 35, wo der zweite Sohn, Georg, geboren wird. Mehr und mehr wendet sich Erich Wolfgang Korngold als Dirigent und Bearbeiter den Operetten von Johann Strauß zu. Bald gilt er als Strauß-Experte. Weite Verbreitung findet vor allem seine Bearbeitung der Fledermaus, die er 1929 gemeinsam mit Max Reinhardt herausbringt. Dem Vater missfällt das Engagement seines Sohnes in Sachen Operette. Erich Wolfgang Korngold 1928 an Luzi über die von ihm bearbeitete Strauß-Operette Cagliostro in Wien: »Kritiken über C alle fabelhaft. Nie habe ich so uneingeschränktes Lob über eine Oper von mir gelesen. Aber – was soll man machen? Die Welt ist verseucht...« Julius Korngold 1932 nach einer europaweiten Radio-Übertragung der Johann Strauß-Korngold-Operette Das Lied der Liebe an Erich: »Dank für Deine Neujahrs-Depesche. Ich wünsche Dir & zugleich mir einen Weg aus dem Operettensumpf & einen guten Operntext! Das möchte ich alter Mann noch erleben! Gestern sprach ich auf der Hohen Warte mit [Clemens] Krauss [Wiener Operndirektor]. [Ludwig] Herzer [Librettist] war gleich zu [Lothar] Wallerstein [Regisseur] gelaufen, um ihm Änderungen im Cagliostro anzutragen – man soll nicht vor diesen Operettenhyänen reden – und Krauss fragte mich, wann Du zurückkommst, um mit Dir darüber reden zu können. Ich verhielt mich reserviert und sagte ihm ablenkend nur beiläufig, dass Du in Berlin mit [Heinz] Tietjen [Operndirektor] wegen der restlichen Aufführungen 73
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der Toten Stadt sprichst – um ihn verhüllt an diese wichtige Angelegenheit zu erinnern. Wenn Du wieder nach Wien kommst, kannst Du ruhig diese Tote St.-Wiederaufnahme (ohne neue Dekorationen) betreiben; es ist ein Skandal, dass bei diesem Opernmangel ein Werk wie dieses in diesem Jahre gar nicht aufgeführt worden ist! ... Ich schreibe Dir Brief über Brief, mein Kind, ohne von Dir eine Zeile gewürdigt zu werden! ... Dein alter Vater.« Und später: »Du bist mein geliebtes Kind, aber ich bin nicht Dein geliebter Vater. Hast Du mich denn ganz vergessen? 17 Tage im Sanatorium und keine Zeile von Dir!« Julius Korngold im Jänner 1933 an Erich: »Erinko, geliebtes Kind, Du warst und bist der Einzige, der Licht in mein Leben gebracht hat und Du wirst mir täglich mehr entfremder, weil ich Dich nicht auf den Wegen Deines großen Talents sehe, sondern in diese Kleinarbeit verstrickt und weil ich Dich immer mehr an die Ferne abgeben muss. Das Alter, das Alter! Wenn die leiblichen Beschwerden erträglich sind, wachsen die seelischen; das Gefühl, unnütz, überflüssig zu sein. Ringsum sterben die Menschen, verarmen oder fallen in Trübnis. Tag reiht sich an Tag und das schwarze Nichts kommt immer näher. Finstere Gedanken für Dich, der Du in heiterer Operettentätigkeit steckst. Krauss kündigt eine Oper von Křenek an, die noch gar nicht fertig ist. Von Dir – Cagliostro. Du bist schon ganz eingeschachtelt für diese Bande, die auch sonst wirtschaftet, wie es ihr beliebt. Im Parlament hat man mich wegen meiner Kritik über Bettler Namenlos [von Robert Heger] angegriffen. Gebt acht auf Euch. Du weißt schon von Ceterum censeo: Vor meinem Tod noch eine Oper von Dir! Grüße mir Luzi!« Noch einmal wendet sich Erich Wolfgang Korngold einem Opernprojekt zu: Nach Heinrich Eduard Jacobs Drama Die Magd in Aachen schreibt er Die Kathrin, die weder in Deutschland noch in Österreich ein Theater findet und erst 1939 in Stockholm ihre Uraufführung erleben soll. Schott im November 1932 zum neuen Opern-Projekt Die Magd in Aachen (=Die Kathrin) an Erich Wolfgang Korngold: »Den Textentwurf haben wir nach allen Seiten hin geprüft und sind, wie ich ja schon befürchtete, zu der einstimmigen Überzeugung gekommen, dass es gänzlich ausgeschlossen ist, dieses Thema heute auf einer deutschen Bühne zu bringen. Die Erbitterung über die Besatzungszeit und die traurigen, Deutschland auferlegten Erniedrigungen sind zu groß, um ein derartiges Thema menschlich oder historisch heute schon zu behandeln ... Es ist überhaupt nur nötig, eine Ouvertüre und Musik für die ersten 3 Minuten zu komponieren, weiter käme man nicht, da der Lärm des Publikums nach Aufgehen des Vorhangs, sobald belgische Soldaten und die Kaserne auf der Bühne sichtbar werden, garantiert so groß sei, dass man von dem Rest der Musik doch nichts mehr hört. Man ist so überzeugt, dass nicht nur die Nazi, sondern alle rechtsgerichteten deutschen Parteien in diesem Problem eine der willkommensten Propaganda-Gelegenheiten erblicken, um Demonstrationen zu veranstalten, dass kein deutsches Theater das Stück annehmen könnte.« BER N D O. R ACHOLD
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Dazu Heinrich Eduard Jacob an Erich Wolfgang Korngold: »Wie, Sie sind in Deutschland auf Schwierigkeiten gestoßen? Aber das ist mir unfassbar!« Im Oktober 1934 reist Erich Wolfgang Korngold nach Hollywood zu Filmarbeiten. Max Reinhardt hatte ihn dorthin berufen, um die Musik zu dessen Verfilmung von A Midsummer Night’s Dream zu schreiben. Erich im Dezember 1934 an seinen Freund, den Komponisten Julius Bittner: »Habe bereits einen 5-jährigen Antrag mit Höchst-Summen erhalten. Der neue Operndirektor und Herr Hitler mitsamt dem nächsten Krieg können mich also – du weißt: was! Aber Wien, Wien (›Donau wird weitergehen, und gʼsungen wird werdʼn!‹) Höselberg, und die lieben Leutlʼn – wir kommen zʼrück!!« Julius Korngold im September 1935 an den Komponisten Joseph Marx: »Hochverehrter Herr Hof- und Staatsrat! Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Sie in einem Artikel, in dem Sie für vernachlässigte österreichische Opernkomponisten eintreten, gerade den doch so auffällig zurückgesetzten Erich Wolfgang Korngold unerwähnt ließen. Ich erlaubte mir zu entgegnen, dass Sie, mit mir und Erich lange befreundet, immer Ihr Wohlwollen und Interesse für Erich versichert haben, so dass Ihr Verhalten auch diesmal – wie wohl bisher in ähnlichen Ihrer Veröffentlichungen – nur auf ein ›zufälliges Versehen‹ zurückgeführt werden kann. Erich, der, weil eben in den letzten Jahren von den deutschen Atonalen boykottiert und in Wien übergangen, an der Seite eines großen Künstlers der Szene Strauß und Offenbach künstlerisch bearbeitet hat und an gleicher Stelle nun in Hollywood Filmmusik auf ein höheres Niveau zu heben sucht, wird übrigens diese und ähnliche Erfahrungen zu verwinden wissen.« Die Wiener Staatsoper im Jänner 1936: »Herr Staatssekretär Dr. Perntner gibt die Weisung, auf die Staatsoper zu wirken, dass die Wiederaufnahme der Oper Die tote Stadt ehestmöglich in Betracht gezogen wird. Es erscheint wünschenswert, den Spielplan durch das Werk eines österreichischen Komponisten zu bereichern und es erweist sich Die tote Stadt in Anbetracht ihrer Qualität und erwiesener Attraktivität hierzu als geeignet.« Es findet eine einzige Aufführung der Toten Stadt am 6. Mai 1936 statt. Walter Abendroth im März 1936 in Die Musik: »Wir brauchen hier über Wesen und Wollen des Opernjudentums nichts Näheres auszuführen, weil wohl noch frisch genug in allgemeiner Erinnerung lebt, mit welcher Rücksichtslosigkeit das Aneignungstalent eines Korngold uns aufgedrängt wurde. So hat z.B. in Hamburg jahrelang eine ausgesprochene Korngold-Vergötterung geblüht.« Im Jänner 1937 nimmt der Wiener Musikverlag L. Doblinger die Herausgabe von Julius Korngolds drittem Buch Atonale Götzendämmerung an. Zu einer Veröffentlichung kommt es nicht mehr. Hanns Robert Korngold im Jänner 1937 an seinen Bruder Erich, der gerade in den USA weilt: »Hitlers Rede wird von Radio Wien übertragen, bei einer auszugsweisen Wiederholung werden die Stellen gegen die Juden, die ›inter 75
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nationalen Giftmischer‹ besonders hervorgehoben ... Ein Zivilrichter trennt eine Ehe wegen ›Rassenverschiedenheit‹. Deutsche Wissenschaftler kommen und halten Vorträge über ›Blut und Rasse‹, Herr [Leopold] Reichwein, der Nazi, dirigiert ab Feber wieder, ›Deutsche‹ Trachtenfeste zieren den Fasching, die offiziöse ›Reichspost‹ sinkt jeden zweiten Tag der Germania in die Arme. Kurz, auf kaltem Wege vollzieht sich das Befürchtete. Da hilft leider kein schamhaftes Weg-Schauen...« Im Wiener Rotenturm-Kino laufen 1937 die Korngold-Filme Anthony Adverse und Prinz und Bettelknabe. Zu Beginn des Jahres 1938 weilt Erich Wolfgang Korngold erneut in Hollywood, um die Musik zum Film Robin Hood zu schreiben. Julius Korngold am 26./29. Jänner 1938 an Erich: »Mein geliebtes Kind! Wieder einmal bin ich im Alter verwaist … Ich denke immer an das veränderte Hauptthema von [der Konzert-Ouvertüre] Sursum Corda für den Volkshelden und Räuberhauptmann [Robin Hood]. Auch das accordische Übergangsthema (das ich so liebe) ist zu brauchen! ... Ich sende Dir einen Volksgesang von Robin Hood, den ich vom Musikarchiv der Universitätsbibliothek entdeckt habe ... Was sagst Du zu Deutschland? ... Man muss parat sein.« Und am 16.2.1938: »Der Anfang vom Ende. Ich bereite hier alles vor, falls eine Abreise nötig werden sollte. Und zwar rechtzeitig, verlass Dich auf mich und meine Nerven. Man kann nicht genug umsichtig den Ereignissen entgegensehen. Und ich, der stigmatisiert bin und Feinde hat, kann ein Verbleiben in NaziSphäre oder gar Kriegsgrauen nicht riskieren.« Und am 6.3.1938: »Ich weiß es, mein Kind, Du wirst Deine alten Eltern, bei Bedrohung an der Menschenwürde, Existenz, am Leben nicht zu Grunde gehen lassen ... Das sage ich alles nur, weil Du um keinen Preis zurückkommen darfst! ... Vielleicht rettet Gott Österreich ...« Am 9.3.1938 erklingt im Mozart-Saal des Konzerthauses Wien ein vorerst letztes Mal eine Korngold-Melodie. Milan Timotitsch singt »Glück, das mir verblieb«: am nächsten Tag fliehen die Korngold-Familien über die Schweiz ins USExil. Am 12.3.1938 okkupieren Hitlers Truppen Österreich. Wiener Zeitung am 24.3.1938: »Das neue Antlitz des Wiener Theaters. – ... Es ist zu hoffen, dass das Wiener Theater nach seiner Säuberung von undeutschen Menschen seine künstlerische Aufgabe als Stätte geistiger Kräfteentfaltung wieder erfüllen wird.« Luzi Korngold in ihren Erinnerungen: »Auch für die Eltern war bald ein Häuschen gefunden. Meine Mutter und Schwester, mein Bruder mit Familie waren bereits unterwegs, aber täglich kamen mehr und mehr herzzerreißende Bitten von Familienmitgliedern, Freunden, sogar Fremden, ihnen zur Auswanderung nach Amerika zu verhelfen. Erich hatte eine so große Anzahl Affidavits ausgestellt, dass seine Bürgschaft schließlich abgelehnt wurde. Aus Erich, dem heiteren Lebensbejaher, war ein Pessimist geworden.« Julius Korngold im September 1938 an Erich: »Du bist doch überzeugt, dass das Los der Juden in Europa für lange entschieden ist, dass Deine Zukunft jetzt in BER N D O. R ACHOLD
→ Brügge, Quai du Miroir, um 1910
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Amerika liegt. Dann müsstest Du doch, wie jeder andere jüdische Komponist, Musiker, Künstler Mittel und Wege, Möglichkeiten, Beziehungen in Amerika für das Bekanntwerden Deiner Werke, daher auch für Opernaufführungen suchen ... Allerdings ... ich weiß, dass Dir mein Rat nichts mehr gilt, dass ich – nach beglückenden Anfängen in Hollywood – für Dich abgetan bin ... Darüber kann keine Täuschung sein ... Dir scheine ich ein unbequemer Mahner geworden zu sein, mit zu offenen, durch dezennienlange Fürsorge für Dich geschärften Augen für das, was meinen Vorstellungen von Deiner amerikanischen Tätigkeit und Geltung nicht ganz entspricht, ja auch für eine gewisse, Dir selbst nicht ganz zu Bewusstsein gelangte innere Unzufriedenheit.« Erich Wolfgang Korngold zu Weihnachten 1938 an Julius: »Gänzlich unvorstellbar, unerträglich und daher vollkommen ausgeschlossen ist jedoch für mich der Gedanke, dass ich mir hier im neuen Land, in neuer Heimat, als reifer Mann, zwischen meinem 40. und 50. Lebensjahr, unter neuem Himmel die alte Hölle aufbauen sollte. Denn eine solche Hölle wäre es, sollte ich die ganzjährige Fortsetzung und Wiederholung des alten Zustandes mit all seinen aufreibenden Aufregungen stillschweigend auf mich nehmen müssen, ein Zustand, der einfach darin besteht, dass unsere Beziehungen infolge des jahrelangen angehäuften, zurückgedrängten, niemals durch eine sachliche Aussprache aus der Welt geschafften Unfrieden-Materials ein Beisammensein mit Euch zu keinem angenehm-erfreulichen oder auch nur harmlosen, in dem man offen über alles Persönliche oder Unpersönliche sprechen kann, gestalten.« Und weiter im Februar 1939: »Lieber Papa, wenn Du meine Achtung vor Dir, dem Vater, dem Menschen, nicht in alle Trümmer geschlagen sehen und Du ferner willst, dass ich in den kommenden 6 Wochen, deren tägliches Arbeitspensum höchste Concentration, freien Kopf und einigermaßen ruhige Nerven meinerseits beansprucht, etwas schaffen soll, ohne durch Aufregungen gelähmt und zerbrochen zu werden, so lass Dich ein letztes mal von mir beschwören: bezähme Deinen unseligen Dämon ...« (Handschriftlicher Vermerk Juliusʼ auf diesem Briefe: »Unglaubliche Anschuldigungen eines lange durch Hetze entfremdeten, undankbaren Kindes.«) Reichskulturkammer Berlin am 11.9.1940: »Prof. Erich Wolfgang Korngold, Volljude. Dt. [sic!] Staatsangehörigkeit aberkannt.« Erich Wolfgang Korngold 1942 an seine Eltern aus New York von der dortigen Max Reinhardt-Korngold-Produktion der Fledermaus als Rosalinda: »Der Erfolg ist nachhaltig, die Leute sitzen mit denselben strahlenden Gesichtern wie in Berlin; ich werde vor jedem Akt begrüßt und wenn ich nach dem II. Akt auf die Bühne komme, geht der gewisse angenehme ApplausAufschrei durchs Haus ... Morgen feiern wir den 30. Geburtstag von Kaiser Otto, im ›Essex House‹ eingeladen.« Joseph Reitler 1942 aus New York an seinen ehemaligen Kollegen Julius Korngold: »Ich sprach mit Erich auch über die Komposition einer neuen Oper. Da antwortete er mir, er habe es verlernt, für seine Schreibtischlade zu arbeiten. BER N D O. R ACHOLD
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So wie die Theaterverhältnisse jetzt sind, habe ein neues Werk so gut wie keine Chance. ›Wenn ich für Warner komponiere, so dirigiere ich am nächsten Tag meine Musik und ein paar Monate später läuft die Musik schon in hunderten Theatern. Dadurch bin ich zu verwöhnt, um auf lange Sicht zu arbeiten.‹ Ich fühle ihm das so nach. Ich schreibe und schreibe, aber kein Mensch interessiert sich dafür.« Handnotiz Luzi Korngolds zu einem gemeinsamen Filmbesuch mit der Musik von Erichs Wiener Kollegen Max Steiner: »Erich: Ich finde, der Steiner wird immer besser – und ich immer schlechter. – Ich widerspreche empört. – Erich: Weißt Du warum? Der Steiner versucht mich zu kopieren und ich versuche es ihm nachzumachen.« Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg mit der Kapitulation des Deutschen Reichs. Marem Somer vom Free Austrian Movement am 14.5.1945 an Erich Wolfgang Korngold: »Lieber Freund! Österreich ist befreit. Die Nazihorden sind niedergerungen. Der Wiederaufbau unseres Heimatlandes und die Einreihung Österreichs unter die wahren Demokratien Europas, das sind gewaltige Aufgaben, denen wir jetzt gegenüberstehen. Österreich mit seiner alten Kultur, die Stätte von Kunst und Wissenschaft, muss und wird wieder erstehen...« Julius Korngold stirbt am 25.9.1945. Als Ironie der Musikgeschichte schreibt ein in Juliusʼ Erinnerungen nie namentlich genannter, stets nur als »Jago« bezeichneter Kritikerkollege einen Nachruf im New Yorker Aufbau: Max Graf. »Ich habe mit meinem kritischen Kollegen ein oder zwei Jahre lang in guter Freundschaft und eine lange Reihe von Jahren in guter Gegnerschaft gelebt ... ich bin mir bewusst, dass ich seine Begabung geschätzt und seinen Ernst gewürdigt habe und dass ein verlässlicher Gegner ebenso zu dem Leben eines Mannes gehört wie ein verlässlicher Freund. Korngold arbeitete seine Kritiken wie eine juristische Satzschrift durch, mit Pros und Contras in jeder Zeile. Er war übergründlich in der Ausarbeitung seiner Artikel ... Er hat gewiss die Überzeugung gehabt, der Gerechteste aller Gerechten zu sein. Er war es ebenso wenig wie jeder andere Kritiker, der Neigung und Abneigung, Liebe und Hass kennt. Aber er war kenntnisreich, gebildet und hat sein Metier ernster genommen als viele andere Musikkritiker ... In einer Zeit des Niederganges großer kritischer Kunst vertrat er mit allen seinen Fehlern noch immer eine große Tradition ... Als Korngold nach Amerika flüchtete, fand er die meisten großen modernen Musiker, denen er so kunstvolle Kränze aus Stacheldisteln geflochten hatte, von Schönberg bis Bartók, gefeiert und anerkannt wieder. Diesen Prozess hat der Musikkritiker verloren.« Aus dem Korngold-Archiv. Ediert und kommentiert von Bernd O. Rachold Die Wiener Staatsoper dankt der Korngold-Foundation für die Erlaubnis zum Abdruck dieser teilweise bisher noch unveröffentlichten Dokumente.
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» … EIGEN T LICH H A BE ICH E S IM MER N U R F Ü R PA PA GETA N. «
Arthur Schnitzler
TRAUM Er träumte diese Nacht von der Toten. Er sah sich mit ihr in der Waldgegend, wo sie den letzten Sommer verbracht hatten; sie lagen zusammen auf einer sehr weiten, lichtgrünen Wiese, nur ihre Wangen lehnten und glühten aneinander; aber diese leichte Berührung erfüllte ihn mit einem so hohen Glück, wie er es nie in der leidenschaftlichsten Umarmung empfunden. Plötzlich war sie fort, und er sah sie am Ende der Wiese längs des Waldrandes hinlaufen, die Arme in die Luft gestreckt, so wie er in einer illustrierten Zeitung tags vorher ein Ballettmädchen gesehen, das sich vor den Flammen retten wollte. In diesem Augenblick empfand er mit einer Deutlichkeit, wie nur der Traum sie gibt, dass es vollkommen unmöglich für ihn wäre, den Verlust zu überleben, und doch blieb er im Grase liegen und tat nichts, als dass er fürchterlich schrie. Darüber wachte er auf und hörte sich selbst jammern. Durch das offene Fenster klangen die ersten unentwirrbaren Laute der Frühe, deutlich hörte er nur das Gezwitscher der erwachenden Vögel aus dem Stadtpark. Niemals früher hatte ihn seine Einsamkeit mit einem solchen Grauen erfüllt wie heute. Was er für die Frau empfand, die eben im Gras neben ihm geruht und deren lebenswarme Wange er an der seinen ruhen gefühlt, erfüllte ihn mit einer Sehnsucht nach ihr, die so ungeheuer und schmerzensvoll war, dass er lieber daran sterben wollte, als sie weiter erdulden. Er liebte diese Tote, wie man nur Lebendige lieben darf, mit einer verzehrenden Sehnsucht nach ihrem Besitz, er fühlte sich wieder von dem Duft ihres Leibes umhüllt, er bewegte leise seine Lippen, als wäre sie wieder bei ihm und könnte seinen Kuss empfangen. Dann rief er ihren Namen, rief ihn immer lauter, breitete seine Arme aus, erhob sich, stand auf, ließ die Arme sinken, fühlte eine Beschämung in sich aufsteigen, als hätte er sich an einer vergangen, die wie seine Freuden, so auch seine Sehnsucht und seine Träume nicht mehr teilen konnte und die er nur beweinen, aber nicht verlangen durfte. Aus: Die Nächste, 1932
A RT H U R SCHN ITZLER
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Julius Korngold
» An die Komposition schritt [mein Sohn] Erich schon in seiner Militärzeit. Es sollte ein Werk von ungewöhnlicher Stimmungskraft und strömender Invention, geschwellt vom Saft der Jugend werden. Jenes volkstümliche, seelenhafte Lied zur Laute, das es zu einer so ungewöhnlichen Popularität bringen sollte, war einer der ersten Einfälle. Der schwermütige Ausdruck dieser Melodie weckte mir bedrückende Ahnungen. Ich glaubte so etwas wie den Schwanengesang des von den Gefahren des Krieges Bedrohten herauszuhören. «
Oliver Láng
SOLCHE DINGE MÜSSEN MIT BEDACHT GEMACHT SEIN Erich Wolfgang Korngold und seine Adaptierungen der Operette
Aufs erste Hinsehen muss es wohl jener eigenartige, lichtgraue Blick gewesen sein, der von Wien über Berlin bis Hollywood stets Überzeugungsarbeit leistete: jener des Theatergotts Max Reinhardt, der Erich Wolfgang Korngold 1929 zu einer Bearbeitung der Strauß’schen Fledermaus in Berlin überredete. Die wahren Gründe aber liegen dann doch etwas tiefer, zumal es zu diesem Zeitpunkt bereits eine Reihe von früher entstandenen Bearbeitungen von Operetten in Korngolds Œuvre gegeben hatte. Rekapitulieren wir also das Schaffen des Komponisten: als Wunderkind mit der Pantomime Der Schneemann in höchste Erfolgshöhen hinaufkatapultiert, standen ihm neben dem Vater Julius, der in Hanslick-Nachfolge Kritikerpapst an der Neuen Freien Presse war, die bekanntesten Größen zur Seite: Alexander Zemlinsky, Richard Strauss, Robert Fuchs, und ein bisschen sogar Gustav Mahler. Es folgte schließlich – nach Der Ring des Polykrates und Violanta – jener große Hit, der Korngold zumindest ein Stück weit in die musikalische Unsterblichkeit tragen sollte: Die tote Stadt. Doch dann? Das Wunder der Heliane, eine mystisch-schwüle Angelegenheit, die das Publikum entzweite. Natürlich: Es kam anlässlich der Premiere der Heliane eine neue Zigarettenmarke auf den Markt, eine »vornehmere, mit goldenem Mundstück«, wie Luzi von Sonnenthal, spätere Korngold, in ihren Memoiren schreibt. Aber es gab doch eben auch diese andere Zigarette, vielleicht nicht so sehr für die Bourgeoisie, dafür aber so eminent erfolgreich: Jonny, nach der gleichnamigen Křenek-Oper benannt. Und da passierte es also, das Neue, da waren sie, jene Jazzklänge, die Erich Wolfgang Korngold, der Heliane für sein bestes Werk hielt, bei allem Publikumserfolg ein wenig in einen luftleeren Raum vorstoßen ließen. Dabei waren nur wenige Jahre vergangen, seit man den Komponisten als erstaunliches Wunderkind bejubelt hatte, – und doch scheint die Zeit denselben bereits überholt zu haben. Die Kritiken der Hamburger HelianeUraufführung dokumentieren diese doppelgleisige Situation. Einerseits das weitergeführte Lob, das den jungen Korngold als Fahnenträger einer gemäßigten Moderne preist und sich abwehrend gegenüber andere, modernere Richtungen verhält. Andererseits aber jene, bereits recht große Gruppe, die Korngold ins verspätete Eck stellt. In Erich Urbans Kommentar zur Hamburger Aufführung zeigt sich genau dieser Kulturkampf: »Das Werk: ein Anti-Jonny also, das Gegenspiel zu der Entwicklung, die die moderne Oper nimmt... Diese Heliane, Oper der Fülle, der Überladung, der melodischen, orchestralen und seelischen Überfettung. Ein letzter Ausläufer der Linie Wagner-Strauss, ein Werk der Nachromantik. Ich glaube ganz deutlich herausgefühlt zu haben, dass der Opernhörer von heute diese Nachromantik ablehnt, dass sein Herz für die muskulöse, trainierte Kunst der Jungen schlägt.« Oder ebenso deutlich Karl Holl: »Ein junger Komponist von grundmusikalischer Natur, fast gleichaltrig mit den Bahnbrechern des neuen Klangstils, lebend in einer Stadt, in der Arnold Schönberg gelehrt und produziert hat, hält fast als einziger 83
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unter seinesgleichen an den Ausdrucksmitteln der vorhergehenden Generation fest, verschwendet sein starkes Talent und sein meisterliches Können an die eklektische Auswertung ihrer Stilprinzipien, an die Bedienung ihres überzüchteten Klangapparats, zufrieden mit dem kurzlebigen Beifall einer Menge, die von jeher möglichst billig auf ihre Rechnung kommen wollte ... Die[se] ... Enttäuschung so vieler ehemaliger Verehrer des Wunderkindes ... ist nicht, wie Korngold und seine unentwegten Freunde gerne wahrhaben möchten, eine Partei-, sondern eine Existenz-Angelegenheit ... Die Frage an den Musiker lautet: kann man als Künstler die seelische Lage und den Kulturwillen seiner Epoche verleugnen?« Braucht es da noch mehr der Worte? Einerseits also dieser Heliane-Dämpfer, der die längere Phase der Oper ettenbearbeitungen eröffnete; doch auch ein zutiefst menschlicher Aspekt stand schon zuvor hinter der ersten Zuwendung zur Operette im Jahr 1923. Es war der intensive, drängende Wunsch nach einer Familie, nach Heimat und Geborgenheit, der Korngold trieb, das Wunderkind, das, wie man ja allen nachsagt, doch ein Stückchen Kindheit in dem raschen Weg nach oben eingebüßt hatte. Man braucht nur die detaillierten und liebevollen Schilderungen Luzis zu lesen, wie das Ehepaar sich der Gestaltung der Wohnsitze zuwandte, mit welcher Akribie und welchem Stimmungsdenken das Haus Höselsberg hergerichtet wurde. Da lässt sich das Sehnen nach einem inneren Stützpunkt ablesen, ebenso in Korngolds Wunsch nach Kindern. Dass ihm die Harmonie nicht ganz so beschieden war wie gewünscht, klingt in den jeweiligen Schriften seiner Angehörigen durch, denn das Klima, in dem seine Eheschließung ablief, scheint seitens seiner Eltern doch etwas kühl gewesen zu sein. Doch einerlei! Für den Hausstand brauchte es Geld – und durch das Engagement am Theater an der Wien als Dirigent (und Bearbeiter) finanzerfolgsträchtiger Operetten konnte ein gerader, schneller Weg in Richtung materieller und planbarer Sicherheit gegangen werden. Die Operette also: Elfmal wandte sich Korngold dieser Gattung zu, instrumentierte neu, richtete ein, adaptierte. Ganz in der Tradition seiner Zeit, in der es auch für einen Gustav Mahler natürlich war, Mozarts Le nozze di Figaro ein wenig umzuarbeiten. Keine große Sache – zumal Korngold mit erstaunlicher Werkgerechtigkeit an die Arbeit ging. Im Mittelpunkt sollte immer der Original-Komponist stehen, möglichst keine Einschübe fremder Hand folgen. Die folgende Aufzählung zeigt eine Übersicht der Bearbeitungen: Johann Strauß Eine Nacht in Venedig UA 1923, Wien Johann Strauß Cagliostro in Wien UA 1927, Wien Leo Fall Rosen aus Florida UA 1929, Wien Johann Strauß Die Fledermaus UA 1929, Berlin Johann Strauß Walzer aus Wien UA 1930, Wien Jacques Offenbach Die schöne Helena UA 1931, Berlin OLI V ER LÁ NG
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Johann Strauß Das Lied der Liebe UA 1931, Berlin Leo Fall Die geschiedene Frau UA 1933, Berlin Johann Strauß Rosalinda (nach Die Fledermaus) UA 1942, New York Jacques Offenbach Helen Goes To Troy (nach Die schöne Helena), UA 1944, New York Johann Strauß The Great Waltz (nach Walzer aus Wien), UA 1949, Los Angeles Und ist es ein Wunder, dass Eine Nacht in Venedig am Beginn stand, jenes Werk, das nach seiner misslungenen Premiere bereits von Johann Strauß selbst nachbearbeitet wurde? Durch die von Alexander Girardi veranlassten Umschichtungen der Schlagerarien war das Werk später ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten, da war eine Nummer wie »Sei mir gegrüßt, du holdes Venezia« aus Korngolds Bearbeitungsfeder gerade recht. Doch selbst bei solchen Einschüben legte er nur so weit Hand an, als es unbedingt notwendig war. Die besagte Arie etwa stammt nicht von ihm, sondern tatsächlich auch von Strauß – nur eben aus einem anderen Werk: dem Simplicius. Vor allem aber wollte man den Moden der Zeit gehorchen. Das Tanzduett, das seit der silbernen Operette einfach dazugehörte, wurde eingefügt, das Buffopaar (bei dem es immer weniger ums Singen als ums Tanzen und Klingen ging), rückte näher zum Mittelpunkt, gestopfte Trompeten kamen als Klangfacette hinzu. Doch all diese Anforderungen erfüllte Korngold mit Anstand, vielleicht, weil er sich als Komponist »dem Kollegen« verpflichtet fühlte, blieb bei allem Anpassen das Werk immer noch das Werk – nur halt mit ziemlich viel modebewusstem Anstrich. Dann rief Max Reinhardt. Aus dem ersten Plan, Pariser Leben zu adaptieren, wurde nichts, da Korngold das Stück als zu schwach einstufte, doch aus dem Gespräch entsprang ein Projekt, bei dem der Komponist nicht nein sagen konnte: eine Aufführung der Fledermaus. In zwei Wochen wurde für Berlin eine neue Fassung herausgebracht, eine Mischung aus Darstellerinnen und Darstellern sorgte für eine glänzende Premiere, die an die 100 Wiederholungen erlebte. Umgestellt wurde nicht nur einiges in der Musik, auch die Handlung erfuhr manche Korrekturen wie etwa durch ein Vorspiel (unterlegt mit dem Walzer Geschichten aus dem Wienerwald), das Falke im Fledermauskostüm zeigte und somit eine Einführung in die Vorgeschichte bot. Der Erfolg war so groß, dass ein Yehudi Menuhin noch Jahrzehnte später von seiner damaligen Begeisterung berichtete. Doch die Arbeit mit den Walzermelodien ging sogar noch tiefer: Aus der nachgelassenen Musik von Leo Fall etwa kreierte man ein gänzlich neues Werk – Rosen aus Florida. Alfred Maria Willner und Heinz Richter schrieben ein Buch, Korngold suchte Musikstücke zusammen und gruppierte sie neu: à la Wiener Blut! Eine Methode, die auch bei Walzer aus Wien angewandt wurde, einer Geschichte aus dem Leben der Familie Strauß, die Heinz Richter und Ernst Marischka zu einem Libretto 85
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verflochten. Der Kaiserwalzer und andere bekannte Melodien erklingen in der Operette, darunter geschoben ein Text, der im Stil stark an seine Zeit gemahne: »Ob ja, ob nein, das will überdacht sein / Freundchen, muss das heutʼ über Nacht sein? / Ehesprünge, solche Dinge müssen mit Bedacht gemacht sein.« Um aber die Spannung zwischen Textfärbung und Musikstil auszugleichen, griff eben die Instrumentierung von Korngold ein, indem an Orchestergröße, Klangfarbe und Instrumentenbesetzung gefeilt wurde. Das Ergebnis war eine deutlich sattere, schwülstigere und aufgeheiztere Atmosphäre, die mit Effekten nicht spart. Musikalische Erfahrungen, die Korngold, der sich hier als ausgezeichneter Handwerker präsentiert, vor allem auch bei seiner späteren Filmarbeit gut einsetzen konnte. Man denke nur an den Reinhardtʼschen Sommernachtstraum! Weiter gingʼs mit Reinhardt (dem man nichts abschlagen konnte, wie nicht nur Luzi Korngold berichtet), der eine Schöne Helena produzierte, bei der Korngold aus Zeitnot sogar ein wenig Eigenkomponiertes beisteuerte. Und Karl Kraus wäre nicht Karl Kraus, wenn er nicht solche Eingriffe seitens des jeweiligen Produktionsteams beanstandet hätte: diesmal also war Reinhardts Regie eine »Fleischparade der schönen Helena«, Egon Friedells sprachgewandte Bearbeitung immerhin ein Mittel, »von der eigentlichen Schändung der Helena-Musik durch Korngold junior abzulenken«. Doch die Bearbeitungen erfüllten ihren Zweck: Rosalinda, die New Yorker Adaptierung der Berliner Fledermaus, war die erste Inszenierung dieses Stoffes, die in New York Erfolg hatte. Korngolds Einschübe wie ein Duett aus Ritter Pázmán, der Walzer Wein, Weib und Gesang, oder die Aufwertung des Balletts fanden Anklang. Doch die Zeit der Kombination aus Praktiker/ Komponist/Kapellmeister neigte sich dem Ende zu, die Epoche der Bearbeitungen war allmählich vorüber und am Horizont ließen erste Anzeichen die Ankunft einer neuen »Werkgerechtigkeit« vermuten. Nun ging es darum, einen möglichst unverfälschten Strauß oder Offenbach zu präsentieren, sich an den Urtext heranzuwagen. Korngolds Änderungen, die ja auch Ausdruck einer (klanglichen) Mode waren, mussten der nächsten Mode weichen, nur in der Nacht in Venedig, beim »Holden Venezia«, kann man bis heute in vielen Aufführungen den musikalischen Klangabdruck Korngolds noch erkennen.
→ Erich Wolfgang Korngold und Max Reinhardt in Hollywood
SOLCHE DINGE MÜS SEN MIT BEDACH T GEM ACH T SEIN
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Andreas Láng
UND SIE LEBT DOCH…
Die Aufführungs geschichte der Toten Stadt in Wien
»Er ist wieder da! Er hat das kritische Jahrzehnt, das nach dem Tod das Werk jedes Autors bedroht, umschifft!« So titelte ein deutscher Taschenbuchverlag in den 1980er Jahren auf dem Buchrücken einer mehrbändigen Ausgabe der Werke des zu Lebzeiten ungemein populären Romanciers Jules Verne. Diese beiden Sätze lassen sich geradezu wörtlich auf Erich Wolfgang Korngold und seine Tote Stadt übertragen – und sind weltweit genauso wie in seiner ehemaligen Heimatstadt Wien gültig. Zwar handelt es sich nicht um bloß ein Jahrzehnt, sondern um rund ein halbes Jahrhundert – wenn man bedenkt, dass das Interesse an Korngolds erfolgreichstem Bühnenwerk schon zu Lebzeiten des Komponisten deutlich nachgelassen hatte. Natürlich ist das Wiedererwachen nicht mehr so stürmisch wie die ursprüngliche Begeisterung, dafür jedoch vermutlich andauernder. Aber blenden wir zurück an den Jahresbeginn 1921: Nur fünf Wochen nach der überaus erfolgreichen Doppeluraufführung der Toten Stadt in Hamburg und Köln kam es am 10. Jänner zur langvorbereiteten und -erwarteten Wiener Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. Hier, in der Hauptstadt der jungen österreichischen Republik, in der Erich Wolfgang Korngold aufgewachsen war, fühlte man sich von Anfang an unter Zugzwang. Um jeden Preis sollte das Hamburger/Kölner Ergebnis in den Schatten gestellt werden. Bereits im Spätsommer 1920 hatten die Klavierproben begonnen, zum Teil unter Aufsicht des Komponisten. Und in der Frage der Besetzung war das Beste gerade gut genug: Der Musikdirektor der Wiener Staatsoper Franz Schalk übernahm selbst die musikalische Leitung, als Marietta/Marie konnte Maria Jeritza und für die schwierige Partie des Paul Karl Aagard Østvig gewonnen werden. In ständiger Rücksprache mit Erich Wolfgang Korngold – zum Teil auf brieflicher Basis – entwickelten keine Geringeren als Erich von Wymétal und Alfred Roller Inszenierung und Bühnenbild. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden, die modernsten technischen Errungenschaften wurden angewandt, genau ausgetüftelte und beeindruckende Beleuchtungseffekte entwickelt. (Kein Wunder also, dass in den Kritiken sogar der »Beleuchtungsinspektor Beck«, der namentlich auf den Besetzungszetteln gar nicht verzeichnet war, lobende Erwähnung fand.) Umso größer das interne Unbehagen aller Beteiligten, als die Generalprobe weit unter den Erwartungen blieb. Luzi Korngold, die Gattin des Komponisten, berichtet in ihren Erinnerungen: »Erich nahm mich zur Generalprobe mit. Ich war … bitter enttäuscht. … Ich war erschrocken, umso mehr, als ich Erichs besorgtes, betroffenes Gesicht bemerkte.« Doch wie so oft in der Theaterpraxis, folgte der mäßigen Generalprobe eine umso hervorragendere Premiere. Und am Ende der Vorstellung durfte Korngold zum Teil mit den Darstellerinnen und Darstellern gemeinsam, zum Teil auch mehrfach alleine vor den Vorhang treten und den Jubel des Publikums entgegennehmen. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, war auch das Presseecho geradezu euphorisch. Der Musik wurde die Nähe zu Puccini, Strauss und Mahler nicht abgesprochen, gleichzeitig aber die trotzdem eigenständige Tonsprache des Komponisten 89
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hervorgehoben. So etwa in der Neuen Freien Presse: »Die Deklamation mit ihren Bögen und Luftpausen ist durchaus eigenartig und für Korngold ebenso charakteristisch wie die diesmal besonders betonte Vorliebe für Vorhalte, Portamenti und dreimal ansetzende Steigerungen.« Nicht unamüsant freilich war die Bewertung des Textbuches. Dass sich hinter dem Pseudonym Paul Schott der Vater des Komponisten, Julius Korngold, verbarg, wusste damals nur ein eingeschworener Kreis – zu dem auch Josef Reitler, der Rezensent der Neuen Freien Presse gehörte. Kein Wunder, immerhin war Julius Korngold, der direkte Nachfolger Eduard Hanslicks, als Ressortleiter sein Vorgesetzter und zugleich beruflicher Mentor. Inwieweit die obige Besprechung – die in Form und Aufbau jenen des Kulturchefs stark ähnelte – tatsächlich in Eigenregie entstanden war, wird wohl nie zu klären sein. Der Absatz über das Libretto konnte kein Zufall sein: »Dieses sprachlich ungemein sorgfältig gearbeitete und auch in der szenischen Führung ungewöhnlich hochstehende Textbuch, musste Erich Wolfgang Korngold reizen«, heißt es da. (Wie gut das Verhältnis der beiden Kritiker tatsächlich war, lässt sich in der Autobiographie Julius Korngolds ablesen, der sich dort sehr wohlwollend und freundschaftlich über den jüngeren Kollegen äußert.) Dass aber Erich Wolfgang Korngold der Sohn des berühmten Kritikers war, wusste selbstverständlich jeder in Wien. Und so konnten bei den Kollegen in anderen Zeitungen kleinere Seitenhiebe – bei insgesamt wohlwollender Besprechung – nicht ausbleiben. So etwa in der Wiener Zeitung in Anspielung auf den Vorgänger Julius Korngolds: »Dass der Komponist häufig harmonisch und instrumental, wie Hanslick sagt, in Superlativen spricht, soll nicht geleugnet werden.« Den anfänglich großen Publikumszuspruch dokumentiert wohl die Anzahl der Aufführungen am besten. Insgesamt 18mal ging das Werk allein im ersten Jahr über die Bühne, um dann bis 1927 durchgehend im Repertoire zu bleiben. Zusätzlichen Reiz gewannen manche Vorstellungen, in denen der Komponist selbst ans Pult trat – in den ersten Jahren immerhin 12mal. Und achtmal sang Korngolds Ideal-Paul Richard Tauber, der diese Partie auch in Dresden, bei der Berliner Erstaufführung sowie mit Maria Jeritza als Marietta/Marie auch an der Metropolitan Opera verkörperte, die männliche Hauptrolle. Da Erich Wolfgang Korngold mit 9 Prozent Tantiemen am Erfolg beteiligt war, dürfte auch der finanzielle Gewinn nicht allzu schlecht ausgefallen sein. Doch nun wurde es nach und nach stiller um die Tote Stadt. 1929 folgten noch zwei, 1930 gar nur mehr eine Vorstellung. Am 8. Juli 1932 versuchte die Wiener Staatsoper mit einer Neueinstudierung, das Interesse wiederzuerwecken. Diesmal hatte man Egon Pollak, den Dirigenten der Hamburger Uraufführung, verpflichtet, und auch Maria Jeritza verkörperte erneut die Marietta/Marie. Die Zeitungen warfen sich für die Oper in die Schlacht, doch die Ausbeute war eher gering: Zwei Aufführungen im ersten Jahr sowie jeweils eine in den beiden folgenden. Interessant ist in diesem Zusammenhang in erster Linie wieder die Neue Freie Presse (abermals Josef A N DR EAS LÁ NG
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Reitler), denn sie berichtet von Änderungen in der Partitur, die Korngold persönlich vorgenommen hatte. Eine genauere Auskunft, welche Stellen betroffen waren, verschweigt Reitler jedoch und ergeht sich erneut in Hymnen an den Librettisten. Schließlich erfolgte am 6. Mai 1936 eine letzte Anstrengung, das Werk wieder ins Repertoire aufzunehmen. Doch es blieb bei dieser einen Aufführung – und zwar für längere Zeit. Erst mehr als 30 Jahre später gelangte Die tote Stadt in Wien wieder vor das Publikum. Diesmal ging die Initiative von der Wiener Volksoper aus, die am 25. Mai 1967 anlässlich des 70. Geburtstages Erich Wolfgang Korngolds die Oper neu zur Diskussion stellte. Franz Endler, damals Kritiker bei der Presse, der Nachfolgerin der Neuen Freien Presse, wollte dem Werk aber partout keine Überlebenschancen einräumen: »Einmal noch – und nun dürfte die Tote Stadt wohl nach den obligaten Aufführungen im Abonnement wieder in den Archiven verschwinden.« Auch in den anderen Zeitungen wurden zumeist eher die Künstlerinnen und Künstler (Marylin Zschau als Marietta/Marie, John Alexander als Paul, George London als Fritz und Regisseur André Diehl) gelobt als die Musik. Besondere Erwähnung fand hingegen der Chefdramaturg des Hauses, Marcel Prawy, der die Oper überarbeitet hatte und am Ende der Premiere – wie ehemals Erich Wolfgang Korngold – vor den Vorhang trat, um den Beifall entgegenzunehmen. Trotzdem folgten in den darauffolgenden drei Jahren immerhin 18 Folgevorstellungen. Mit Beginn der Korngold-Renaissance in den 1970er Jahren nahm dann endlich weltweit auch die Anzahl der Tote-Stadt-Produktionen zu. Eine, die größere Aufmerksamkeit erregte, hatte 1983 an der Deutschen Oper Berlin Premiere. Für die Inszenierung war Regiegigant Götz Friedrich verantwortlich, der die »Geheimnisse der Seelenabgründe« in den Vordergrund seiner Überlegungen stellte. Wenig später übersiedelte die Produktion nach Los Angeles, um am 22. Dezember 1985 an der Wiener Staatsoper herauszukommen. Eine Tatsache, die im Kurier mit den Worten »Mit Hilfe von draußen entdeckt Wien wieder Wien und die Musik der zwanziger Jahre« kommentiert wurde. Franz Endler, der für das damalige Programmheft einen Artikel beisteuerte, ging diesmal mit dem Werk schonungsvoller um als 1967 und kritisierte in der Presse in erster Linie die ausübenden Künstler, also das (seiner Meinung nach) wenig aufregende Dirigat Heinrich Hollreisers, den nicht mehr ganz jungen James King als Paul sowie die stimmlich nicht so strahlende Karan Armstrong. Doch auch bei den anderen Kommentatoren war der Grundtenor hinsichtlich der Qualitäten des Werkes diesmal durchwegs positiv. Obwohl es bis 1989 in Wien nur zu acht Reprisen (unter anderem mit Thomas Moser als Paul) kam, sah man für das Stück und damit für Korngold dennoch eine Zukunft. Karlheinz Roschitz resümierte beispielsweise in der Kronenzeitung: »Waren nach dem Zweiten Weltkrieg alle Versuche, die Tote Stadt zu einem Renner zu machen, gescheitert, so scheint mir jetzt die Zeit dafür reif.« Tatsächlich verging seither kaum ein Jahr, in dem international gesehen nicht 91
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eine oder mehrere Neuinszenierungen der Oper über die Bühne gingen. In Wien trat zwar eine kurze Pause ein, doch war diese nicht mehr so groß wie in der Vergangenheit. Nach 15 Jahren erfolgte in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen unter der Leitung von Donald Runnicles und in der Regie von Willy Decker am 12. Dezember 2004 die Premiere der bislang vierten Toten Stadt-Produktion in Wien beziehungsweise der dritten im Haus am Ring – mit Angela Denoke als Marietta/Marie, Stephen Gould als Paul und Bo Skovhus als Frank/Fritz.
→ Monika Bohinec als Brigitta und Ensemble, 2017
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STADT N N E W , T IS T S R U D ALLE R U T L U K F AU HABEN.
SO GUT SCHMECKEN 160 JAHRE ERFAHRUNG.
juliusmeinl.at juliusmeinlaustria
Impressum
Erich Wolfgang Korngold DIE TOTE STADT Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion 12. Dezember 2004) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2004, Konzeption: Peter Blaha Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Sergio Morabito: Mise en abyme – Martin Schüttö: Kontrastdramaturgie Übernahmen aus dem Tote Stadt-Programmheft 2004: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Willy Decker: Traumbilder, Traumstädte – Peter Blaha: Liebe, Tod und Auferstehung – Arne Stollberg: »Wirkung ohne Ursache« oder »Oper pur« – Olaf Kiener: Der Triumph des Lebens – Bernd O. Rachold: »…eigentlich habe ich es immer nur für Papa getan.« – Oliver Láng: »Solche Dinge müssen mit Bedacht gemacht sein.« – Andreas Láng: Und sie lebt doch… Weitere Übernahmen: Georges Rodenbach: Das tote Brügge, Holzinger, 2016 – Arthur Schnitzler: Die Nächste, abgerufen auf zeno.org BILDNACHWEISE Coverbild: Cover image from Piano Magic, ›Ovations‹ (c) 2009 Second Language Music Szenenbilder: Seite 2/3, 19, 26, 66: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder: Seite 12/13, 36, 41, 92/93: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH akg-images: Seite 36, 47, 59, 81, 87 Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaberinnen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.
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