Programmheft »Don Giovanni«

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DON GIOVANNI Wolfgang Amadeus Mozart


INHALT Die Handlung

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Synopsis

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Über dieses Programmbuch

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Warten auf den Commendatore → Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Barrie Kosky

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Briefe über die Grausamkeit → Antonin Artaud

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Don Giovanni hat sie allesamt mit hinuntergerissen → Philippe Jordan

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Über Tanzsäle → Joseph Richter

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Pentheus und Bacchus → Ovid

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Fotografien von Helene Schmitz

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Von der Heiterkeit des Dramas → Nikolaus Stenitzer

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Lust und Tod → Sigmund Freud / Alenka Zupančič

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Prophetische Genialität des Spätwerks → Nicolas Schalz

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Vom Kopf auf die Füße gestellt → Sergio Morabito

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Die Bakchen → Euripides

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If I no see my Johnny –fefe geme eh → Johanna Danhauser

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Wahrheit, die die Toten kennen → Anne Sexton

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Revolution und Kontinuität → Oliver Láng

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Die Wiener Don-Juans vor Da Ponte und Mozart → Reinhard Eisendle und Matthias J. Pernerstorfer

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Die Minyastöchter → Ovid

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È aperto a tutti quanti, viva la libertà! Alle sind willkommen, es lebe die Freiheit! Don Giovanni, 1. Akt, Finale


Il dissoluto punito ossia Il

DON GIOVANNI → Dramma giocoso in zwei Akten Musik Wolfgang Amadeus Mozart Text Lorenzo Da Ponte

Nach u. a. dem Dramma giocoso Don Giovanni o sia Il convitato di pietra von Giovanni Bertati Orchesterbesetzung 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Mandoline, Streicher Continuo Hammerklavier, Violoncello Bühnenmusik Finale 1. Akt: Orchester I: 2 Oboen, 2 Hörner, Violinen, Violen, Kontrabass Orchester II: Violinen, Kontrabass Orchester III: Violinen, Kontrabass Finale 2. Akt: 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, Violoncello Spieldauer 3 Stunden 15 Minuten (inkl. 1 Pause) Autograph Bibliothèque Nationale de France Uraufführung 29. Oktober 1787, Gräflich Nostitzsches Nationaltheater Prag Wiener Erstaufführung 7. Mai 1788, Altes Burgtheater Erstaufführung im Haus am Ring 25. Mai 1869 (Eröffnung des Hauses)




DIE HANDLUNG 1. Akt Don Giovannis Diener Leporello möchte ein Herr sein, statt immer nur zu dienen. Donna Anna versucht, den fliehenden Don Giovanni aufzuhalten. Sie ruft um Hilfe. Don Giovanni versichert, sie werde nie erfahren, wer er sei. Donna Annas Vater, der Komtur, stellt Don Giovanni. Im folgenden Kampf verletzt Don Giovanni den Komtur tödlich. Donna Anna treibt ihren Verlobten Don Ottavio an, ihrem Vater zu Hilfe zu kommen, doch die beiden finden nur noch den Leichnam des Komturs. Donna Anna nimmt dem Verlobten das Versprechen ab, den Vater zu rächen. Don Giovanni hofft auf eine neue Eroberung. Stattdessen treffen er und Leporello auf Donna Elvira, die Giovanni vorwirft, er habe sie durch falsche Versprechungen getäuscht und verführt. Während Leporello Donna Elvira ablenkt, kann Don Giovanni fliehen. Donna Elvira schwört Rache. Masetto und Zerlina feiern mit ihren Gästen die Liebe, die Jugend und ihre bevorstehende Hochzeit. Don Giovanni weist Leporello an, die Gesellschaft und vor allem den Bräutigam in sein Haus zu führen und zu bewirten, er und Zerlina kämen später nach. Masettos Einspruch begegnet er mit einer unverhohlenen Drohung. Masetto muss klein beigeben. Don Giovanni lädt Zerlina auf sein nahes Schloss ein, dort wolle er sie heiraten. Zerlina zögert, willigt dann aber ein. Die beiden werden von Donna Elvira unterbrochen, die Zerlina vor dem Verführer warnt und sie mit sich nimmt. Don Ottavio und Donna Anna bitten Don Giovanni um Hilfe bei der Suche nach dem unbekannten Mörder des Komturs. Wieder tritt Donna Elvira auf und warnt vor Giovannis Ruchlosigkeit. Dieser deutet an, Elvira sei nicht bei Sinnen und folgt ihr, als sie sich entfernt. An Don Giovannis Verhalten hat Donna Anna den Mörder ihres Vaters erkannt. Sie fordert Don Ottavio erneut auf, sie zu rächen. Don Giovanni weist Leporello an, ein Fest vorzubereiten, auf dem er neue Eroberungen machen möchte. Zerlina versucht, Masetto zu überzeugen, dass zwischen ihr und Don Giovanni nichts vorgefallen sei. Don Giovanni kommt hinzu und drängt beide, mit ihm zu feiern. Donna Anna, Donna Elvira und Don Ottavio nähern sich maskiert. Auf Don Giovannis Geheiß lädt Leporello sie zum Fest. Don Giovanni verschwindet mit Zerlina. Bald hört man sie um Hilfe rufen. Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio und Masetto eilen zu ihrem Schutz DIE H A N DLU NG

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herbei. Don Giovanni präsentiert Leporello als den Schuldigen. Die anderen glauben ihm nicht, aber sie bekommen Don Giovanni auch nicht zu fassen.

2. Akt Don Giovanni zwingt Leporello, mit ihm die Kleider zu tauschen. Er will verkleidet Donna Elviras Kammermädchen verführen, Leporello soll inzwischen Donna Elvira beschäftigen. Leporello findet Gefallen daran, Donna Elvira zu umschmeicheln. Don Giovanni trifft auf Masetto, der bewaffnet nach ihm sucht, ihn aber in Leporellos Kleidern nicht erkennt. Nachdem Giovanni Masetto die Waffen abgenommen hat, verprügelt er ihn. Zerlina findet den Verletzten und pflegt seine Wunden. Leporello versucht, sich Donna Elvira zu entziehen. Dabei trifft er auf Donna Anna und Don Ottavio, Zerlina und Masetto, die ihn für Don Giovanni halten. Sie wollen ihn töten. Donna Elvira bittet um Mitleid. Leporello gibt sich zu erkennen und beteuert seine Unschuld. Unter Ausflüchten gelingt ihm die Flucht. Donna Elvira ist hin- und hergerissen zwischen Rachegefühlen und Sorge um Don Giovanni. Don Giovanni und Leporello treffen auf dem Friedhof aufeinander. Ausgelassen erzählt Don Giovanni von seinen letzten Liebesabenteuern. Die Stimme des Komturs mahnt, die Ruhe der Toten nicht zu stören. Don Giovanni macht sich lustig und fordert Leporello auf, den Komtur zum Abendessen einzuladen. Leporello spricht die Einladung aus, der Komtur willigt ein. Don Ottavio bietet Donna Anna seinen Trost und seine Hand an. Sie bittet ihn um Verständnis für ihre Lage und um Geduld. Don Giovanni bereitet ein glänzendes Abendessen vor. Donna Elvira erscheint. Sie drängt Don Giovanni, sein Leben zu ändern. Giovanni verspottet sie. Elvira entfernt sich, dann hört man ihren Entsetzensschrei. Der Komtur tritt ein. Er spricht Don Giovanni eine Gegeneinladung aus. Don Giovanni willigt ein. Er ergreift die dargebotene Hand und erschrickt über ihre Eiseskälte. Der Komtur fordert Don Giovanni auf, zu bereuen und sein Leben zu ändern: Es sei die letzte Gelegenheit. Don Giovanni lehnt ab. Stimmen kündigen seine Strafe an. Don Giovanni bricht zusammen. Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio, Zerlina und Masetto treffen ein, um Don Giovanni seiner gerechten Strafe zuzuführen. Sie treffen nur noch Leporello an, der von Don Giovannis Schicksal berichtet. Die Gesellschaft zerstreut sich, nicht ohne zu resümieren: Im Tod der Ruchlosen spiegle sich immer ihr Leben.

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DIE H A N DLU NG


SYNOPSIS Act 1 Don Giovanni’s servant Leporello dreams of one day being a master instead of always being the servant. Donna Anna tries to stop Don Giovanni from fleeing. She calls for help. Don Giovanni declares that she will never find out who he is. Donna Anna’s father, the Commendatore, corners Don Giovanni. In the ensuing fight, Don Giovanni fatally injures the Commendatore and makes his escape with Leporello, who reproaches him. Donna Anna urges her fiancé, Don Ottavio, to help her father, but when they arrive the Commendatore is already dead. Donna Anna extracts a promise from her fiancé that he will avenge her father’s death. Don Giovanni is out in search of a new conquest. Instead of a conquest, however, he and Leporello encounter Donna Elvira, who accuses Giovanni of having deceived and seduced her with false promises. While Leporello distracts Donna Elvira, Don Giovanni is able to escape. Together with their friends, Masetto and Zerlina are celebrating love, youth and their upcoming marriage. Don Giovanni and Leporello observe the scene with interest. Don Giovanni orders Leporello to take the assembled company, and above all the bridegroom, to his palace and entertain them there; he and Zerlina will follow later. He answers Masetto’s objections with an ill-concealed threat. Masetto is forced to relent. Don Giovanni invites Zerlina to his nearby palace, saying he plans to marry her there. Initially Zerlina hesitates, but then agrees. The two of them are interrupted by Donna Elvira, who warns Zerlina about the seducer and leaves with her. Don Ottavio and Donna Anna ask for Don Giovanni’s help looking for the unknown murderer of the Commendatore. Once again, Donna Elvira enters and warns them about Giovanni’s nefarious nature. In response, Giovanni insinuates that Elvira has taken leave of her senses; he follows her when she leaves. Don Giovanni’s demeanour has revealed to Donna Anna that this is the man who murdered her father. She again calls on Don Ottavio to avenge her. Don Giovanni tells Leporello to prepare a celebration at which he plans to make new conquests. Zerlina tries to convince Masetto that nothing happened between her and Don Giovanni. Don Giovanni enters and urges both of them to celebrate with him. Donna Anna, Donna Elvira and Don Ottavio approach, masked. At Don Giovanni’s bidding, Leporello invites them to the party. Don Giovanni disappears with Zerlina. Soon she is heard crying for help. Donna Anna, Donna Elvira, Don SY NOPSIS

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Ottavio and Masetto rush to protect her. Don Giovanni points to Leporello as the guilty party. The others don’t believe him, but they are also unable to catch Don Giovanni.

Act 2 Don Giovanni forces Leporello to exchange clothes with him. Disguised as his servant, he wants to seduce Donna Elvira’s maid, while Leporello keeps Donna Elvira occupied. Leporello takes delight in heaping flattery on Donna Elvira. Instead of the new conquest he had hoped for, Don Giovanni runs into Masetto, who is armed and looking for him. However, Masetto does not recognize him in Leporello’s clothes. After Giovanni has relieved him of his weapons, Giovanni gives him a thrashing. Zerlina finds her injured fiancé and tends to his wounds. Leporello tries to escape from Donna Elvira. He runs into Donna Anna and Don Ottavio, Zerlina and Masetto, who mistake him for Don Giovanni. They are determined to kill him. Donna Elvira begs them to have pity. Leporello reveals his identity and asserts his innocence. Making excuses, he manages to escape. Donna Elvira is torn between feeling vengeance and concern for Don Giovanni. Don Giovanni and Leporello meet in the cemetery. Don Giovanni takes great delight in recounting his latest amorous escapades. The voice of the Commendatore warns them not to disturb the rest of the dead. Don Giovanni laughs at the old man and orders Leporello to invite the Commendatore to dinner. Leporello pronounces the invitation. The Commendatore accepts. Don Ottavio offers Donna Anna comfort and his hand. She begs his understanding of her situation and asks him to be patient. Don Giovanni prepares a sumptuous dinner. Donna Elvira appears. She urges Don Giovanni to change his ways. Giovanni mocks her. Elvira leaves, and is then heard to cry out in horror. The Commendatore enters. He offers Don Giovanni a reciprocal invitation. Don Giovanni accepts. He grasps the hand offered him and is alarmed by its ice-cold touch. The Commendatore calls on Don Giovanni to repent and change his lifestyle: this is his last opportunity. Don Giovanni declines. Voices announce his punishment. Don Giovanni collapses. Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio, Zerlina and Masetto arrive to punish Don Giovanni in suitable fashion. They find only Leporello, who tells them of the fate that has befallen Don Giovanni. The party disperses, but not before summing up: the death of evildoers always reflects how they have lived their lives.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Die Stoffwahl reklamierte der Librettist für sich: Lorenzo Da Ponte schrieb in seinen Memoiren, er habe das Don-Giovanni-Sujet vorgeschlagen, als Wolfgang Amadeus Mozart 1786 beauftragt worden war, eine neue Oper für Prag zu schreiben. Ob diese Darstellung zutrifft, muss offenbleiben. In jedem Fall handelte es sich um eine ebenso treffsichere wie sichere Wahl: Don-JuanStücke standen in den 1780er-Jahren hoch im Kurs; die Geschichte um den »steinernen Gast« und den gottlosen Verführer, der seit Tirso de Molinas Burlador de Sevilla (uraufgeführt vor 1624) den Namen »Don Juan« trug, wurde in ganz Europa in verschiedenen Varianten aufgeführt. Lorenzo Da Ponte wählte das Libretto zu einer kurz zuvor in Venedig uraufgeführten Don Giovanni-Oper von Giovanni Bertati zur Grundlage seiner und Mozarts Fassung, die am 29. Oktober 1787 im Gräflich Nostitzschen Theater in Prag Premiere feierte. Mozarts virtuoses musikdramatisches Können begründete einen eigenständigen Don-Giovanni-Mythos. In E. T. A. Hoffmanns Novelle Don Juan schließt der Erzähler aus der Unterhaltung über eine Don Giovanni-Aufführung, dass von seinen Tischgenossen »wohl keiner die tiefere Bedeutung der Oper aller Opern auch nur ahnte«. Die Suche nach dieser »tieferen Bedeutung« hielt Generationen von Kunst- und Theaterschaffenden in Atem. Den Regisseur der Wiener Neuinszenierung Barrie Kosky hat besonders das im Protagonisten inkarnierte dionysische Prinzip in seinem Wechselspiel von Befreiung und Zerstörung interessiert (S. 12). Seinen Ausführungen folgen Auszüge aus der antiken und psychoanalytischen Literatur sowie aus den Schriften des Theatervisionärs Antonin Artaud. Musikdirektor Philippe Jordan betont in seinem Beitrag die Wichtigkeit der genauen Lektüre von Libretto und Partitur: Nur so könne die Wahrheit der Emotion zutage treten. (S. 30) Die Wiener Aufführungsgeschichte skizziert Oliver Láng ab S. 100, mit besonderer Berücksichtigung der Rolle Gustav Mahlers. Reinhard Eisendle und Matthias Pernerstorfer zeichnen ein faszinierendes Panorama der Don Juan-Tradition vor Mozart/Da Ponte, vom »Allerseelenspektakel« bis zur ersten in Wien aufgeführten Don-Juan-Oper (S. 108). Sergio Morabito stellt Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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ab S. 78 die vorletzte Szene des Don Giovanni mit den entsprechenden Szenen in Tirso de Molinas Burlador de Sevilla mit überraschenden Einsichten gegenüber. Aspekte der Aufklärung in Don Giovanni sind auch das Thema von Nicolas Schalz’ Aufsatz, der Mozarts Auseinandersetzung mit den Themen Liebe und Autonomie nachzeichnet (ab S. 70). Dass Don Giovanni auch als die Fortschreibung eines patriarchalen Prinzips gesehen werden kann, war in der jüngeren Vergangenheit Gegenstand feministischer Kritik. Johanna Danhauser setzt die entsprechenden Argumente auseinander und stellt ab S. 90 feministische Überschreibungen des Don Juan-Mythos vor. Die Singularität von Don Giovanni, der komplexe Reichtum dieser Oper und die daran anschließende Interpretationsgeschichte können beinahe vergessen lassen, dass es sich bei dem Werk um eine komische Oper handelt. Nikolaus Stenitzer befasst sich ab S. 54 mit den Techniken des Komischen in Don Giovanni. Auf der visuellen Ebene werden Barrie Kosyks Inszenierung und die Bühne und Kostüme von Katrin Lea Tag mit Arbeiten der schwedischen Fotografin Helene Schmitz konfrontiert (ab S. 44).

→ Nachfolgende Seiten: Stanislas de Barbeyrac als Don Ottavio, Hanna-Elisabeth Müller als Donna Anna, 2021 Kyle Ketelsen als Don Giovanni, Ain Anger als Commendatore, Philippe Sly als Leporello, 2021

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WARTEN AUF DEN COMMEN­D­ATORE Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Barrie Kosky

Der Mythos um den »steinernen Gast« ist älter als die erste Dramatisierung von Tirso de Molina aus dem frühen 17. Jahrhundert, mit der sich der Name »Don Juan« für den Protagonisten etabliert. Um Mozarts Werk hat sich aber noch einmal ein ganz eigener Mythos entsponnen, der auch durch die romantische Rezeption im 19. Jahrhundert, etwa E. T. A. Hoffmanns Don-Juan-Nov­elle oder auch SØren Kierkegaard, geprägt wurde. Was bedeutet Don Giovanni für dich – als Werk und als Mythos?

In der Oper von Mozart und Da Ponte gibt es viele Fäden, die in die Vergangenheit führen: Zu anderen Theaterstücken, zur Geschichte des Stoffes. Genau wie bei Shakespeare: Keine seiner großen Tragödien war eine Originalgeschichte. Macbeth, König Lear, Hamlet haben in anderen Stücken, in anderen Formen existiert. Shakespeare hat die Ideen und die Charaktere dann völlig neu gebaut und gedacht – und so sind seine Meisterwerke entstanden. Die Werke davor waren interessant, aber keine Meisterstücke. KOSKY

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Wie im Fall von Don Giovanni? KOSKY Ich denke ja. Wir haben nicht so viele Informationen darüber, was tatsächlich die Grundidee von Da Ponte und Mozart war, als sie sich des Stoffes angenommen haben, aber das halte ich eher für einen Vorteil. Wir müssen uns das vermittelt durch die Musik und den Text und das, was wir über beide Künstler wissen, vorstellen. Was ich neu finde an dem Don Giovanni von Da Ponte und Mozart und was die Oper so reich und vielfältig macht, ist die Vaterthematik – Vater und Sohn, Vater und Tochter. Das ist für mich ein Rückgriff auf die klassische Antike, auf Elektra und Agamemnon.

Elektra ist davon besessen, den Mord an ihrem Vater Agamemnon zu rächen.

Das ist für mich einer der Bezüge. Es gibt auch andere, ältere: Das Alte Testament, Abraham und Isaak. Und schon die grundlegende, abstrakte Idee von Gott in der jüdischen Tradition ist im Kern eine unsichtbare, unvorstellbare Vaterfigur. Ein Vater, der straft, der urteilt. Der nie weggeht. Die Grundlagen von Don Giovanni sind also alttestamentarisch, mit der Figur des Patriarchen, wir haben die Bezüge zur griechischen Mythologie, und es gibt natürlich ein starkes christliches Element. Und schließlich gibt es unglaublich interessante Bezüge außerhalb von Mythologie und Religion, die aus den Anfängen der Theatertradition stammen: Schon in der griechischen Komödie, bei Aristophanes, finden wir die Konstellation von Herr und Diener, Meister und Sklave. Neben Mann und Frau und Vater und Tochter eine der Urbeziehungen im griechischen Theater. KOSKY

Damit hast du eine Konstellation angesprochen, die in dem Stück sehr wichtig ist, nämlich die zwischen Don Giovanni und Leporello. Wie interpretierst du diese Beziehung in deiner Inszenierung?

KOSKY Ich habe Don Giovanni und Leporello lange Zeit einfach als zwei Seiten einer Medaille gesehen. Die Doppelgesichtigkeit, das Doppelgängerprinzip, das auch schon öfter in Inszenierungen zu sehen war. Inzwischen glaube ich, dass sich das Verhältnis nicht darauf beschränken lässt. Unsere Version hat sich im Lauf der Proben sehr stark entwickelt, vor allem aus dem Spiel und der besonderen Konstellation zwischen Philippe Sly, unserem Leporello, und Kyle Ketelsen, unserem Don Giovanni. Nach einer Szene sagte ich zu Philippe: Es ist großartig, wenn du so mit Don Giovanni spielst, als wärst du ein Junge und er dein Vater. Du bewunderst und hasst ihn zugleich, und erlaubst ihm, dich zu erniedrigen, weil du seine Anerkennung willst. Daran haben wir gearbeitet, und so hat sich auch in das

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klassische Verhältnis von Meister und Sklave das Prinzip des Vaters eingeschrieben. Das ist eine zusätzliche Facette im Verhältnis zwischen Leporello und Don Giovanni in unserer Inszenierung, die mich überrascht hat.

Du hast die beiden auch einmal als Wladimir und Estragon bezeichnet, nach den Protagonisten von Warten auf Godot.

Ja, in manchen Szenen haben sie diese Beckett-Qualität. Sie spielen dann Warten auf den Commendatore. Wir zeigen sie in verschiedenen Konstellationen: Manchmal sind sie Herr und Diener oder Herr und Sklave, oder sie wirken wie in einer Dominatrix-Konstellation, wie man sie aus sexuellen Spielen kennt. KOSKY

Wie zeichnest du die Figurenkonstellation in deiner Inszenierung?

In unserer Produktion sind die Frauen diejenigen, die nach ihrer Identität suchen, viel stärker als die Männer. In Mozarts Opern sind die Frauen immer die zentralen Figuren, sie haben die Konflikte. Donna Anna und der Verlust des Vaters, den Don Ottavio nicht ersetzen kann, ist natürlich das zentrale Thema, aber die Vaterthematik geht über diese direkte verwandtschaftliche Beziehung und den Verlust hinaus. Es geht bei der Figur des Commendatore um das Prinzip des Patriarchen. Den Dualismus von Liebe und Zerstörung des Vaters gibt es in jeder Kultur, von der Antike bis zu Sigmund Freud. Während einer Probe habe ich zu den Sängerinnen und Sängern gesagt: Es ist eine Oper über Findelkinder. Es gibt weit und breit keine Mütter. Niemand hat eine Mutter. Das ist ganz anders als im Figaro, wo Susanna und die Gräfin für viele Menschen die Ersatzmütter sind. Ganz zu schweigen von Marcellina: sie wandelt sich von einer Bedrohung für Figaro und Susanna zur liebenden Mutter, Figaro wird dadurch vom Findelkind zum wiedergefundenen Sohn. In Don Giovanni gibt es nach dem Tod des Vaters keine Eltern mehr. Und wir wissen aus der Mythologie, von Elektra und Orest, was geschieht, wenn die Eltern von der Bildfläche verschwinden. Furor und Besessenheit, Selbstobsession. Ich denke, es gibt auch eine Verbindung zwischen Don Giovanni und Shakespeares wohl bedeutendstem Stück, Hamlet. Die Rückkehr des strafenden Vaters ist vielleicht einer der schlimmsten menschlichen Albträume. Wahrscheinlich eines unserer archaischen Traumata. KOSKY

Also eine psychoanalytische Deutung?

KOSKY

Wir machen Don Giovanni in Wien, das geht ja gar nicht anders. Hier ist die Traumdeutung im Leitungswasser.

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Du hast häufig einen weiteren Bezug zwischen Don Giovanni und der antiken Mythologie hergestellt: den zu Dionysos. Den Ausruf »Viva la libertà« im ersten Finale kann man auch als Anrufung des Dionysos verstehen: »Liber« ist in der römischen Mythologie neben »Bacchus« einer der Namen für diesen Gott. In der Oper hören wir kurz nach »Viva la libertà« Zerlina um Hilfe rufen, es kommt möglicherweise zu Gewalt, jedenfalls zu Todesdrohungen. Dionysos ist der Gott der Freude, aber er ist auch gewalttätig und destruktiv. Welche Versionen des Dionysischen sehen wir in deiner Inszenierung?

Wir sehen viele Facetten davon. Ich denke, Don Giovanni ist nicht selbst Dionysos: Er ist ein Kind von Dionysos. Was bedeutet das? Dionysos ist ein Gott voller Widersprüche. Er ist der Gott des Theaters – damit auch der Gott des Täuschens, des Make-believe, des Spielens. Ein Gott der Kostüme und der Verwandlung. Die Frage, was ist wirklich und was nur gespielt, ist eng mit ihm verbunden. Er zieht umher, er wandert, hat kein Zuhause. Seine Mutter Semele ist tot, sein Vater Zeus ist abwesend, unzugänglich. Er hat ihn verlassen. Auch das ist wichtig, wenn wir den Zusammenhang zu Don Giovanni herstellen. Und seine beiden wichtigsten Eigenschaften kann man überhaupt nicht voneinander trennen: Das Kreative ist bei ihm Teil des Destruktiven, und das Destruktive gehört dem Kreativen an. Als Gott der Ekstase repräsentiert er das Gegenteil von Ethik und Moral. Er kann nur der Schutzpatron Don Giovannis sein. Für mich bedeutet darum auch »Viva la libertà« keinen Aufruf zur Revolution, es bedeutet: Fuck ethics. Fuck morals. Let’s drink and fuck and play whatever music we want and who the fuck cares. Das ist dionysisch. KOSKY

Das heißt aber auch, dass das Feiern mit Dionysos immer an der Kippe steht. Es kann schnell gefährlich werden.

Eben. Dionysos ist die perfekte Personifizierung von Eros und Thanatos: Der Verbindung von Leben und Tod. Jeder weiß, dass nach zu viel Wein Morde geschehen können, und nicht zu selten. Der Wein entfesselt das Unbewusste, und das Unbewusste ist der Ort, an dem Dionysos lebt. Er lebt auf der Oberfläche des Unbewussten. KOSKY

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Diese Dynamik hast du im Gespräch mit den Sängerinnen und Sängern oft angesprochen. Nach Freud wirken Eros und Thanatos, Lebens- und Todestrieb zugleich in uns. Darüber, ob wir einen ständigen aussichtslosen Überlebenskampf führen, ob wir, wenn wir den Sexualtrieben folgen, Spannungen, die uns vom Tod trennen, auf- oder eher abbauen, existieren unterschiedliche analytische WA RT EN AU F DEN COM MEN D­A TOR E


Deutungen. Ist die unbewusste Präsenz der Sterblichkeit die Basis von Don Giovannis Exzess? Ich glaube, das Rätsel des Lebens besteht in dem Tango, den Eros und Thanatos miteinander tanzen. Der Tanz endet nie, die Musik hört nie auf, bis man stirbt. Es ist nicht an mir als Regisseur und Künstler und ehrlich gesagt auch als Mensch, zu versuchen zu verstehen, warum es diesen Tanz gibt. Ich weiß nur, dass es ihn gibt. Und ich denke, es ist auch nicht an mir als Regisseur zu sagen »Don Giovanni ist ein Stück über…« oder »Don Giovanni ist ein Mann, der…« Ich habe eine besondere Idee, die ich mit dem Team und den Sängerinnen und Sängern erarbeite, und es ist nicht mein Ziel, dass das Publikum am Ende aus dem Theater kommt und sagt: »Jetzt habe ich verstanden, was es mit diesem Don Giovanni auf sich hat.« Das ist auch ganz unmöglich. Er ist ein Kind von Dionysos. Er wird immer ein Rätsel bleiben. Das Werk verlangt von mir diesen Zugang, der ganz anders ist als etwa der, den ich bei Figaro oder bei Così fan tutte wählen werde. Es geht mir ähnlich wie mit Richard Strauss’ Salome: beim Inszenieren hatte ich eher ein Gefühl dafür, was richtig ist und was nicht. So ist es auch bei Don Giovanni. KOSKY

Das Bühnenbild zu deiner Inszenierung zeigt eine wüste Fläche, die Veränderungen durchmacht, einen Ort, den man nicht genau zuordnen kann. Er repräsentiert aber auch nicht unmittelbar die Landschaft des Unbewussten.

KOSKY Nein, nicht direkt. Es war sehr klar für mich und Katrin Lea Tag, die Bühnenbildnerin, dass wir ein abstraktes Bild suchen. Ich wollte keine Wände, keine Räume, keine Türen. Es sollte eine Landschaft sein, auf der sich die Figuren bewegen, ohne eigentlich zu wissen, wo sie sich befinden. Und wir wissen es auch nicht. Aber zugleich haben sich wie immer auf der Probe Interpretationen und Assoziationen entwickelt, die nicht vorher konzipiert waren. Wir haben zwischendurch etwa festgestellt: diese Steinlandschaft, die wir sehen, war einmal Lava, sie war einmal heiß und flüssig. Oder wir haben das Gefühl bekommen, dass die Fläche wie tote, abgestorbene Haut ist. Beides bedeutet: Hier war einmal etwas. Wir bewegen uns auf einer Fläche, die sich auf Gewesenes bezieht, das man unterschiedlich deuten kann. Und schließlich ist das Bühnenbild auch tief inspiriert von der letzten Szene aus Pier Paolo Pasolinis Film Teorema, in der die Vaterfigur aus dem Film sich auf einer solchen vulkanischen Landschaft bewegt. Eine Szene mit großer archaischer Qualität. Der Raum sollte viele Assoziationen haben, aber nicht eine Bedeutung. Und ich mag sehr, dass die Trennung zwischen Innenund Außenraum irrelevant ist. Wir wissen nicht, ob es innen oder außen ist, wir wissen nicht, ob Tag oder Nacht. Auch schon im Stück fragt man sich ja

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ständig: Welche Zeit ist das denn nur gerade? Es ist die unendliche Nacht Don Giovannis. Unsere Bühne bietet für mich die Fläche, auf der die Charaktere leben, kämpfen, lieben und streiten, ohne den Hintergrund einer bedeutungsvollen Realität.

Das heißt, du folgst einer Ambivalenz, die das Stück anbietet.

Don Giovanni ist voller Ambivalenzen – es ist das genaue Gegen teil von Le nozze di Figaro. Das Stück spielt in einer Twilight Zone, kurz vor Sonnenuntergang und kurz vor Sonnenaufgang zugleich. Man kann die Geschehnisse schwer einordnen. Wie in einer Erzählung von Kafka können wir uns manchmal fragen: Ist das jetzt ein Traum oder die Realität? Das ist sehr wichtig für Don Giovanni, denn die Figuren sprechen ständig darüber, dass sie nicht verstehen, was hier passiert. Aber wenn man das sagt, dann müssen die Charaktere real sein, dreidimensional, aus Fleisch und Blut. Es ist ein wenig wie die sensationellen Filme aus der mittleren Periode von Michelangelo Antonioni, etwa L’Avventura. Wo man sich ständig fragt: Passiert das gerade wirklich? Oder ist es die Erinnerung von jemandem über das, was passiert? Es sieht realistisch aus, ist es aber überhaupt nicht. Und diese Qualität findet sich, glaube ich, nicht erst in meiner Inszenierung, sondern im Stück. Und das macht das Stück unglaublich schwierig – und grandios. KOSKY

Der Film Teorema, den du angesprochen hast, arbeitet ebenfalls mit einem realistisch wirkenden Setting, das eine surrealistische Geschichte erzählt.

KOSKY Zusammen mit L’Avventura und der surrealen Komik von Buñuel gehörte Teorema zu den wichtigen Einflüssen. Die Hauptfigur, die Terence Stamp hier spielt, ist ein absolut dionysischer Charakter: Er kommt als Gast, zieht alle in seinen Bann und zerstört alles. Das ist Don Giovanni. Ich hätte wirklich gerne Pasolinis Version von Don Giovanni gesehen. Das Interessante ist, dass es in Teorema nicht einfach ums Zerstören geht: Der Gast in dem Film holt aus den Mitgliedern einer bürgerlichen Familie Dinge, Gefühle heraus, auf die sie nicht vorbereitet waren. Alle verlieben sich in ihn oder wollen mit ihm schlafen, der Sohn, die Mutter, der Vater, die Tochter, die Haushälterin. Er euphorisiert sie und destabilisiert sie. Als er sie verlässt, bricht alles zusammen. Das ist genau der Effekt, den Don Giovanni auf andere hat: Auf die bürgerliche Gesellschaft, zu der Donna Anna, Don Ottavio, Donna Elvira und auf einer anderen Stufe auch Masetto und Zerlina gehören.

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Teorema hat mit deiner Inszenierung gemeinsam, dass man sich eine Frage mit Unbehagen stellt: Woher nimmt dieser Mensch die WA RT EN AU F DEN COM MEN D­A TOR E


Macht über andere? Wie ist es möglich, dass Zerlina an ihrem Hochzeitstag mit Don Giovanni auf sein Schloss gehen will? Die Situation ist in der Theorie nicht unmöglich: Dass man auf seiner eigenen Hochzeit die großartigste Person trifft, die man jemals gesehen hat, und man möchte nichts tun als mit ihr auf die Toilette gehen und Sex haben. Im wirklichen Leben gibt es üblicherweise eine moralische Schranke, die davon abhält. Im Stück hat Don Giovanni die Fähigkeit, diese Schranke außer Kraft zu setzen. Das ist ja das Unglaubliche an Don Giovanni, und das, was es so schwer macht für alle anderen Charaktere: Er hat keine Moral. Er hat keine Ethik. Deshalb ist es so lächerlich, wenn man seine berühmte Arie die Champagnerarie nennt. Es ist keine Champagnerarie, es ist die dionysische Nationalhymne! Er sagt, ich will Wein, alle Frauen, die ich bekommen kann, und es ist egal, welchen Tanz ihr tanzt. Das ist das ganz Besondere, das Mozart hier macht. Denn Tanz ist als Form immer streng, man tanzt einen bestimmten Tanz innerhalb einer Struktur, man hat einem Takt zu folgen, Dreiviertel, Vierviertel. Don Giovanni sagt: Man kann es alles zusammen tanzen. Diese genialen zweieinhalb Minuten mit den drei Orchestern auf der Bühne sind der reinste dionysische Moment, den man sich vorstellen kann. KOSKY

Diese Art der dionysischen Anarchie geht über eine Don GiovanniInterpretation hinaus, die wir im 20. Jahrhundert öfter gesehen haben: Don Giovanni als der Rebell gegen die Spießbürgerlichkeit.

KOSKY Das ist nur einer der Interpretationsansätze, die ich proble-­ matisch finde. Ich habe auch ein Problem mit der deutschen romantischen Tradition, die mit E. T. A. Hoffmann zusammenhängt. Ein romantischer Außenseiter in der Tradition von Shelley und Byron, oder der personifizierte Geist der Revolution – all diese Vorstellungen führen zu einer klischeehaften Figur. Auch die Vorstellung, dass Donna Anna eigentlich in Don Giovanni verliebt ist, wie es E. T. A. Hoffmann schildert, ist kompletter Unsinn. Was zwischen den beiden war, hat Konsequenzen – aber ganz andere. Ich sehe es so: Es ist etwas in diesem Schlafzimmer passiert. Donna Anna erzählt Don Ottavio eine Geschichte darüber, von der ich denke, dass sie keine Lüge ist. Ich glaube nicht, dass es Sex gab. Vielleicht gab es den Anfang von etwas, das unterbrochen wurde. Ich denke auch nicht, dass es eine Vergewaltigung gab. Es hätte eine werden können, aber so, wie Donna Anna sich im weiteren Verlauf des Stückes verhält, ergibt das keinen Sinn. So wenig wie die Vorstellung, dass sie von ihm fasziniert ist. Donna Annas Thema ist die Rache für den Tod ihres Vaters. Die Destabilisierung, die ihr Don Giovanni darüber hinaus zufügt, ist nicht, dass sie ihn liebt, sondern dass sie sich zu fragen beginnt, ob sie Don Ottavio liebt. Don Giovanni nimmt ihr ihre gesamte väterliche Struktur, er tötet ihren Vater und stört das Ver-

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hältnis zu Don Ottavio, der ja sagt, dass er sich an die Stelle des Vaters stellen würde. Die Herausforderung, die die Figur des Don Giovanni an die Inszenierung stellt, ist vergleichbar mit Stücken wie Lulu oder Salome: Die Charaktere darin sind keine Abstraktionen, sondern Charaktere aus Fleisch und Blut. Aber sie verhandeln Tod und Erotik, was es so kompliziert macht. Jeder Zuschauer, der den Charakter ansieht, wird eine völlig andere subjektive Beziehung zu diesem Don Giovanni, dieser Lulu oder dieser Salome aufbauen, wird angezogen oder abgestoßen sein, wird denken: Ich möchte ihn haben oder: Ich möchte er sein. Erotik ist die schwerste Sache auf der Bühne. Darum sage ich immer wieder zu Kyle Ketelsen, unserem Premieren-Don-Giovanni: Versuche nicht, sexy zu sein. Und darum inszeniere ich etwa »Là ci darem la mano«, ohne dass Don Giovanni und Zerlina sich berühren. Denn wenn es nur um körperliche Verführung geht, dann ist es winzig klein und langweilig. Wenn Don Giovanni sagt, es gehe ihm immer um Liebe, bedeutet das etwas ganz anderes.

»È tutto amore«, es ist alles Liebe, sagt Don Giovanni am Beginn des 2. Aktes zu Leporello, der ihm vorhält, alle Frauen zu betrügen. Die Szene wurde in der Vergangenheit manchmal so inszeniert, als würde sich Don Giovanni über die Frauen lustig machen. Das erscheint nicht ganz unverständlich angesichts von Don Giovannis Logik, es wäre Betrug an den anderen Frauen, würde er sich auf eine beschränken. Wie interpretierst du diese »Liebe«?

KOSKY Er sagt an dieser Stelle einige seiner Kernsätze zu Leporello: »È tutto amore«. Frauen sind für mich wichtiger als Essen und die Luft, die ich atme. Wichtiger als Sauerstoff. Das hat mit einem Witz nichts zu tun, er sagt vollkommen ernst: Ich würde alles für Liebe tun. Aber er redet nicht über die romantische Liebe. Wir sind durch diese Idee der Liebe im 19. Jahrhundert geprägt, und auch durch ihre Banalisierung im kapitalistischen 20. Jahrhundert. Von Shakespeare wissen wir um die Ambivalenz dessen, was Liebe sein kann, und das geht weit über das hinaus, was uns in Romeo und Julia begegnet – obwohl auch diese Liebe sehr kompliziert und widersprüchlich ist. Don Giovanni hat zwei Arien: Die dionysische Nationalhymne und die Serenade, seine Canzonetta »Deh vieni alla finestra«. Er singt sie angeblich für Donna Elviras Kammerzofe, aber ich denke, es ist eine Spiegelarie. Wenn du mich nicht erhörst, werde ich sterben – das singt er für sich selbst. Mozart macht das unglaublich: Die Arie ist in D-Dur, aber trotzdem klingt sie traurig. Durch das Pizzicato der Mandoline hindurch hören wir, denke ich, zum ersten und einzigen Mal Don Giovannis echte Stimme.

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Stellst du an dieser Stelle ein Verhältnis zwischen dem Publikum und der »echten Stimme« Don Giovannis her? WA RT EN AU F DEN COM MEN D­A TOR E


KOSKY Nein. Die Frage, ob wir Don Giovanni mögen oder nicht, ist irrelevant. Es ist wieder wie bei Dionysos: Er ist kein Freund oder Feind. Er ist einfach. Nehmen wir die Bakchen des Euripides, die berühmteste Bühnenrepräsentation des Dionysos. Darin sehen wir, wie Pentheus von den Frauen, die Dionysos in die Raserei getrieben hat, in Stücke gerissen wird. Unter ihnen ist auch seine Mutter Agaue. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, das anzusehen und zu sagen »Dionysos. Cooler Typ«, oder »Das finde ich nicht richtig«. Man sieht das und kann sich nur fragen: »Was ist das?« Und genauso ist es mit Don Giovanni. Man erklärt dem Publikum nicht mit dem Zeigefinger die Probleme, sondern man bringt es durcheinander. Ich würde auch gerne etwas zu der zeitgenössischen Debatte über Stücke wie Don Giovanni sagen. Ich glaube, wenn wir fragen: »Können wir solche Werke noch spielen?«, ist das Unsinn. Das ist intellektuelle Faulheit. Ich denke, Charaktere wie Don Giovanni sind wie Spiegel, in denen wir uns sehen – manchmal wie Zerrspiegel, manchmal wie Spiegel, die zerbrochen sind. Manchmal ist das Bild, das wir dabei sehen, unappetitlich. Ich glaube aber, dass uns eine Interpretation, in der wir Don Giovanni einfach als einen Harvey-WeinsteinCharakter zeichnen, nicht weiterbringt. Auf diese Weise kommen wir der Oper nicht bei, denn das ist nicht die Geschichte und das ist nicht die Musik. Wenn wir uns aber mit der Geschichte und der Musik von Don Giovanni beschäftigen wollen, dann sollten wir das tun, worauf die Kunst in unserer Gesellschaft besonders achten sollte: Dass sie das Irrationale, das Unbewusste, das Widersprüchliche in dem zeigt, was Menschen ausmacht. Die Beziehung zu den dunklen und problematischen Seiten wurde immer in der Kunst untersucht. In der Welt, auf der Straße gibt es ein Rechtssystem, das an diese Dinge anders herangehen muss – aber das ist nicht die Welt, in der wir uns hier befinden. Wir sind nicht nur in einer Welt der Fantasie, sondern in einer Welt von Traum, Symbol, Unbewusstem. Theater ist insofern ein Safe space, als man dort alles untersuchen kann, was in der realen Welt nicht möglich ist. Natürlich muss ein Regisseur ein Bewusstsein dafür haben, was Don Giovanni ist, es ist wichtig, dass wir viele verschiedene Zugänge sehen, und ich finde es auch wichtig, dass das Stück in den letzten Jahren öfter von Frauen inszeniert wurde. Aber wir sollten uns unbedingt auch mit diesem riesigen Anteil der menschlichen Existenz auseinandersetzen. Es ist dasselbe wie mit Komik und Komödie: Sie ist manchmal brutal, sehr kontroversiell, und wir wissen wieder von Freud und auch aus dem griechischen Theater, wie wichtig es ist, in diese Kontroversen zu gehen.

Das heißt, deine Inszenierung geht aus dem Stück heraus in die Kontroverse?

KOSKY

Ja. Don Giovanni ist wie alle großen Theaterstücke ein Laboratorium für widersprüchliche Ideen über die menschliche Existenz

N IKOLAUS ST EN ITZER IM GE SPR ÄCH MIT BA R R IE KOSK Y

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ohne fertige Antworten. Und wenn es vorbei ist, dann verlasse ich das Theater, gehe auf die Straße, und beginne, über mein Leben nachzudenken – weil ich diese Erfahrung gemacht habe. Ich gehe nicht hinaus und denke: »Aha, ja, so ist es also.« Ich beginne zu überlegen: Wie war die Musik. Wie waren diese Szenen. Wie war dieses, jenes Element im Spiel in der Bühne. Wie hat das alles auf mich gewirkt, und was denke ich jetzt. Ich glaube, das ist die Funktion von Theater.

→ Nachfolgende Doppelseite: Patricia Nolz als Zerlina, Kate Lindsey als Donna Elvira, Peter Kellner als Masetto, Philippe Sly als Leporello, Hanna-Elisabeth Müller als Donna Anna, Stanislas de Barbeyrac als Don Ottavio, 2021

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WA RT EN AU F DEN COM MEN D­A TOR E




Antonin Artaud

BRIEFE ÜBER DIE GRAUSAM­ KEIT

Aus: Das Theater und sein Double 24


Erster Brief AN J. P.

PARIS, 13. SEPTEMBER 1932

Lieber Freund, wenn ich Ihnen Genaueres über mein Manifest mitteilen wollte, liefe ich Gefahr, seinen Nachdruck dadurch zu verringern. Ich kann höchstens meinen Titel Theater der Grausamkeit provisorisch erläutern und seine Wahl zu rechtfertigen versuchen. Es handelt sich bei dieser Grausamkeit weder um Sadismus noch um Blut, wenigstens nicht ausschließlich. Ich kultiviere nicht etwa systematisch das Grauen. Das Wort Grausamkeit muss in einem weiten Sinn verstanden werden, nicht in dem stofflichen, räuberischen Sinn, der ihm gewöhnlich beigelegt wird. Und indem ich das tue, nehme ich das Recht in Anspruch, mit dem üblichen Sinn der Sprache zu brechen, ein für allemal die Armierung zu knacken, das Gehäuse zu sprengen, auf die etymologischen Ursprünge der Sprache zurückzugehen, die durch abstrakte Begriffe hindurch stets auf eine konkrete Vorstellung zielen. Man kann sich sehr wohl eine reine Grausamkeit, ohne Zerreißung des Fleisches, vorstellen. Und was ist denn, philosophisch gesprochen, Grausamkeit? Vom Standpunkt des Geistes aus bedeutet Grausamkeit Unerbittlichkeit, Durchführung und erbarmungslose Entschlossenheit, nicht umkehrbare, absolute Determination. Der geläufigste philosophische Determinismus ist, vom Standpunkt unsrer Existenz aus, eines der Bilder der Grausamkeit. Zu Unrecht wird dem Wort Grausamkeit ein Sinn blutiger Unerbittlichkeit, willkürlicher und unbeteiligter Untersuchung körperlichen Leidens beigelegt. Wenn der äthiopische Kaiser besiegte Fürsten auf Karren vorbeifahren lässt und ihnen seine Sklaverei auferlegt, so tut er dies nicht aus verzweifelter Liebe zum Blut. Grausamkeit ist in der Tat nicht gleichbedeutend mit vergossenem Blut, mit Märtyrerfleisch und gekreuzigtem Feind. Diese Gleichsetzung der Grausamkeit mit den Foltern ist nur eine ganz nebensächliche Seite der Sache. In der Grausamkeit, die begangen wird, herrscht etwas wie höherer Determinismus, dem auch der folternde Henker unterworfen ist und den er, sollte der Fall eintreten, zu ertragen bestimmt ist. Vor allem ist Grausamkeit luzid, sie ist eine Art unerbittliche Führung, eine Unterwerfung unter die Notwendigkeit. Keine Grausamkeit ohne Bewusstsein, ohne eine Art von angewandtem Bewusstsein. Das Bewusstsein verleiht der Ausübung eines jeden Lebensvorgangs seine Blutfarbe, seine grausame Nuance, ist doch das Leben eingestandenermaßen stets jemandes Tod.

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Zweiter Brief AN J. P.

PARIS, 14. NOVEMBER 1932

Lieber Freund, die Grausamkeit ist meinem Denken nicht aufgepfropft; sie hat immer in ihm gelebt: doch musste ich ihrer erst bewusst werden. Ich gebrauche das Wort Grausamkeit im Sinne von Lebensgier, von kosmischer Unerbittlichkeit und erbarmungsloser Notwendigkeit, im gnostischen Sinne von Lebensstrudel, der die Finsternis verschlingt, im Sinne jenes Schmerzes, außerhalb dessen unabwendbarer Notwendigkeit das Leben unmöglich wäre; das Gute ist gewollt, es ist Ergebnis eines Tuns, das Böse dauert fort. Wenn der verborgene Gott erschafft, gehorcht er der grausamen Notwendigkeit der Schöpfung, die ihm selbst auferlegt ist; es ist ihm unmöglich, nicht zu erschaffen, demnach unmöglich, im Mittelpunkt des willentlichen Strudels des Guten nicht einen immer kleineren, immer mehr aufgezehrten Kern von Bösem zu dulden. Und das Theater im Sinne fortgesetzter Schöpfung und völlig magischer Handlung gehorcht dieser Notwendigkeit. Ein Stück ohne diesen Willen, diese blinde Lebensgier, das imstande wäre und alles beiseiteschöbe, sichtbar in jeder Gebärde, jedem Tun und im transzendenten Charakter der Handlung, wäre ein unnützes, ein danebengegangenes Stück.

A N TON IN A RTAU D

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Dritter Brief AN R. DE R.

PARIS, 16. NOVEMBER 1932

Lieber Freund, ich darf Ihnen gestehen, dass ich die Einwände, die gegen meinen Titel erhoben worden sind, weder verstehe noch gelten lasse. Denn mir scheint, dass die Schöpfung und das Leben selbst sich durch eine Art Unerbittlichkeit, also fundamentaler Grausamkeit definieren, welche die Dinge ihrem unausweichlichen Ende entgegenführt, um welchen Preis auch immer. Mühsal ist eine Grausamkeit, Dasein durch Mühsal ist eine Grausamkeit. Brahma, der seine Ruhe verlässt und sich bis zum Sein hinstreckt, leidet an einem Leiden, das vielleicht wieder Obertöne von Freude schenkt, aber an der äußersten Spitze der Kurve nur durch eine schreckliche Zermalmung sich äußert. Etwas wie uranfängliche Bosheit herrscht im Lebensfeuer, in der Lebensgier, im unbedachten Drang zum Leben: das Verlangen des Eros ist eine Grausamkeit, denn es verbrennt Nebensächliches; der Tod ist Grausamkeit, die Auferstehung ist Grausamkeit, die Verklärung ist Grausamkeit, denn nach allen Richtungen hin gibt es in einer geschlossenen, zirkulären Welt keinen Platz für den wahren Tod, denn ein Aufstieg ist eine Zerreißung, denn der geschlossene Raum ist erfüllt von lauter Leben, und jedes stärkere Leben geht durch andre hindurch, frisst sie also auf in einem Massaker, das eine Verklärung, ein Gutes darstellt. In der geoffenbarten Welt ist, metaphysisch gesprochen, das Böse dauerndes Gesetz, und was gut ist, ist Mühsal und bereits eine Grausamkeit, die auf eine andere aufgepfropft ist. Dies nicht verstehen, heißt alle metaphysischen Ideen nicht verstehen. Und nun komme man mir nicht mit dem Gerede, mein Titel sei begrenzt. Durch Grausamkeit gerinnen die Dinge, bilden sich die Pläne des Geschaffenen. Das Gute befindet sich stets auf der Außenseite, doch die Innenseite ist ein Böses. Ein Böses, das auf die Dauer verringert werden wird, doch erst im letzten und höchsten Augenblick, wenn alles, was Form war, wieder ins Chaos zurückkehren will. → Nachfolgende Doppelseite: Patricia Nolz als Zerlina, Peter Kellner als Masetto, Chor der Wiener Staatsoper, 2021

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BR IEFE Ü BER DIE GR AUSA MK EIT




DON GIOVANNI HAT SIE ALLESAMT MIT HINUNTER­ GERISSEN

Philippe Jordan


An den drei Opern des Mozart-Da Ponte-Zyklus misst sich schlechterdings alles, sie sind Ausgangspunkt und Grundstein unserer Opernarbeit, unserer musiktheatralischen künstlerischen Auseinandersetzungen. Ich gehe sogar weiter: Eine Neuerarbeitung dieser Meisterwerke, insbesondere des Don Giovanni mit dem wir unsere aktuelle Reise beginnen, kann womöglich das Potenzial entfalten, das gesamte Repertoire zu beeinflussen, inspirierend zu durchpulsen. Dem Mozart-Da Ponte-Zyklus liegt eine Wahrheit zugrunde, die allen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen und Narrativen der jeweils aktuellen Zeit oder Epoche zum Trotz unbeeinflusst zutage treten kann. Nicht zuletzt, weil die Emotionen bei Mozart pur, direkt und unverstellt zu uns sprechen. Wichtig ist nur, dass man sich als Interpret die Mühe macht, immer und immer wieder an die Basis zurückzukehren, das heißt: Das Libretto und den Notentext genau zu lesen (und dabei auf jede Form manieristischer Verunstaltung zu verzichten). Nichtsdestotrotz existiert heute bezüglich des Mozart’schen Werks zweifelsohne eine sehr breite interpretatorische Variabilität. Die Erfahrungen, die sich aus den fruchtbaren Reibungen zwischen der sogenannten traditionellen und der historisch informierten Aufführungspraxis ergaben, machen diesbezüglich viele legitime Ansätze möglich. Das Wichtige und zugleich Spannende ist daher, mit den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, die aus allen Ecken der Welt kommen, womöglich aus den unterschiedlichsten Schulen und Herangehensweisen, einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Sprache zu finden: Wie geht man etwa mit dem Text um, wie mit den Rezitativen? Sich nur auf einen schönen Klang zu beschränken, ist mir definitiv zu wenig. Insofern sehe ich die geplante aktuelle Staatsopern-Neuproduktion des gesamten Mozart-Da PonteZyklus als willkommenen Anlass, entsprechende künstlerische Antworten zu geben.

Grenzüberschreitung Innerhalb des Zyklus besitzt der Don Giovanni hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte an der Wiener Staatsoper eine ganz besondere Stellung: Das Haus wurde 1869 bekanntlich mit diesem Werk eröffnet, die legendäre, künstlerisch ungemein bedeutende Realisation durch Gustav Mahler und Alfred Roller (1905) hatte – über alle Ländergrenzen hinweg – etwas Stilbildendes und Revolutionäres wie kaum eine andere Produktion. Und auch im Zuge der Wiedereröffnung des Hauses 1955 nahm Don Giovanni einen prominenten Platz innerhalb der Festlichkeiten ein. Darüber hinaus haben weltweit unterschiedlichste Größen aus der Musik, Literatur und Philosophie wiederholt große Bewunderung für das Werk erkennen lassen. Kein Wunder: Mit dem Don Giovanni überschreitet Mozart eine Grenze, die er bei Nozze di Figaro noch eingehalten hat. Er weist hier schon in Richtung Verdi und Wagner 31

PHILIPPE JOR DA N


voraus, setzt einen Impuls, der nicht nur das damals Bestehende zum Höhepunkt führt, sondern auch das Kommende beeinflusst. Zauberflöte, Fidelio, Freischütz, Don Carlo, der Fliegende Holländer, der Ring des Nibelungen – sie alle sind die Folge von Don Giovanni. Wenn man die Giovanni-Partitur studiert, zeigt sich sowohl im Detail als auch im großen Ganzen ununterbrochen Verblüffendes: Wie geschickt doch alles gebaut ist und zueinander in Beziehung steht! Die Disposition der Tonarten, die ideale Abfolge von vorwärtstreibenden Teilen und notwendigen Ruhepunkten gemahnt an den goldenen Schnitt in der Architektur. Und wie raffiniert Mozart etwa eine musikdramaturgische Klammer schafft durch die Verwendung desselben verminderten Septakkordes an der Stelle, an der der Komtur im ersten Akt den tödlichen Stich erhält und an jener im zweiten Akt, bei der dessen steinernes Standbild eintritt. Dass Leporello ferner in seiner Verteidigungs-Arie im zweiten Akt dieselbe Melodie aufnimmt, die Donna Anna und Zerlina abwechselnd im Sextett davor angestimmt haben, ist ebenso geistreich wie die originelle Tatsache, dass Giovanni im Terzett am Beginn des zweiten Aktes die Melodie des folgenden Ständchens anstimmt: Dieselbe Musik, aber wie unterschiedlich gefärbt und orchestriert, da sie an verschiedene Personen gerichtet ist! Oder: Wenn Mozart am Ende der ersten Elvira-Arie Don Giovanni sein »Signorina« über den letzten Orchester-Akkord weitersingen und ihn damit aus der instrumentalen Deckung heraustreten lässt, sodass er von Elvira zwangsläufig »gesehen« werden muss, so ist das die äußerst kreative musikalische Beschreibung eines szenischen Vorganges.

Übergänge als Zusammenhänge Ein weiteres großes Thema ist, wie Mozart mit Übergängen zwischen einzelnen, für sich stehenden Teilen experimentiert. Er versuchte, formale Stereotypen zu überwinden und hat damit eine Entwicklung vorangetrieben, die den Weg zur durchkomponierten Oper beschleunigte. Das kündigt sich freilich schon in der Entführung aus dem Serail an, wo die Ouvertüre ebenfalls nahtlos in die erste Szene wechselt und erreicht bekanntlich einen ersten Höhepunkt in den ausgedehnten Kettenfinali von Nozze di Figaro. Im Don Giovanni wird diese Idee aber weitergeführt – nicht nur folgen die Finali demselben Muster wie im Figaro, es werden darüber hinaus größere Abschnitte noch klarer zusammengefasst. Das zeigt sich schon am Beginn: Aus der Ouvertüre entwickelt sich die erste Szene, in der sich Leporello dem Publikum sinngemäß damit vorstellt, dass er eigentlich auf der Stelle abhauen möchte. In diese absolute Buffo-Situation bricht mit einem Mal die dramatische Auseinandersetzung zwischen Donna Anna und Don Giovanni hinein, der wiederum der Komtur mit seinem Dazwischentreten eine zusätzliche Wendung gibt. Doch mit dessen Tod ist es immer noch nicht vorbei, denn es geht unPHILIPPE JOR DA N

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mittelbar mit zwei Secco-Rezitativen weiter, denen sich attacca subito ein Accompagnato-Rezitativ anschließt, aus dem wiederum ein Duett entwächst. Innerhalb von fünf Minuten passiert also ohne Unterbrechung immens Unterschiedliches, wodurch wir aus einer komischen Ausgangslage unerwartet in eine furchtbare Situation kippen. Ähnliches finden wir später erneut: Das berühmte Duett Giovanni/Zerlina »Là ci darem la mano« (»Dort reichen wir einander die Hand«) entwickelt sich ebenso organisch aus einem Rezitativ wie zuvor schon die »Registerarie« Leporellos. Und ganz grundsätzlich gilt dasselbe wie im Figaro: Der erste Akt weist insgesamt ein unglaubliches Crescendo und Accelerando auf. Das verinnerlichend, dirigiere ich heute offenbar einen Figaro oder Don Giovanni durchschnittlich schneller als am Beginn meiner Laufbahn.

Strategische Tänze und musikalische Zitate

Kate Lindsey als Donna Elvira, Philippe Sly als Leporello, Kyle Ketelsen als Don Giovanni, 2021

Eine dramaturgische Meisterleistung ist zudem der Einsatz dreier unterschiedlicher Orchester auf dem Fest Don Giovannis im ersten Akt, die zugleich drei rhythmisch unterschiedliche Tänze spielen – Mozart setzt diesen kompositorischen Coup nicht von ungefähr! Don Giovanni geht es ja darum, Zerlina von ihren übrigen Mitstreitern zu absentieren, um ungestört an sie herankommen zu können. Er plant dies schon ganz strategisch in der sogenannten Champagnerarie, wenn er namentlich drei Tänze nennt, die »ganz ohne Ordnung« zu erklingen haben, damit er in diesem Gewusel seine Eroberungsliste erweitern kann: Ein Menuett für die drei Masken, eine Follia – eigentlich ein Kontratanz, mit dem Giovanni Zerlina entführt – und eine Alemanna – mit der Leporello versucht, Masetto abzulenken und ihm den Weg zu Zerlina zu versperren. Und genau das gelangt beim Fest zur Ausführung. Dass Mozart Freude daran hatte, so etwas zu schreiben, kann mit Sicherheit angenommen werden. Einen noch viel größeren Spaß dürften Mozart und Da Ponte die drei Musikzitate beim Festmahl im zweiten Akt gemacht haben: Nacheinander erklingen, gewissermaßen wie in einer Hitparade, bekannte Motive beziehungsweise Ausschnitte aus drei zur Entstehungszeit des Don Giovanni populären Opern: Mozart zitiert die Arie »Come un agnello« aus Giuseppe Sartis dramma giocoso Fra i due litiganti il terzo gode, das Ensemble »O quanto un sì bel giubilo« aus Vicente Martín y Solers dramma giocoso Una cosa rara sowie »Non più andrai« aus seinem eigenen Figaro. Bezeichnenderweise nennt Leporello in den ersten beiden Fällen die Titel der zitierten Opern, die Figaro-Arie übertraf aber – zumindest suggerieren Mozart und Da Ponte dies – die anderen Melodien offenbar an Popularität, sodass »man diese Nummer kennt« (»Questo poi la conosco pur troppo«) und daher die konkrete Herkunft nicht näher erwähnen musste.

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DON GIOVA N N I H AT SIE A LLE SA MT MIT HIN U N T ER­G ER IS SEN

→ Nachfolgende Seiten: Kyle Ketelsen als Don Giovanni, Philippe Sly als Leporello, Kate Lindsey als Donna Elvira, 2021




Charakter und Subtext Apropos Nozze di Figaro – bezüglich der Tonartendisposition gibt es eine tatsächliche Querverbindung zwischen der ersten Mozart-Da Ponte-Oper und Don Giovanni: Die zentrale Tonart des notorischen Frauenverführers ist das D-Dur respektive das ins nächtliche Pendant gewandelte d-Moll. Und D-Dur vermittelt einerseits etwas Heiteres, Strahlendes, andererseits aber das männlich Draufgängerische. Verständlich, dass Mozart dieses D-Dur sowohl Don Giovanni als auch dem Grafen Almaviva zuordnet. Es liegt hier also eine eindeutige und bewusste, tonartendramaturgisch fundierte, persönlichkeitsbeschreibende Parallele vor. Das d-Moll und das D-Dur der Don GiovanniOuvertüre zeichnet übrigens von Anfang an das Porträt des Titelhelden: Natürlich nimmt der dramatische Beginn die Komturszene des zweiten Aktes vorweg, aber da der Komtur gewissermaßen Teil Don Giovannis ist, wird neben dem Spielerischen zugleich das Abgründige dieser zerrissenen Persönlichkeit aufgezeigt. Dass es sich bei Don Giovanni von der Gattung her um eine Komödie handelt, steht fest – wenn auch um eine schwarze mit großer Fallhöhe. Ein Nachtstück sozusagen, in dem das Komische stets präsent bleibt, aber die Schattenseiten und Abgründe ebenfalls bestimmend sind. Die Musik der Titelfigur ist aber wohlgemerkt – und das ist anders als etwa bei Puccinis Gianni Schicchi oder Verdis Falstaff – nicht per se komisch. Das Witzige, Sarkastische, Humorvolle findet sich bei ihm im Subtext, im Mehrdeutigen, Doppelbödigen des genialen Da Ponte-Librettos und nicht zuletzt in den großartig gestalteten Secco-Rezitativen. Lediglich in seiner Verkleidung als Leporello streift sich Don Giovanni im Musikstil Buffoneskes über, aber auch da liegt das eigentlich Amüsante in seiner Wortwahl und Eloquenz. Ganz allgemein ist Giovanni, und das ist ein Teil seines Erfolges, musikalisch ebenfalls ein Chamäleon, indem er sich immer an das jeweilige Gegenüber anpasst, wie ein Magnet alle anderen anzieht und diese benutzt. Er hat eine andere Musik für Zerlina als für die Zofe, eine andere für Donna Anna als für Elvira. Gelegentlich werde ich in diesem Zusammenhang mit dem interessanten Gedanken konfrontiert, dass Mozarts Don Giovanni und Verdis Falstaff ebenbürtige Charaktere wären – der erste das jüngere Alter Ego des anderen. Aber das sehe ich nicht so: Denn bei aller Intrige bleibt Falstaff ein Romantiker, der Briefe dichtet, sich verliebt und seine eigenen Fehler letztlich einsieht. Giovanni hingegen entwickelt seine Energie auf Kosten der anderen und hat ganz eindeutig Freude und Spaß am Destruktiven. Das Glück, die Jugend des Hochzeitspaares Masetto-Zerlina beispielsweise reizt ihn. Er möchte daran teilnehmen und zugleich alle bewusst zerstören. Und als Leporello in der Friedhofsszene erfährt, dass seine eigene Frau möglicherweise gerade von Giovanni verführt wurde, so kennt die boshafte Heiterkeit des Titelhelden angesichts der erschrockenen Verzweiflung seines Dieners keine Grenzen. PHILIPPE JOR DA N

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Abschließend sei noch ein Aspekt angesprochen, der bei jeder Don GiovanniNeuproduktion zuerst geklärt werden muss: Die Frage nach der Fassung. Ich bin sicher, dass ich für eine auf wenige Aufführungen beschränkte Umsetzung in einem Stagionehaus oder bei Festspielen die Prager Uraufführungsversion vorziehen würde, schließlich handelt es sich dabei um das Original. Aber in einem Repertoirehaus wie der Wiener Staatsoper kann und darf man auf die beiden großartigen Arien der Wiener Fassung – Don Ottavios »Dalla sua pace« und Donna Elviras »Mi tradì« – nicht verzichten. Das Publikum erwartet sie regelrecht, und im gesamten Fluss des Handlungsverlaufes stellt vor allem die Tenorarie einen ausgleichenden Ruhepunkt dar, der sogar vergessen macht, dass die Proportionen des zweiten Aktes durch diese Einfügungen etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Anders sieht es mit dem für Wien nachgereichten Duett »Per queste tue manine« von Zerlina und Leporello aus. Diese kleine Nummer ist, dramaturgisch gesehen, überflüssig und würde die qualitätvollere Leporello-Arie »Ah pietà, signori miei« ersetzen, was mir überaus leidtäte. Das früher übliche Weglassen der letzten Szene stand für mich hingegen nie zur Diskussion. Natürlich hat es einen gewissen dramatischen Effekt, wenn die Oper mit der Höllenfahrt Giovannis endet – wie immer man sie auch erzählt. Aber der nachfolgende Dur-Epilog ist deshalb so wichtig, weil er zeigt, dass Giovanni letztlich nicht verschwunden ist. Er hat im Laufe der vom Publikum miterlebten Geschichte alle Beteiligten verführt, aus dem Lot gebracht, negativ beeinflusst, mit seinem Gift verwundet – und das hat bleibende Folgen. Ich finde es sehr bezeichnend, dass Mozart ganz am Schluss im Orchester noch eine D-Dur-Tonleiter hinunterrast. Damit symbolisiert er gewissermaßen: Don Giovanni hat sie allesamt in die Hölle mitgerissen. Insbesondere das sehr schnelle, im sotto voce angestimmte, gemeinsam gesungene »Questo è il fin di chi fa mal« (»Dies ist das Ende jener, die Böses tun«) atmet einen unbarmherzigen Fundamentalismus, zeigt schonungslos auf, dass diese im wahrsten Sinn des Wortes Übriggebliebenen kein besonders hehres humanistisches Gefühl mehr umtreibt, sondern die Genugtuung der Rache als Trost herhalten muss. Masetto und Zerlina haben es immerhin geschafft, wieder zusammenzufinden, in puncto Beziehung sogar gestärkt und gereift aus allem hervorzugehen – das merkt man spätestens bei Zerlinas zärtlichem »Vedrai, carino«. Aber alle anderen sind definitiv vollkommen kaputt: An eine tragfähige gemeinsame Zukunft von Donna Anna und Don Ottavio glaube ich nicht, da nutzt das von Anna eingeforderte Trauerjahr wenig. Der vom Gift ausgezehrte Leporello dürfte in diversen Wirtshäusern zum Alkoholiker verkommen und Elvira, mit Leporello das vielleicht größte Opfer Don Giovannis, bleibt – ob im Kloster oder außerhalb – nur mehr eine innerliche Leere. Und diese spürbaren, unumkehrbaren Auswirkungen werden im Schluss-Sextett als Conclusio der Geschichte aufgezeigt.

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DON GIOVA N N I H AT SIE A LLE SA MT MIT HIN U N T ER­G ER IS SEN


Joseph Richter → Über Tanzsäle

Ein großer Tanzsaal voll Hängleuchter und Spiegel. Der Raum wäre vielleicht für 8 oder 10 Paare zur Minuete geräumig, es tanzen aber noch einmal so viel, daher geht es so verwirrt zu, daß Tänzer und Tänzerinnen nicht mehr wissen, wie sie zusammen gehören, und daher mancher den Tanz, den er mit einem Stubenmädchen angefangen, mit seiner Frau endigen muß. Ein Schuster, der sich aufs Aushalten nicht versteht, und streng über das eins, zwey, drey und vier hält, tritt einer Köchin auf das Hühneraug, die ihrem Fleischhacker darüber ohnmächtig in die Arme fällt. Verschiedene Herren in Wildschuren und Ansagermänteln, die blos da sind, um den Tänzern den Platz zu verstellen, klatschen in die Hände, und schreyn: einen Deutschen, einen Deutschen; die Minuetliebhaber hingegen fordern, daß man Minuete fortmache. – Die Gesellschaft der Tonkünstler, von denen jeder zum Kunstzeichen eine große Flasche Wein vor sich stehen hat, sind wie die holländischen Provinzen in ihren Stimmen getheilt; daher spielt die eine Hälfte Minuete und die andere einen Deutschen auf, worüber die ohnehin unter den Tänzern herrschende Verwirrung den höchsten Grad erreicht.

→ Bildergalerie weltlicher Misbräuche, Frankfurt und Leipzig 1785 JOSEPH R ICH T ER

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→ Johann Ernst Mansfeld (zugeschrieben), Wiener Ballsaal, 1785 In dem Band Bildergalerie weltlicher Misbräuche (1785) setzt sich der Wiener Journalist und Schriftsteller Joseph Richter (unter dem Pseudonym »Pater Hilarius, Ex-Kapuziner«) mit verschiedensten Facetten des städtischen Lebens auseinander – die einzelnen Kapitel tragen Titel wie »Über Komplimente«, »Über das Fahren in den Städten« oder eben »Über Tanzsäle«. Die illustrierenden Kupferstiche – also auch jener, der den Ballsaal zeigt, in dem eine Gesellschaft der Tonkünstler beschließt, zugleich einen »Deutschen« und ein Menuett zu spielen und so höchste Verwirrung anrichtet – werden Johann Ernst Mansfeld zugeschrieben. Der amerikanische Autor Daniel Heartz (Mozart’s Operas, 1990) zieht aus Richters Beschreibung den Schluss, dass Wolfgang Amadeus Mozart derartige Szenen der »Verwirrung« in den Tanzsälen seiner Zeit selbst erlebt und diese Erfahrung im Finale des ersten Aktes von Don Giovanni verarbeitet habe. Vielleicht waren Mozart und Da Ponte auch direkt von Joseph Richters polemischen Beschreibungen inspiriert, als sie jene Szene schufen, in der Donna Anna und Don Ottavio ein Menuett tanzen, während Leporello Masetto zu einem »Deutschen« (bzw. »Teitsch«) nötigt. Der Grad der »Verwirrung« steigert sich über jenen in Richters Tanzsaal hinaus, ein drittes Orchester spielt einen dritten Tanz, mit dem Don Giovanni seine geplante Verführung Zerlinas einleitet. Es ist ein Kontratanz, den Don Giovanni mit sprechendem Namen nennt: Follia – Wahnsinn.

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Ü BER TA NZSÄ LE


Ovid

PENTHEUS UND BACCHUS aus den Metamorphosen

Der Wahrsager hatte einen sehr großen Namen. Doch als einziger von allen verschmäht ihn Echions Sohn Pentheus, der Verächter der Götter. Er verspottet die prophetischen Worte des Alten und macht ihm seine Blindheit, den schmerzlichen Verlust seines Augenlichtes, zum Vorwurf. Jener aber schüttelt die grauen Schläfen und versetzt: »Wie glücklich wärest du, wenn auch dir dieses Augenlicht genommen würde, so dass du die Mysterien des Bacchus nicht sehen könntest! Denn der Tag wird kommen – und ich ahne, dass er nicht fern ist –, an dem ein neuer Gott, Bacchus, Semeles Sohn, hier erscheinen wird. Wenn du ihn nicht für würdig hältst, von dir durch Tempel geehrt zu werden, wirst du, zerfleischt und verstreut, an tausend Stellen den Wald mit deinem Blut besudeln und auch deine Mutter und die Schwestern deiner Mutter. OV ID

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Ja, es wird geschehen; denn du wirst der Gottheit nicht die Ehre geben. Beklagen wirst du noch, dass ich trotz meiner Blindheit nur allzu viel gesehen habe.« Während er solches spricht, jagt ihn Echions Sohn hinaus. Auf die Worte folgt die Erfüllung; und was der Seher verkündet hat, spielt sich ab. Bacchus ist da, und die Felder brausen vor festlichem Frohlocken, ein Schwarm stürmt daher; unter die Männer mischen sich Mütter und Schwiegertöchter, und Hoch und Niedrig eilt zu den neuartigen Mysterien. »Welch ein Wahn hat euern Sinn betört, ihr Schlangengeborenen, du Volk des Mars!« ruft Pentheus. »Kann denn Erz, das an Erz schlägt, so viel ausrichten, ein Blasinstrument mit gekrümmtem Horn und magischer Betrug? Männer, die kein Kriegsschwert, keine Feldtrompete erschrecken konnte und kein Heer mit gezückten Waffen, sollen von Frauenstimmen, weinseligem Wahnsinn, zuchtlosen Horden und hohlen Tamburinen besiegt werden? Soll ich mich mehr über euch wundern, ihr Alten? Nach langer Seefahrt habt ihr hier ein neues Tyros, hier eine Flüchtlingsheimat gegründet; und jetzt lasst ihr euch kampflos erobern? Oder mehr über euch, ihr jungen Männer, die ihr besser zum Krieg taugt und meinem Lebensalter näher steht? Euch ziemte es, Waffen zu tragen, keine Thyrsusstäbe, einen Helm, keinen Kranz aufzusetzen. Denkt bitte daran, woher ihr stammt, und erfüllt euch mit dem Mut der Schlange, die allein war und doch viele getötet hat. Sie ist für die Quelle und den See gefallen; ihr aber, siegt um eurer Ehre willen! Sie hat Tapferen den Tod gegeben; verjagt ihr jetzt die Weichlinge und wahrt den ererbten Ruhm! Hat schon das Schicksal Theben keinen langen Bestand vergönnt – o wären es dann doch wenigstens Geschütze und Männer, die unsere Mauern zerstörten! O klirrten doch Klingen und knisterten Brände! Dann wären wir unglücklich, aber ohne Tadel, man müsste unser Los beklagen, nicht verheimlichen, und wir brauchten uns unserer Tränen nicht zu schämen. Nun aber wird Theben von einem waffenlosen Knaben erobert werden, den kein Krieg, keine Speere, keine Rosse erfreuen, sondern nur Haar, das von Myrrhe trieft, weichliche Kränze, Purpur und Gold, das in bunte Gewänder eingewoben ist. Ihn werde ich – haltet ihr euch nur zurück! – auf der Stelle zwingen zu gestehen, dass er sich seinen Vater selbst zugelegt und seine Mysterien erlogen hat. Soll etwa Acrisius Mut genug haben, einen falschen Gott zu verachten und vor seiner Ankunft die Tore von Argos zu verschließen – den Pentheus aber und mit ihm ganz Theben soll ein Hergelaufener einschüchtern? Echions Sohn bleibt verstockt. Er schickt nicht mehr andere, sondern er geht selbst dorthin, wo der Cithaeron; den man zum Ort der Mysterienfeier erkoren hatte, von Gesängen und den hellen Stimmen der Bacchantinnen widerhallte. Wie ein feuriges Pferd schnaubt und Lust bekommt, in die Schlacht zu ziehen, wenn der Kriegstrompeter mit dem klangvollen Erz das Signal gegeben hat, so wurde Pentheus erregt, weil 41

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langgezogenes Geheul den Äther erschütterte, und beim Anhören des Geschreis flammte sein Zorn wieder auf. Etwa auf halber Höhe des Berges liegt, rings von Wald umschlossen, ein Feld ohne Bäume, das von allen Seiten sichtbar ist. Hier sieht Pentheus das Heilige mit unheiligen Augen. Als erste erblickt ihn dabei die Mutter. Als erste ist sie, vom Wahnsinn getrieben, auf ihn zugestürzt, als erste hat sie ihren Pentheus mit dem Thyrsus verwundet und gerufen: »Ihr zwei Schwestern, kommt herbei! Den Eber, der in Riesengestalt auf unseren Feldern umherstreift, den Eber muss ich erlegen.« Die ganze Schar wirft sich rasend auf den einen Mann. Alle schließen sich zusammen und folgen dem Ängstlichen. Ja, schon hat er Angst, schon spricht er weniger gewalttätige Worte, schon verurteilt er sich selbst, schon bekennt er, dass er sich versündigt hat. Er war verwundet, doch rief er noch: »Hilf mir, Autonoe, Schwester meiner Mutter! Lass dich in deinem Zorn erweichen durch Actaeons Schatten!« Sie weiß nicht mehr, wer Actaeon ist, und reißt dem Bittenden den rechten Arm ab, den anderen zerfetzt Ino mit heftigem Ruck. Der Unselige hat keine Arme mehr, um sie seiner Mutter entgegenzustrecken, doch zeigt er ihr die verstümmelten Wunden ohne die am Boden liegenden Glieder. »Sieh mich an, Mutter.« Bei dem Anblick heulte Agaue auf, warf den Kopf in den Nacken und ließ das Haar im Winde flattern. Das abgerissene Haupt mit blutigen Fingern um­klammernd, ruft sie: »Hurra, meine Gefährtinnen, dieses Werk habe ich siegreich vollbracht.« Schneller reißt kein Wind vom hohen Baume das Laub, das, vom herbstlichen Frost angegriffen, kaum noch an den Zweigen haftet: So rasch wurden die Glieder des Mannes von frevelnden Händen zerrissen. Mit diesem abschreckenden Beispiel vor Augen besuchen die Frauen vom Ismenus eifrig die neuen Mysterien und opfern Weihrauch an heiligen Altären.

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Samuel Beckett → Warten auf Godot

Estragon sanft Wolltest du mit mir sprechen? Waldimir antwortet nicht. Estragon geht einen Schritt weiter. Hattest du mir etwas zu sagen? Schweigen. Er geht noch einen Schritt weiter. Sag, Didi… Wladimir ohne sich umzudrehen Ich hab dir nichts zu sagen. Estragon geht einen Schritt weiter vor Bist du böse? Schweigen. Einen Schritt vor. Verzeih! Schweigen. Einen Schritt vor. Er berührt Wladimirs Schulter. Hör mal, Didi. Schweigen. Gib mir die Hand. Wladimir wendet sich ihm zu. Umarme mich! Wladimir sträubt sich. Sei doch nicht so stur! Wladimir wird weich. Sie umarmen einander. Estragon weicht zurück. Du stinkst nach Knoblauch. Wladimir Ist gut für die Nieren. Schweigen.

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ZU DEN FOTOGRAFIEN VON HELENE SCHMITZ Die Fotografien von Helene Schmitz (geb. 1969 in Stockholm) erforschen die komplizierte Beziehung der Menschheit zu Natur, Zeit und der Vergänglichkeit des Seins. In ihren früheren Arbeiten galt ihr Interesse den Naturphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts. Ihre späteren Arbeiten können als Betrachtungen darüber gesehen werden, wie sich der Diskurs der Aufklärung in zeitgenössische Landschaften eingeschrieben hat. Ihre Arbeiten wurden in Museen und Galerien wie der Fotografiska in New York, der Galerie Maria Lund in Paris und dem Fotografisk Center in Kopenhagen gezeigt. Sie ist in vielen prominenten Sammlungen vertreten, unter anderem in The Danish Agency of Culture und The National Public Art Council in Schweden. Ihr künstlerisches Werk findet sich auch in mehreren preisgekrönten Büchern, für die sie mit Schriftstellern, Philosophen und Ideenhistorikern zusammengearbeitet hat. Dieses Programmbuch zeigt vier der Fotografien von Schmitz aus zwei verschiedenen Serien – Sunken Gardens (2010) und Earthworks (2015). Spuren menschlicher Aktivität in einem feindlichen Dschungel treten aus der Fotoserie Sunken Gardens hervor. Die dargestellten Anlagen wurden von einem Europäer errichtet, der in Surinam in Südamerika lebt; ihr Zweck ist der Export von Schmetterlingen nach Europa. In Helene Schmitz’ Arbeiten begegnen wir einer Ausbeutung der Natur im kleinen Maßstab, die am Rande der Selbstauflösung steht. Die Unmöglichkeit des Projekts spiegelt sich in der unterirdischen Umgebung wider, die in den Fotos eingefangen wird. Ein Sonnenstrahl, der das Laubdach durchdringt, wird schon sehr bald von der dunklen Vegetation erstickt werden. Die Serie Earthworks entstand aus einer besonderen Geschichte, auf die Helene Schmitz aufmerksam wurde. Die Serie zeigt ein komplexes Phänomen – der Wind vom Atlantischen Ozean bewegt Sandmassen, die in die Gebäude einsickern, bis der Sand jeden freien Raum einnimmt, neue Dünen erschafft und bis an die Decke reicht. Die Geschichte hinter diesen Orten verweist auf koloniales Unternehmertum, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in einem an Bodenschätzen reichen Gebiet in der namibischen Wüste installiert wurde. Z U DEN FOTOGR A FIEN VON HELEN E SCHMITZ

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Samuel Beckett → Warten auf Godot

Estragon kühl: Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, auseinanderzugehen. Wladimir Du würdest nicht weit kommen.

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Z U DEN FOTOGR A FIEN VON HELEN E SCHMITZ


Nikolaus Stenitzer

VON DER HEITERKEIT DES DRAMAS

Don Giovanni, eine Komödie


Dramma giocoso: So steht es seit der Prager Uraufführung 1787 auf den Libretto- und auch auf den späteren Partiturdrucken des Don Giovanni. Ein heiteres Drama, so wurde die Genrebezeichnung häufig übersetzt, ein verspieltes Drama, wäre die wörtliche Übersetzung. Was ein »dramma giocoso« aber tatsächlich sei und was das für den Don Giovanni bedeute, war immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Noch heute ist manchmal von einer Mischform die Rede, von einer komischen Oper mit ernsten Elementen, einer Art Tragikomödie. Diese Auffassung knüpfte sich an die häufige Verwendung des Begriffs durch Carlo Goldoni und an die sich zeitgleich mit seinen Libretti verbreitete Praxis, ernste Partien (parti serie) in Buffohandlungen einzubauen. Diese Praxis wurde aber schnell gängig, sodass eher von einer Entwicklung innerhalb der Opera buffa die Rede sein muss. Dass im Librettodruck zu Mozarts Dramma giocoso La finta giardinera (Uraufführung 1775) die Partien in ›parti serie‹ und ›parti buffe‹ unterschieden waren, faszinierte etwa Alfred Einstein in seiner kanonischen Mozart-Biographie (1945) als eine solche Entwicklung. Das »terzo genere« der Opera semiseria, das tragische Biographien nicht mehr bloß adeligen Charakteren zugesteht und häufig die ständeübergreifende Liebe thematisiert, sieht etwa der Musikwissenschafter Arnold Jacobshagen erst in der Epoche der Restauration um 1815 etabliert. Die Musikwissenschaft weist gerade auch im Zusammenhang mit Mozarts Don Giovanni seit Langem darauf hin, dass »Dramma giocoso« und »Opera buffa« im 18. Jahrhundert synonymisch verwendet wurden beziehungsweise das »dramma« vor allem das Libretto bezeichne, aus dem die »opera« entstanden sei. Sie können sich dabei auf einen gewichtigen Gewährsmann berufen. In sein Verzeichnüß aller meiner Werke trug Wolfgang Amadeus Mozart am 28. Oktober 1787 ein: Il dissoluto punito, o, il Don Giovanni, opera Buffa in 2 Atti. Die Genrebezeichnung ist eindeutig: Mozart schlägt seinen Don Giovanni der komischen Oper zu. Don Giovanni, die »Oper aller Opern«, wie sie E. T. A. Hoffmann in seiner folgenschweren Novelle Don Juan (1813) nannte, scheint sich gegen die Profanität der Kategorisierung ohnehin zu wehren. Das düstere d-Moll der Ouvertüre, das nach Leporellos Buffa-Arie in der Introduktion gleich wiederkehrt, kann als der Grundton der Oper beschrieben werden: Ganz richtig wurde darauf verwiesen, dass diese Ouvertüre nicht, wie Gluck es von der damals noch sinfonia genannten Opernouvertüre forderte, den Inhalt der Oper musikalisch wiedergibt; die Atmosphäre des Werkes spiegelt Mozart dagegen mit dem düsteren Beginn und der fiebrig-euphorischen Verlagerung von d-Moll nach D-Dur meisterlich.

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Der romantische Don Giovanni Dass Don Giovanni über die Jahrhunderte so oft mit deutlichem Schwerpunkt auf den düsteren Anteilen interpretiert wurde, wird auf den Einfluss der romantischen Rezeption zurückgeführt. Die erwähnte Novelle E. T. A. Hoffmanns gilt dabei als besonders einflussreich. Ein »reisender Enthusiast« trifft darin auf eine Interpretin der Donna Anna, die sich der dämonischen Erotik Don Giovannis auch jenseits der Bühne nicht mehr entziehen kann und schließlich daran zugrunde geht. Walter Felsenstein fantasierte noch 1966 in seinem Aufsatz Donna Anna und Don Giovanni äußerst plastisch die Szene, in der Donna Anna von dieser Magie erfasst wird (»zugleich mit ihrer entsetzten Angst wird sie von einem nie gekannten, ungeheuren Gefühl erfasst, dem sie sich nicht zu widersetzen vermag«), und das, obwohl er doch eigentlich vor allem den Beweis antreten will, dass zwischen Don Giovanni und Donna Anna im Dunkel der Schlafkammer nichts geschehen sei. Hoffmanns Novelle ist aber vor allem deswegen von so großer Bedeutung für die weitere Auseinandersetzung mit Don Giovanni, weil sie die Unerklärlichkeit der Anziehungskraft des »Dissoluto« aus einem metaphysischen Konflikt um die Seele des Protagonisten entspringen lässt. Der »reisende Enthusiast« beschreibt Don Juans sexuelle oder erotische Rastlosigkeit als einen Irrgang in Folge einer Falle, die ihm direkt vom Teufel gestellt worden sei: »In Don Juans Gemüt kam durch des Erbfeindes List der Gedanke, dass durch die Liebe, durch den Genuss des Weibes, schon auf Erden das erfüllt werden könne, was bloß als himmlische Verheißung in der Brust wohnt, und eben jene unendliche Sehnsucht ist, die uns mit dem Überirdischen in unmittelbaren Rapport setzt.« Hier entsteht jenes tiefdunkle romantische Ambiente, das die Auseinandersetzung mit Don Giovanni seit dem 19. Jahrhundert geprägt hat. Als eine Zuspitzung der romantischen Deutung könnte die nach Mozarts Tod von Wien aus sich verbreitende Praxis bezeichnet werden, das lieto fine, das für die Opera buffa charakteristische heitere Ende, zu streichen und so direkt mit der Höllenfahrt Don Giovannis zu enden. Dass Mozart selbst die letzte Szene für die Wiener Fassung (1788) gestrichen hätte, wurde immer wieder vermutet. Ein entsprechender Strich in der autographen Partitur der Wiener Erstaufführung wurde lange Zeit der Einstudierung durch Franz Xaver Süßmayer (1798) zugeordnet, denkbar schien zuletzt aber auch, dass die Wiener Erstaufführung tatsächlich ohne das Schlusssextett gespielt, dieses in späteren Aufführungen aber wieder eingefügt wurde (vgl. dazu den Beitrag von Oliver Láng ab S. 100). Gustav Mahler entschied sich für seine Wiener Einstudierung von 1905 für den Strich, und auch in jüngerer Vergangenheit wurde das Publikum gelegentlich direkt nach der Höllenfahrt entlassen.

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Antagonismus und Ähnlichkeit Die Frage nach dem Umgang mit der Finalszene führt zurück zu jener nach der Beschaffenheit dieses dramma giocoso oder auch: nach der Heiterkeit des Dramas. Endet die Oper nach Don Giovannis Höllenfahrt, so kommt der Opera buffa, die Mozart doch geschrieben haben wollte, mit dem lieto fine eines ihrer wichtigsten Merkmale abhanden. Der romantisch geprägten Rezeption, die Dieter Borchmeyer unter dem Titel Wirkung als Widersacher des Werks (2020) untersuchte, wäre es damit zeitweilig gelungen, das Werk gewissermaßen seinem Genre zu entziehen. Aber wie das Abgründig-düstere im Don Giovanni keine Erfindung der romantischen Rezeption ist, so sind auch die komischen Elemente integraler Bestandteil des Werks. Weil beide Anteile ineinander verwoben sind, lohnt ein Blick auf die Funktionsweisen des Komischen in Don Giovanni. Formal finden wir zahlreiche Elemente, die das Genre der Opera buffa auszeichnen: Heitere Arien, Buffa-Figuren, Wortwitz und schnelle Dialoge in den Rezitativen. Das Besondere, und vielleicht auch das, was Don Giovanni zum Teil dem komischen Genre zu entziehen scheint, sind die häufigen Brüche in diesen Elementen, auf die Johanna Wall hingewiesen hat. Die Dramaturgin nennt in diesem Zusammenhang etwa das abrupte Ende des heiteren Hochzeitstanzes Zerlinas und Masettos mit dem Auftauchen Don Giovannis oder den Umstand, dass in die Szene der Erwartung des »steinernen Gastes« am Beginn des zweiten Finales die komische Nummer um Leporellos Naschsucht integriert wird. Das Motiv des gefräßigen Dieners gehört ebenso zum Repertoire der Komödie wie der drollige Antagonismus von Herr und Knecht. Leporellos »Notte e giorno faticar« (»Tag und Nacht sich abrackern«) in der Introduktion ist die routinierte Klage des Buffa-Dieners über die Beschwerlichkeit seines Lebens, samt dem ebenso routinierten Wunsch, selbst ein »gentiluomo« zu sein – der nicht übersehen werden sollte. Leporellos Szenen generieren häufig Komik aus der Konfrontation mit Don Giovanni. Wenn er etwa in der vierten Szene des ersten Aktes behutsam einen »affar importante«, eine »wichtige Sache« einleitet, die schließlich nur darin bestehen wird, dass er seinem Herrn ein Lumpenleben bescheinigt, kann sich das Publikum schon bei den ersten Worten des Dieners darauf einstellen, sich gleich an einem Wutausbruch des Herrn belustigen zu können. Im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten Zerlinas und Masettos parodiert Leporello dann Don Giovannis Aussage gegenüber den Brautleuten und bietet den Bauernmädchen seine »protezione« an. So entlarvt er die betrüger­ ische Blasiertheit seines Herrn und stellt seine eigene Bauernschläue unter Beweis. Zwischen Don Giovanni und Leporello herrscht aber nicht nur komischer Antagonismus und auch nicht bloß das Abhängigkeitsverhältnis zwischen 57

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Herr und Diener. Die beiden verbindet eine Komplizenschaft, die auch als Doppelgesichtigkeit ein und desselben Charakters gedeutet werden kann. Es ist wichtig, dass beide den selben Referenzrahmen teilen: Der Diener kann kein Moralist sein. Vielmehr befördert er die Handlung durch die ihm eigene Dialektik von Mahnen und Fördern. Der Regisseur Joachim Herz hat schon 1985 darauf hingewiesen, dass Leporello nicht der Mensch sei, der »die Unterschiede des Standes abschaffen möchte, er findet nur, dass er auf dieser Stufenleiter schlecht platziert ist«. Im Kontext der romantischen Rezeption wurde eine noch deutlich engere Verbindung zwischen Don Giovanni und Leporello vorgeschlagen. SØren Kierkegaard, der in Entweder – Oder (1843) Don Giovanni als dritte Stufe des Musikalisch-Erotischen etabliert, beschreibt eine untrennbare Verbindung: »Halten wir jedoch daran fest, dass Don Juan unmittelbares Leben ist, so ist leicht zu verstehen, dass er einen entscheidenden Einfluss auf Leporello ausüben kann, dass er ihn sich assimiliert, so dass er fast zu einem Organ Don Juans wird. Leporello ist in gewissem Sinne näher daran, ein persönliches Bewusstsein zu sein, als Don Juan; um es aber zu werden, müsste er sich über sein Verhältnis zu diesem klar werden, doch das vermag er nicht, er vermag den Zauber nicht zu heben. […] Auch in Leporellos Verhältnis zu Don Juan ist etwas Erotisches, durch irgendeine Macht ist er selbst gegen seinen Willen an ihn gefesselt; in dieser Zweideutigkeit aber ist er musikalisch, und Don Juan tönt beständig in ihm wieder […].« »Ein Ich und seine Abspaltung«, lautete knapp 80 Jahre später das Resümee von Otto Rank zum Verhältnis zwischen Leporello und Don Giovanni. Die Ausführungen des Freud-Schülers in seiner Schrift Die Don Juan-Gestalt (1924) stehen fest auf dem Boden der Psychoanalyse und entsprechend im Gegensatz zu Kierkegaards Existenzphilosophie. Rank erinnert an Sigmund Freuds Hinweis, wonach auch Shakespeare häufig »Charaktere in zwei Personen zerlege, von denen jede begreiflich unvollständig erscheine, solange man sie nicht mit der anderen wiederum zur Einheit zusammensetze«. Leporello wäre demnach ein Teil der Don-Giovanni-Gestalt, ja mehr noch: Don Giovanni wäre nach Rank »unmöglich, wenn nicht in Leporello eben der Teil des ›Don Juan‹ abgespalten wäre, der die Kritik, die Angst und das Gewissen des Helden repräsentiert«. Ranks analytisches Werkzeug vermag Don Giovanni und Leporello allerdings nicht zu fassen. »Unmöglich« wäre Don Giovanni als psychologisch gedachte Figur, aber nicht als das um sich greifende dionysische Prinzip, als das ihn Da Ponte und Mozart zeichnen. Psychologisch stringent wird er auch nicht aus der Addition mit Leporello: zu ähnlich ist der Diener seinem Herrn. Diese Ähnlichkeit, ihre Folgen und das Scheitern ihrer Identifizierung bergen weitere Spielarten der sehr speziellen Don-Giovanni-Komik in sich.

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Komik und Erniedrigung Leporellos berühmte »Registerarie« im ersten Akt, in der er Donna Elvira ihre Austauschbarkeit anhand des Katalogs von Don Giovannis Liebschaften vorträgt, ist dem Genre nach eine Buffa-Arie. Das ist so eindeutig wie die Verhöhnung der Betrogenen als Movens der Komik. Sie wird sich in noch deutlich stärkerer Form wiederholen, wenn Leporello Donna Elvira in der dritten Szene des zweiten Aktes als Don Giovanni verkleidet versprechen wird, ihr ewig treu zu sein. Donna Elvira kann kaum fassen, dass Don Giovanni plötzlich bereit scheint, sich ihr wieder zuzuwenden – nach so vielen Enttäuschungen und Erniedrigungen, die er ihr zugefügt hat. In ihrer Ansprache an den vermeintlichen Geliebten versucht sie, ihre Liebe und Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen, Don Giovanni an seine Pflicht zu erinnern und ihm schließlich noch ein Treueversprechen abzunehmen: »Also darf ich glauben, dass meine Tränen dein Herz besiegt haben? Also bereut der geliebte Don Giovanni und kehrt zu seiner Pflicht und meiner Liebe zurück?« – »Ja, meine Hübsche«, antwortet Leporello. Seine Antwort ist eine leichthin ausgesprochene Lüge und zugleich eine Parodie der Schmeicheleien seines Herrn und eine Verhöhnung Donna Elviras. Je nach Fokus der Inszenierung kann sich das Publikum darüber amüsieren, wie Leporello Don Giovanni parodiert, wie er langsam in seine Rolle hineinwächst (»Der Spaß gefällt mir«), wie er versucht, nicht erkannt zu werden. In jedem Fall muss der Spaß auf Kosten der Betrogenen gehen. Der Don-Giovanni-Komplex ist ein Don-Giovanni-Leporello-Komplex, den nicht zuletzt die Brutalität auszeichnet, die den komischen Anteilen des Werkes eigen ist. Komisch wird Leporellos Charakter aber nicht nur durch seine unbekümmerte Rücksichtslosigkeit. Wenn Otto Rank ihm »die Kritik, das Gewissen und die Angst« zuschreibt, so sind diese Eigenschaften, ob abgespalten oder nicht, für die schwarze Komik von Don Giovanni von großer Bedeutung. Leporello eignet eine komische Fallhöhe, wenn er seinem Herrn Vorhaltungen macht, sich beklagt und dann doch wieder Gefallen daran findet, an dessen Ränkespielen beteiligt zu sein, ihm ähnlich zu werden. Seine immer wiederkehrende Furcht vor Strafe – durch seinen Herrn, die Gesellschaft, Gott – eröffnet weitere Möglichkeiten einer Komik des Lächerlichen. In einem Drama, das existenzielle Fragen aufwirft, ist Leporello die Figur, die das düstere Ambiente komisch konterkariert – durch scheinbar »unpassende« buffo-Momente ebenso wie durch seine eigene Angst, die ihn lächerlich erscheinen lassen kann. Selbst trägt er zur Ambiguität der »buffa« bei, indem er eine brutale und rücksichtslose Komik gerade im Zusammenspiel mit einem weiblichen Charakter an den Tag legt, dem der Donna Elvira. Leporello ist zweifacher Träger einer Komik des Lächerlichen, deren Technik die der Erniedrigung ist: einmal als Erniedrigter, dann als Erniedriger.

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Verspieltheit, Furcht und Mitleid Die »Verspieltheit«, die der Begriff des Dramma giocosa beinhaltet, ist entscheidend für die literarische Anlage Lorenzo Da Pontes und die musikalische Ausführung Mozarts. Don Giovanni erinnert uns als Ganzes daran, dass ein komisches Werk nicht zu einer romantischen Tragödie wird, wenn seine Komik sich der (inzwischen) gewohnten Betrachtung entzieht, unangenehm oder erschreckend erscheint. Lorenzo Da Ponte bedient sich in seinem Libretto bewährter Techniken des Komischen, Mozart komponiert in »Notte e giorno faticar« Leporellos komischen Missmut und in »Giovinette che fate all’amore« die Ausgelassenheit einer Bauernhochzeit. Dass das Heitere und das Komische in Don Giovanni immer wieder gebrochen werden und gleichsam ins Zwielicht geraten, hat mit der Qualität des Werks und der Entwicklung des Genres der Opera buffa zu tun. Die Techniken der Entwürdigung und Erniedrigung, die uns in den komischen Szenen begegnen, sind so alt wie die Komödie selbst: Im besonderen Ambiente des Don Giovanni können sie bei entsprechender szenischer Interpretation beklemmend wirken. Das verweist auf den Zeitkern des Komischen wie auf Qualitäten und Potenziale, die mit Komik vielleicht nicht zuallererst in Zusammenhang gebracht werden. Walter Benjamin hat in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels einen Blick dafür bewiesen, als er bemerkte, dass »Aristoteles sich nie hat beifallen lassen zu behaupten, nur Tragödien könnten Furcht und Mitleid hervorrufen«.

→ Philippe Sly als Leporello, 2021

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Sigmund Freud

LUST UND TOD Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muss vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende. Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang, vorbildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht der lebenden Materie später das Bewußtsein entstehen ließ. Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete danach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren. Die damals lebende Substanz hatte das Sterben noch leicht, es war wahrscheinlich nur ein kurzer Lebensweg zu durchlaufen, dessen Richtung durch die chemische Struktur des jungen Lebens bestimmt war. Eine lange Zeit hindurch mag so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen worden und leicht gestorben sein, bis sich maßgebende äußere Einflüsse so änderten, daß sie die noch überlebende Substanz zu immer größeren Ablenkungen vom ursprünglichen Lebensweg und zu immer komplizierteren Umwegen bis zur Erreichung des Todeszieles nötigten. Diese Umwege zum Tode, von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten uns heute das Bild der Lebenserscheinungen. Wenn man an der ausschließlich konservativen Natur der Triebe festhält, kann man zu anderen Vermutungen über Herkunft und Ziel des Lebens nicht gelangen. SIGMU N D FR EU D

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Alenka Zupančič → Freud und der Todestrieb

Der Missing Link zwischen Freud – der darauf besteht, dass es letztlich nur Sexualtriebe gibt bzw. dass Triebe per definitionem sexuell sind – und Lacan, für den »jeder Trieb virtuell Todestrieb ist«, – liegt in dem Umstand, dass gerade inmitten der Sexualtriebe der Tod lauert. Und zwar nicht im Sinne eines Zieles oder als empirische Präsenz, sondern als eine negative Größe, eine Lücke oder ein Weniger, das ihnen innewohnt und das sie wiederholen.

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Ebenso befremdend wie diese Folgerungen klingt dann, was sich für die großen Gruppen von Trieben ergibt, die wir hinter den Lebenserscheinungen der Organismen statuieren. Die Aufstellung der Selbsterhaltungstriebe, die wir jedem lebenden Wesen zugestehen, steht in merkwürdigem Gegensatz zur Voraussetzung, dass das gesamte Triebleben der Herbeiführung des Todes dient. Die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben des Organismus, sich aller Welt zum Trotz zu behaupten, entfällt. Es erübrigt, dass der Organismus nur auf seine Weise sterben will; auch diese Lebenswächter sind ursprünglich Trabanten des Todes gewesen. Dabei kommt das Paradoxe zustande, dass der lebende Organismus sich auf das energischeste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt, die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegensatz zu einem intelligenten Streben. Trennen wir Funktion und Tendenz schärfer voneinander, als wir es bisher getan haben. Das Lustprinzip ist dann eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen oder den Betrag der Erregung in ihr konstant oder möglichst niedrig zu erhalten. Wir können uns noch für keine dieser Fassungen entscheiden, aber wir merken, dass die so bestimmte Funktion Anteil hätte an dem allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren. Wir haben alle erfahren, dass die größte uns erreichbare Lust, die des Sexualaktes, mit dem momentanen Erlöschen einer hochgesteigerten Erregung verbunden ist. Die Bindung der Triebregung wäre aber eine vorbereitende Funktion, welche die Erregung für ihre endgültige Erledigung in der Abfuhrlust zurichten soll.* Aus: Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, 1920

* Während Freud mit »Bindung« Operationen beschreibt, die darauf abzielen, das freie Abfließen von Energien zu begrenzen, die dem psychischen Apparat durch äußere oder innere Reize zugeführt werden, und so beständige Formen zu schaffen, zielt die »Abfuhr« auf die »Entleerung« der Energie. Vgl. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1972, Einträge »Abfuhr« bzw. »Bindung«.

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→ Nachfolgende Doppelseiten: Patricia Nolz als Zerlina, Peter Kellner als Masetto, 2021 Patricia Nolz als Zerlina, Kyle Ketelsen als Don Giovanni, Philippe Sly als Leporello, Statisterie der Wiener Staatsoper, 2021

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Alenka Zupančič → Freud und der Todestrieb

Die Befriedigung (um der Befriedigung willen) ist nicht – und das ist entscheidend – der Zweck des Triebes, sondern sein Mittel. Das zutiefst Verstörende am »Todestrieb« ist nicht, dass er nur genießen möchte, selbst wenn er uns dabei tötet, sondern vielmehr, dass er nur diese Negativität, diese Unterbrechung, die Lücke in der Seinsordnung wiederholen will, selbst wenn das bedeutet, zu genießen. 65

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Nicolas Schalz

PROPHETISCHE GENIALITÄT DES SPÄTWERKS Thema des Don Giovanni ist, nach Stefan Kunze, »die Erschütterung des Sozialen, die Zerreißprobe, nach der die vollständige ›restitutio in integrum‹ nicht mehr möglich erscheint. In immer neuen Konstellationen dokumentiert sich von der Introduktion an die Unheilbarkeit des Bruchs« (Mozarts Opern, Stuttgart 1984, S. 324). Konsequenterweise ist nicht die Wiederherstellung einer Gemeinschaft das Ziel dieser Oper — dieses Ziel klingt nur noch in der einzigen Versöhnung, die sich im Werk ereignet, in der zwischen Zerlina und Masetto (zweiten Arie der Zerlina »Vedrai, carino«) an –, sondern »die Rettung Einzelner aus dem von Don Giovannis glühender Dynamik entfesselten Chaos und um die Ausstoßung jener Kraft, die das Chaos herbei führte« (Kunze, S. 320). Die Oper ist, paradoxal formuliert, inszeniert als die Konstruktion dieser Destruktion. Als solche wird sie von einem Mittelpunkt aus, der Don Giovanni heißt, aufgerollt; von ihm gehen drei Handlungsstränge ab, die jeweils an ein Frauenschicksal, an die spezifische Geschichte einer Frau mit dem Protagonisten im Zentrum, gebunden sind. Nennen wir die drei Strukturen dramatischer Handlung, die sich so ergeben, die »DonnaAnna-Handlung«, die »Donna-Elvira-Handlung« und die »Zerlina-Handlung«: drei gleichermaßen äußere (also direkt dramatische) wie auch innere (also an den psychischen Entwicklungen der drei Frauen orientierte) Handlungen. Diese verschiedenen Strukturen bleiben nicht isoliert, d. h. laufen nicht nebeneinander her, sondern kreuzen und überlagern sich. Mozart ordnet sie in einer ternären Symmetrie (Exposition-Entwicklung-Katastrophe) an, deren Strenge (enger Taktzahlenbezug zwischen den Außenteilen, doppeltes Volumen des Mittelteils) sich in der formalen Binnen-Organisation der beiden Akte wiederfindet, die jeweils in drei Komplexe aufgeteilt und von zwei Prinzipien gelenkt sind, nämlich die einzelnen Personen zu versammeln und zu zerstreuen, zu maskieren und zu demaskieren. Daraus erwächst eine überwältigende Symmetrisierung des Werkes, die schon die quasi geometriN ICOLAS SCH A LZ

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sche Disposition von Così fan tutte ankündigt und sich sehr stark von der relativ lockeren Ordnung von Le nozze di Figaro unterscheidet; ohne Zweifel hat dies Einfluss auf die abschließende Gesamtinterpretation. Hier die wichtigsten Momente symmetrischer Korrespondenz im Werk: Duelle am Anfang und am Ende (zwischen Don Giovanni und dem Komtur, mit jeweils umgekehrtem Ausgang: Tod des Komturs im ersten Komplex, Tod Don Giovannis im letzten); Elvira wird zweimal betrogen, dies jeweils im ersten Komplex jedes Aktes zuerst von Don Giovanni, zu Beginn des zweiten Aktes dann durch Leporello; die zweiten Komplexe in jedem Akt sind dem Sich-Versammeln und dem Komplott der Verfolger Don Giovannis reserviert, wohingegen die dritten Komplexe, die mit den jeweiligen Finali zusammenfallen, die Demontage des Verführers zeigen: die Entlarvung und den noch knapp vermiedenen Absturz im ersten Finale, den tödlichen Zusammenbruch im zweiten. Warum zieht Mozart uns in ein so unerbittlich-unentrinnbares Netzwerk hinein? Welche Bedeutung nimmt eine Musik an, in der das Thema der menschlichen Autonomie (verbunden mit der Fähigkeit zu Verzeihung und Versöhnung) keine Rolle mehr zu spielen scheint angesichts der Verletzungen, die dieser Autonomie, dieser Menschlichkeit (als Verletzungen an der Liebe) zugefügt und als brutal und wohl auch unheilbar erfahren werden? Wer, schließlich, ist Don Giovanni? (Wir haben nicht über Don Juan als abstraktes Verführer-Vorbild zu reden, sondern über die konkrete Gestalt, die Mozart musikalisch geschaffen hat.) Fangen wir mit der letzten Frage an. Der Don Giovanni Mozarts ist eine komplexe und mehrdeutige Figur: dies hat zur Folge, dass in der Rezeption der Hörer von damals bis heute ihm sowohl antipathische wie sympathische Züge zugesprochen werden. Primär ist er sicher dieser Wüstling des Ancien Régime, der seine Opfer missbraucht, einen Mord begeht und dafür bestraft werden muss. Doch wie und durch wen kann er bestraft werden? Das imaginäre Tribunal, das für einen Augenblick die Verfolger Don Ottavio, Donna Anna, Donna Elvira, Zerlina und Masetto bilden, wird nicht über diese Verbrechen urteilen können; einmal, weil deren Initialimpuls, Liebe zu entdecken und zu erleben, kein anderer ist als der, der sie selbst bewegt (mit der Ausnahme, dass Don Giovanni diesen Trieb als egoistische Leidenschaft bis zum Exzess auslebt), sondern, weil ihr Autonomiestatus sie nicht an erster Stelle dazu autorisiert, Recht zu sprechen (eine gewissermaßen »transzendentale« Befugnis, die bis dahin dem Herrscher als Stellvertreter Gottes vorbehalten war), sondern sie eher dazu aufruft, wenn zwar nicht zu verzeihen, so doch innerlich von jeder Art von Rachebedürfnis sich zu befreien. Dies sagt auf jeden Fall die Musik Mozarts, besonders bezeugen es die Finalarien der drei Frauen: »Vedrai, carino« von Zerlina, die die einzige wirkliche Versöhnungsszene der Oper darstellt; ohne Zweifel auch »Non mi dir« von Donna Anna, deren Schlusskoloraturen einen zumindest ansatzweise wieder 71

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gefundenen Frieden symbolisieren; vor allem aber die für die Aufführungen in Wien nachkomponierte Arie »Mi tradì« von Donna Elvira, deren vorrangige Bedeutung für die innere Handlung – als definitiv von Donna Elvira geleisteter Verzicht auf Don Giovanni – leider von den Anhängern der ursprünglichen Prager Fassung beharrlich verkannt wird. Da der Übeltäter nicht durch seine irdischen Gegner der Gerechtigkeit überliefert werden kann, muss die Transzendenz selbst intervenieren: Die Statue aus Stein, die Da Ponte und Mozart am Ende des zweiten Aktes einführen, stellt, wenn nicht die göttliche Ordnung, so doch die durch die Gesellschaft vergöttlichte menschliche Ordnung dar, und ist damit auch fähig und bereit, das Todesverdikt zu verhängen, das den Schuldigen auslöschen wird. Um den ungeheuren Kraftakt musikalisch umsetzen zu können, den dieses SichDurchdringen von Göttlichem (Über-Irdischem, Jenseitigem) und Menschlichem (Irdischem, Diesseitigem) erfordert, bedurfte es einer genialen Intuition des Komponisten: Mozart verbindet den Ausdruck der Seria mit dem Geist und der Form der Buffa, d. h. er vermischt stilistische Merkmale der Opera Seria (rhetorische Figurationen und Affekt-Topoi u. a., natürlich verschärft oder verzerrt) mit substantiellen Spezifika der Opera Buffa (rhythmische Grundierung, Ensemble-Synchronie u. a.): ein musikalisches SichDurchdringen, das uns von Beginn der Oper an bis zur Statuenszene im zweiten Finale, in der sie kulminiert, verfolgt (die »scena ultima« ist wesentlich ein Buffa-Tableau); die antagonistischen Kräfte in ihr, hier nur mal vom pluralen rhythmischen Ausdruck (als der eigentlichen Basis der Buffa) her unterschieden, sind: – einmal das rhythmische Grundierungsmodell der ganzen Szene, eine Punktierung im französischen Rhythmus, die in unerbittlicher Kontinuität die jenseitige Aura aufrechterhält (somit auch im Vokalpart des Komturs aufgehoben sein muss): – zum anderen die hieratische Strenge in der Rhythmik des Komtur-Parts (Reminiszenz der expressionistischen

Magie des barocken Orakels), die sich aus dem genannten punktierten Motiv und seiner Erstarrung in Allabreve-Halben zusammensetzt:

hier wäre auch auf den melodischen Expressionismus hinzuweisen, der sich in der Antizipation einer Zwölftonreihe äußert (natürlich nicht im eigentliN ICOLAS SCH A LZ

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chen und damit auch harmonischen Sinne zu verstehen), sodann das vom Grauen geschüttelte, meist triolisch durchbebte Stammeln Leporellos – ein unvergleichlicher Ausdruck des »Irdischen«:

– schließlich, zerrissen zwischen den gegensätzlichen rhythmischen Fronten, der Part des Don Giovanni,

Symbol damit auch eines existentiellen Hin-und-her-Gerissenseins zwischen letztlich zwei Prinzipien (bzw. Weltbildern): Don Giovanni, am Ende, wird vom zweiten »erschlagen«. Ivan Nagel (Autonomie und Gnade – über Mozarts Opern, München-Wien 1985, S. 49-53) hat nicht Unrecht, wenn er dieses Ende des Protagonisten als das doppelte Ende von Buffa und Seria interpretiert: Ende der Buffa, weil die Verzeihung sich als Fiktion erweist (im siebenma­ ligen »No!« Don Giovannis), Ende der Seria, weil die Gnade verwehrt wird. Dem entspringt eine Form »sui generis«, die seither keine Entsprechung mehr gefunden hat und begrifflich nur schwach im Untertitel »dramma giocoso« eingefangen wird. Zu bemerken ist, dass Charles Rosen schon in Le nozze di Figaro das erste Kunstwerk einer solchen Verschmelzung zwischen Geist und Form der Buffa und der Stilistik der Seria erblickt, einer Fusion, die seiner Meinung nach – und ich schließe mich ihr an – sich vor allem der symmetrischen Konstruktion des Werkes verdankt (hier kann nur auf die harmonische Architektur des Ganzen wie der einzelnen Teile, beispielsweise des zweiten Finales, verwiesen werden), auch der Gestik der »ernsten« Arien (z. B. erste Arie der Gräfin) oder einzelnen Tableaux der inneren Handlung (wie dem »religiösen« Ensemble am Ende der Oper). Die Synthese zwischen den beiden Prinzipien – und man sollte nicht vergessen, dass auch das Prinzip des »Singspiels« in ihr aufgehoben ist – erhebt die drei späten BuffoOpern Mozarts und die Zauberflöte in einen Rang, der nur mit der theatralischen Universalität Shakespeares vergleichbar ist. Sollte Don Giovanni wirklich sympathische Züge haben? Ich zweifle nicht daran. Das »No!«, das er der Statue aus Stein entgegenschleudert, ist nicht nur das Nein der Reueverweigerung eines verhärteten Sünders, es ist auch das stolze Nein jemandes, der, aus einer direkten und umweglosen Sinnlichkeit heraus, in einem jähen und luziden Blick die Zukunft jenes Moralrigorismus erahnt, der sehr bald die legitimen Stimmen nach individueller und sozialer Freiheit, die das Jahrhundert erklingen ließ, ersticken oder zumindest drosseln wird. Man braucht nicht die Augen vor der Tatsache zu verschließen, 73

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dass auch Don Giovanni diese Rufe mißbraucht, um trotzdem zu erkennen, dass die neue, die bürgerliche Gesellschaft – dies wird eben schon 1787, dem Entstehungsjahr von Don Giovanni, musikalisch erspürt! – enorme Schwierigkeiten hat, um überall den Geist der Menschenrechte umzusetzen, die Fundierung menschlichen Lebens im absoluten Respekt vor der Freiheit und Gleichheit Aller; wenn diese Rechte dann zwei Jahre später in Paris proklamiert werden, möchten sie das Glück des Einzelnen und das der Gesellschaft garantieren helfen, doch wird diese – aufs neue und wie immer schon – die Moral dem Glück vorziehen, wird mit den Worten Ivan Nagels »die Idee ihres Glücks wieder einmal eintauschen für das Machtinstrument des Guten« (Nagel, S. 46). Nagel nimmt sicher bezug auf Don Giovanni, wenn er hinzufügt: »Solcher Moment weckt verloren trotzige Lust am Bösen« (Nagel, S. 46). Mozart wäre nicht das universale Theatergenie, als das er oben bezeichnet wurde, wenn er seine dramatischen Situationen oder musikalischen Charaktere nicht dialektisch konzipieren würde. So verkörpert die Statue aus Stein, sicherlich Repräsentant überirdischer »Ordnung« und erschreckender Ausdruck der Gegenwart des Todes, auch – was sich hinter der Maske des Komturs verbirgt – die Unerbittlichkeit und Unnachsichtigkeit bürgerlicher Ordnung und Ethik, die sich an die Stelle der vorherigen absolutistischen setzen wird. Die Doppeldeutigkeit der Figur ist typisch für eine Übergangsgesellschaft, die das Neue wagt, aber doch immer noch am Alten festhält; dieses wird den erträumten Fortschritt unterhöhlen und die wachgerufenen Hoffnungen allmählich zerstören. Selbst ein Immanuel Kant, immerhin einer der größten humanistischen Reformatoren dieser Übergangsepoche, wird sich nicht von den Antithesen (Antinomien) lösen, die ihn bestürmen. Auf der einen Seite, von einem rein theoretischen Gesichtspunkt aus, fordert er die radikale Mündigkeit des Menschen bzw. der Menschheit, auf der anderen Seite, vom praktischen Gesichtspunkt eines Staatsbürgers her, akzeptiert er, dass Ungerechtigkeit und Ungleichheit unter den Menschen ihr tragisches Los bleiben: »der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat«: (Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1974, S. 28). Es gibt keine Hoffnung für den Einzelnen, der »seine Bestimmung in seinem Leben« nie »völlig erreichen« und verwirklichen wird (Kant, S. 29). Wenn es einen wirklich sympathischen Zug Don Giovannis gibt, den niemand missverstehen kann, so ist es ohne Zweifel jene erotische Kraft, deren Faszination SØren Kierkegaard in unvergänglicher Prosa besungen hat und die ein letztes Mal im finalen »No!« nachklingt, jene Kraft, die alle mit Don Giovanni Zusammentreffenden von Anfang an unwiderstehlich in ihren Bann schlägt und in der »Champagnerarie« (»Fin ch’han dal vino«) sich in einem Paroxysmus – einem tumultuösen Orkan gleich – entlädt! Charles Rosen hat sie als subversive (Der klassische Stil, deutsche Ausgabe, München-Kassel 1983, S. 370 f.) bezeichnet. N ICOLAS SCH A LZ

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→ Nachfolgende Doppelseite: Patricia Nolz als Zerlina, Kyle Ketelsen als Don Giovanni, Statisterie der Wiener Staatsoper, 2021

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Umgesetzt in grandiose musikalische Kunst, spielt sie die Rolle jeder Subversivität, die, indem sie bestehende Werte und Normen, ob sie nun philosophische, sozio-kulturelle oder ästhetische sind, angreift, »sie mit selbster­ schaffenen ersetzt« und »anstelle der« (vorgegebenen) »Gesellschaftsordnung ihre eigene errichtet« (Rosen, S. 370). Die persönliche Ordnung, die Mozart, seit Le nozze di Figaro bis zur Zauberflöte, errichten will, ist die Ordnung der Liebe, für ihn der wichtigste, existentiell bedeutsamste Ausdruck menschlicher Autonomie, damit auch das eigentliche und authentische Zentrum seines ästhetischen Handelns. Don Giovanni identifiziert sich mit dieser Ordnung, er schlägt sich für das Prinzip – dies ist sein Zauber, aber er ver­gewaltigt dabei die konkrete Autonomie der Anderen –, dies ist sein Unrecht, sein Verbrechen. Es ist nun möglich geworden, auf die anderen Fragen zu antworten. Wenn Mozart uns mit seinem Don Giovanni in ein »unerbittlich-unentrinnbares Netzwerk« hineinzieht, in dem »menschliche Autonomie keine Rolle mehr zu spielen scheint« (s. oben), so muss sein ästhetischer Sinn die realen Gefahren erahnt haben, in welche die neue Gesellschaft, an der auch er mitgebaut hat, fallen wird: Gefahren, einmal, durch Exzesse Einzelner das »erfundene« bzw. gerade wiedergefundene Prinzip der Freiheit und Gleichheit zu missbrauchen, es gewissermaßen »positiv« zu überschreiten, Gefahren, andererseits, es durch moralische und politische Reglementierungen einzuschränken, es damit »negativ« zu unterlaufen. Eine Analogie sei erlaubt: der Bruch zwischen den französischen Revolutionären verdankt sich sowohl dem exzessiven, geradezu wollüstigen Gebrauch (= Missbrauch) des gleichen Prinzips (Danton) als auch seiner Handhabung in der Art eines obsessionellen moralischen Rigorismus (Robespierre), während hingegen die europäischen Restaurationsbewegungen am Anfang des 19. Jahrhunderts diese Dialektik zugunsten einer universalen Reglementierung beiseite fegen, die sowohl die politische Ordnung bestimmt wie das soziale Divertissement (dessen »Offizialisierung« von oben herab gelingt am betörendsten im »Walzersystem« des Metternichschen Wien): Der ästhetische Blick Mozarts im Don Giovanni ist demnach ein realistischer, der nicht Halt macht vor der »Nacht«, die schon im Begriff ist, »ihre Herrschaft auszubreiten«: dies eine Quintessenz, – die auch Jean Starobinski assoziiert, wenn er vom »Mozart nocturne«, vom »nächtlichen Mozart« spricht (in: 1789 – Die Embleme der Vernunft, München 1989). Mozart sagt uns nicht in diesem Augenblick, dass er nicht mehr an die Autonomie als die eigentlichen Berufung des Menschen glaubt, doch lässt er durchblicken, wo sie gefährdet erscheint, wo sie bedroht ist. Dass er solches Ahnen noch vor 1789 künstlerisch festzuhalten vermag, zeugt von der prophetischen Genialität seines Spätwerks, bekundet dessen visionäre Kraft, die es allerdings mit dem Spätwerk vieler anderer großer Künstler teilt (mit dem Beethovens und Schuberts beispielsweise).

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Sergio Morabito

VOM KOPF AUF DIE FÜSSE GESTELLT

oder Was geschieht in der vorletzten Szene des Don Giovanni?


Die vor 1625 entstandene »Comedia famosa del Maestro Tirso de Molina« El burlador de Sevilla y convidado di piedra 1 lässt Don Juan von Höllenflammen verzehrt zugrunde gehen. Dafür spielt die Verführung von Frauen und die Verhöhnung ihrer Ehre freilich nur eine untergeordnete Rolle – im Verständnis der Zeit sind solche Jugendsünden lässlich. Seine Gleichgültigkeit gegenüber Beichte, Absolution und der Allgegenwart des Todes ist es, die in dieser Comedia eines theaterbegeisterten Mönches der Gegenreformation Juans Verdammung erzwingt. Dabei ist dieser Halbstarke alles andere als ein Freigeist oder gar Atheist. Er verlässt sich einfach auf die Protektion seiner mächtigen Familie, die ihn vor irdischer Strafverfolgung sichert, und auf seine Jugend, die seinen Tod und damit seine Verantwortung vor der himmlischen Gerichtsbarkeit in unendliche Ferne rückt. Den steinernen Gast fragt er gut katholisch: »Leidest du im Fegefeuer? […] Fuhrst in Sünde du dahin?«2 In den ersten beiden Akten hat Juan vor unseren Augen zwei Edeldamen und zwei Frauen des Volkes entehrt: Die Adligen hat er durch Verkleidung und im Schutze der Dunkelheit über seine Identität getäuscht, die Fischerin und die Bäuerin durch Komplimente und Versprechungen verführt. Allen Verbindlichkeiten hat er sich durch Flucht entzogen. Dieses Muster gerät ins Stocken, als Juan mit seinem Lakaien Catalinón3 – in der 8. Szene des 3. Aktes – auf das Grabmal des Don Gonzalo de Ulloa stößt, des von ihm – in der 11. Szene des 2. Aktes – im Duell getöteten Vaters der Doña Ana. Juan verspottet die Grabinschrift

»Für erlittnen Schimpf und Spott Harrt ein Edler hier auf Rache: Den Verräther strafe Gott.«

indem er den Toten, dabei das Standbild am Bart zupfend, zum Abendessen einlädt:

[…] wann Ihr zu mir Euch wollt bequemen, Können wir der Rache pflegen, Seid Ihr Willens, sie zu nehmen.

Und er fährt fort:

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Wollt Ihr ahnden Euer Leid Erst wenn ich gestorben bin, Nun dann wär’ es wohl gescheidt, Ihr legt ab den Rachesinn: Das hat überlange Zeit! 4

SERGIO MOR A BITO


Letzterer Vers, der diese Szene beschließt – »tan largo me lo fiáis«5 –, ist ein wiederkehrender Refrain in Juans Munde, der in der leicht abgewandelten Form »¡qué largo me lo fiáis!« in der folgenden Sequenz (10.–15. Szene des 3. Aktes), die den Besuch des steinernen Gastes umfasst, sogar gesungen wird. Als die zunächst stumm bleibende Statue die Frage des Gastgebers, ob sie auch durch Gesang unterhalten sein möchte, kopfnickend bejaht, stimmt man hinter der Szene auf Juans Befehl folgendes Lied an:

»Wenn für Liebestück’ und Leid Ihr mir erst nach meinem Tod, Schönste, mit der Rache droht: Pah, das hat noch lange Zeit.«6

Zu reden – »leise, wie ein Abgeschiedener« – beginnt die Statue erst, nachdem Juan ihrem Wink gefolgt ist, die Tafel abräumen zu lassen, Catalinón und die beiden anderen Diener hinauszuschicken und hinter ihnen die Türe zu schließen. Er verpflichtet Juan durch Handschlag, seiner Gegeneinladung zu einem Nachtmahl zu folgen, das er für ihn und Catalinón in seiner Grabkapelle ausrichten will. Nach seinem Abgang – bei dem er sich nicht hinausleuchten lässt, denn: »mich erhellet Gnade« – tut Juan die Höllenschauer, die mit der Kraft des empfangenen Händedrucks in ihn gefahren sind, als Einbildung ab und entscheidet sich, den Gang zur Kapelle am nächsten Tag anzutreten, »Daß Sevilla mich bewundre, / Staunend über meinen Trotz!«.7 Dort wird sich die Szene vom Vorabend im Vexierbild eines makabren Grabempfanges wiederholen: Das Standbild lässt von »zwei Schwarzverhüllten« Nattern, Skorpione und Krallen auftragen, Galle und Essig kredenzen. Abermals versucht Catalinón sich der erzwungenen Gasterei zu entziehen. Abermals lassen sich unsichtbare Sänger hören, mit einem Echo auf Juans Festgesang:

»Wer sich auch des Lebens freut, Soll doch niemals trotzig sagen: Ach, das hat noch lange Zeit! Zeit zur Buße könnte mangeln.« 8

Abermals greift der Komtur nach Juans Hand. Juan, der spürt, dass diesmal sein Ende naht, bettelt, vor dem Tod die Absolution empfangen zu dürfen: »So lasse / Einen Beichtiger mir holen.« Doch: »Allzuspät ist dies Verlangen«, lautet der Bescheid Don Gonzalos. Der Spötter von Sevilla sinkt tot zu Boden. Wie antworten gut 160 Jahre später die beiden Stückautoren der Aufklärung, Mozart und Da Ponte, mit ihrem Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni auf diese Vorgabe? 9 Äußerlich folgen sie der Stofftradition mit Höllensturz des Helden unter Feuer und Erdbeben (»foco da diversi parti, tremuoto etc.«, SERGIO MOR A BITO

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lautet die Regieanweisung). Zugleich findet der Showdown unter subversiv verkehrtem Vorzeichen statt. Da Ponte hat die Dimension der Zeit und der Zeitlichkeit, die in Bertatis Libretto ebenso wie die mit ihr zusammenhängende Beicht-Thematik keine Stelle hatte, wieder eingeführt: Dreimal erscheint in der vorletzten Szene der Oper (der 15. des 2. Aktes) das Wort »tempo«. Merkwürdigerweise wird die ablaufende Zeitlichkeit nicht mehr auf den säumigen Sünder bezogen, sondern auf den Komtur, der von sich selbst sagt: »Parlo, ascolta, più tempo non ho.« (was Mozart ihn noch einmal wiederholen lässt): »Ich spreche, höre mir zu, ich habe keine Zeit mehr.« (Kursivsetzung von mir, S. M.). Der Komtur spricht daraufhin die Gegeneinladung aus, die anzunehmen er Giovanni durch sein Kommen verpflichtet habe. Leporello versucht seinen Herrn aus Zeitgründen zu entschuldigen (»Tempo non ha, scusate.«, »Ihm fehlt die Zeit, entschuldigt.«). Giovanni hingegen bekräftigt seine Zusage durch den geforderten Handschlag. Der Griff des Komturs lässt Giovanni, der sich von Frost erfasst fühlt, aufschreien. Doch nicht er ist es, der um die Möglichkeit fleht, die Beichte noch ablegen zu dürfen. Umgekehrt ist es der Komtur, der sie ihm unter Einsatz physischer Gewalt aufnötigen will: »Pentiti, cangi vita: / è l’ultimo momento«, »Bereue, ändere dein Leben: / es ist der letzte Augenblick.« Neunmal schleudert Giovanni der viermaligen Offerte des Komturs (»Pentiti!«, »Bereue!«) ein Nein entgegen, das zehnte ist final: Sein intellektueller Trotz bleibt trotz Folterqualen ungebrochen und unbesiegt. Woraufhin der Komtur seine Niederlage mit den Worten eingestehen muss: »Ah tempo più non v’è.« (»Ach, die Zeit ist abgelaufen.«) Fraglich, um wessen letzten Augenblick es sich gehandelt hat. So, wie das Wort »tempo« vom Komtur eingeführt worden ist, kann es sich nur um seine eigene Zeit handeln, die an ihr Ende kam: die Zeit der Orthodoxie, die Zeit einer Religion, welche die Todesangst zu instrumentalisieren versucht, um das Individuum ihrer Macht zu unterwerfen. Zwar versinkt Giovanni in den Flammen, doch musikalisch triumphiert am Ende dieser Szene sein D-Dur, nicht das d-Moll des Komturs.

1 Der Spötter [oder Verführer, engl. Trickster] von Sevilla und der steinerne Gast. Die Comedia wurde 1625 in Neapel nachgespielt und 1630 bereits zum zweiten Mal aufgelegt. Der zweite Teil des Titels wurde in der Rezeption verballhornt: Die in Frankreich auftretenden italienischen Komödianten bewarben ihren Convitato di pietra 1658 unter dem übersetzten Titel Le Festin de Pierre. Das wurde in der weiteren Bearbeitungsgeschichte mitunter als Le Festin de pierre, also als Das steinerne Gastmahl verstanden und übersetzt. Gewiss, ein steinerner Gast gesellt sich zum Mahl, aber wieso sollte dieses aus Stein sein? Die Konfusion entstand dadurch, dass in der Szenenfolge der Komödianten der Komtur den Namen Don Pietro erhalten hatte, gemeint war also Peters Gastmahl (Pierre = Peter, pierre = Stein), als das die Hauptszene des Werks bezeichnet wurde, zu der ja Don Pietro in seine Gruft lädt. Die französischen Bearbeiter des Stoffes Dorimond (1659), Villiers (1660) und Rosimond (1669) übernahmen mit diesem Titel auch den Namen des Komturs. Molière schloss sich 1665 mit seinem Dom Juan ou Le Festin de pierre dieser Tradition an, wobei der Komtur bei ihm namenlos blieb. 2 Tirso de Molina, Der Verführer von Sevilla, oder: Der steinerne Gast, in: Spanische Dramen übersetzt von Carl August Dohrn, Erster Theil, Berlin 1841, S. 129

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3 Einer der beliebten sprechenden Dienernamen der spanischen Komödie, in diesem Fall abgeleitet von »catalina«, in andalusischer Vulgärsprache »menschlicher Kot«, also etwa »Hosenschisser«; Leporello (= ital. das Angsthäschen) ist eine entsprechende Nachbildung. Die Replik Catalinóns, mit der er die Einladung seines Herrn, sich zum gemeinsamen Mahl mit dem steinernen Gast niederzulassen, abwehrt: »Señor, / vive Dios que güelo mal!« (»Herr, / im Vertrauen – ich rieche übel!«), um kurz darauf zu bekennen »Yo penso que muerto soy / y esta moerto mi arrabal.« (»Wie gestorben fühl’ ich mich, / Und mein Hinterteil ist auch tot.«), erschien dem deutschen Übersetzer Dohrn wohl als zu anrüchig, so dass er sich zu dem Euphemismus entschloss: »Señor, / Knoblauchduft hab’ ich im Hals –« (a. a. O., S. 125). Ex negativo lässt diese Figur den einzigen Vorzug von Tirsos Juan hervortreten: einen (beinahe) unerschütterlichen Wagemut, der ihn auch nicht zögern lässt, unter Einsatz seines Lebens den Diener vor dem Ertrinken zu retten. 4 Ebd., S. 118–119 5 Die zentrale Bedeutung dieser Redensweise (und ihrer Widerlegung) wird auch dadurch unterstrichen, dass sie als Titel eines 1878 wiederentdeckten Schauspiels des spanischen Barock fungiert (¿Tan largo me lo fiáis? – Hat’s damit nicht gute Weile?), von dem strittig ist, ob es eine Vorlage Calderóns oder eine spätere Bearbeitung von Tirsos Burlador darstellt (dessen Autorschaft – zugunsten des fast gleichaltrigen Schauspielers und Stückeschreibers Andrés de Claramonte – ja ebenfalls bezweifelt wurde). 6 Ebd., S. 127 7 Ebd., S. 132 8 Ebd., S. 149 9 Es ist insgesamt erstaunlich, wie zahlreich die Referenzen des Don Giovanni-Librettos zur spanischen Comedia sind. Außer mit seiner unmittelbaren Vorlage, Giovanni Bertatis (von Giuseppe Gazzaniga vertontes) Libretto Don Giovanni o sia Il convitato di pietra, sowie mit Molières Dom Juan muss sich Da Ponte auch mit Tirsos Schauspiel auseinandergesetzt haben. Da Ponte berichtet, sich 1786 – also im Vorjahr der Entstehung des Don Giovanni – anlässlich der Stoffwahl zu einer neuen Oper mit spanischer Dramatik befasst zu haben: »Dopo aver letto alcune commedie spagnuole, per conoscere alcun poco il carattere teatrale di quella nazione, mi piacque moltissimo una comedia di Calderon, intitolata La luna della Sierra;« (Lorenzo Da Ponte, Memorie, Milano 1998, S. 147: »Nach Lektüre einiger spanischer Schauspiele, um den theatralischen Charakter jener Nation ein wenig kennen zu lernen, gefiel mir eine Comedia des Calderon mit dem Titel Bergmond ausser­ ordentlich.«)

→ Stanislas de Barbeyrac als Don Ottavio, Kate Lindsey als Donna Elvira, 2021

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KOLUMN EN T IT EL


Euripides → Die Bakchen

DIONYSOS Juchhe, höret mein Rufen, höret, juchhe, ihr Bakchen, he, ihr Bakchen! CHOR DER BAKCHEN Was ist das? Was ist das? Woher dringt zu mir der Ruf des jubelnden Gottes? DIONYSOS Juchhe, juchhe, ich rufe noch einmal, der Sohn Semeles, der Sohn des Zeus! CHOR DER BAKCHEN Juchhe, juchhe, mein Herr, mein Gebieter, komme zu unserem Reigen, du lärmender, schwärmender Gott! DIONYSOS Ließet euren Mut ihr sinken, 84


als man mich ins Haus geführt, mich hinabzustoßen in des Pentheus düsteres Verlies? CHORFÜHRERIN Freilich! Wer vermochte mich zu schützen, stieß dir etwas zu? Doch wie konntest du entrinnen aus des Bösewichtes Haft? DIONYSOS Selber hab ich Rettung mir gebracht, ganz leicht und mühelos. CHORFÜHRERIN Hatte er dir deine Arme nicht mit Banden fest umstrickt? DIONYSOS Hier grad hielt ich ihn zum Narren: Mich zu fesseln wähnte er, doch berührte er mich gar nicht, 85


schwelgte nur in seinem Wahn. In dem Stall, in den er mich gesperrt, stieß er auf einen Stier; dem umschlang er Knie und Huf mit Stricken, schnaubte laut vor Wut, grub die Zähne, während ihm der Schweiß vom Leib in Strömen rann, in die Lippen. Und ich saß in aller Ruhe dicht dabei und genoß das Schauspiel. PENTHEUS Entsetzlich! Mir entrann der Fremdling, der soeben noch im Gefängnis lag, gefesselt, eingesperrt! Ha! Ha! Da ist er ja! Was soll das? Wie gelang es dir, zu fliehen und vor meinem Hause zu erscheinen? DIONYSOS Ich sagte – hörtest du es nicht? –: »Man wird mich lösen!«


PENTHEUS Wer? Immer neue Reden bringst du mir zu Ohren! DIONYSOS Er, der den Menschen Weinstock wachsen läßt und Reben. PENTHEUS Befehl von mir: Schließt alle Tore ringsum zu! DIONYSOS Wie? Können Götter nicht auch Mauern überschreiten? PENTHEUS Klug bist du, klug, nur dort nicht, wo du Klugheit brauchst! DIONYSOS Gerade dort, wo ich es brauche, bin ich klug.




Johanna Danhauser

IF I NO SEE MY JOHNNY – FEFE GEME EH 1

Feministisches Empowerment von Mozart bis Afro-Pop

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Verflucht seist du, Don Juan! […] Woher hast du die wahnsinnigen Rechte genommen, denen du dein Leben verschrieben hast? Zu welcher Stunde, an welchem Ort hat Gott zu dir gesagt: – Hier ist die Erde, sie gehört dir, du wirst Herr und König aller Familien sein, alle Frauen, die du willst, sind für dein Lager bestimmt. Alle Augen, denen du zuzulächeln geruhst, werden in Tränen zerfließen und deine Gnade anflehen. Die heiligsten Bande werden sich lösen, sobald du sagst: ich will es.2

Der Zorn, mit dem George Sand 1833 in ihrem Roman Lélia gegen Don Juan anschreibt, richtet sich nicht gegen eine Privatperson. Sie klagt den Mythos vom männlichen Verführer an, ein Narrativ, das ein Männerbild geprägt hat, dessen Erfolg auf struktureller Geschlechterdiskriminierung basiert und dessen Straftaten – Betrug, sexualisierte Gewalt, Missbrauch – als Kavaliersdelikte abgetan werden. Donna Annas Bericht über den nächtlichen Besuch Giovannis könnte eine Reaktion auf den Twitteraufruf #metoo sein:

Leise kam er näher und versuchte, mich zu umarmen. Ich wollte mich befreien, doch er hielt mich nur desto fester. Ich schrie, doch niemand kam! Mit einer Hand versuchte er, mich zum Schweigen zu bringen, mit der anderen packte er mich so fest, dass ich mich schon verloren gab. [...] Am Ende verliehen mir Verzweiflung und Entsetzen über die Tat eine solche Kraft, dass ich mich durch Drehen, Wenden und Winden befreien konnte. (2. Akt, 13. Szene)

Auf Leporellos Nachfrage: »Und Donna Anna, hat sie’s auch gewollt?« (1. Akt, 2. Szene) reagiert Don Giovanni ungehalten. Er nimmt sich ungefragt, was ihm – seiner Meinung nach – qua Geburt als adligem Mann zusteht. Seine Privilegien missbraucht er schändlich – wer sich ihm in den Weg stellt, bekommt als phallische Drohgebärde seinen Degen zu sehen. Psychologische oder emotionale Tiefe sucht man bei Don Giovanni vergeblich, seine Rechtfertigung lautet:

Alles aus Liebe! Wer nur einer treu ist, ist grausam gegenüber den anderen. Ich aber, mit meinem Überfluss an Empfindung, liebe sie alle. Frauen können nicht klar denken – daher nennen sie mein gutes Naturell Betrug. (2. Akt, 1. Szene)

Ohne charakterisierende Arie und ohne Soloauftritt bleibt Don Giovanni einerseits ungreifbar, andererseits vielseitig interpretierbar. Die unendlich fortführbare Suche nach seinem inneren Antrieb macht die Oper unter anderem so reizvoll für jede Neuinszenierung. Dennoch darf man fragen, warum dieser kriminellen Machofigur weiterhin eine Bühne gegeben werden sollte. 91

JOH A N NA DA N H AUSER


In diesem Artikel werden drei Neuausrichtungen des Don-Juan-Stoffes vorgestellt, die eine feministische Verkehrung der Machtverhältnisse erzählen. Neben Mozarts und Da Pontes Ausgestaltung kraftvoll-emanzipierter Frauenfiguren sollen kreative Überschreibungen von George Sand und Yemi Alade vorgestellt werden.

Don Giovanni von Mozart und Da Ponte Die Mythenbildung wird in Mozarts Oper sogar auf der Handlungsebene thematisch: Leporello registriert sämtliche Eroberungen und macht sie damit jederzeit erzählbar. Und da an dem Pechtag, an dem die Oper spielt, Giovanni keine einzige Verführung glückt, dient der catalogo als aktenkundiger Nachweis seines Rufs. Als Katalognummern, die sortiert, addiert und ergänzt werden können, verlieren Don Giovannis Sexualpartnerinnen ihren Subjektstatus. Donna Anna, der letzte Name auf der Liste, arbeitet sich im Handlungsverlauf aus der Opferrolle heraus und legt – im solidarischen Verbund mit anderen Betroffenen – dem Sammler das Handwerk. Der Mord an ihrem Vater stürzt sie in Trauer, Schuldgefühle und Suizidgedanken. Trotzdem strahlt sie Willensstärke und Autonomie aus. Dem Drängen ihres Verlobten Don Ottavio und seiner fast schon übergriffigen Fürsorge schenkt sie wenig Beachtung – als fühle sie sich von der gesellschaftlichen Erwartung, dass eine junge Frau nur in der Ehe ihr Glück finden könne, unter Druck gesetzt. Der Verdacht kann sich aufdrängen, dass Donna Anna selbst eine weibliche Libertine nach dem Vorbild der Marquise de Merteuil aus Les Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos von 1783 ist. Diese empfängt ihren Liebhaber in ihrem Boudoir und alarmiert danach die Diener*innenschaft, um die intime Szene als Überfall zu rahmen. Denn während der Ruhm des männlichen Libertins mit jeder neuen Eroberung wächst, könnte das Publikwerden ihrer Liebhaberliste den gesellschaftlichen Ruin für sie bedeuten. Vielleicht lässt das Libretto deshalb Diskretion darüber walten, was tatsächlich in Donna Annas Schlafzimmer vorgegangen ist. Zerlina ist zwar noch sehr jung – naiv ist sie aber auch nicht:

Ich weiß, dass ihr Kavaliere nur sehr selten ehrenwert seid und aufrichtig zu den Frauen. (1. Akt, 9. Szene)

Weniger der Reichtum oder der soziale Stand erregen sie an Don Giovanni, sondern seine Stimme und die Worte, die sie ganz anders umschmeicheln, als sie es von Masetto gewohnt ist. Im Duettino »Là ci darem la mano« ist es vor allem das sinnlich-entschleunigte Tempo, mit der er ihr Herz »ein wenig« zum Zittern bringt, sodass sie fürchtet, seiner Verführung – oder Manipulation? – bald nicht mehr widerstehen zu können. Andererseits weiß sie auch, JOH A N NA DA N H AUSER

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dass sich der gesellschaftliche Abstieg als Preis für den Treuebruch nicht lohnt. Doch ihr »No« übergeht Don Giovanni konsequent. Was auf dem Fest bis zu ihrem Hilfeschrei passiert, bleibt Interpretationssache. Masetto jedenfalls macht sie dafür verantwortlich, dass Don Giovanni sie belästigt hat, und beschimpft sie als »Hexe«. Ihr Entschuldigungsversuch »Schlag mich, schlag mich, mein Masetto, schlag deine arme Zerlina« (1. Akt, 4. Szene) ist höchst doppeldeutig. Hat sie die häusliche Gewalt internalisiert, oder spielt sie auf sadomasochistische Erotikspiele an? Zum Ende des A-Teils ihrer Arie verkehrt sie die Gewalt in zärtliche Liebkosungen (»Du kannst mir das Haar ausreißen, mir die Augen auskratzen, und ich werde beglückt deine lieben Hände küssen.«). In der Wiener Fassung haben Mozart und Da Ponte eine zusätzliche, selten aufgeführte Szene eingebaut, die zeigt, dass Zerlina sich wehren kann. Darin zieht sie Leporello grob über die Bühne und verpasst dem dann von ihr an einen Stuhl Gefesselten eine Rasur ohne Seife. Dabei übertönt sie Leporellos schmerzvolles Jaulen mit wonnevollen Koloraturen. Zerlina dominiert die Situation und empfindet Freude und Genuss dabei. Elvira hingegen kann aufgrund ihrer Ambivalenz zwischen Verletzung, Wut und Verzückung von Don Giovanni für »verrückt« erklärt werden. Ihre offen gezeigte Emotionalität wird von Don Ottavio und Donna Anna allerdings als eindrucksvoll beschrieben. Ich vertrete die These, dass Elvira tatsächlich von der mania, der mythischen Raserei, erfasst ist. Wie eine rebellierende Mänade im Gefolge des Dionysos attackiert sie ihren Gott. Sie will »ein Gemetzel anrichten und ihm das Herz aus dem Leibe reißen.« (1. Akt, 5. Szene) Ihre meist unvermittelten Auftritte sind stets mit der Präsenz Don Giovannis verbunden, den die Erkennungszeichen des Dionysos auszeichnen: Er lebt im absoluten Jetzt, agiert im Modus der Plötzlichkeit, ist Träger zahlreicher schrecklicher Masken, feiert den Wein und bleibt bis zuletzt rätselhaft.3 93

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Der Dionysos-Kult macht auch die beiden Feste an den Aktenden lesbar: Don Giovanni stilisiert sich als bacchantischer Gastgeber und nimmt dafür auch das Katastrophenpotenzial in Kauf, das in jeder festlichen Zusammenkunft steckt. Am Ende des ersten Aktes stirbt er den gesellschaftlichen Tod – auf frischer Tat von Donna Anna, Don Ottavio und Donna Elvira überführt. Umso höhnischer sein Fall, weil seine jovial-egalitäre Geste des Alle-sind-

eingeladen als versteckter Totalitätsanspruch entlarvt wird. In Wahrheit möchte er möglichst viele weibliche Wesen auf seine Party locken, um die Trefferquote zu erhöhen. Bereits im Finale I ist die Stimmung im Ensemble am Siedepunkt. Leporello wähnt sich inmitten eines Sturmes und die »wilde Grausamkeit« und die »fallenden Blitze« bemühen wieder ein Bild der dionysischen Urgewalt, die sich nun gegen Don Giovanni richtet. Er versteht ›seine‹ Welt nicht mehr, »[s]ein Kopf ist verwirrt«. Nach dem gesellschaftlichen Fall muss er seine Ziele im Untergrund verfolgen. Im rasant-buffonesken Reigen des zweiten Teils verkehren sich durch den Kleidertausch von Diener und Herr die Insignien des Machtgefüges (Don Giovanni: »Kennst du deinen Herrn nicht mehr?«, 2. Akt, 3. Szene). Es wundert nicht, dass dieses Gespann sich schließlich auf den Friedhof, das Asyl der Vogelfreien, zurückzieht. Dort spricht Don Giovanni ein zweites Mal eine fatale Einladung aus. Unter dionysischen Vorzeichen steuert das Mahl mit dem Steinernen Gast auf einen grausamen Zerreißungsakt zu, der in Euripides’ Bakchen vorgeformt ist:

Wer zerfleischt meine Seele? Wer foltert meinen Körper? Welcher Sturm, o weh! welcher Todeskampf? Welch eine Hölle! Welch Entsetzen! (2. Akt, 5. Szene)

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Während sich Don Giovanni seinem vorgezeichneten Ruin entgegenarbeitet, verläuft die Machtkurve des weiblichen Figurenpotenzials entgegengesetzt. Die Opfer von sexueller Gewalt, Betrug oder Mord ergeben sich nicht dieser Rollenzuweisung, sondern werden aktiv: Zerlina vertritt selbstbewusst ihre Libido und lebt sich an Leporello aus, Donna Anna mutiert vom Sammelobjekt zur libertinen Widersacherin und Donna Elvira rebelliert gegen ihre Abhängigkeitsbeziehung. Die asozialen Handlungsmuster Don Giovannis stiften eine kurzfristige Solidargemeinschaft seiner Opfer, wobei sich gleichzeitig die individuelle Komplexität der weiblichen Figuren und ihre Empa­ thiefähigkeit ausdifferenziert.

Lélia von George Sand Von der Schriftstellerin George Sand sind im kulturellen Gedächtnis zwei Klischeebilder haften geblieben: die Hosenträgerin und Chopins Geliebte.4 Beide ignorieren ihr avantgardistisches literarisches Schaffen. Trotz eines männlichen Pseudonyms konnte sie weder ihre künstlerische noch ihre geschlechtliche Identität frei ausleben. Dass ihre Werke nicht im Klassiker-Kanon zirkulieren, liegt an ihrem biologischen Geschlecht, wie der Kritiker Jules Jarnin bereits 1833 feststellte:

[D]ies ist einer der größten Schriftsteller unserer Zeit. [...] Doch wohin soll sie gehen in dieser Welt, diese Frau, die sich eine so breite Spur gezogen hat? Alle Wege sind George Sand verschlossen. Sie ist eine Frau! Weder durch das Wort, noch durch den Stil, noch durch die Autorität, noch durch den Glauben, noch durch die Politik, noch durch die Kirche, und noch nicht einmal durch die Académie française kann sich diese Frau, die ein großer Mann ist, einen Platz schaffen.5

Es mag die Wut über diese Ungerechtigkeit sein, die aus der von George Sand verfassten Tirade gegen Don Juan spricht. Sie prophezeit dem prototypischen Verführer eine »feierliche Stunde [...], in der sein Schatten verblasst« und sein »Schauspiel« nur noch »erstaunt und mitleidig macht«. Mit Fingerzeig auf die Stoffgeschichte sagt sie ihm und seinen Nachfolgern, »die nur mit knirschenden Zähnen glücklich« sein können, siegessicher den Kampf an:

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Du hast deine Vorbilder schlecht studiert, deren Neuauflage du sein wolltest. Wusstest du denn nicht, dass das Verbrechen, will es eine bestimmte Größe erreichen und die Herrschaft über die Welt antreten, stets gegenwärtig sein und sich die Strafe, die es verdient, im Voraus bewusst machen muss? IF I NO SEE MY JOHN N Y – FEFE GEME EH


Anders als in der Oper ist diesem Don Juan kein plötzlicher Tod beschert, sondern ein tagelanges, schmerzvolles Siechtum: »… das unerbittliche Duell [s]eines verstörten Kopfes gegen [s]ein stockendes Blut, der Todeskampf und das Röcheln [s]einer schlaflosen Nächte.« Der Figurentypus Don Juan soll wortwörtlich aussterben, während die Autorin sich für ein alternatives Frauenbild einsetzt, das sich nicht an männlichen Zuschreibungen orientiert,

sondern die Frau als menschliches, berührbares, fehlbares und eigenwilliges Wesen versteht. In dieser Hinsicht wirft sie Don Juan, dem Frauensammler, Ahnungslosigkeit vor:

Wenn du einen Augenblick lang geglaubt hast, die Frau könne dem Mann, den sie liebt, etwas anderes geben als ihre Schönheit, ihre Liebe und ihr Vertrauen, warst du nur ein Dummkopf; wenn du geglaubt hast, ihre Liebkosungen würden die Glut deiner Sinne ungestraft löschen, ihre Geduld würde niemals einschlafen und ohne müde zu werden auf das Erwachen deiner rohen Begierden warten [...] und sie wäre niemals empört, wenn deine Hand sie wie ein überflüssiges Kleidungsstück wegwirft – dann warst du nur blind und unwissend.

Mit dieser Anklage unterwandert George Sand die Geschlechterdichotomie. Ausgesprochen wird sie innerhalb des Romans von der männlichen Figur Stenio, der sich – unglücklich verliebt in Lélia – fatalerweise am Donjuanismus ein Vorbild nimmt, um mit dessen Eroberungsgeschick auch sein Objekt der Begierde zu gewinnen. Im zitierten Abschnitt durchlebt er eine Identitätskrise, weil sämtliche ihm bekannten Geschlechterkategorien nicht mehr funktionieren: Er verzweifelt daran, dass Lélia sich nicht eindeutig als ›Engel‹ oder ›Dämon‹ einordnen lässt, und zerbricht an der Selbsterkenntnis, dass er sich mit dem Männerbild des Wüstlings nicht identifizieren kann. Die sechsseitige Abrechnung mit Don Juan kann auch für sich stehen und wirkt, JOH A N NA DA N H AUSER

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als würde die Dichterin selbst durch die Figur sprechen – zumal sie in der Ich-Form verfasst ist. George Sand notierte zur Entstehungszeit des Romans:

Ich, die ich viele Leben gelebt habe, weiß nicht mehr, welcher Typus des Reinen oder Perversen mit mir Ähnlichkeit hat. Manche werden sagen, dass ich Lélia bin, doch andere könnten sich erinnern, dass ich Stenio war.6

In ihrem Schreiben, das sich aus der weiblichen (Körper-)erfahrung und fiktiver Transferleistung speist, verbinden sich scheinbare Gegensätze zu Identitäten, die man heute als queer bezeichnen würde. George Sand verleiht der weiblichen Lust und dem Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung Ausdruck und berührt damit bis heute ein gesellschaftliches Tabu.

Johnny von Yemi Alade Spätestens mit dem weltweit gefeierten Song Johnny des westafrikanischen Popstars Yemi Alade aus dem Jahr 2014 wurde der Don-Juan-Mythos mit über fünf Millionen Youtube-Clicks in den globalen Erzählschatz eingespeist. Yemi Alade singt von einem Womanizer, der auf der ganzen Welt Freundinnen hat, ständig auf dem Sprung ist, lügt, jeder Frau die Ehe verspricht und unverbindlich Kinder in die Welt setzt. Die Aufzählung erinnert auf Textebene an eine Pidgin-English-Version von Leporellos Registerarie, ist aber durchsetzt von Beschimpfungen in der indigenen Igbo-Sprache. Eine Stimme bekommt dieser Johnny nicht – Yemi Alade bleibt die Solistin des Songs. Im Interview bezeichnet die in Lagos lebende Afropolitin das Johnny-Problem als symptomatisch für die afrikanische Gesellschaft:

Das ist kein Stereotyp, sondern ein Teil unseres Lebens. Natürlich gibt es auch Frauen, die ihre Spielchen treiben. Mit meiner Musik spreche ich Leute an, die keine Angst davor haben, sich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, in der heutigen Zeit Afrikanerin zu sein.7

Darüber hinaus hält sich Yemi Alade mit Kritik an der nigerianischen Gesellschaft zurück, wahrscheinlich, um der waltenden Zensurbehörde nicht noch mehr Angriffsfläche zu bieten, denn bereits im zugehörigen Musikvideo setzt sie sich über die devote Rolle hinweg, die ihr als westafrikanische Frau zugewiesen wird. Die Szene beginnt mit dem Bericht eines Fernsehmoderators, den der Skandal um Johnny auf einen Dorfplatz im ländlichen Nigeria gelockt hat. Dort versammelt sich ein wütender Mob betrogener Frauen, die sich in Co 97

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mic-Blasen vor der Kamera über Johnnys Schandtaten echauffieren. Auch sie haben sich solidarisiert und treiben den nigerianischen burlador am Ende des Videos mit Stöcken in den Busch. Dieses Schauspiel in populärer Nollywood8-Ästhetik wird von Tanzszenen unterbrochen, in denen Yemi Alade und zwei andere Tänzerinnen sich in knappen Kostümen vor der Dorfkirche bewegen. Damit nutzt die Pop Persona die Genrebühne des latent machistischen NaijaPops, um progressive Frauenbilder zu konstruieren. Denn in großen Teilen der nigerianischen Gesellschaft wird das Zeigen nackter weiblicher Haut nicht toleriert. Die politische und klerikale Führungselite verfolgt eine rigide Körperpolitik, in der ›aufreizende‹ Kleiderwahl kriminalisiert wird. So wird beispielsweise ein schulterfreies Top als Provokation des Vergewaltigers betrachtet. Hinter diesen Denkmustern verbergen sich patriarchale Kontrollzwänge und komplex geschichtete koloniale Machtlogiken, die den missionarischen Blick, nackte Haut sei ›wild‹, ›naiv‹ oder ›rückständig‹, reproduzieren.9 In ihrer intermedialen Überschreibung des Don-Juan-Mythos ermächtigt Yemi Alade den Schwarzen10 weiblichen Körper – Zielscheibe intersektionaler Diskriminierung – zu einer selbstbewussten Körperperformance. Wie in den beiden anderen Fallbeispielen sind Empowerment und Machtumkehrung ihre Erzählstrategien, um dem unvergänglichen Narrativ des chauvinistischen Verführers Widerstand zu leisten.

1 Pidgin-English: Wenn ich meinen Johnny nicht finde, dann setzt’s was! 2 George Sand, Lélia, deutsch von Heidrun Hemje-Oltmanns, München 2008, S. 302. 3 Vgl. zur ästhetischen Kategorie des Dionysischen: Karl Heinz Bohrer, Das Erscheinen des Dionysos: Antike Mythologie und moderne Metapher, Berlin 2015. 4 Vgl. hierzu: Gislinde Seybert, Gisela Schlientz (Hrsg.), George Sand, jenseits des Identischen, Bielefeld 2000. 5 Zitiert nach Gisela Schlienz, »Nachwort«, in: Lélia, München 2008, S. 347. 6 Zitiert nach Schlienz, S. 357. 7 Georg Milz, »Afrikas Popkultur-Mekka: Wie Nigeria Superstars produziert«, in: Deutschlandfunk Kultur, (2018). 8 Die Filmindustrie »Nollywood« aus Nigeria ist – nach dem indischen »Bollywood« – die zweitgrößte der Welt. 9 Vgl. hierzu Bibi Bakare-Yusuf, »Nudity and morality: legislating women’s bodies and dress in Nigeria«, in: African Sexualities. A Reader, Cape Town 2011, S. 116–129. 10 Die Großschreibung des Wortes soll darauf verweisen, dass Schwarz hier nicht als ein auf eine Farbe rekurrierendes Adjektiv, sondern als soziopolitische Kategorie gebraucht wird.

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Anne Sexton → Wahrheit, die die Toten kennen

Gegangen, sage ich und verlasse die Kirche, verzichte auf die steife Prozession zum Grab, und laß die Toten allein im Leichenwagen fahren. Es ist Juni. Ich bin es müde tapfer zu sein. Wir fahren ans Kap. Ich nehme mir Zeit für mich dort wo die Sonne vom Himmel rinnt, wo wie eine Stahltür das Meer hereinschwingt und wir uns berühren. Es sterben Menschen in einem anderen Land. Mein Liebster, der Wind bricht landein wie Gestein vom weißen Herzen des Wassers und wenn wir uns berühren treten wir ganz in die Berührung ein. Niemand ist allein. Männer töten für das, oder für soviel. Und was ist mit den Toten? Barfuß in ihren steinernen Kähnen liegen sie. Sind steinerner als ein erstarrtes Meer es wäre. Sie weigern sich selig zu sein, Kehle, Aug und Fingerknöchel.

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Oliver Láng

REVOLUTION UND KONTI­­NUITÄT

Don Giovanni in Wien


»Leider habe ich unangenehme Nachrichten aus der Oper, die mir meine ganze Laune verderben. Davon Näheres nach meiner Rückkehr«, so Gustav Mahler an seine Ehefrau Alma. Geschrieben 1905 in Breslau, drei Tage vor seiner Don Giovanni-Premiere an der Wiener Hofoper. Unangenehme Nachrichten: Eine Erkrankung? Technische Probleme? Ein Sängerinnen-Ausfall? Nein, eher das Gegenteil: ein Sänger zu viel. Nämlich Leopold Demuth, der ursprünglich geplante Giovanni-Darsteller, den Mahler spontan nach der Generalprobe gegen die Zweitbesetzung Friedrich Weidemann austauschte. Schon schwingt man sich zum Protest auf: Allen voran natürlich Demuth, der sein Engagement aufkündigen will, aber auch Teile der Wiener Presse, die Mahlers Abwesenheit wie auch die Kurzfristigkeit der Entscheidung hervorstreichen. Keine große Affäre, nur Teil des Presseintrigen-Hintergrundrauschens, das Mahlers Direktion begleitet. Dieses schwillt freilich, unmittelbar nach der Giovanni-Premiere, deutlich an.

Rollers Türme Greifen wir zurück: Mit dem Eintritt Alfred Rollers als Bühnen- und Kostümbildner in die Hofoper war 1903 ein neues Zeitalter angebrochen. Nach der Konzentration auf eine musikalische Neuausrichtung in seinen ersten Direk­ tionsjahren nahm Mahler, unterstützt und befeuert durch Roller, in der zweiten Phase seiner Tätigkeit im Haus am Ring verstärkt Kurs auf eine szenische Reform (die er freilich bereits von Anfang an angestrebt hatte). Der bislang gültige Makart-Stil mit seiner überbordenden Fülle wich unter Mahler einer deutlich soffitten- und kulissenreduzierten Ästhetik, die Roller – damals einer der führenden bildenden Künstler Wiens und Mitbegründer der Secession – mit einer übergreifenden Raum-, Farb- und Lichtdramaturgie prägte. Wurde mit der Tristan und Isolde-Umsetzung im Jahr 1903 die ästhetische Revolution gezündet, so ging man diesen Weg mit dem Don Giovanni aus 1905 konsequent weiter, der – am Vorabend des Jubiläums des 150. Geburtstags des Komponisten entstanden – zum Zyklus der von Mahler entwickelten, festspielhaften Musteraufführungen zählen sollte. Die Produktion war, sowohl aus der Zeit wie auch im Rückblick betrachtet, schlechterdings eine Revolution. Roller entwarf mächtige, bewegliche Türme, die das Raumgeschehen dominierten und rasch verschoben und verändert werden konnten. Diese Beweglichkeit löste nicht nur sonst bedrängende technische Fragen – Stichwort: schnelle Umbauten –, sondern führte auch dazu, dass auf viele zusätzliche Bühnenelemente verzichtet werden konnte – entgegen dem bisher propagierten, pseudorealistischen Zugang. Rollers Türme formierten sich zu Häusern, zu Wänden, sie wollten kein Spanien mehr sein, sie wollten nicht abbilden und der Illusion dienen, sondern sie waren ein Kunstraum, der eins wurde mit der Musik. Gefasst in Farben, mitunter durch einzelne Objekte 101

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konkretisiert. Die Antwort der Anti-Roller-Front blieb nicht aus: »Das liegt jetzt in der Luft. Bringt hohe Türme mit Löchern! Milchstraßen! Knallrothe Bäume! Räthselhafte Vorhöfe! Dunkelkammern! Ockergelbe Schlösser! Linien, Ecken, Gegensätze, Farbzwistigkeiten! Heraus mit der unharmonischen Genialität! Das wird immer ärger. Weil es aus Methode geschieht, aus Prinzip«, wütete Hans Liebstoeckl im Illustrierten Wiener Extrablatt und zieh den Ausstatter einen Täter, der »ein mehr als hundert Jahre altes Kunstwerk umbringt, vergschnast, möchte ich beinahe sagen!« Für den weniger geifernden, großen Wiener Musikkritiker Max Graf war ein Paradigmenwechsel eingetreten, eine neue Dominanz des Visuellen: »Wenn Herr Roller malt, muss selbst Mozart beiseite treten.« Überhaupt, so Graf, sei ein besonderes Merkmal dieses neuen Giovanni das musikalische Diminuendo und das darstellerische Crescendo. Gerade das Orchester dürfe nur noch flüstern und raunen, die »Orchesterzeichnung wird zur Skizze, die mit ein paar Strichen andeutet und mit ein paar zarten Farben die Stimmung charakterisiert«. Auf der Bühne: ein Konversationston, im Orchestergraben: Kammermusik. »Man spielt an solchen Abenden eigentlich Burgtheater«, resümierte Graf, seltsam verstimmt, und wies auf eine ebensolche Verstimmung des Wiener Premierenpublikums hin.

Gustav Mahlers Don Giovanni-Fassung Wie auch immer dieses wirklich reagierte – zumindest in der Presse-Rezeption verdrängte die Roller’sche Gestaltung das Musikalische: der intensiven Auseinandersetzung mit der Bühne stand eine deutlich knappere in Bezug auf die musikalische Interpretation gegenüber. Wie so oft in der späteren Musikgeschichte wurde in Rezensionen der Mangel an passenden »MozartStimmen« thematisiert, gleichzeitig die Lebendigkeit der von Mahler am Cembalo begleiteten Rezitative unterstrichen – das Cembalo ersetzte übrigens beim Ständchen die Mandoline. Die Rede war weiters von der faszinierenden Eindrücklichkeit, mit der Mahler die musikalische Textur behandelte, von einer Einzigartigkeit, auch von Rasanz und Zuspitzung. Und schrieb eine US-amerikanische Zeitschrift anlässlich einer von Mahler geleiteten Aufführung später, dass er Don Giovanni nicht als Sammlung von Gesangsnummern, sondern als Musikdrama behandelte, so traf dies, folgt man den Beschreibungen, bereits schon auf seinen Wiener Don Giovanni zu. Spannend liest sich die Besetzung: Als Donna Anna hatte Mahler Anna von Bahr-Mildenburg herangezogen, eine Sängerin, mit der ihn persönlich wie künstlerisch viel verband und die er ans Haus am Ring engagiert hatte. In ihrem aktiven Repertoire fanden sich zu dieser Zeit nicht nur Donna Anna, sondern auch Leonore (Fidelio), Ortrud (Lohengrin), Santuzza (Cavalleria rusticana), Fricka (Das Rheingold), Amneris (Aida) oder Elisabeth/Venus OLI V ER LÁ NG

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(Tannhäuser) – geradezu spektakulär scheint uns das heute! Mahler gestattete ihr eine Tiefer-Transponierung der Arien, ihre mit dramatisch-tragischem Aplomb versehene Figurenzeichnung speiste sich aus der aus der Romantik kommenden Tradition der Donna Anna als führende Frauenfigur und Gegenspielerin Don Giovannis. Entgegen der Wiener Gewohnheit brachte Mahler das Werk unter seinem italienischen Originaltitel und nicht als Don Juan, und auch musikalisch setzte er sich in manchen Aspekten von der Tradition ab, so ließ er zum Beispiel das erste Finale ausschließlich von den Solistinnen und Solisten und nicht wie bisher üblich auch vom Chor singen. Die sonst gestrichene »Ah, pietà«-Arie Leporellos wurde gegeben, doch das Schlusssextett strich auch Mahler entlang der herrschenden Gewohnheit und beendete die Oper mit der Höllenfahrt. Seine in der Wiener Staatsoper befindliche Dirigierpartitur weist allerdings nicht nur das Wort fine vor dem Sextett aus, sondern auch zwei kurze Striche innerhalb dieses Sextetts – wodurch sich die Frage stellt, ob möglicherweise später mit unterschiedlichen Fassungen des Finales experimentiert wurde? Ein Thema übrigens, das, um noch einmal weit zurückzugreifen, auch ganz am Beginn der Wiener Rezeptionsgeschichte steht. Denn seit Jahrzehnten diskutiert die Musikwissenschaft die Frage, an welcher Stelle bei der Wiener Erstaufführung (1788) die Oper endete: Indizienbeweise deuten darauf hin, dass bereits damals unter Mozart das Sextett gekappt wurde, es aber in einer der späteren Aufführungen (zumindest zum Teil) erklang.

Eröffnung und Wiedereröffnung

→ Nachfolgende Doppelseite: Philippe Sly als Leporello, Kate Lindsey als Donna Elvira, Kyle Ketelsen als Don Giovanni, Patricia Nolz als Zerlina, Peter Kellner als Masetto, 2021

War der Wiener Erstaufführung 1788 noch kein überragender Erfolg beschieden (was womöglich zu den eben angesprochenen Variationen des Finales geführt hatte, um dem Publikumsgeschmack entgegenzukommen), so betrachtete man im 19. Jahrhundert – beeinflusst von der oben angesprochenen romantischen Interpretation – Don Giovanni auch in Wien als die »Oper aller Opern«. Ein Umstand, der sich unter anderem durch die Wahl als Eröffnungswerk des Hauses am Ring, 1869, zeigt. Für dieses Ereignis war optischer Prunk angesagt, um die Leistungsfähigkeit des neuen Hauses zu demonstrieren, nachempfundenes spanisches Kolorit bestimmte das Bild. 1869 brachte man endlich wieder die in Wien zuletzt weggelassene Arie Don Ottavios »Il mio tesoro«, die Oper endete mit der Höllenfahrt, der man allerdings noch ein Orchesternachspiel bei geschlossenem Vorhang anfügte. Auch bei der Neuproduktion des Jahres 1887, die das Haus am Ring anlässlich der 100-Jahr-Feier der Uraufführung herausbrachte, las man Don Giovanni als die zentrale Oper schlechthin: »Kein Werk der Literatur und Kunst darf sich einer solchen ungeheuren Popularität rühmen«, stand in der Presse, und: »Don Juan hat im Laufe des verflossenen Jahrhunderts nicht nur

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sämmtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der Oper überflügelt, sondern auch zu einer zuvor kaum geahnten Höhe von allgemeiner künstlerischer Bedeutung sich emporgeschwungen.« Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts liest man Ähnliches, bei der von Richard Strauss geleiteten Premiere des Jahres 1921 titulierte der prominente Musikkritiker Julius Korngold (der Vater des Komponisten Erich Wolfgang Korngold) Don Giovanni in bekannter Weise als »Oper der Opern« und hielt am »hochdramatischen« Stimmbild der Donna Anna fest – die Interpretin Helene Wildbrunn war zu dieser Zeit unter anderem im Wagner-Fach als Kundry und Ortrud zu erleben. Strauss, damals Direktor der Staatsoper, leitete die Vorstellungen vom Klavier aus, zur Abwechslung verzichtete man unter seiner Stabsführung auf Ottavios »Dalla sua pace«, das Ende der Oper blieb weiterhin sextettfrei. Erst 1940 fand eine Premiere mit vollständigem Finale statt. Verschwand auch das Prädikat »Oper der Opern« nun allmählich aus dem Rezeptionseindruck, so blieb die Sonderstellung Don Giovannis zumindest eine Zeitlang im Wiener Opernspielplan erhalten: 1946, also sehr bald nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung Österreichs, setzte man das Werk anlässlich der Feier von »950-Jahre-Österreich« als Premiere im Theater an der Wien (dem Ausweichquartier der zerstörten Staatsoper) unter Josef Krips an, 1955 spielte man Don Giovanni unter der Leitung des Direktors Karl Böhm als zweite Premiere des großen Wiedereröffnungs-Reigens des Hauses am Ring.

Stabilität bis in die Gegenwart Es folgten Jahrzehnte eines regen Premieren- und Repertoireeinsatzes: Herbert von Karajan stellte sich in die Tradition der dirigierenden Direktoren und brachte 1963 mit exemplarischer Sängerinnen- und Sänger-Besetzung die erste italienische Neuproduktion heraus; vier Jahre darauf gab es eine Doppelpremiere, erneut unter Krips. Prägend für viele wurde Franco Zeffirellis Sicht auf die Oper, die 1972 (wieder Krips) erstmals in Wien gezeigt wurde und auf rund 140 Aufführungen kam. In einer Staatsopern-Koproduktion mit den Wiener Festwochen erlebte das Wiener Publikum 1990 im Theater an der Wien einen Don Giovanni unter Claudio Abbado und in Luc Bondys Inszenierung, ebendort dirigierte Riccardo Muti 1999 eine weitere Staatsoper-Festwochen-Premiere, die später ins Haus am Ring übersiedelte. 2010 folgte eine Interpretation des damaligen Generalmusikdirektors Franz Welser-Möst und des Regisseurs Jean-Louis Martinoty, elf Jahre später eröffnet Musikdirektor Philippe Jordan gemeinsam mit Barrie Kosky mit einer Don Giovanni-Premi­ere einen neuen Mozart/Da-Ponte-Zyklus der Wiener Staatsoper. In einer außergewöhnlichen Lage: Die Premiere muss aufgrund der pandemischen Lage vor leerem Haus stattfinden. Gleichzeitig ist die AufOLI V ER LÁ NG

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führung durch Fernseh-, Radio- und Internetübertragung einem großen Publikum zugänglich. Rund 900-mal hatte das Haus am Ring in den vergangenen 150 Jahren Don Giovanni erlebt: Bei Weitem nicht die meistgespielte Mozart-Oper (das ist Le nozze di Figaro mit über 1.300 Aufführungen), auch nicht die am zweithäufigsten gespielte (das ist Die Zauberflöte mit knapp 1.300 Vorstellungen), aber immerhin liegt sie auf Platz drei. Ins Auge sticht nicht nur die Tatsache, dass regelmäßig Mozart-, Haus- und Staats-Gedenktage mit diesem Werk begangen wurden, sondern auch, dass die Aufführungsgeschichte eine besondere Konstanz beweist. Kaum ein Jahr ist in den vergangenen 150 Jahren zu finden, in dem die Oper nicht erklang, andererseits gibt es nur vier Jahre, in denen Don Giovanni öfter als 15-mal gespielt wurde. Im Vergleich etwa zum Rosenkavalier, den das Publikum an der Staatsoper allein in seinem Uraufführungsjahr 37-mal stürmte, ist das eine vergleichsweise flache, wenn auch ungewöhnlich stabile Aufführungskurve. Und doch: Die Einmütigkeit, mit der das internationale Solistinnen- und Solisten-Ensemble der Premiere 2021 über die absolute Ausnahmestellung der Oper befindet, erinnert an Gustav Mahlers bekannten Brief des Jahres 1885 an seine Eltern, in denen er vom Don Juan als den »Aristokraten unter den Opern« spricht.

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Reinhard Eisendle & Matthias J. Pernerstorfer

DIE WIENER DON JUANS VOR DA PONTE UND MOZART

Das Don-Juan-Sujet fand seinen Weg nach Wien – ebenso wie nach Paris – durch das Gastspiel einer italienischen Schauspieltruppe. In die französische Metropole gelangte der Stoff 1658 durch die Compagnie des Domenico Locatelli, in die kaiserliche Residenzstadt Wien zwei Jahre später durch die Truppe des Andrea D’Orso. Für das Wiener Gastspiel im Karneval 1660 vor dem Hofe Kaiser Leopolds I. wurde ein hölzernes Theater verwendet, das Giovanni Burnacini in Regensburg anlässlich des Reichstages 1653 konstruiert hatte. Noch im selben Jahr war es in zerlegtem Zustand auf der Donau nach Wien verschifft worden, wo es für das Gastspiel des Jahres 1660 wieder aufgebaut wurde. Das Stück, das hier aufgeführt wurde, trug, wie die meisten italienischen Don-Juan-Versionen des 17. Jahrhunderts, den Titel Il convitato di pietra. Ein Szenar oder ein Textbuch sind nicht überliefert, doch ist anzunehmen, dass die Wiener Aufführung, wie die überlieferten italienischen Szenare und Dramentexte dieser Zeit, in den Grundzügen Tirsos El burlador de Sevilla y convidado de piedra folgte, in welchem der Königshof von Kastilien ein konstitutives Element der Handlung darstellt. R EIN H A R D EISEN DLE & M AT T HI AS J. PER N ERSTOR FER

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→ Das steinerne Gastmahl, oder die redende Statua, Frontispiz, 1716/1717


In Frankreich hatte das italienische Gastspiel nachhaltige Folgen: bis 1677 entstanden fünf französische Schauspielfassungen, darunter die zwei Tragikomödien gleichen Titels von Nicolas Drouin, genannt Dorimon, und Claude Deschamps, genannt Sieur de Villiers: Le Festin de Pierre ou Le Fils criminel (Lyon 1658 und Paris 1659) sowie Molières Komödie in Prosa Dom Juan ou Le Festin de pierre (Paris 1665) samt ihrer Versfassung von Thomas Corneille (Paris 1677). Ein Kernstück der beiden frühen Dramen sind die »Pilgerszenen«: Dom Juan, der sich auf der Flucht befindet, nötigt einen Pilger, ihm seine Tracht zu überlassen – im Tarngewand des frommen Mannes ermuntert er Dom Philippe, den zur Rache angetretenen Verlobten der Komturstochter, zum Gebet niederzuknien. In der Fassung Dorimons wird der Verfolger bloß gedemütigt, in de Villiers’ Version jedoch hinterrücks erdolcht. Die letztgenannte Szenenvariante wird Bestandteil fast aller deutschen Stoffadaptionen des 18. Jahrhunderts und findet sogar Eingang in deutsche Singspielbearbeitungen von Mozarts Don Giovanni.

Vom Stegreifspiel zur aufgeklärten Kritik In Wien finden wir die erste Spur eines deutschen Don-Juan-Spiels im Jahr 1716/17: Bei Auftritten einer Wandertruppe in der Wiener Vorstadt soll der berühmte Wiener Hanswurst Gottfried Prehauser als »Don Philip« sein Theaterdebüt gegeben haben. Später, am Wiener Kärntnerthortheater, wird der »Hannswurst« Gottfried Prehauser in der Rolle von Don Juans Diener auftreten. Der Schauspieler und Theaterdichter Stephanie der Jüngere behauptet in seinen Sämmtlichen Werken (Wien 1774), ab dem Jahr 1717 habe sich in Wien eine Aufführungstradition von Don-Juan-Spielen etabliert, die jeweils an einem »gewissen Tag« gegeben wurden – gemeint ist damit der Zeitraum der Allerseelenoktav. Belegen lässt sich eine solche Tradition freilich erst ab 1753. Das Wiener »Allerseelenstück«, meist Don Juan oder Das steinerne Gastmahl betitelt, war ein Stegreifspiel, allerdings versehen mit einer Arie und zwei Monologen in Versform. Deren Texte wurden in Wien im Jahre 1760 in einem Separatdruck publiziert; eine weitere Edition, ohne Nennung von Druckort und Erscheinungsjahr, enthält zusätzlich ein Szenar. Daraus ist ersichtlich, dass dieses Stück in weiten Teilen dem von de Villiers’ etablierten Handlungsgang folgt – mit einzelnen Bezugnahmen zur italienischen Stofftradition des 17. Jahrhunderts. Die Gewaltbereitschaft des Titelhelden wird weiter ausgebaut: in besagten »Pilgerszenen« mordet Don Juan nicht nur seinen Verfolger »Don Philippo«, sondern auch die »Pilgerfigur«, die nunmehr ein Eremit geworden ist. Welche Teile des Stegreifspiels waren so bedeutsam, dass ihnen eigene Versteile gewidmet wurden? Zunächst der Text einer Arie, gesungen von R EIN H A R D EISEN DLE & M AT T HI AS J. PER N ERSTOR FER

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»Hannswurst«. Dieser macht sich als Diener Don Juans über das Verhalten der Galane lustig: »Jener schreyt vors Schatzerls Fenstern / Wie die Sau im Todtenbeth« – mit der Conclusio: »Kurz es ist ein dämisch Ding um die Freyerei, / Schade für die Narredey.« Es folgen die weitausladenden Verse des Eremiten, der in nunmehr »vergnügter Einsamkeit« sich aus dem unbeständigen irdischen Spiel, aus der nichtigen Welt der Eitelkeit, zurückgezogen hat. Den Schluss bilden die Verzweiflungsverse des Don Juan »Bey dessen Unglükseeligen Lebens=Ende« – sie beginnen mit den Worten: Nunmehr verruchter Mensch! wach auf von Lasterthaten, Du hast die Kindespflicht, und die Natur verrathen, Verletzt, beschämt, verfolgt, gehasset, und beraubt, Und dem Gewissensbuch kein einzig Wort geglaubt… Damit wird ein Don Juan auf die Bühne gebracht, der sich nach beharrlicher Verweigerung jeder Reue schlussendlich selbst anklagt. Seine Selbstverdammung geht so weit, dass er, unter Aufgabe jeglicher Hoffnung auf Gnade, höchstpersönlich seinen Leib den Furien der Hölle überantwortet. Joseph von Sonnenfels, in den 1760er-Jahren eine der zentralen Figuren der Reform des deutschen Theaters in Wien, nahm in einer seiner ersten Schriften über das Theater, dem Mann ohne Vorurtheil (Wien 1765), auch das Don-Juan-Spiel ins Visier. Es ist jedoch nicht die Figur des Don Juan, über die er sich erregt, sondern der steinerne Gast respektive ähnliche übernatürliche Figuren: Strafaktionen der »himmlischen Polizey« würden, so Sonnenfels’ Überzeugung, abgesehen von ihrer Vernunftwidrigkeit, auf der zeitgenössischen Bühne nur lächerlich wirken, womit Sitte, Staat und Religion untergraben würden. Stephanie dem Jüngeren zufolge ist das alljährliche Don-Juan-Spiel schließlich 1769 verboten worden. Er selbst machte sich dem Publikum und der Theaterkasse zuliebe daran, einen Ersatz für das Don-Juan-Stück zu schaffen. Dafür bearbeitete er den Macbeth von Shakespeare, dem er im Übrigen voll Ressentiment gegenüberstand: dem aufkommenden »Shakespear’schen Geschmack« schrieb er später den Verfall des Theaters zu. In seiner Bearbeitung des Macbeth ist eine redende Statue vorgesehen, und das Stück endet in »Rauch und Flammen«. Die vormalige Rolle Hanswursts übernimmt nun ein »lustiger Hofcavalier«, auf den Theaterzetteln wurde das Stück als »neues steinernes Gastmahl« angepriesen. Die Kritik würdigte den Versuch, das »schlechte und ungesittete« Don-Juan-Spiel aus den Zeiten des »bösen Geschmacks« zu ersetzen. Von 1772 bis 1776 wurde dieser Macbeth zur Allerseelenzeit gegeben, bis schließlich Stephanie selbst die Absetzung dieses »Raritätenkrams« bewirkte. Vor dem Hintergrund dieser neuen »Allerseelentradition«, in der die »Schauerhaftigkeit« im Mittelpunkt stand, stellt sich die Frage nach ursprünglich vorhandenen religiösen Konnotationen des Stoffs. 111

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← Kupferstich zur Schlussszene aus dem Macbeth Johann Gottlieb Stephanie des Jüngeren, 1774


Ein religiöser Kern In diesem Zusammenhang gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass fast gleichzeitig mit dem spanischen Burlador de Sevilla eine dem Don Juan verwandte Figur die Bühne betrat: Leontius. Die Action Von Leontio einem Graffen / welcher durch Machiauellum verführt / ein erschreckliches End genommen, aufgeführt 1615 im Jesuitengymnasium in Ingolstadt, thematisierte mit dem verderblichen Einfluss des »Machiavellismus« auf die heranwachsende Jugend ein offenbar virulentes Thema. Immerhin entstand eine Tradition, zu der sich auf der Bühne des Jesuitentheaters im Heiligen Römischen Reich von 1615 bis 1750 über 30 Texte und Aufführungen nachweisen lassen: Stets wird ein Schüler namens Leontius von einem Lehrer mit dem klingenden Namen Machiavelli unterrichtet, wobei weder die historische Persönlichkeit des Niccolò Machiavelli (1469–1527) noch dessen schriftstellerisches Werk als solches im Mittelpunkt stehen, sondern der im politischen wie pädagogischen Diskurs zu einem zentralen Schlagwort gewordene Machiavellismus. Der Lehrer überzeugt den Schüler, dass es weder eine Seele noch einen Gott gebe, wodurch auch das drohende Jüngste Gericht entfällt: Derjenige, der Reichtum und Stärke besitzt, ist im Recht. Die Situation des Glücks darf und soll unbedingt ausgelebt werden. Der Sohn aus gutem Hause fühlt sich daraufhin berechtigt, seine Möglichkeiten ohne Rücksicht auf den Nächsten oder das Morgen zu nützen. Beim Gang über einen Friedhof sieht er einen Totenkopf auf dem Boden liegen, leugnet Gott, verspottet den Totenkopf, tritt ihn mit dem Fuß und lädt ihn zum Gastmahl. Als der Tote tatsächlich erscheint, erhält Leontius seinen Lohn im ewigen Höllenfeuer. Die Parallelen zur Don-Juan-Tradition – Friedhofsszene, Gastmahl und Höllenfahrt – sind deutlich. Doch die Jesuiten bringen einen Schüler auf die Bühne, der von seinem Lehrer verführt und danach von einer überirdischen Macht gerichtet wird. Machiavelli selbst entzieht sich durch vorzeitige Flucht der Bestrafung, was ihn als Heuchler entlarvt. Lass’ dich nicht verführen, sagen diese Stücke: Es gibt eine Seele, es gibt einen Gott und es gibt die Notwendigkeit, sich vor diesem Gott am Tag des Jüngsten Gerichts zu verantworten. Das soll die Schüler – junge Menschen, mit denen es das Schicksal gut gemeint hat, die künftige Elite in Politik und Gesellschaft – dazu bewegen, nicht der Hybris eines rücksichtslosen Egoismus zu verfallen. Don Juan hingegen ist selbst der strahlende Lehrer seiner moralisch fragwürdigen und gleichzeitig die gängige Moral infrage stellenden Kunst. Er muss faszinierend gezeichnet sein, wenn das Stück funktionieren soll. Deshalb passt er schlecht auf die Schulbühne. Dies gilt auch für die entscheidende Szene zwischen Don Juan und dem steinernen Gast, in der Ersterem – in der Regel – die Tür zur Umkehr, zu Reue, Buße und Hinwendung zu Gott ein letztes Mal geöffnet wird. Da Pontes Don Giovanni stößt sie mit einem dreifachen »No!« zu und besiegelt damit sein Schicksal. In den Leontius-Stücken, 113

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von welchen meist nur kurze Programme mit Inhaltsangaben er­ halten sind, lässt sich eine solche Option nicht erkennen: Das hätte wohl auch dem pädagogischen Ziel widersprochen, die Möglichkeit des plötzlichen Todes und die im Falle einer entsprechenden Sündenschuld zwangsläufig folgende Höllenfahrt präsent zu halten. Ein Vergleich der Stofftraditionen schärft den Blick für beide Seiten. Von Leontius aus erhält die Eremiten-Szene der deutschsprachigen Don-Juan-Stücke eine tiefere Bedeutung: Mit dem Bewusstsein von der Vergänglichkeit alles Irdischen samt implizitem wie explizitem Hinweis auf die Unsterblichkeit der Seele vertritt der Eremit genau jene Position, gegen die Machiavelli sich in seinen Lehren gewendet hat – als Thema präsent ist sie in beiden Stoff-Traditionen. Der Auftritt des überirdischen Gerichtsvollziehers erfolgt in beiden Fällen angekündigt. Damit ist auch jener Zusammenhang angesprochen, aufgrund dessen sich (abgesehen vom Gefallen an Geisterszenen) in Wien – wie auch in Spanien und Portugal – Don Juan als Stoff für Aufführungen in der Allerseelenoktav etablieren konnte: Einerseits geht es um das Gedenken der Toten, andererseits ist aber (und dies noch heute) das Dies Irae Teil der Liturgie, jenes große mittelalterliche Gebet über den Tag des Jüngsten Gerichts, mit dem sich die betende Seele die Notwendigkeit bewusst machen soll, vor Gott Rechenschaft über das eigene Leben abzulegen. Das ist es, was Machiavelli leugnet und Don Juan negiert. Doch wer nimmt es mit Machiavelli auf? Wer mit Don Juan?

← Pseudo-Politia Infelix, Frontispiz, 1717

Glucks Reformballett Noch während das Stegreifspiel im Kärntnerthortheater gegeben wird, kommt an der zweiten wichtigen Wiener Bühne eine neue Don-Juan-Version zur Aufführung, die in ganz Europa Wirkung zeitigen wird: Don Juan betritt als Tänzer den Schauplatz – in einem Stück, das sich als »coup d’essay« des neu zu konstituierenden Handlungs-Balletts versteht. Choreograph ist Gasparo Angiolini, die Musik stammt von Christoph Willibald Gluck, am VerR EIN H A R D EISEN DLE & M AT T HI AS J. PER N ERSTOR FER

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fassen der elaborierten Programmschrift ist auch Ranieri de’ Calzabigi beteiligt. Die Uraufführung erfolgt am 17. Oktober 1761 am Burgtheater, damals Stätte des französischen Theaters in Wien, wo im vorangegangenen Jahrzehnt bereits Molières Dom Juan in der Versfassung von Thomas Corneille gegeben worden war. Das ballet-pantomime trägt den Titel Le Festin de pierre, später verbreitete sich auch der Titel Don Juan. Wie ein Jahr danach in Calzabigis und Glucks Orfeo ed Euridice sind die Handlung wie das agierende theatrale Personal bewusst reduziert. Die Eröffnungsszenen vor dem Haus des Komturs erscheinen als radikales Gegenstück zum deutschen Wiener Don-Juan-Spiel. Letzteres präsentiert einen Don Juan, der rasend vor Eifersucht eine amouröse Begegnung zwischen Donna Anna und ihrem Bräutigam belauscht, was ihn zum Entschluss treibt, die Komturstochter gewaltsam zu entführen. Im ballet-pantomime ist Don Juan die amouröse Figur, die – getragen von den sehnsüchtig-melancholischen Klängen einer Serenade – die Anteilnahme der begehrten Frau wie des Publikums gewinnt. Er findet Einlass in die Kammer der Komturstochter, im ballet-pantomime Elvire genannt, und zwar nicht durch Vortäuschung einer falschen Identität, wie in den spanischen und italienischen Fassungen, oder durch einen Akt der Gewalt, wie etwa in den deutschen Varianten, sondern, erstmals in der Stoffgeschichte, als deren Geliebter. Das Liebesspiel wird durch den Vater gestört, mit den bekannten letalen Folgen. Laut Besetzungsliste der Uraufführung gibt es nur zwei solistische Partien, die auf der Bühne agieren: Don Juan und der Commandeur in seiner lebendigen und seiner toten Gestalt – die zuvor genannte Elvire tritt nicht in Erscheinung. Das folgende Bild führt, erstmalig in der Stoffgeschichte, zu einem von Don Juan bereiteten Fest – gegeben für seine Freunde und seine »Mai­ tressen«. In diese Festgesellschaft bricht ungeladen die Statue des Komturs ein – alle Gäste fliehen, nur Don Juan bleibt unerschrocken zurück, lädt die Statue »spottweise« zur Tafel und erhält eine Gegeneinladung. In der Besetzung der Uraufführung werden die männlichen Festgäste als »Espagnols« bezeichnet, die weiblichen als »Paisannes« (Bauersfrauen). Was vor dem Eintreffen der Statue auf dem Fest geschieht, wird nicht näher beschrieben; die knappe Angabe lautet: »Nachdem man getanzt, setztet man sich zu Tische«. Wie das Fest enden sollte, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Das Festkonzept jedenfalls hat Eingang in Da Pontes und Mozarts Don Giovanni gefunden, wobei die orgiastischen Fantasien des Gastgebers offengelegt werden. Das letzte Bild des ballet-pantomime führt auf einen Friedhof für »Personen vom Stande«. Die Statue fordert Don Juan auf, seinen Lebenswandel zu ändern, was dieser verweigert. Die Erde öffnet sich und speit Furien aus, die Don Juan peinigen und in Ketten legen, bis schließlich alle von der Erde verschlungen werden. Die finale Nummer des Balletts (in d-Moll), die »Furienmusik«, wird Gluck später in seine Pariser Fassung des Orfeo integrieren. 115

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Die Rolle des Don Juan tanzt Angiolini selbst – er wird somit zum Brennpunkt der Aufmerksamkeit wie Anteilnahme: dem schönen, jungen Mann steht eine Statue gegenüber, die in ihren Bewegungen stark eingeschränkt ist, was auch den Spott Don Juans hervorruft. Die Musikalisierung der Figur, wie Gluck sie vornimmt, sieht Friedrich Dieckmann (Die Geschichte Don Giovannis, 1991) schon als »Element romantischer Deutung«. Die Partitur Glucks ist nicht im Autograph überliefert, Abschriften existieren in einer Kurz- und Langfassung, was zu teilweise unterschiedlicher Zuweisung einzelner Musikteile zu Handlungsequenzen führte. Heute geht man davon aus, dass bei der Premiere die Kurzfassung Verwendung fand. Von Glucks Don Juan finden sich auch Reminiszenzen in Mozarts Kompositionen: so im Figaro (Fandango) und im Streichqartett KV 421 (Serenade). Von Wien aus verbreiten sich Don-Juan-Ballette in die Länder Europas, wo sie deutliche Änderungen in der Handlungsstruktur erfahren – Musik wird ergänzt, teilweise unter Verzicht auf die Komposition Glucks. Auch in Wien lassen sich für das Don-Juan-Ballett noch unter Angiolini Modifikationen beobachten, so die Einführung der Dienerfigur (1763). In einer veränderten Choreografie von Domenico Rossi wurde Don Juan im Juni 1771 erneut in der Residenzstadt gegeben.

Die erste Don-Juan-Oper in Wien Nach dem Ende der zweiten Phase der Wiener Allerseelentradition (1772–1776) hatte das hiesige Publikum Gelegenheit, erstmalig eine Don-Juan-Oper zu sehen: das Dramma tragicomico Il convitato di pietra, o sia Il dissoluto (Text: Nunziato Porta, Musik: Vincenzo Righini), auf die Bühne gebracht 1777 durch die Operntruppe Giuseppe Bustellis, der die Oper ein Jahr zuvor in Prag uraufgeführt hatte. Dieses Werk leitet den Reigen der Don-Juan-Opern der 1770er- und 1780er-Jahre ein (Prag 1776, Venedig 1777, Neapel und Warschau 1783, Venedig 1787 mit zwei Opern, Rom 1787 und Prag 1787/Wien 1788). Portas Dramma tragicomico ist ein Versuch, Goldonis Don Giovanni Tenorio o sia Il dissoluto (Venedig 1736) mit der altitalienischen Tradition zu verbinden, wobei die von Goldoni verbannte redende Statue wieder auf die Bühne zurückkehrt. Porta zeigt einen durch seine Taten psychisch schon angeschlagenen Don Juan. Die Einladung R EIN H A R D EISEN DLE & M AT T HI AS J. PER N ERSTOR FER

← Il convitato di pietra, Frontispiz, 1777

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an die Statue spricht Don Giovanni als Zeichen der Versöhnung aus und verfällt, nachdem der Stein tatsächlich gesprochen hat, in eine »Wahnsinnsarie«. In einer Art melancholischer Erstarrung erwartet er den Besuch der Statue. Bei seinem Gegenbesuch scheint er durchaus zur Buße disponiert, aber die Drohung der Statue mit der Macht des Himmels ruft Don Giovannis Trotz hervor, wäre Reue doch nun ein Zeichen von Feigheit. Und so verschlingt auch ihn die Erde. Porta bringt sein Dramma tragicomico 1781 auch nach Esterháza, wo Joseph Haydn für diese Oper eine Einlagearie schreiben wird.

Wo die Allerseelentradition fortlebt 1783, vier Jahre vor der Uraufführung des Don Giovanni, kam es in Wien zu einer Wiederbelebung der Allerseelentradition, diesmal in der Vorstadt. Autor des neuen Stückes mit dem Titel Dom Juan oder der steinerne Gast war der Direktor des Leopoldstädter Theaters, Karl Marinelli. Seine Version ist eine Collage der alten Wiener Tradition mit der Komödie von Molière (dem einzigen Don-Juan-Stück, von dem ein deutscher Textdruck verfügbar war). Als Don Juans Diener fungierte Johann La Roche, der populäre »Kaspar« des Leopoldstädter Theaters. Marinelli integriert Molières Elvire wie auch seine bäuerlichen Figuren. Von der eleganten und subtilen Rhetorik des französischen Autors ist nicht allzu viel geblieben, und alle Diskurse über Religion und Glauben sind eliminiert. In der Charakterisierung der Titelfigur folgt Marinelli eher der Tradition des alten Allerseelenspiels. Die barocken Versteile werden jedoch nicht mehr aufgenommen: Marinellis Eremit stellt sich eher kurz und prosaisch vor, und Don Juans Ende findet nunmehr ohne die lange Selbstanklage statt – hier hält sich Marinelli an die Kürze Molières. Die nunmehr dritte Wiener Allerseelentradition wird bis 1821 beibehalten. In Wien ging somit die populäre Don-Juan-Tradition zu Ende – an anderen Orten jedoch wurde sie zur selben Zeit in ganz neuer Form etabliert, und zwar gerade unter dem Einfluss des im 19. Jahrhundert einsetzenden internationalen Erfolgs des Don Giovanni. Das Debüt der Oper am Londoner Haymarket Theatre 1817 führte zu einer Reihe von burlesken Stücken, die mittels der Personnage aus Mozarts Oper die zeitgenössische Gesellschaft ironisch und deftig aufs Korn nahmen, so etwa in der Extravaganza Giovanni in London, or, The Libertine Reclaimed von Thomas Moncrieff, ebenfalls 1817 aufgeführt. Das Stück beginnt an dem Ort, an den Da Pontes und Mozarts Titelheld am Ende des Dramas verbannt wurde: in der Unterwelt. Dort hat Don Giovanni mittlerweile fünfzig Furien verführt und wird deswegen aus der »Hölle« vertrieben – er muss zurück auf die Erde und ins Leben. Wie es auch mit jeder Neuinszenierung des Don Giovanni geschieht.

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Ovid

DIE MINYAS­ TÖCHTER aus den Metamorphosen

Minyas’ Tochter Alcithoe weigert sich, die Weihen des Gottes anzunehmen; verwegen leugnet sie immer noch, dass Bacchus Iuppiters Sohn ist. Ihre Schwestern teilen ihre gottlose Gesinnung. Der Priester hatte geboten, das Fest zu feiern. Dienerinnen und Herrinnen sollten die Arbeit ruhen lassen, sich die Brust mit Fellen bedecken, die Binden am Haar lösen, Kränze aufs Haupt setzen und belaubte Thyrsusstäbe in die Hand nehmen. Er hatte auch prophezeit, wenn man die Gottheit beleidige, werde ihr Zorn furchtbar sein. Mütter und Schwiegertöchter gehorchen, legen Gewebe, Wollkörbchen und Spinnarbeit unfertig beiseite, opfern Weihrauch und rufen den Gott als Bacchus an, als Bromius, Lyaeus, den Feuererzeugten, zweimal Entstandenen, allein von zwei Müttern Geborenen, dazu Nyseus, Thyoneus mit langem Haar, Lenaeus, Stifter der herzerquickenden Traube, Nyctelius, Vater Eleleus, Iacchus, Euhan und mit den zahlreichen Namen, die du sonst noch bei den griechischen Stämmen trägst, Liber! Hast du doch unerschöpfliche Jugend, bleibst ewig ein Knabe, oben im Himmel bist du als der Schönste angesehen. Stehst du ohne Hörner da, hast du den Kopf eines Mädchens. Du hast den Orient erobert, bis dorthin, wo das Land der fahlhäutigen Inder vom fernen Ganges umströmt wird. Den OV ID

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Pentheus schlachtest du, Verehrungswürdiger, den beiltragenden Lycurgus, die Tempelschänder! Du lässt die Tyrrhener ins Meer springen, du beugst die Hälse des Luchsgespannes, die buntes Zaumzeug schmückt. Dir folgen Bacchantinnen, Satyrn und der trunkene Alte, der seine taumelnden Glieder mit der Gerte im Gleichgewicht hält und unsicher auf dem durchhängenden Eselsrücken sitzt. Wohin man auch geht, erschallt das Geschrei junger Männer, dazu Frauenstimmen und der Schlag flacher Hände auf Pauken, es erklingen hohle Erzbecken und Schalmeien aus Buchsbaum mit langer Bohrung. »Steh uns versöhnt und gnädig bei«, beten die Frauen vom Ismenus. Sie vollziehen die heiligen Handlungen wie befohlen. Nur die Töchter des Minyas stören das Fest, indem sie im Hause zur Unzeit das Werk der Minerva verrichten: Sie ziehen Wolle oder drehen Fäden mit dem Daumen oder verharren am Webstuhl und treiben die Mägde zur Arbeit an. Immer noch arbeiten die Minyastöchter fieberhaft, missachten den Gott und entweihen den Feiertag, als plötzlich unsichtbare Pauken mit dumpfen Tönen störend erklangen. Die Oboe mit gebogenem Horn und klirrende Erzbecken erschallen, Myrrhen- und Krokusduft steigt auf. Da – o Wunder! – begannen die Webstühle zu grünen, und zu Efeulaub wurde das herabhängende Gewebe. Manches davon wird zu Reben, und was eben noch ein Faden war, verwandelt sich in eine Weinranke; aus den Kettfäden sprießt Weinlaub, und der Purpur färbt die Trauben und verleiht ihnen Glanz. Schon war der Tag erloschen, und die Stunde nahte, die man weder Finsternis noch Licht nennen kann, sondern die Grenze zwischen dem Tag und der zögernden Nacht; da war es plötzlich, als bebe das Haus und als loderten darin harzige Fackeln, als erstrahle die Halle in rötlichem Feuer und als heulten Trugbilder wilder Tiere. Schon lange halten sich die Schwestern in ihrem rauchgeschwängerten Hause versteckt und flüchten vor dem Feuer und dem Licht in verschiedene Winkel; und während sie ins Dunkel streben, spannt sich zwischen ihren feinen Gelenken eine Flughaut, und ihren Arm umschließt ein dünner Flügel. Und das Dunkel erlaubt nicht zu wissen, auf welche Weise sie ihre frühere Gestalt verloren. Kein Federkleid hob sie empor, sie hielten sich dennoch mit durchscheinenden Schwingen in der Schwebe. Sie versuchen zu sprechen, doch stoßen sie nur einen ganz schwachen Ton aus, der ihrer kleinen Gestalt entspricht, klagen leise zirpend und halten sich in Häusern, nicht im Walde auf. Da sie das Tageslicht hassen, fliegen sie bei Nacht aus und sind nach dem späten Abend benannt.

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DIE MIN YAS­T ÖCH T ER


Impressum Wolfgang Amadeus Mozart DON GIOVANNI Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 5. Dezember 2021) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito & Nikolaus Stenitzer Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung (englische Über­ setzung von Andrew Smith) – Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch – Warten auf den Commendatore. Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Barrie Kosky – Philippe Jordan: Don Giovanni hat sie allesamt mit hinuntergerissen – Sergio Morabito: Vom Kopf auf die Füße gestellt oder Was geschieht in der vorletzten Szene des Don Giovanni? – Johanna Danhauser: If I no see my Johnny – Fefe geme eh – Oliver Láng: Revolution und Kontinuität – Reinhard Eisendle und Matthias J. Pernerstorfer: Die Wiener Don Juans vor Da Ponte und Mozart. ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Antonin Artaud: Briefe über die Grausamkeit, aus: Ders.: Das Theater und sein Double, aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henniger, ergänzt und mit einem Nachwort von Bernd Mattheus © Matthes & Seitz Verlag Berlin 2012 – Nikolaus Stenitzer: Von der Heiterkeit des Dramas, überarbeitete und erweiterte Fassung des gleichnamigen Beitrages aus Opernring Zwei No. 9/November 2021 – Joseph Richter: Über Tanzsäle, aus: Ders.: Bildergalerie weltlicher Misbräuche, Frankfurt und Leipzig 1785, Siebzehntes Kapitel – Ovid: Pentheus & Bacchus / Die Minyastöchter, aus: Ders.: Metamorphosen, aus dem Lateinischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael von Albrecht, © 1994, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen, S. 93-94, 100-101, 105-106, S. 118-119 – Nicolas Schalz: Prophetische Genialität des Spätwerks, aus: Mozart. Die Da Ponte-Opern. Musik-Konzepte Sonderband 1991, S. 335-340 – Sigmund Freud: Lust & Tod, Auszug aus: Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, Studienausgabe Bd. 4 (Psychologische Schriften), Berlin: S. Fischer 1969, S. 248-249, 270 – Anne Sexton: Wahrheit, die die Toten erzählen. Aus dem Englischen von Wolfgang Schlenker, © 2000 C.H. Beck OHG, München. Die Auszüge aus den Bakchen des Euripides werden in der Übersetzung von Dietrich Ebener wiedergegeben. Die Zitate von Alenka Zupančič stammen aus dem Band Freud und der Todestrieb,

Die Produktion von Don Giovanni wird gefördert von

Turia + Kant 2018, aus dem Englischen von Sergej Seitz und Anna Wieder. Die Zitate von Samuel Beckett stammen aus dem Band Stücke – Kleine Prosa, Auswahl in einem Band, deutsch von Erika und Elmar Ophoven, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967 BILDNACHWEISE Coverbild: Robert Voit, Mono Lake, California, USA 2006, courtesy Galerie Peter Sillem Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Fotografien von Helene Schmitz (S. 44-51): © 2010/2015 Helene Schmitz S. 109, Das steinerne Gastmahl, oder die redende Statua, Frontispiz, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek – S. 112, Johann Gottlieb Stephanie der Jüngere: Stephanie des Jüngern sämmtliche Schauspiele, Zweyter Band, Wien, in der von Ghelenschen Buchhandlung 1774, Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek – S. 114, Pseudo Politia Infelix, Frontispiz, Bayerische Staatsbibliothek Sig. 4 Bavar. 2193,VII,1/80 Cah. 54 – S. 116, Il convito di pietra, Frontispiz, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek – S. 93, 94, 96, Videostills aus Johnny von Yemi Alade, 2014 Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. DIE AUTORINNEN & AUTOREN JOHANNA DANHAUSER ist Dramaturgin der Ruhr­triennale und gewann mit ihrem Team den Ring Award 2020 für das Inszenierungskonzept Don Giovanni. Die Abrechnung REINHARD EISENDLE ist Kulturwissenschaftler und arbeitet am Don Juan Archiv Wien über die Geschichte des Theaters vom 17. bis zum 19. Jahrhundert PHILIPPE JORDAN ist Musikdirektor der Wiener Staatsoper OLIVER LÁNG ist Dramaturg an der Wiener Staatsoper SERGIO MORABITO ist Chefdramaturg der Wiener Staatsoper MATTHIAS J. PENNERSTORFER ist Theaterwissenschaftler und Direktor des Don Juan Archivs Wien NICOLAS SCHALZ (1938–2020) war Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule der Künste Bremen NIKOLAUS STENITZER ist Dramaturg an der Wiener Staatsoper

→ Kyle Ketelsen als Don Giovanni, 2021



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