Programmheft »Die Meistersinger von Nürnberg«

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DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG Richard Wagner


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Gilt’s hier der Kunst? → Barry Millington

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Sachs in Traumspiegel → Im Gespräch mit Keith Warner

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Keith Warner als Regisseur → Katharina Kastening

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Das Mysterium des Schaffensprozesses → Philippe Jordan

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Zur Entstehungsgeschichte der Meistersinger von Nürnberg → Alexandra Steiner-Strauss

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Nürnberg als Wille und Vorstellung → Ulrike Kienzle

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Sixtus Beckmesser – eine antisemitische Karikatur? → Matthias Schmidt

58

Von Nationen, Völkern und anderen Palatschinken → Richard Schuberth

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Traumarbeit: Die innere Welt der Meistersinger → Paula M. Bortnichak & Edward A. Bortnichak

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Das Schusterlied → Ulrike Kienzle

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Versuch über den Meistersinger-Humor → Wolf Rosenberg

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»Wahrtraumdeuterei« → Ulrike Kienzle und Sergio Morabito zu Wagners Meistersingern 100

Rede und Antwort → Anna Kim

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Ich fühlʼs, und kannʼs nicht verstehʼn; kannʼs nicht behalten, doch auch nicht vergessen: und fass ich es ganz, kann ichʼs nicht messen! Hans Sachs, 2. Aufzug


DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG → Oper in drei Aufzügen Von Richard Wagner

Orchesterbesetzung 3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Basstuba, Pauken, Schlagwerk, Laute, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 4 Hörner, 6 Trompeten, Orgel, 2 Euphonii, 1 Tuba, 4 Rührtrommeln Spieldauer 5 Stunden 15 Minuten (inkl. 2 Pausen) Autograph Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Uraufführung 21. Juni 1868, Hofoper, München Erstaufführung an der Wiener Hofoper 27. Februar 1870




DIE HANDLUNG

1. Aufzug Schlussgesang eines Gottesdienstes am Vortag des Johannisfestes. Dem aus Franken gekommenen Ritter Walther von Stolzing gelingt es, Eva, die Tochter seines Gastgebers Veit Pogner, zu fragen, ob sie schon Braut sei. Walther wird von Evas Amme Magdalene unterrichtet: Evas Hand sei dem Sieger des bevorstehenden Wettsingens der Meistersinger zugesagt. Das habe ihr Vater, der Goldschmied Pogner, beschlossen. Eva freilich ist jetzt schon dem fränkischen Ritter zugeneigt. Um die Geliebte zu erringen, beschließt Walther, an dem Wettsingen teilzunehmen. Bei den Vorbereitungen zu einer Zusammenkunft der Meister schildert David, Lehrbub des Schusters Hans Sachs, dem jungen Ritter die Schwierigkeiten der Tabulatur. Stolzing ist von dem komplizierten Regelsystem der Meister verwirrt. Dennoch traut er sich zu, die vorgeschriebenen Stufen zum Meistergrad zu überspringen und am selben Tag noch Meister zu werden. Pogner gibt nun den Meistern bekannt, dass er seine Tochter und sein Vermögen als Preis im Sängerwettstreit bestimmt habe und empfiehlt, den Ritter Stolzing zur Teilnahme zuzulassen. Der Vorschlag von Sachs, bei dem Wettsingen auch das Volk mitentscheiden zu lassen, wird abgelehnt, auch vom Stadtschreiber Beckmesser, der sich Hoffnungen auf Eva macht und zunächst im populären Hans Sachs einen Nebenbuhler vermutet. Bald jedoch richtet sich sein Misstrauen gegen Walther von Stolzing. Bei dem Probelied, das dieser vorsingen darf, waltet Beckmesser nachdrücklich seines der Sicht entzogenen Amtes als Fehler ankreidender »Merker«. Walther hat sein Lied, unbekümmert um die Meisterregel vorgetragen. So fällt es Beckmesser leicht, den vermutlichen Konkurrenten auszuschalten: Der Junker hat »versungen und vertan«. Nur Hans Sachs erkennt den Kunstwert des für die Meister ungewohnten Liedes von Walther. DIE H A N DLU NG

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2. Aufzug Magdalene erfährt von David, den sie ins Herz geschlossen hat, dass der Ritter Walther beim Vorsingen versagt habe. Eva hört durch Magdalene von diesem Missgeschick. Hans Sachs beschließt, trotz der Abendstunde vor seinem Haus weiterzuarbeiten. Er überdenkt die Ereignisse des Tages. Eva will sich bei ihm Rat und Hilfe holen. Wohl um sie zu prüfen, stellt sich Sachs nun in der Angelegenheit Walthers auf die Seite der Meistersinger. Sie reagiert zornig, und Sachs erkennt ihre wahre Zuneigung. Vielleicht wäre er selber Eva als Freier willkommen gewesen, vielleicht hatte auch er einmal daran gedacht, um Evas Hand anzuhalten. Das aber ist nun vorbei. Eva erfährt von Magdalene, dass Beckmesser ihr ein Ständchen geben möchte, will aber auf keinen Fall am Fenster erscheinen. Magdalene soll dies in Evas Kleidern besorgen. Denn sie selbst hat nun ein Stelldichein mit Walther, der, empört über die Meistersinger, die Geliebte dazu überredet, mit ihm zu fliehen. Sachs hat diesen Plan belauscht. Da er den beiden jungen Leuten wohlgesinnt ist, plant er, die unbedachte Flucht zu verhindern. Da kommt auch schon Beckmesser und versucht, sein Ständchen anzubringen. Er wird jedoch dabei von Sachs empfindlich gestört. So, wie Beckmesser Walther von Stolzings Fehler gegen die Regel als Merker durch Kreidestriche anzeigte, merkt jetzt Sachs, der im Freien Beckmessers Schuhe besohlt, die Fehler des Stadtschreibers durch Hammerschläge auf dieselben an. David erkennt Magdalene, die dieser »Serenade« in Evas Kleidern lauscht. Er fällt eifersüchtig über Beckmesser her, ihn für einen Nebenbuhler haltend. Der Lärm lockt die Nachbarschaft an, und es entwickelt sich eine allgemeine Prügelei, in deren Verlauf Sachs Eva in das Haus ihres Vaters weist und den jungen Ritter in sein eigenes Heim aufnimmt.

3. Aufzug Sachs grübelt. Überall findet er »Wahn«. David, der wegen der nächtlichen Schlägerei ein schlechtes Gewissen hat, sagt seinen Spruch zum Johannistag auf und gratuliert dem Meister zu dessen Namenstag. Walther von Stolzing erzählt von einem wundersamen Traum und bringt ihn auf Sachsens Anraten in Verse. Sachs schreibt zwei Strophen des Gedichts mit und lässt das Blatt auf dem Tisch liegen. Beckmesser, reichlich verstört durch den Misserfolg in der vergangenen Nacht, steckt das Blatt, auf welchem er Sachsens Wettbewerbsbeitrag zum Preissingen zu erkennen glaubt, heimlich ein. Damit Beckmesser nicht als Dieb dastehe schenkt ihm Sachs das Papier und schwört ihm, niemals die Autorenschaft des Liedes beanspruchen zu wollen. Beckmesser schöpft neue Hoffnung auf einen Erfolg beim Preissingen. Eva kommt, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie wird ihr durch die dritte Strophe von 5

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Walthers neuem Lied zuteil. Sachs tauft nach altem Meistersingerbrauch Stolzings Preislied mit dem Namen »selige Morgentraum-Deutweise«. Dann schlägt er David zum Gesellen, worüber sich auch Magdalene sehr freut. Hans Sachs wird von der Volksmenge ehrerbietig empfangen. Als Spruchsprecher der Meistersinger lässt Sachs dem ältesten Bewerber, Beckmesser, den Vorrang im Wettsingen. Mit dem unverstandenen, verstümmelten Lied Walthers macht sich der Stadtschreiber jedoch lächerlich. Wütend nennt er Hans Sachs als den Urheber. Dieser aber ruft den wahren Dichter und Sänger auf und verschafft Walther Gelegenheit, sich des Preises würdig zu erweisen. Das Volk jubelt Stolzing zu. Er aber lehnt zunächst den Preis der Meister ab. Sachs klärt ihn über Würde und Wert, Sinn und Bedeutung der Kunst auf.

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Arthur Schopenhauer

» Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseins zu lösen. «


SYNOPSIS Act I The service on the day before St. John’s is drawing to its close. Walther von Stolzing, a young knight from Franconia, staying at Nuremberg as the guest of the gold­ smith Veit Pogner, finally manages to ask Eva, Pogner’s daughter, whether she is betrothed to someone. Magdalene, Eva’s nurse, explains: Pogner has decided that Eva shall marry the winner of the forthcoming singing contest of the Master­ singers. Eva, of course, is already very much interested in the Franconian knight. In order to win Eva, Walther decides to enter into the contest. While preparing the vestry for a meeting of the Masters, David, Sachs’ apprentice, describes the difficulties of the singing rules to Stolzing who remains quite confused. However, he is sure that he will pass the intermediate grades and presently succeed to be a Master. Pogner now informs the Masters of his decision to offer his daughter’s hand and his fortune as a prize in the singing contest, and recommends to admit Stolz­ ing. When Sachs suggests to let the people, too, vote at the contest, it is above all Beckmesser, the town scribe, who protests as he himself hopes to win Eva and takes Sachs for a rival. Soon, however, his suspicions concentrate on Stolzing. When the latter is allowed to sing a trial song, Beckmesser delights in performing his duty which is to mark the candidate’s mistakes. Walther sings without regard for the Masters’ rules and Beckmesser has no trouble to eliminate his presumed rival: the knight is »out and done with«. – Only Sachs recognizes the true potential of Walther’s song that sounded so unlikely to the Masters.

Act II From her beloved David Magdalene learns that Walther failed with his trial song and hurries to tell Eva. Despite the late hour, Sachs moves to the front of his house to do some work, musing over the day’s events. Eva comes tor help and advice. To test her, Sachs pretends to side with the Mastersingers, and from her angry reaction discovers her real feelings. Maybe there was a time when Eva would not have disliked Sachs to woo her, and maybe he himself once thought about it – but SY NOPSIS

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this is all over now. Magdalene tells Eva that Beckmesser intends to serenade her. Eva does on no account plan to appear at her window – Magdalene should pose there in Eva’s clothes. For Eva has an assignation with Walther who, in his indignation about the Mastersingers, persuades Eva to flee with him. Sachs, however, overhears the young couple’s conversation and, as he wishes them well, he tries to prevent such an irrevocable action. Then Beckmesser arrives and begins his serenade. Sachs, meanwhile, disturbs him most thoroughly. Just as Beckmesser chalked Walther’s violations of the Mas­ ters’ rules on his slate, Sachs marks the scribe’s mistakes by taps of his hammer and so repairs Beckmesser’s shoes surprisingly fast. David spots Magdalene who listens to the »serenade« in Eva’s clothes. In a jealous rage he falls upon Beckmesser and their fight develops into an enormous row involving the whole street. Sachs uses the confusion to bring Eva back home, and invites the young knight to his own house.

Act III Sachs is brooding, wherever he casts his eye, he sees nothing but folly. David, who has the nightly row on his conscience, says his verse for St. John’s Day and remembers to congratulate Sachs’ on his nameday. Walther von Stolzing enters and says that he had the most beautiful dream. Sachs challenges him to make a poem from it and while Walther sings, Sachs writes down two of the verses. When they leave the room, Sachs leaves the poem lying on the table. Beckmesser, still suffering from last night’s adventures, comes and finds the poem which he takes for Sachs’ own entry for the contest, and quickly pockets it. When Sachs realizes this, he makes Beckmesser a present of the poem – lest he be called a thief – and happily swears that he will never claim authorship of the song. Beckmesser is again full of hope to win the contest. Eva enters and has all her doubts reassured when Walther addresses the third verse of his prize song to her. Following the custom of the Mastersingers, Sachs solemnly baptizes the new song and calls it »selige Morgentraum-Deutweise«, i. e. Song explaining the dream in the morning. He also makes David his journeyman, which pleases Magdalene very much. The crowd greets Hans Sachs full of enthusiasm end respect. Sachs opens the contest and due to his age, Beckmesser has precedence. He has tried his hand with Walther’s song, but has failed to understand even one word of it and finishes most unfamously amid general amusement. Furiously, he names Sachs as the author. Sachs, however, calls up the real poet and so gives Walther the opportunity to achieve the prize. The people acclaim Stolzing who is still not reconciled with the Mastersingers and wants to reject their prize. Sachs intervenes and makes Wal­ ther see the dignity and the value, the meaning and the importance of their art. 9

SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Bereits 1845 verfasste Richard Wagner einen ersten Prosaentwurf für die später dreiaktige Oper Die Meistersinger von Nürnberg, aber – wie so oft bei ihm – dauerte es auch hier rund zwei Jahrzehnte, bis die Partitur in ihrer endgültigen Form vorlag. Am 21. Juni 1868 kam es an der Münchner Hofoper zur Uraufführung des ursprünglich als komisches Gegenstück zum Tannhäuser konzipierten Werkes. Die aktuelle Meistersinger-Produktion feierte am 4. Dezember 2022 Premiere, fast 50 Jahre nach der letzten Neuproduktion dieser Oper im Haus am Ring. Musikdirektor Philippe Jordan, zu dessen bevorzugten Werken die Meis­ tersinger gehören, dirigierte die Premiere, musikalische Besonderheiten dieses Werks beschreibt er ab Seite 30. Ein Hausdebüt gab der britische Regisseur Keith Warner, zu dessen Arbeitsschwerpunkten die Werke Wagners zählen – wobei er gerade die Meistersinger nun erstmals inszenierte. Ein Gespräch mit ihm ist ab Seite 20 zu finden, seine langjährige Mitarbeiterin Katharina Kastening verfasste ein Portrait über den international erfolgreichen Regisseur (ab Seite 26). Der Produktionsdramaturg, Musikhistoriker und Wagner-Experte Barry Milllington wirft Schlaglichter auf Kunst, Liebe und Politik in den Meistersingern (ab Seite 12), Paula M. Bortnichak und Edward A. Bortnichak betrachten die Oper aus dem Blickwinkel der Traumanalyse (ab Seite 76). Eine erhellende Auseinandersetzung mit den Meistersingern aus dem Blickwinkel Schopenhauers gibt die Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle (Seite 44 & 89), in einem Schriftverkehr mit dem Staatsopern-Chefdramaturgen Sergio Morabito führt sie ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Werk fort (ab Seite 100). Matthias Schmidt setzt sich mit Beckmesser als antisemitische Karikatur Wagners auseinander (Seite 58), Richard Schuberth analysiert die Begriffe Volk und Nation (ab Seite 68), Alexandra Steiner-Strauss skizziert die Entstehungsgeschichte der Oper (ab Seite 36) und Wolf Rosenberg beschäftigt sich mit Wagners Humor (ab Seite 94). Einen sehr persönlichen Text zum Thema künstlerische Verantwortung hat die Schriftstellerin Anna Kim verfasst (ab Seite 110) und beschließt damit das Programmbuch. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH

→ Szenenbild Die Meistersinger von Nürnberg

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Barry Millington

GILT’S HIER DER KUNST?

Die Triangulierung aus Kunst, Liebe und Politik in den Meistersingern


In der berührenden, zärtlichen Szene zwischen Eva und Hans Sachs (zweiter Aufzug, vierte Szene) sinnen die beiden Figuren wehmütig über eine Beziehung nach, die vielleicht möglich gewesen wäre. Eva wird hier eine Äußerung in den Mund gelegt, die einerseits die Quintessenz der Meistersinger auf den Punkt zu bringen scheint, andererseits aber auch mehr Fragen als Antworten aufwirft. Als die beiden über mögliche Kandidaten für das Wettsingen am nächsten Tag diskutieren, deutet Sachs an, dass er zu alt für Eva sei. Ihre zweideutige, neckische Antwort – ›Hier gilt’s der Kunst‹ – legt nahe, dass sie Sachs sehr gerne zum Mann nehmen würde, wenn dieser regelkonform gewinnen sollte – eine Gefühlsregung, die für die offensichtliche Zuneigung zwischen den beiden spricht. Die Tonart ist As-Dur (was in Wagners Werken oft für aufkeimende Liebe steht), die Vortragsbezeichnungen lauten »sehr zart«, »dolce« und »dolcissimo«. Dass sich beide daran erinnern, wie Sachs Eva als Säugling in den Armen zu tragen pflegte, verleiht der Szene zweifellos einen gewissen Reiz. So liebevoll Evas Äußerung auch sein mag, sie ist doch nicht aufrichtig: Evas Liebe gilt selbstverständlich Walther, den sie beim Wettsingen unbedingt siegen sehen möchte. Obwohl sie behauptet, dass die Kunst der Liebe ihre Berechtigung verleiht, geht es ihr hier nicht um Kunst: Hier ist die Kunst für sie eine Art Liebesersatz. Wir werden in Kürze auf diesen problematischen Ausspruch zurückkommen, doch vorerst sei festgehalten, dass Eva zwar vielleicht keine von Wagners eher starken, welterlösenden Frauenfiguren, aber dennoch willensstark genug ist, gegebenenfalls gesellschaftliche Vorurteile infrage zu stellen, um sich den Gegenstand ihrer Liebe zu sichern. In weiterer Folge sind Liebe und Kunst hier als zwei der prägenden Themen dieses Werkes zu erkennen. Beide werden natürlich der Tradition entsprechend zur Figur der Muse verschmolzen, und Walthers Liebe zu Eva inspiriert ihn im letzten Aufzug zum Preislied, mit dem er schließlich das Wettsingen gewinnt. Doch über dem gesamten Werk schweben sowohl der Geist einer realen Person – Mathilde Wesendonck, Wagners einstige Geliebte – als auch die seelischen Narben dieser Beziehung, die im Werk deutliche Spuren hinterlassen haben. Als Wagner mit der Arbeit an den Meistersin­ gern begann, war sein (wahrscheinlich rein platonisches) Verhältnis mit Mathilde praktisch zu Ende. Wagner musste 1858 das »Asyl« außerhalb von Zürich verlassen – ein Gartenhäuschen, in dem Mathilde ihn täglich über eine Pergola, die ihr Haus mit diesem Domizil Wagners verband, in seinem Arbeitszimmer hatte besuchen können. Im November 1861, als der zweite und dritte Prosaentwurf vorlagen, war Wagner dann zu der Erkenntnis gelangt, dass Mathilde ihren Mann und ihre Familie für ihn nicht verlassen würde. Von diesem Zeitpunkt an war in der Figur des Hans Sachs eine Resignation (gegenüber der Liebe und der Welt) zu erkennen, die Wagners eigene Strategie zur Bewältigung des Verlusts Mathildes auf faszinierende Weise widerspiegelt. 13

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Das herkömmliche Bild des Hans Sachs als gutmütiger, abgeklärter Schusterpoet muss hinterfragt werden. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass er auch einige erschreckend negative Eigenschaften besitzt. Zum einen bewegt er sich in einer Welt, in der die Wirklichkeit wie verschwommen erscheint und Kunst und Leben kaum zu unterscheiden sind. Durch sein Eintauchen in die Welt der Imagination und Phantasie verliert er den Bezug zur Wirklichkeit. Im Wahnmonolog aus dem dritten Aufzug sinnt er über die potenzielle Grausamkeit und Gewalt nach, zu der die Menschheit fähig ist: Wenn er unter den verrückten Illusionen der Welt (eben dem »Wahn«) leidet, »wühlt« sich der Mensch »ins eigne Fleisch«, ohne seinen eigenen Schmerzensschrei zu hören. Nach und nach bekennt sich Sachs zu der Rolle, die er beim Tumult in der Nacht zuvor gespielt hat – »ein Schuster in seinem Laden / zieht an des Wahnes Faden«, wie er es hier formuliert. Sein eigenes mutwilliges, missgünstiges Hämmern, das zur Begleitung von Beckmessers Ständchen an Eva gerät, hat unweigerlich zu einem Ausbruch kollektiver Gewalt geführt. Und wem oder welchem Umstand gibt Sachs die Schuld? – »Ein Kobold half wohl da.« Welche irrationale Kraft will Sachs hier wohl bekämpfen? Er scheint sich zu seinem inneren Dämon zu bekennen, und möglicherweise ist der Tumult als Metapher für Sachs’ psychische Krise – eine Art Zusammenbruch – anzusehen. Irrationale, unmenschliche Komponenten haben die Oberhand über die besseren Instinkte eines Menschen gewonnen, sodass sich dieser nunmehr in der Gewalt der Dämonen befindet. In seinem Wahnmonolog erkennt Sachs diesen Stand der Dinge implizit an. An anderer Stelle wird deutlich, dass er trotz der wehmütigen Erinnerung an seine Ehefrau fleischlichen Begierden und Phantasien erliegt. Möglicherweise erkennt er sogar Teile von Beckmesser in sich selbst, denn in gewisser Weise sind Sachs, Beckmesser und Walther drei Facetten einer einzigen Person. Zunächst sind sie alle Außenseiter und zeichnen sich auch durch das für Außenseiter so typische gestörte psychische Gleichgewicht aus (obwohl auch ein Heilungspotenzial gegeben ist). Sachs schafft es kaum, seine schlimmsten inneren Instinkte zu beherrschen und muss einen Teil der Verantwortung für den Tumult auf sich nehmen. Er leidet allerdings auch unter diesem Prozess: Seine emotionale Entwicklung im Laufe der Oper wird gemeinhin als das Erlernen der Resignation oder, wie Verhaltenspsychologen es heute eher nennen, als Akzeptanz betrachtet. Doch diese wird, wenn überhaupt, nur zu einem enormen psychischen Preis erlangt. Beckmesser ist seinerseits durch und durch psychisch geschädigt, und es bleibt bis zum Schluss fraglich, ob er jemals Frieden mit seinen Mitmenschen schließen kann. In dieser Inszenierung findet Beckmesser wie jeder Mensch, der Ablehnung erfährt, seinen eigenen Prügelknaben. Walther, der anfangs oft ungeduldig und arrogant wirkt, macht eine innere Entwicklung durch und ist im dritten Aufzug schließlich zu einem ruBA R RY MILLINGTON

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higeren, weiseren Mann gereift. Sachs wendet sich Walther zu, nachdem er erkannt hat, dass er selbst kein großer Künstler ist, sondern bloß anderen den Weg weisen kann. Da Walther repräsentativ für neue Ideen und geniale Eingebung steht, ist er selbstverständlich ein besseres Medium für die Vermittlung neuer Kunst. Als solches liefert er Wagner den benötigten Archetypus, nämlich einen Menschen, der auf Grundlage der Kunst der Vergangenheit durch Anpassung der Regeln eine wirklich neuartige, welterlösende Kunst schaffen kann. Außerdem sei daran erinnert, dass das dämonische Element, um das sich der Wahnmonolog dreht, auch einen konstruktiven Aspekt hat, nämlich den jener »Galle«, jenes Verdrusses, den Wagner als schädliche, aber doch notwendige Eigenschaft seiner Kreativität betrachtete. Im Libretto der Meistersinger wird dieses dämonische Element vielleicht unerwarteterweise mit der Lebenskraft des Fliederbuschs (mit dem der Holunderbusch gemeint ist) assoziiert. Ein weiterer Aspekt der in diesem Werk so prominent repräsentierten Natur ist die alles beherrschende Vogelmetaphorik – Walther etwa vergleicht in der Fortsetzung seines Probeliedes aus dem ersten Aufzug, die eine gewaltige Klimax gegenüber dem Anfang darstellt, die Ergüsse seiner höchst kritischen Gegner mit dem Kreischen von Krähen und dem Krächzen von Raben, während der Freigeist wie ein Adler »mit goldenem Flügelpaar« aufsteigt. Außerdem war der historische Sachs natürlich als Wittenberger Nachtigall bekannt. Ein interessantes Paradoxon in den Meistersingern und Kernstück des Werkes ist Wagners intuitives Verständnis für das Bedürfnis nach Mitgefühl. Eine Folge des Wahns, der alle in diesem Werk befällt, ist, dass sich jeder, egal, wie reich er ist, etwas wünscht, das er nicht besitzt. Sachs betrachtet Walther als das innovative kreative Genie, das er hätte sein können; Pogner würde gerne als großzügiger, kunstliebender Wohltäter gesehen werden; Walther, des aristokratischen Lebens überdrüssig, will als fahrender Künstler durch die Lande ziehen; David möchte erst Geselle, dann Meister werden. Nur Eva und Magdalene scheinen kein verzweifeltes Bedürfnis zu haben, etwas anderes zu sein, solange sie irgendwann glücklich verheiratet sind. Das mag zwar gutes Karma bedeuten, spiegelt aber natürlich auch eine sehr patriarchalische Sichtweise aus dem 19. Jahrhundert wider. Die Lektion, die uns die moderne kognitive Verhaltenstherapie lehrt, besteht darin, Akzeptanz zu erlernen und seine eigene Situation etwas positiver zu sehen. Dieser »Geist der Akzeptanz« und das Bedürfnis nach Mitgefühl stehen miteinander in Verbindung, sodass psychische Wunden geheilt werden können. Der vermeintlich weise Sachs versteht intuitiv, wie Menschen sich selbst und anderen Schmerz zufügen, versteht es jedoch gleichzeitig auch relativ gut, selbst an diesen Schrauben zu drehen. Dabei gerät allerdings seine Psyche aus dem Gleichgewicht: Er neigt zunehmend zu Depressionen, und sein »gutmütiges« Wesen muss Zornesausbrüchen und starker Gereiztheit 15

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Platz machen. Erst Parsifal wartet mit einer konsequenten Botschaft des Mitgefühls auf, auch wenn sie durch die verderbliche Weltsicht ihres Schöpfers beeinträchtigt wird. Um die Triangulierung Kunst/Liebe/Politik in den Meistersingern zu vollenden, müssen wir uns nun noch dem politischen Bereich zuwenden. Wenn Kunst und Liebe eine ideale Verschmelzung darstellen, die für ein ausgeglichenes Leben als Orientierung dienen, dann ist die Kraft die beides negiert die Sterilität. Beckmesser ist der Inbegriff der Sterilität: Sein angeborenes Unvermögen, Text und Musik zu verbinden – eine Eigenschaft, die Wagner mit Juden identifizierte –, ist sein prägendes Merkmal. Diese Menschen, die zu echter Kreativität nicht fähig waren, konnten auch nicht lieben, meinte Wagner. Aufgrund dieses Unvermögens Beckmessers, zu einem »echt deutschen kreativen« Prozess eine Affinität zu entwickeln, wird der Stadtschreiber zur Randfigur. Wie Wagner diesen Außenseiter durch die Waffe des Humors schikaniert, ist erschütternd. Es sind auch die Angst und der Abscheu vor dem Außenseiter, die die politische Dimension des Werkes prägen. Beckmesser verkörpert alle negativen Aspekte von Wagners Weltanschauung: Er ist gleichzeig steril, ein Kritiker, ein Pedant und weist stereotypisch antisemitische Eigenschaften auf (obwohl er kein Jude im eigentlichen Sinne ist). Das Motto »Hier gilt’s der Kunst« wurde nach dem Ersten Weltkrieg von Siegfried Wagner, dem Sohn des Komponisten, und nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen Enkeln Wieland und Wolfgang Wagner übernommen, um die Bayreuther Festspiele vom Nazi-Stigma zu befreien. Indem sie die Kunst zur Raison d’être erklärten, hofften sie, von der politischen Dimension des Wagner’schen Opus abzulenken. Die Meistersinger sind jedenfalls zutiefst politisch – wie könnte es auch anders sein, wenn Wagner sich zur Zeit der Komposition aktiv darum bemühte, Politik und Kunst miteinander zu verbinden? In unserer heutigen Zeit droht uns aufgrund der Vermischung von Politik und größenwahnsinniger, oft narzisstischer Phantasien ein rascher Niedergang, der in den Faschismus führt. Das ist eine der Gefahren einer unscharfen Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit, wie wir sie bei Sachs feststellen können. Und in dieser Inszenierung wechselt der Schauplatz immer fließend zwischen dem mittelalterlichen Nürnberg, dem Entstehungszeitraum des Werkes Mitte des 19. Jahrhunderts, der Zeit der »Abrechnung« nach dem Krieg, also den 1940er Jahren, und dem modernen globalen Zeitalter. Auch das triumphierende C-Dur, das am Schluss der Oper ertönt, schenkt uns nicht die Sicherheit, nach der es eigentlich klingt; frühe Kommentatoren, nicht zuletzt Theodor W. Adorno, erinnerten daran, dass Ordnung, Harmonie und Unausweichlichkeit in diesem Fall einer chaotischen und beginnenden gewalttätigen sozialen Realität aufgezwungen wurden. Wie sollte nun unsere Reaktion auf das Werk ausfallen? Es gibt keine einfachen Antworten in den Meistersingern. Eines steht aber fest: Das Publikum BA R RY MILLINGTON

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sollte das Opernhaus trotz des bewegenden Finales nicht mit einem bloßen Strahlen in den Augen verlassen, bloß weil hier viele Leben verändert wurden. Aufgrund des Aufruhrs, den wir auf der Bühne gesehen haben, sollten alle Alarmglocken läuten. Wahn ist auch heute noch allgegenwärtig und wird es immer sein – er stachelt uns dazu an, unsere Mitmenschen förmlich zu zerfleischen, sogar, wenn wir nach spirituellem Fortschritt streben. Das ist vielleicht die größte Erkenntnis – und die größte Herausforderung – der Meistersinger.

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GILT ’S HIER DER K U NST ?




SACHS IM TRAUMSPIEGEL Gehen wir einmal davon aus, dass die Meistersinger eine Komödie sind. Aus Ihrer britischen Sicht betrachtet: Worin liegt der Unterschied zwischen britischem und deutschen Humor? KEITH WARNER Ich habe nie einen großen Unterschied wahrgenommen. Die Menschen lachen über Chaplin, über Woody Allen, weltweit, überall. Daher kann ich keinen großen Unterschied zwischen England und Deutschland entdecken. Wobei es in einem anderen Aspekt einen Unterschied gibt: In Deutschland und Österreich wagen Menschen viel weniger, in der Oper zu lachen. Sie scheinen das Gefühl zu haben, dass eine Komödie weniger wert ist als eine Tragödie. Also ist eine Komödie nichts für ein ernstzunehmendes Opernhaus. In Amerika oder England gibt es diesen Gedanken nicht. Niemand dächte, dass die Shakespeare-Komödien weniger wert wären als seine Tragödien. Oder Oscar Wilde weniger wichtig als Eugene O’Neill. Ich erinnere mich an einen Don Giovanni im Theater an der Wien, den ich inszenierte. Ich glaube bei diesem Werk an das Dramma giocoso, also die Komödie. Bei der Premiere: fast kein Lachen. Am nächsten Tag las ich aber in den Zeitungen, wie lustig diese Produktion doch gewesen wäre! Man traut sich also kaum zu lachen. Wohlgemerkt, im Theater. Denn wenn ich in Deutschland und Österreich mit Freunden zusammensitze, lachen wir über dieselben Dinge.

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Nun aber: Sind die Meistersinger eine Komödie? Egal, ob man sich zu lachen traut oder nicht. Ich denke, das war zuallererst für Wagner eine Frage. In der ersten Annäherung an das Werk, in der Marienbader Zeit, wollte er eine Komödie. Als er die Oper ausarbeitete, war er allerdings in einer gänzlich anderen Stimmung, wir wissen von seiner Verzweiflung, und er hörte auf, die Meistersinger als eine Komödie zu bezeichnen – es solle keine leichte »Operette« mehr werden. Das sind die Meistersinger übrigens auch nicht. Ich denke, dass man in dieser Oper eine Reise entdeckt. Die ersten beiden Aufzüge sind komödiantischer, kommen wir aber zu Beckmessers Lied, dann ist es nicht komisch, sondern schmerzhaft, quälend, grausam. Eine Selbstdemütigung. Wie also das Stück fortschreitet, wird es immer ernster. Und im 3. Aufzug klingt die Musik für mich deutlich dunkler. Dann, am Ende, haben wir wieder ein traditionelles Komödienfinale, im Sinne von: der Bub bekommt das Mädchen und so weiter. Wenn wir uns den Wahn-Monolog des Sachs anschauen und dann seinen langen Dialog mit Walther, finden wir – so las ich einmal – die profundeste Analyse der Schopenhauer’schen Philosophie. Es folgen Beckmesser und dann dieser tiefgründige, menschlich schmerzhafte Moment von Sachs, wenn Eva im Quintett singt. Es geht um Erwartungen, die sich ändern… Ich denke, dass Wagner die Komödie schlecht aufrechterhalten konnte. Aber so wurde die Sache gehaltvoller, reicher. Mir fällt der Autor Alan Ayckbourn ein, der inzwischen über 80 Jahre alt ist und unzählige Stücke schrieb. Begonnen hat er mit sehr cleveren Komödien, im Alter wurde es deutlich düsterer. Wie gesagt: eine Reise!

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Ein wichtiger Aspekt Ihrer Inszenierung ist der Traum. Wer träumt? Und was? Ich stellte mir den Traum von Sachs als kreatives Bedürfnis vor, in dem Sinn, dass er eine Geschichte über seine Gefühle erschafft. Ich wollte aber, dass dieses Träumen ansteckend ist. Dass diejenigen, die sich anstecken lassen und das nötige Talent haben, ihre eigenen Welten erschaffen können, eine Art von Illusion. Plötzlich beginnt Sachs, in Walthers Fantasie einzutauchen, er wandelt durch dessen Welten, und umkehrt kann Walther auf jene von Sachs zugreifen, auch Eva tritt dazu. Mir gefällt es, wenn das Verhältnis zwischen der Realität und der inneren Vorstellung des Künstlers oder des individuellen Traums fließend wird. Man fragt dann nicht mehr: Was ist das jetzt genau? Wir kennen das von Shakespeare, vom Som­ mernachtstraum aber auch vom Sturm und anderen Werken, dass Realität und Illusion sehr eng miteinander verwoben sind. Genau das spüre ich auch seit langem in der Musik der Meistersinger. Man könnte das Ganze ausschließlich als Traum von Sachs zeigen – aber je älter ich werde, desto weniger möchte

KW

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ich eine konzeptuelle Sicht entwickeln, die nur einen Weg, nur eine Interpretation zulässt. Ich mag es, wenn es eine Zweideutigkeit gibt. Wagners Werk ist umgeben von vielerlei Theorien und Ideen. Wie bringt man eine seiner Opern mit – oder trotz – all dieser Theorie auf eine Bühne? Indem es immer Theater bleiben muss. Ein Opernabend kann nicht nur Idee oder Konzept sein, er muss in diesem Rahmen funktionieren. Als Darsteller oder Regisseur können wir einen alternativen Weg zur Philosophie gehen, wir können theatralisch denken. Das ist gleichrangig zur Philosophie und zu einer Ideenlehre. Was wir im Theater gemeinsam erleben und wie das funktioniert, ist eine alternative Art, das Leben und die Welt zu sehen. Es ist nicht nur Unterhaltung! Durch das theatralische Denken lernt man Dinge auf eine Art zu sehen, wie man sie durch die Philosophie niemals lernen könnte.

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In Ihrer Arbeit spielen eine Reihe von Symbolen eine Rolle. Wir sehen einen Vogel, einen Kobold. Dieser erinnert auch noch an Friedrich Nietzsche. Bringen Sie hier eine weitere Interpretationsebene ein? Sowohl der Vogel als auch der Kobold – es muss ja nicht unbedingt Nietzsche sein – finden ihre Deckung im Text. Walther singt ja von Raben, Elstern und Dohlen, das sind die Meister. Hier kommt etwas Surreales ins Spiel. Und dann sieht er sich selbst als einen prächtigen, goldenen Vogel. Walther wird dabei übrigens durchaus von Sachs unterstützt. Auch der Kobold kommt aus dem Text, Sachs spricht ihn im Wahn-Monolog an. Dazu kommt die Musik, in der ich von Anfang an eine etwas magische Mittsommernachtsmusik höre, die uns leitet und andere Entwürfe anbietet. Die Sache mit dem Nietzsche-Kopf bezieht sich darauf, dass Wagner meinte, eine nagende Galle wäre notwendig, also etwas Irritierendes, das die kreative Fantasie beflügelt. Ein Künstler brauche dieses kleine Sandkorn in der Auster, das ihn in Gang bringt. So gesehen war sein Hass auf Meyerbeer zum Beispiel ein Mittel, um herauszufinden, wie er Opern schreiben wollte. Die italienische Opernpraxis, wie er sie hasste, führte ihn zu seinen Musikdramen. Das ist also der Kobold. Es muss nicht Nietzsche sein, es könnte auch Hanslick sein, Rossini, eine Person, von der Wagner sich irritiert fühlte. Ich weiß auch nicht, wie viele im Publikum Nietzsche überhaupt erkennen. Nietzsche als Philosoph gefiel mir am besten. Es gibt natürlich auch eine SachsReferenz, auch er hat in sich etwas, eine Qual, die an ihm nagt, aber auch die Inspiration beflügelt und die Tür zum Unterbewusstsein in gewisser Weise öffnet. Das bedeutet aber nicht, dass es in diesem Stück eine tiefe Auseinandersetzung Wagner-Nietzsche gibt. Es geht nur um die Irritation.

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In Ihrer Inszenierung erlebt man mehrere Zeitebenen, die historische NürnbergZeit, aber auch andere. Ich denke, dass es bei jedem Stück eine Debatte gibt zwischen der Zeit, in der es geschrieben wurde, der Zeit, in der das Stück spielt und der Gegenwart – wir spielen ja zeitgenössisches Theater. Die Frage nach der historischen Zeit entstammt übrigens aus dem 19. Jahrhundert, Shakespeare war es nicht wichtig, ob seine historischen Stücke auch in puncto Kostüm korrekt gesetzt waren. Ich wusste, dass diese Oper für mich irgendwie tot ist, wenn ich sie in der Zeit des 16. Jahrhunderts belasse. Aber allein durch moderne Kostüme wird sie kein modernes Stück, es ist ja offensichtlich keine zeitgenössische Oper. Das Moderne, das passieren muss, liegt in unseren Reaktionen auf die Ereignisse in den Meistersingern. Es gibt in der Oper eine Befreiung von bestimmten Dingen, ich denke da etwa an die Behandlung Evas. Wir spüren ein Unbehagen darüber, wie mit Eva umgegangen wird. Und ich habe das Gefühl, dass Wagner das durchaus inszeniert, weil er damit nicht einverstanden war. In gewisser Weise spielt das Ganze jetzt, und die anderen Ebenen sind Geister und Träume eines romantischen Traums aus dem 19. Jahrhundert von Sachs. Eine der Zeitebenen ist das Jahr 1946, weil ich etwas zeigen wollte, das nach dem Nazi-Regime stattfindet und von einem Schmerz erzählt, von einer Welt, in der etwas Traumatisches passiert ist und das Grauen das Leben der Menschen grundlegend verändert hat. Es ist der Moment, in dem Dinge vorbei sind und etwas Neues entstehen kann – das ist ja auch sehr stark das Thema der Meistersinger. Da spielt auch der Aspekt der Verantwortung eine Rolle: Man ist für das, was man schafft, verantwortlich. Das Echo vom Geschaffenen kann in der Partitur liegen, es taucht in einigen Zeilen, in einigen Figuren wieder auf. Und so entwickelt man im Schaffensprozess tatsächlich ein Gefühl der moralischen Verantwortung.

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Kommen wir zum Volk: Welche Funktion hat es in dieser Oper? Sachs schlägt anfangs ja vor, das Volk über Evas künftigen Gemahl entscheiden zu lassen. Nun ist es ziemlich deutlich, dass das Volk Sachs sehr verehrt. – Wäre sein Ziel, Eva zu bekommen, so würde das, meine ich, wohl auch gelingen. Was ich hier aber interessant finde, ist, dass Beckmesser in gewisser Weise eine praktische Projektion von Sachs ist, auch in der Katastrophe, wie seine Werbung ausgeht. Was das Volk angeht, erleben wir es sehr wankelmütig. Am Ende des zweiten Aufzugs und auch im dritten Aufzug, nach Beckmessers Lied, beginnt es ja, Sachs infrage zu stellen. Ich denke auch, dass es nach seiner Ansprache vor dem Wettsingen nicht ganz für ihn ist und die Leute, vor allem die Frauen, erstaunt und auch schockiert sind. Übrigens ist es ja auch so, dass es Sachs schwerfällt, Pogners Wunsch voll zu unterstützen. Nach Walthers Lied finden die Menschen Sachs

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SACHS IM T R AUMSPIEGEL


wieder wunderbar. Das ist wie bei Shakespeare, in den Massenszenen von Julius Caesar, wo das Volk wankelmütig ist und mal in diese, mal in jene Richtung tendiert, je nachdem, wie der Wind weht. Das Volk kann sich also schrecklichen Diktaturen wie dem Nationalsozialismus zuwenden, aber auch heute Populisten verfallen wie etwa einem Donald Trump. Die Menschen, egal in welchem System, sind wankelmütig. Wie wird es nach dem Finale weitergehen? Bleiben Eva und Walther in Nürnberg? Ich könnte sagen: Es gibt nichts anderes als das Stück, den Text, aber natürlich kommt die Fantasie ins Spiel – darum geht es ja in der Oper – und man wird als Darsteller und Zuschauer mit spielerischen Fragen und möglichen Antworten zurückgelassen. Aber was wir nicht wissen, wissen wir nicht. Natürlich macht man sich seine Gedanken und stellt sich Fragen. Ich glaube fest daran, dass Eva und Walther nicht in Nürnberg bleiben werden. Sie werden da rauskommen, wegziehen, wie junge Leute es überall auf der Welt tun, sie gehen in die großen Städte, führen ein liberaleres Leben und bekommen ein Kind. Wir wissen, dass der echte Sachs im hohen Alter noch einmal geheiratet und weitere Kinder bekommen hat. Vielleicht sollten wir ihm das also wünschen. Vielleicht wird er sehr reich werden und politische Karriere machen. Er ist ein sehr begabter Manipulator. Beckmesser wird aus der Zunft austreten, weil diese Walther die Meisterschaft angeboten hat.

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Sah sich Wagner eher in Walther abgebildet oder war er doch Hans Sachs? Über diese dramaturgische Frage habe ich viel nachgedacht. Und je länger ich mich mit dem Ring, mit Lohengrin und vor allem mit Tristan und Isolde beschäftigte, desto intensiver wurden die Überlegungen. Wagner hatte eine faszinierende Methode zu schreiben, sie bestand darin, Figuren in Teile zu trennen, als wären sie unterschiedliche Seiten derselben Medaille. Ich denke, Walther, Beckmesser, Sachs, vielleicht sogar Eva und David sind alle Aspekte einer Person. So sieht sich Sachs mitunter in David, wenn er flirten will… Diese Erkenntnis trägt dazu bei, wie ich die Oper inszeniere, nämlich, dass sich alles um Hans Sachs dreht. Er projiziert sich in die verschiedenen Figuren und spiegelt sich fast immer in ihnen. Es werden in ihnen verschiedene Aspekte von Sachs gezeigt. Eine komplexe, etwas dramaturgische Methode, die mich fasziniert! Manchmal scheint es fast, als gäbe es keine andere Person in dem Stück, das Ganze wird immer mehr zu einem Monodram mit Sachs, in dem wir immer tiefer in seine Gedanken eindringen.

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SACHS IM T R AUMSPIEGEL

→ David Butt Philip als Walther

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Katharina Kastening

KEITH WARNER ALS REGISSEUR

Im Alter von nur 15 Jahren kaufte sich der musik- und theaterbegeisterte Keith Warner von seinem Taschengeld eine Eintrittskarte für die Londoner Aufführung von Die Meistersinger von Nürnberg unter dem Dirigat von Reginald Goodall. Er wusste nicht, was ihn erwartete; er kannte weder die Oper noch andere Werke Wagners und war positiv überrascht und absolut fasziniert von dem, was er da miterlebte: Hier fand seine lebenslange Leidenschaft für Wagner ihren Anfang. Seitdem hat Wagner seine Karriere am nachhaltigsten beeinflusst, und er wurde zu einem der größten Wagner-Spezialisten unserer K AT H A R INA K AST EN ING

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Zeit. Keith Warner ist bekannt für seine große Erfahrung als Wagner-Regisseur und hat alle Wagner-Opern zweimal inszeniert, mit Ausnahme von einer, die er noch nie inszeniert hat: Die Meistersinger von Nürnberg. An der Wiener Staatsoper ist es endlich so weit. Keith Warners »Handschrift« lässt sich nicht durch Einheitlichkeit definieren, was Ästhetik, die Schichtung abstrakter Dimensionen oder visuelle Reize angeht. Da ihm eine große Liebe zur Komödie zu eigen ist, ein unstillbarer Durst danach, die Welt zu verstehen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), und tiefgreifendes Wissen in einem breiten Spektrum von Kunst, kann man von seinen Produktionen jedenfalls hervorragendes komödiantisches Timing, geschichtliche Genauigkeit und kluge Kommentare zu historischen Ereignissen und Denkweisen erwarten. Keiths wahre »Handschrift« ist meiner Meinung nach jedoch ein tiefes Verständnis und eine akribische Verflechtung von Musik und szenischer Auflösung. Monate, ja, sogar Jahre vor Beginn der Proben für eine Inszenierung setzt er sich mit den Dirigenten der jeweiligen Produktionen in Verbindung, in der Hoffnung, sich mit ihnen zu treffen und über ihre Interpretationen zu sprechen, Ideen auszutauschen, das Konzept zu diskutieren und schließlich eine gemeinsame Vision zu schaffen. Für Keith Warner sind »Musik und Text gleichberechtigte Partner«. Das eine kann ohne das andere nicht sein volles Potenzial entfalten. Es ist ihm wichtig, für ihr Zusammenspiel zu sorgen, um auf der Bühne etwas Besonderes und sehr Intimes zu schaffen. In seiner Arbeit wird jede Sekunde, jeder Akkord und jede Pause genauest untersucht. Seine Bewunderung für Benjamin Britten – der sehr an die dramatische Kraft von Pausen glaubte – hat auch dazu beigetragen, dass er eine enge Beziehung zwischen den Elementen im Libretto, in der Musik und auf der Bühne herstellt. Bei der Arbeit an Wagner-Opern weist er immer wieder darauf hin, dass trotz der Länge der Werke nichts daran überflüssig ist – jeden Satz, jedes Motiv und jede rhythmische Komposition muss es geben, damit die Themen und der politische Inhalt dieser Stücke skizziert werden können, sodass letztlich das Publikum dazu gebracht wird, seine Wirklichkeiten zu hinterfragen. Das Geniale an Wagner ist, dass er auf eine Weise schrieb und komponierte, die reale, menschliche Reaktionen widerspiegelt: Die Charaktere sind so gestaltet, dass sie stimmlich unmittelbar auf Situationen reagieren, oft gleichzeitig mit einer anderen Gesangslinie. Dadurch entstehen mehrere Ebenen oder Schichten, sowohl was ihre Reaktionen als auch die Weiterentwicklung der Handlung angeht – beides wesentliche Teile des Ganzen. In solchen Szenen ist es für Keith Warner die Hauptaufgabe des Regisseurs, dafür zu sorgen, dass jede Ebene klar dargestellt und abgebildet wird. Ein Beispiel in den Meistersingern dafür ist das Finale des 2. Aufzuges – die berühmte, sogenannte »Prügelfuge«. Alle Solisten und Chorgruppen reagieren individuell auf den Kampf, wodurch über fünfzehn verschiedene Ebenen entstehen. Indem Keith Warner die »Prügelfuge« so inszeniert, dass jede 27

K EIT H WA R N ER A LS R EGIS SEU R


Gruppe bei jeder ihrer Gesangslinien durch eine bestimmte Choreografie und eine bestimmte Position auf der Bühne szenisch hervorgehoben wird, macht er jede Linie hörbar und schafft so eine spannende Szene, besonders in den Aktionen des Chors. Keith Warner ist für seine detailreiche »Chorregie« bekannt. Oft werden Opernchöre als homogene Gruppe von Menschen inszeniert, die das Gesche-

← Keith Warner

hen kommentieren, die Rolle von Zuschauern spielen und die Reaktion der Gesellschaft auf die Handlung darstellen. Keith Warner hingegen analysiert jede einzelne Gesangslinie, um das Wesen jeder Chorstimme zu verstehen, und plant konkrete Reaktionen innerhalb jeder Chorgruppe. Um die Reaktion der Gesellschaft wirklich darzustellen, muss eine Gruppe vielschichtig sein und das Verhalten einer natürlichen Menschenmenge nachahmen. In Keith Warners Inszenierungen verleiht der Chor dem Stück eine unglaubliche Tiefe, da er ihn als eine heterogene Gruppe mit gegensätzlichen Standpunkten zu dem, was in der Szene geschieht, zeigt. Dank seiner Erfahrungen als Schauspieler und Lehrer für Theatertherapie agiert Keith Warner bei der Arbeit mit Schauspieler:innen und Sänger:innen überaus sensibel. Obwohl er unglaublich klare und detaillierte Vorstellungen von der Inszenierung hat, lässt er den Darsteller:innen immer eine gewisse Freiheit bei der Gestaltung der Szenen. Er sieht sich selbst als Vermittler und wird nie jemanden zwingen, etwas zu tun, was sich für diese Person auf der Bühne unnatürlich anfühlt. Kunst sagt nur dann etwas aus, wenn die DarstelK AT H A R INA K AST EN ING

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ler:innen auf der Bühne mit ihren Figuren verschmelzen und ihre Emotionen verkörpern, statt sie nur darzustellen. Um dies zu ermöglichen, unterstützt Keith Warner die Darsteller:innen mit seinem umfangreichen Wissen zu den Figuren. Bei den Vorbereitungen studiert er nicht nur den Komponisten, den Librettisten, die Geschichte und die historischen Implikationen jedes Stücks, er stellt auch umfangreiche Recherchen über den Ursprung jeder Figur an: auf welchem Vorbild sie basiert, wann sie gelebt hat, ihre Familiengeschichte, warum sie als Figur ausgewählt wurde, was das politisch oder gesellschaftlich bedeutet usw. Diese Art von Vorbereitungsarbeit bildet eine solide Grundlage, damit er und die Darsteller:innen die Figuren gemeinsam gestalten können. Oft gibt es im Proberaum intensive Diskussionen über Politik, Geschichte und Soziologie. Bemerkenswerterweise lässt Keith Warner nie zu, dass diese Diskussionen zu Zeitdruck bei den Proben führen – sie sind ein wesentlicher Bestandteil seines Probenprozesses und es wird ihnen so viel Zeit wie nötig eingeräumt. Der Aufbau einer solch komplexen Basis ist wichtig für seine präzise und intelligente »Personenregie«, weil seine Ideen und Anweisungen dadurch klar sind und zu authentischen Ergebnissen führen. Obwohl er extreme Detailtreue schätzt und jede Szene genau plant, bevor er sie im Proberaum inszeniert, ist er nicht militant, er gibt den Sänger:innen Raum, sich zu entwickeln und ermutigt sie sogar, ihren Vortrag nicht in Routine verfallen zu lassen, sondern jede Aufführung frisch und neu anzugehen. Keith Warner gibt wirklich alles für eine Inszenierung und scheut keine Mühe; daher rührt sein außergewöhnliches Verständnis für den Stoff, den er mit großem Geschick auf der Bühne umsetzt. Seine Vorbereitungsarbeit ist enorm umfangreich und qualitätsvoll, nicht nur, was die Arbeit selbst angeht, sondern auch im Zusammenhang mit der Erstellung detaillierter Zeitpläne und der Planung technischer Abläufe Monate im Voraus. Er bringt seinem Team und seinen Darsteller:innen großes Vertrauen entgegen, denn er weiß, dass das notwendig ist, damit spektakuläre Kunst entstehen kann. → Katharina Kastening ist Keith Warners langjährige Regiemitarbeiterin und Assistentin

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Philippe Jordan

DAS MYSTERIUM DES SCHAFFENSPROZESSES

oder: Die jüngste Gevatterin erhält den Preis


Sowohl als Interpret wie als Publikum ist man bei den Meistersingern von Nürnberg am nächsten am Wesen Wagners dran – an Wagner als Person genauso wie an Wagner als Künstler und seinem Verständnis von Kunst. Es geht hier um nichts weniger als um die immer neue und zentrale Frage des Verhältnisses, der idealen Verschmelzung von Form und Inhalt einerseits und des Quells von Inspiration und Einfall andererseits. Ohne Struktur, Aufbau und Übergänge bleiben die besten Ideen bekanntlich lose im Raum stehen, umgekehrt wird aus der klarsten und durchdachtesten Form nie ein Kunstwerk, wenn der Einfall fehlt. Da Wagner die Einfälle meistens nicht einfach so zuflossen, glaubte er zeitweise aus inszenierten Wutanfällen, Hass, Gegnerschaft – bis hin zu seinem abstoßenden Antisemitismus – die Triebfeder für seine Inspirationen gewinnen zu können. Auf jeden Fall beschäftigte ihn zeitlebens die Frage nach dem Geheimnis der Genese eines Kunstwerks – und hier in den Meistersingern hat er sich und dem Publikum eine schöne Antwort gegeben. Darüber hinaus bilden die Meistersinger – gerade durch die offensichtliche Gegensätzlichkeit – eine Einheit mit Tristan und Isolde, Wagners Opus metaphysicum, in dem dessen gesamtes Schaffen gewissermaßen im Fokus eines Brennglases erkennbar ist. Mehr noch, erst durch die Zusammenschau dieser beiden Werke wird endgültig erfahrbar, was Wagner wichtig war. Denn er zeigt all das, was in Tristan zur Vollendung gebracht wurde, in den Meistersingern als Antithese auf: Chromatik gegen Diatonik etwa oder Harmonik gegen Kontrapunkt, Helden gegen Bürger, Tragödie gegen Komödie. Wobei sich der Komödiengedanke in jene große Tradition einreiht – beginnend bei den antiken Griechen über Shakespeare bis in unsere Zeit herauf – die die Conditio humana in ihrer ganzen Tiefe beleuchtet. Wohl nicht zuletzt darum hat Wagner die ausdrückliche Bezeichnung »Komödie«, die er ursprünglich sehr wohl angedacht hatte, letztendlich dann doch gestrichen und die Meistersinger lediglich als »Oper in drei Aufzügen« bezeichnet. Schließlich ist etwas Größeres, Umfassenderes herausgekommen, als von Wagner zunächst angedacht. Die Meistersinger haben sich, anders gesagt, während des Schaffensprozesses vom Schöpfer emanzipiert – womit wir wieder beim Geheimnis der Entstehung eines Kunstwerkes wären. Darum sehe ich, nicht zuletzt hinsichtlich der Qualität des Textes, den man losgelöst von der Musik öffentlich in Lesungen geben kann, in den Meistersingern eine der besten deutschsprachigen Komödien. Durchaus auf derselben Höhe wie etwa Kleists Zerbrochener Krug oder Lessings Minna von Barnhelm. Und auch hier gilt wieder: Sowohl inhaltlich wie von der Form her. Denn Wagner verschränkt beides auf geniale Weise ineinander, man muss nur an die von ihm so gerne (etwa auch in der Walküre in Wotans Abschied) verwendete BarForm denken, die die Meistersinger wie ein roter Faden durchziehen. Denn der Stollen-Stollen-Abgesang-Aufbau reicht bei Wagner deutlich über die rein sprachliche Ebene hinaus, Hans Sachs erklärt es Walther im dritten Aufzug ja sehr eindrücklich. Es geht um die Vereinigung des Gegensatzes, 31

PHILIPPE JOR DA N


aus dem etwas Neues entsteht, also dem »rechten Paar« aus dem die Kinder hervorgehen. Apropos Paar: In meinen Augen ist nicht nur Walther ein Meistersinger, sondern auch seine Eva. Zunächst erfüllt sie zwar nur die Funktion der inspirierenden Muse, indem sie Walther zu seinem Lied entzündet. Aber wenn im dritten Aufzug, knapp vor dem unbeschreiblich großartigen Quintett, der Tristanakkord als Eigenzitat Wagners erklingt, wird weit mehr ausgedrückt als Sachs’ Erkenntnis, dass eine Verbindung zwischen ihm und Eva traurig ausgehen würde. Schon mit dem Ausruf Evas »O Sachs! Mein Freund« einige Partiturseiten früher, bricht aus Eva eine Musik heraus, wie sie vorher und nachher in der gesamten Oper nicht wieder auftaucht. Plötzlich sind wir in der Musiksprache von Tristan und Isolde, ein Urerlebnis Evas bahnt sich hier seinen Weg. Ihre Loyalität und Freundschaft zu Sachs gipfeln in ihrer Danksagung, in ihrer Bestätigung, dass sie alles vom Meistersinger Sachs gelernt hätte. Ihr »Durch dich gewann ich, was man preist, durch dich ersann ich, was ein Geist, durch dich erwacht, durch dich nur dacht ich edel, frei und kühn; du ließest mich erblühen« betrifft natürlich nicht nur ihr Frausein, sondern auch ihr künstlerisches Verständnis. Wagner setzt besagten Tristan­ akkord auf das Wort »bang« in Evas Satz »Euch selbst, mein Meister, wurde bang«, weil Sachs spätestens durch diesen Ausbruch Evas deren übergroße künstlerische Potenz begreift. Bang nicht aus Liebe allein, sondern bang durch Anerkennung, Respekt. Nicht umsonst lässt er sie, die er nun als jüngste Gevatterin tituliert, daraufhin das nachfolgende Quintett eröffnen. Und wie wunderbar sublimiert, transzendiert sie ihr »Beklommenheitsmotiv« vom Beginn der Szene, und damit ihre persönliche Lebenssituation beim Übergang zum Quintett in eine der schönsten Melodien der gesamten Oper! Zugleich zeigt sie sich auch als talentierte Dichterin, wenn sie die einzelnen Worte der »Seligen Morgentraumdeutweise«, also des eben gefundenen Titels von Walthers neuem Lied, jeweils an den Beginn der einzelnen Verse der von ihr angestimmten Melodie setzt. Walthers oft zitierter Ausspruch in der letzten Szene, sein »Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!« soll eine Verbeugung vor Eva symbolisieren. Walther will – was er öffentlich nicht sagen kann – ihr den Kranz zuerkennen, ihr, der wahren Meisterin. Neben dem Quintett möchte ich an dieser Stelle unbedingt auch das Vorspiel zum dritten Aufzug gesondert ansprechen. Denn dieses Orchesterstück, das vieles aus dem dritten Aufzug vorbereitet, ergreift mich durch sein unglaublich tiefempfundenes, anrührendes Nachsinnen über den Weltenlauf und das Mensch-Sein an sich, von Mal zu Mal neu. Das im Schusterlied angerissene »Wahnmotiv« erfährt hier eine Fortführung, Blech und Fagott stimmen den »Wach-auf«-Chor der Festwiese an, der von Eva gestaltete, bereits angesprochene wundervolle Übergang zum Quintett, erklingt. Und Wagners Hommage an Johann Sebastian Bach wird einmal mehr greifbar: Wir hören in diesem Vorspiel beispielsweise eine Fuge, die genauso gut aus PHILIPPE JOR DA N

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Bachs Kunst der Fuge sein könnte. Denn wenn Bachs Schaffen auch für viele Jahre aus dem Fokus verschwunden war – man lernt schon in der Schule, dass erst Mendelssohn die Matthäuspassion in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zurückgeholt hat – ganz vergessen war das Wissen um die Werke des großen Leipziger Thomaskantors nie. Zumal in den Fachkreisen nicht. Wagners Idee des Musikdramas basiert somit sicher nicht nur auf Gluck, Mozart, Beethoven und der französischen Grand opéra, sondern hat eine wichtige Wurzel in den Bach’schen Passionen. Das Wechselspiel Evangelist-Akteure, die Dramatik der großen Turbachöre, ja sogar die Sprache der Passionen hinterließen bei Wagner deutliche Spuren – und hinsichtlich der Fugen, der Kontrapunktik und der Choräle natürlich ganz besonders in den Meistersingern. Nichtsdestotrotz wäre es aber natürlich ganz falsch bei den Meistersingern aufgrund von Diatonik, Choral und Fuge von einer tonalen Kehrtwende Wagners zu sprechen. Wenn im »Fliedermonolog« in den Hörner das Lenzmotiv ertönt und die Streicher dazu ein Tremolo sul ponticello – nahe am Steg – spielen, nimmt Wagner im klanglichen Ausdruck sogar den Impressionismus vorweg. Die Quartschichtung in der Prügelszene erinnert hingegen sogar an Schönbergs 1. Kammersinfonie und die Verwendung des Dominantseptnonakkords beult die damals traditionelle Tonartensprache auf sehr originelle Weise aus. Gesondert möchte ich noch Hans Sachs’ Schlussansprache hervorheben, die spätestens seit dem nationalsozialistischen Terror geschichtlich belastet ist. Ich glaube, dass man sie richtig lesen sollte. Es geht hier um Werte, es geht darum, dass Neues immer nur durch das Vorhandensein des Früheren entstehen kann – sei es durch Weiterführung, sei es durch bewusste Opposition. Das Vernichten und Fallenlassen dessen, was über Jahrhunderte gewachsen ist, kann in der Kunst kein vernünftiger Weg sein – gerade in unserer heutigen globalisierten Welt ist das Hochhalten der eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, wie dies Sachs fordert, von ungeheurer Wichtigkeit. Und das ist die Botschaft. Nicht auf dem Wort »deutsch« liegt die Betonung, sondern auf dem Wort »echt«. Echt im Sinne von authentisch.

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DAS MYST ER I UM DE S SCH A FFENS-PROZE S SE S


Thomas Mann → Doktor Faustus

So geht es zu, wenn es schön ist: Die Celli intonieren allein, ein schwermütig sinnendes Thema, das nach dem Unsinn der Welt, dem Wozu all des Hetzens und Treibens und Jagens und einander Plagens bieder-philosophisch und höchst ausdrucksvoll fragt. Die Streicher verbreiten sich eine Weile weise kopfschüttelnd und bedauernd über dieses Rätsel, und an einem bestimmten Punkt ihrer Rede, einem wohl erwogenen, setzt ausholend, mit einem tiefen Eratmen, das die Schultern emporzieht und sinken lässt, der Bläserchor ein zu einer Choral-Hymne, ergreifend feierlich, prächtig harmonisiert und vorgetragen mit aller gestopften Würde und mild gebändigten Kraft des Blechs. So dringt die sonore Melodie bis in die Nähe eines Höhepunkts vor, den sie aber, dem Gesetz der Ökonomie gemäß, fürs erste noch vermeidet; sie weicht aus vor ihm, spart ihn aus, spart ihn auf, sinkt ab, bleibt sehr schön auch so, tritt aber zurück und macht einem anderen Gegenstande Platz, einem liedhaft-simplen, scherzhaftgravitätisch-volkstümlichen, scheinbar derb von Natur, der’s aber hinter den Ohren hat und sich, bei einiger Ausgepichtheit in den Künsten der orchestralen Analyse und Umfärbung, als erstaunlich deutungs- und sublimierungsfähig erweist. Mit dem Liedchen wird nun eine Weile klug und lieblich gewirtschaftet, es wird zerlegt, im einzelnen KOLUMN EN T IT EL

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betrachtet und abgewandelt, eine reizende Figur daraus wird aus mittleren Klanglagen in die zauberischsten Höhen der Geigen- und Flötensphäre hinaufgeführt, wiegt sich dort oben ein wenig noch, und wie es am schmeichelhaftesten darum steht, nun, da nimmt wieder das milde Blech, die Choral-Hymne von vorhin das Wort an sich, tritt in den Vordergrund, fängt nicht gerade, ausholend wie das erste Mal, von vorne an, sondern tut, als sei ihre Melodie schon eine Weile wieder dabei gewesen, und setzt sich weihesam fort gegen jenen Höhepunkt hin, dessen sie sich das erste Mal weislich enthielt, damit die »Ah!«-Wirkung, die Gefühlsschwellung desto größer sei, jetzt, wo sie in rückhaltlosem, von harmonischen Durchgangstönen der Basstuba wuchtig gestütztem Aufsteigen ihn glorreich beschreitet, um sich dann, gleichsam mit würdiger Genugtuung auf das Vollbrachte zurückblickend, ehrsam zu Ende zu singen.

Über das Vorspiel zum 3. Aufzug der Meistersinger 35

KOLUMN EN T IT EL


Alexandra Steiner-Strauss

GEGEN SACHS HALTEN SIE IHR HERZ FEST: IN DEN WERDEN SIE SICH VERLIEBEN!

Zur Entstehungsgeschichte der Meistersinger von Nürnberg


23 Jahre beschäftigte sich Richard Wagner mit der Oper Die Meistersinger von Nürnberg: Der erste Entwurf entstand 1845 während eines Kuraufenthaltes im böhmischen Marienbad; dann begleiteten die Meistersinger Wagner über Venedig und Wien nach Paris, Mainz und Leipzig, nach Biebrich am Rhein und nach Triebschen am Genfersee, bis endlich die Uraufführung in München 1868 gefeiert werden konnte. Jeder Ort markiert eine wesentliche Station in der Entstehungsgeschichte von Wagners (komischer) Oper. Markante Persön­ lichkeiten aus Wagners Leben sind mit den Meistersingern verbunden: Mathilde Wesendonck, Eduard Hanslick, Hans Richter, König Ludwig II., Franz Liszt, Cosima Wagner und Hans von Bülow – und nicht zu vergessen die am 17. Februar 1867 geborene Tochter Eva, benannt nach der Eva der Meister­ singer, die zu diesem Zeitpunkt kurz vor Fertigstellung standen. MARIENBAD 1845

Anfang Juli 1845 bezog Wagner gemeinsam mit seiner Gattin Minna Quartier im Kurort Marienbad, um nach den Anstrengungen seiner Tätigkeit als Kapellmeister in Dresden Ruhe zu finden. Doch wie so oft nutzte Wagner den Aufenthalt weniger zur Erholung denn zur produktiven Arbeit: In wenigen Wochen entstanden hier erste Entwürfe zu den Meistersingern, zum Lohengrin und zum Parsifal. Wagner studierte die Geschichte der deutschen Dichtung von Georg Gottfried Gervinus, insbesondere das Kapitel über den Meistergesang, und kannte bereits die Oper Hans Sachs von Albert Lortzing. Aus diesen Quellen formte Wagner den ersten Prosaentwurf zu den Meister­ singern, der schon am 16. Juli 1845 fertig vorlag und die wesentlichen Handlungszüge der späteren Oper enthielt. Grundgedanke Wagners war es, ein heiteres Gegenstück zum eben erst vollendeten Tannhäuser zu schaffen: »Wie bei den Athenern ein heiteres Satyrspiel auf die Tragödie folgte, erschien mir auf jener Vergnügungsreise plötzlich das Bild eines komischen Spiels, das in Wahrheit als beziehungsvolles Satyrspiel meinem Sängerkrieg auf Wartburg sich anschließen konnte. Es waren dies Die Meistersinger zu Nürnberg mit Hans Sachs an der Spitze,« schrieb Wagner 1851 in Eine Mitteilung an meine Freunde. Wagner wandte sich jedoch von der Beschäftigung mit den Meister­ singern wieder ab, um am Lohengrin zu arbeiten. VENEDIG 1861

Erst 16 Jahre später griff Wagner den Stoff der Meistersinger wieder auf. Gemeinsam mit Otto und Mathilde Wesendonck besuchte Richard Wagner im November 1861 Venedig. In der Accademia vor Tizians Altarbild Himmelfahrt Mariens hatte Wagner angeblich ein Schlüsselerlebnis, vergleichbar seiner Karfreitagseingebung zum Parsifal: »Bei aller Teilnahmslosigkeit meinerseits muss ich jedoch bekennen, dass Tizians Himmelfahrt der Maria im großen Dogensaale eine Wirkung von erhabenster Art auf mich ausübte, so dass ich seit dieser Empfängnis in mir meine alte Kraft fast wie urplötzlich wieder be 37

A LEX A N DR A ST EIN ER-ST R AUS S



l­ ebt fühlte. Ich beschloss die Ausführung der Meistersinger.« Kurz davor hatte Wagner jedoch bereits seinen Mainzer Verleger Schott brieflich von Wien aus um einen Vorschuss für die Meistersinger gebeten, die er bis November 1862 geschlossen sah – das venezianische Inspirationserlebnis konnte Wagner also nicht unvorbereitet getroffen haben. Mathilde Wesendonck und Wagner sprachen in Venedig über die Meistersinger; Mathilde drängte Wagner zur Wiederaufnahme des Stoffes. Die Prosaskizze aus Marienbad befand sich als Geschenk Richards in ihrem Besitz, und sie versprach, ihm den Entwurf zu schicken. WIEN, NOVEMBER/DEZEMBER 1861 – PARIS, DEZEMBER 1861/JÄNNER 1862

← Bewirkte bei Wagner einen Inspirationsschub, der zur Wiederaufnahme der Arbeit an den Meistersingern führte: Tizian, Himmelfahrt der Maria, 1516-1518

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Nach vier Tagen reiste Wagner aus Venedig ab und soll auf der Eisenbahnfahrt nach Wien erste Kompositionselemente erdacht haben: »Die Rückreise von Venedig nach Wien war recht lang: zwei volle, lange Nächte und einen Tag saß ich zwischen Einst und Jetzt hilflos eingeklemmt, und fuhr so recht ins Graue hinein. (…) Jetzt klang’s mir nach, wie eine Ouvertüre zu den Meistersingern von Nürnberg,« schrieb Wagner an Mathilde im Dezember 1861. In Wien studierte Wagner unter anderem das Buch Von den Meister-Singer holdseligen Kunst von Johann Christoph Wagenseil aus der kaiserlichen Hofbibliothek. Im November 1861 entstanden der zweite und dritte Prosaentwurf zu den Meister­singern. Am 3. Dezember las er in Mainz Schott und anderen Gästen aus der Dichtung vor und reiste noch am gleichen Abend weiter nach Paris, wohin ihm Mathilde Wesendonck im Dezember seinen Prosaentwurf von 1845 schickte. »Ich segne die Wiederaufnahme dieser Arbeit und freue mich darauf wie auf ein Fest. In Venedig hätte ich solche Hoffnung kaum zu schöpfen gewagt,« so Mathilde an Wagner am 25. Dezember 1861. Wagner antwortete aus Paris: »Was werden Sie für Augen machen zu meinen Meistersingern! Gegen Sachs halten Sie Ihr Herz fest: In den werden Sie sich verlieben! Es ist eine ganz wunderbare Arbeit. Der alte Entwurf bot wenig, oder gar nichts. Ja, dazu muss man im Paradies gewesen sein, um endlich zu wissen, was in so etwas steckt!« Er legte dem Brief das »Schusterlied« aus dem 2. Aufzug der Meistersinger bei. In einem Hotelzimmer vollendete Wagner in 30 Tagen die literarische Vorlage zu den Meistersingern; am 25. Jänner lag der Text abgeschlossen vor. Auch erste musikalische Elemente stellten sich ein, darunter der berühmte »Wach auf«-Chor nach Versen von Hans Sachs. BIEBRICH AM RHEIN 1862/LEIPZIG 1862

Im Frühjahr 1862 zog sich Wagner in ein Landhaus in Biebrich am Rhein zurück, um sich den Meistersingern zu widmen. Dort komponierte er das Vorspiel: »Bei einem schönen Sonnenuntergange, (…) trat auch plötzlich das Vorspiel zu meinen Meistersingern, wie ich es einst aus trüber Stimmung als fernes Luftbild vor mir erscheinen gesehen hatte, nahe und deutlich vor die Seele,« erinnerte sich Wagner in Mein Leben. Eine Gedenktafel an der Villa GEGEN SACHS H A LT EN SIE IHR HER Z FE ST: IN DEN W ER DEN SIE SICH V ER LIEBEN!


erinnert die Besucher Biebrichs noch heute daran. In Leipzig wurde das Vorspiel im fast menschenleeren Gewandhaus unter der Leitung von Hans von Bülow am 2. Juni 1862 uraufgeführt; am 1. November leitete Wagner selbst die Aufführung des Vorspiels, wiederum vor wenig Publikum im Leipziger Gewandhaus. WIEN, 23. NOVEMBER 1862/1863

In Wien las Wagner am 23. November 1862 in der Wohnung des Arztes Josef Standhartner aus seinen Meistersingern vor; der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick befand sich unter den Gästen und fühlte sich durch die Figur des Beckmessers, die Wagner ja ursprünglich Veit Hanslich genannt hatte, zu Recht angegriffen. Damit hatte sich Wagner endgültig die Feindschaft Hanslicks zugezogen, der noch anlässlich der Wiener Meistersinger-Erstaufführung 1870 harte Worte fand: »Im Ausdruck des Komischen ist Wagners Musik vollends unglücklich; da wird sie regelmäßig gespreizt, überladen, ja widerwärtig. Mit den grausen Dissonanzen, in welchen der ›komische‹ Beckmesser schimpft oder wehklagt, könnte man die entsetzlichsten Szenen eines Schauerdramas begleiten, (…).« Am 26. Dezember 1862 gab Wagner im alten Musikverein sein erstes Konzert in Wien, zu dem auch Kaiserin Elisabeth erschien. Die Aufführung war ein großer Erfolg, selbst die Kaiserin applaudierte zustimmend. Die »Versammlung der Meistersinger« und »Pogners Ansprache« erlebten hier ihre Uraufführung, auch das »Vorspiel« stand auf dem Programm. Es folgten zu Neujahr zwei weitere Konzerte, die Wagner dirigierte; finanziell sorgten die Konzerte für ein Defizit, das von Freunden und Bewunderern ausgeglichen wurde. Dennoch beschloss Wagner, Wien zu seinem Hauptwohnsitz zu machen, und mietete unter hohem finanziellen Aufwand in Penzing eine Villen-Etage. Dort, in der von Wienern sogenannten »Wagner-Villa« in der Hadikgasse, instru­mentierte er den 1. Akt der Meistersinger. MÜNCHEN 1864

Am 4. Mai 1864 erschien Wagner zum ersten Mal zu einer Audienz bei Lud­­wig II., ein Ereignis, das für Wagners Leben und die Musikgeschichte wohlbekannte, weitreichende Folgen hatte: Ludwig II. wurde zum Mäzen Wagners. Für die Komposition der Meistersinger bedeutete dies zunächst einen Rückschritt: Ludwig II. bevorzugte die Arbeit am Ring des Nibelungen und Tristan und Isolde. Die Meistersinger stellte Wagner zunächst zurück. Am 18. Oktober 1864 »schenkte« Wagner – nach Erhalt hoher Geldsummen – Ludwig II. zusammen mit anderen Partituren auch die unvollendeten Meistersinger. TRIEBSCHEN, APRIL 1866 BIS OKTOBER 1867

Am 15. April 1866 bezog Wagner die Villa am Genfersee in Triebschen, am 12. Mai folgte Cosima mit den drei Töchtern, um von nun an für immer bei WagA LEX A N DR A ST EIN ER-ST R AUS S

→ Wagner übernahm die Formulierung der Tabulaturgesetze fast wörtlich aus Johann Christoph Wagenseils Von der Meistersinger holdseliger Kunst

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ner zu bleiben. In Triebschen arbeitete Wagner konzentriert an der Partitur der Meistersinger. Nicht umsonst ließ sich Ludwig II., der Wagner an seinem Geburtstag überraschenderweise besuchen kam, als »Walther von Stolzing« melden. Am 6. September konnte Wagner den zweiten Aufzug der Meistersinger vollenden; ab Oktober arbeitete Wagner am dritten Aufzug und komponierte das »Preislied«, zu dem er am Weihnachtsabend 1866 den Text dichtete. Am 28. Jänner 1867 traf Wagner die für die Dramaturgie der Oper folgenschwere Entscheidung, das Schlusslied von Hans Sachs hinzuzufügen. Cosima berichtete Ludwig II. in einem Brief darüber: »Der Freund wird erstaunt sein, die neue Strophe Hans Sachs’ auf dem Blatte zu finden. Sie ist in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr am 28. Januar gedichtet worden, nachdem ich einen ganzen Tag über den Schluss des Werkes gesprochen hatte.« Franz Liszt stattete am 9. Oktober 1867 in Triebschen einen kurzen Besuch ab, um die unerfreuliche Situation zwischen Cosima, Richard und Hans von Bülow zu klären – die erwartete Auseinandersetzung blieb jedoch aus, über den Klängen der Meistersinger, von denen Liszt sich begeistert zeigte, versöhnten sich die beiden Männer: »Liszts Besuch: gefürchtet, doch erfreulich«, berichtete Wagner in Mein Leben. TRIEBSCHEN, 24. OKTOBER 1867

Am 24. Oktober 1867 konnte Wagner aus Triebschen an Hans von Bülow telegraphieren: »Heute Abend Schlag 8 Uhr wird das letzte C niedergeschrieben. Bitte um stille Mitfeier – Sachs«. Die Meistersinger waren nach mehr als 20 Jahren endlich vollendet; der junge Wiener Kapellmeister Hans Richter, seit 1866 Wagners Sekretär, schrieb die Partitur ab, die Ludwig II. als wohlkalkuliertes Weihnachtsgeschenk erhielt, musste doch noch die Uraufführung des Werkes zustande kommen. MÜNCHEN, 21. JUNI 1868

Die Vorbereitungen zur Uraufführung wurden mit hohem finanziellen Aufwand betrieben. Am Johannistag 1868 erfolgte schließlich die Uraufführung der Meistersinger am Hoftheater in München unter der Leitung von Hans von Bülow, die sich zu einem Triumph für Wagner entwickelte. Ludwig II. rief Wagner in seine Loge, von der aus Wagner stehend die Ovationen entgegennahm. Die Meistersinger, deren Fertigstellung Wagner so lange beschäftigt hatte, sollten einer der größten Erfolge zu Wagners Lebzeiten und seine – in hellen wie in dunklen Zeiten – populärste Oper werden. → Richard Wagners Textprobe aus den Meistersingern von Nürnberg, 1861

GEGEN SACHS H A LT EN SIE IHR HER Z FE ST: IN DEN W ER DEN SIE SICH V ER LIEBEN!

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Ulrike Kienzle

NÜRNBERG ALS WILLE UND VORSTELLUNG

Auf den Spuren der Philosophie Schopenhauers in Wagners Meistersinger-Dichtung 44


I. Die Meistersinger von Nürnberg gelten als Ausnahmewerk im Œuvre Richard Wagners: Weder Erlösungsthematik noch Welttheater-Attitüde oder Weltuntergangs-Stimmung stehen im Mittelpunkt; stattdessen haben wir es mit einer Komödie zu tun, mit Alt-Nürnberg und Butzenscheiben-Romantik, wenngleich nicht ohne subtile Anspielung auf zeitgenössische Kunst und Politik. Gemeinhin werden die Meistersinger als ein lebensvolles, optimistisches Werk verstanden, als ein Bekenntnis zum Ausdruck kollektiven Selbstverständnisses in der Kunst, als eine Apotheose bürgerlichen Gemeinsinns und als Dokument der Versöhnung von Tradition und Erneuerung, von gesellschaftlicher Ordnung und verjüngender Innovation. Nicht anders als Tristan und Parsifal sind jedoch auch die Meistersinger vom Geiste der pessimistischen Philosophie Arthur Schopenhauers durchdrungen. Die Sphäre des spätmittelalterlichen Bürgertums, die Welt des Handwerks und ihre Verschränkung mit der Regelpoetik des Meistergesangs im Nürnberg des 16. Jahrhunderts umschließen ein System von Metaphern und Symbolen, deren Prägung durch Wagners intensive Lektüre der Welt als Wille und Vorstellung sich erst bei vergleichender Untersuchung beider Werke erschließt. Wagner transformiert philosophische Reflexionen und abstrakte gedankliche Gehalte durch bildliche Einkleidung in das musikdramatische Kunstwerk. Es sind vor allem drei Aspekte der Schopenhauer’schen Philosophie, die ihn faszinieren und aus denen er künstlerische Inspiration bezieht: Am bedeutendsten erscheint ihm Schopenhauers Überzeugung von der Identität alles Lebenden, nach der Materie, Pflanze, Tier und Mensch als Objektivationen des Willens im letzten Grunde identisch sind. Sodann überzeugt ihn der pessimistische Charakter dieser Willensphilosophie: Alles Leben ist stetiges Leiden, da der Wille sich in seinen Objektivationen unaufhörlich selbst bekriegt und zerfleischt. Mensch und Tier, die zur Erhaltung ihres eigenen Daseins anderes Leben vernichten, ahnen nicht, dass sie mit dem Mord am anderen eigentlich sich selbst, den in allen identischen Willen, treffen. Schließlich macht sich Wagner Schopenhauers Philosophie der Kunst zu eigen. Unter dem Einfluss des dritten Buches der Welt als Wille und Vorstellung, welches von der temporären Beruhigung des Willens in der ästhetischen Kontemplation und von der herausragenden Stellung der Musik innerhalb der Hierarchie der Künste handelt, entwickelt Wagner eine neue Ästhetik des musikalischen Dramas. Die Reflexe seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopen­ hauers finden sich in seinen Briefen, in den theoretischen Schriften und in seiner Kunst, zuerst in der Handlung in drei Aufzügen Tristan und Isolde.

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II. Nach der Vollendung des Tristan sucht Wagner nach einem Ausweg aus Askese und Entsagung, die sich hier bereits abzeichnen. Mit ihnen wird er sich in seinem letzten Werk, dem Bühnenweihfestspiel Parsifal, noch einmal intensiv befassen. Zunächst jedoch geht es ihm um die Möglichkeit einer Legitimation des Lebens und des praktischen Handelns, ohne freilich die Prämissen des Schopenhauer’schen Pessimismus zu verleugnen. Wie ist Leben möglich und sinnvoll angesichts der Schrecklichkeit des Weltwillens und des unausweichlichen Leidenscharakters des Daseins? Die Konzeption der Meistersinger ist Wagners Antwort auf diese philosophische Frage. Unter dem Einfluss der Schopenhauer’schen Philosophie erfährt der frühe Entwurf eine bedeutende gedankliche Vertiefung. Die biographischen Umstände, unter denen Wagner sich im Jahre 1861 wieder an seine ursprüngliche Skizze erinnert, sind bekannt: Das wachsende Unverständnis der zeitgenössischen Musikkritik, vor allem die entschiedene Gegnerschaft des einflussreichen Wiener Musikästhetikers Eduard Hanslick, geben, rein äußerlich betrachtet, den Ausschlag, die bereits 1845 skizzierte Kritikersatire wieder aufzugreifen. Die problematische Beziehung zu Mathilde Wesendonck, die wohl den stärksten Impuls zur Verklärung der Liebe im Tristan gegeben hatte, drängt Wagner in die Rolle des Entsagenden. Dies wird zum Anlass, die Charakterstudie des Schuhmachers und Poeten zu erweitern: Hans Sachs ist nicht allein produktiver Künstler und Lehrmeister des Junkers Walther von Stolzing; er avanciert nun durch seine Liebe zu Eva und durch seinen großmütigen Verzicht auf die Werbung um die Tochter des Goldschmieds zum Idealbild des Dichterkomponisten.

III. Wagner hat die tragische Erkenntnis der Welt als Wille in den Meistersingern gleichsam personifiziert: Es ist der über die Nichtigkeit der Welt grübelnde Hans Sachs, der am Johannismorgen in seiner Schusterstube sitzt und, in seinen Folianten vertieft, historische Studien treibt. »Wahn, Wahn! / Überall Wahn!«, stellt er resigniert fest: »Wohin ich forschend blick’ / in Stadt- und Welt-Chronik, / den Grund mir aufzufinden, / warum gar bis aufs Blut / die Leut’ sich quälen und schinden / in unnütz toller Wut!« In der Beschäftigung mit der Geschichte erkennt er nur Leiden und Sinnlosigkeit als Ursprung und Quintessenz menschlichen Treibens. Die Klage über den Wahn als eine blinde Kraft, die allem menschlichen Handeln zugrunde liegt, weist direkt auf Schopenhauers Begriff des Willens zurück: Der Wahn ist gleichsam dessen Transformation von der Naturphilosophie auf das Gebiet gesellschaftlichen und politischen Handelns. U LR IK E K IENZLE

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Fast möchte man meinen, hier den enttäuschten Revolutionär des Jahres 1849 zu vernehmen, den Schopenhauer über die Sinnlosigkeit seiner früheren optimistischen Einstellung belehrt hat. Wagner findet sich über das Ausbleiben der neuerlichen, sehnlich erhofften Revolution und das Scheitern seiner Utopie insofern getröstet, als er sie nun gleichsam wie eine unabdingbare metaphysische Notwendigkeit akzeptiert. 1864 – die Arbeit an der Musik der Meistersinger ist noch nicht vollendet – schreibt Wagner in seinem Aufsatz Über Staat und Religion, nur eine falsche Auffassung von den Gesetzen des Lebens habe in ihm seinerzeit Hoffnung auf politische Veränderung wecken können: »[D]enn eine richtige Erkenntnis der Welt hätte uns von Anfang her belehrt, daß das Wesen der Welt eben Blindheit ist, und nicht die Erkenntnis ihre Bewegung veranlaßt, sondern eben ein völlig dunkler Drang, ein blinder Trieb von einzigster Macht und Gewalt, der sich gerade nur so weit Licht und Erkenntnis verschafft, als es zur Stillung des augenblicklich gefühlten drängenden Bedürfnisses not tut.« Dies ist die freie Paraphrase einer Passage aus dem zweiten Buch der Welt als Wille und Vorstellung, in welcher das Prinzip allen Daseins als »blinde[r] Drang«, als »ein finsteres, dumpfes Treiben, fern von aller unmittelbaren Erkennbarkeit« beschrieben wird. In der »Geschichte des Menschengeschlechts« glaubt Schopenhauer das immer gleiche Grundmuster aus Gewalt, Egoismus und Selbsttäuschung zu erkennen. Dem entspricht die Klage des Hans Sachs über das Einerlei der Geschichte, wie sie »in Stadt- und Welt-Chronik« sich immer wieder als Wüten des selbstzerstörerischen Wahns offenbare. Auch die nachfolgenden Reflexionen des Wahn-Monologs gehen fast wörtlich auf Formulierungen Schopenhauers zurück: »Hat keiner Lohn / noch Dank davon: / in Flucht geschlagen, / meint er zu jagen; / hört nicht sein eigen / Schmerz-Gekreisch’, / wenn er sich wühlt ins eig’ne Fleisch, / wähnt Lust sich zu erzeigen.« Mehrfach betont Schopenhauer die verborgene Identität von Quäler und Gequältem, die jedoch nicht der Handelnde erkennt, sondern einzig der Philosoph, von dem es heißt: »Er sieht ein, daß die Verschiedenheit zwischen Dem, der das Leiden verhängt, und Dem, welcher es dulden muß, nur Phänomen ist und nicht das Ding an sich trifft, welches der in Beiden lebende Wille ist, der hier, durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntniß getäuscht, sich selbst verkennt, in e i n e r seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlseyn suchend, in der a n d e r n großes Leiden hervorbringt und so, im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur sich selbst verletzt [...].« Das Fundament der ewigen Irrnis und Wirrnis menschlichen Treibens, bei Schopenhauer der Wille, ist bei Wagner »der alte Wahn, / ohn’ den nichts mag geschehen«. Unmittelbarer Anlass für des Schusters resignativ-pessimistisches Räsonnieren ist die Prügelei der vergangenen Nacht, als sich die latente Aggressivität, die laut Schopenhauer in jedem Individuum schlummert, hemmungslos Bahn gebrochen hat: »Mann, Weib, Gesell’ und Kind, / fällt sich an wie toll 47

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und blind«, klagt Hans Sachs aus der Rückschau, »und will’s der Wahn geseg’nen, / nun muß es Prügel regnen«. Die Schlägerei jenseits von Recht und Gesetz ist, auf die Verhältnisse der Reichsstadt bezogen, nichts anderes, als das, was Hans Sachs am nächsten Morgen in der Weltchronik wiederfindet: Krieg, Tyrannei, Gewalt als Folgen der Selbstzerrissenheit des Weltwillens. »Dies sehn wir denn auch überall vor Augen«, schreibt Schopenhauer, »im Kleinen wie im Großen, sehn es bald von der schrecklichen Seite, im Leben großer Tyrannen und Bösewichter und in weltverheerenden Kriegen, bald von der lächerlichen Seite, wo es das Thema des Lustspiels ist [...].« Ein solches Lustspiel hat in den nächtlichen Straßen Nürnbergs stattgefunden. Der blinde, ungebändigte Wille macht aus der wohlgeordneten bürgerlichen Welt ein Pulverfass. Gewalt und Feindseligkeit können jederzeit hervorbrechen. Vor diesem Hintergrund verliert die Prügelszene ihre scheinbare Harmlosigkeit. Der Wille ist hier vor allem greifbar im Prinzip des menschlichen Egoismus, das Wagner aus der Perspektive seiner Bühnenfigur Hans Sachs im Mikrokosmos des eigenen Gemeinwesens wie auch im Makrokosmos der Weltgeschichte beobachtet. Dies ist der eine Aspekt der Schopenhauer’schen Analyse der Welt, der in den Meistersingern thematisiert ist. Der zweite Aspekt betrifft die Ambivalenz des Erotischen. In den Meistersingern ist die Liebe – wie in Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe – eine blind wirkende Kraft, zugleich eine chaotische, zerstörerische Potenz, welche die Ordnung des Gemeinwesens zu erschüttern droht. Sachs sucht nach dem Grund für den Ausbruch des nächtlichen Wahns, und er findet ihn in einer poetischen Umschreibung: »Ein Kobold half wohl da! / Ein Glühwurm fand sein Weibchen nicht; / der hat den Schaden angericht’. – / Der Flieder war’s: – Johannisnacht!« Hier greift Wagner auf alte Traditionen des Aberglaubens zurück: Hexen und Dämonen treiben nach heidnischer Überlieferung in der Johannisnacht ihr Unwesen. Sie entfesseln erotische Begierde, oder sie verwirren liebende Paare, indem sie die Falschen zusammenführen – wie auch in Shakespeares Sommernachts­ traum. Die Täuschung, die der Wille in Gestalt von Liebe und Sexualität über die Individuen verhängt, führt dazu, dass diese unfrei handeln. Mittelpunkt der erotischen Anziehung ist die junge Bürgerstochter Eva Pogner: Sixtus Beckmesser, der skurrile Stadtschreiber, bemüht sich um ihre Gunst und macht sich damit zum Narren. Hans Sachs liebt sie gleichfalls, er ist väterlicher Lehrmeister und potenzieller Werber in einer Person. Sein abendliches Gespräch mit Eva im zweiten Aufzug und deutlicher noch der Text des Quintetts im dritten Aufzug bringen seinen seelischen Konflikt zum Ausdruck. Eva ist ihrerseits dem jungen Ritter Walther von Stolzing verfallen, ohne zu wissen, warum. In der Schusterstube bekennt sie Sachs gegenüber die blinde Notwendigkeit dieser Liebe, die stärker ist als die Neigung zu dem älteren Mann: »[D]enn, hatte ich die Wahl«, erklärt sie Sachs, »nur dich erwählt’ ich mir; / U LR IK E K IENZLE

→ Hanna-Elisabeth Müller als Eva

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du warest mein Gemahl, / den Preis nur reicht’ ich dir! / doch nun hat’s mich gewählt / zu nie gekannter Qual: / und werd’ ich heut’ vermählt, / so war’s ohn’ alle Wahl! / Das war ein Müssen, war ein Zwang!« Wagner greift hier noch einmal die Problematik des Tristan auf und transformiert sie auf die Ebene der Lustspielhandlung. Die Liebe ist, nicht anders als in den Fieberphantasien des verwundeten Tristan, Qual und Wahn. Als Eva und Walther im zweiten Aufzug aus Nürnberg fliehen wollen, um sich aus einer Welt der Widerstände in die Exklusivität der Zweierbeziehung zurückzuziehen, greift Wagner ein Handlungsmoment des Tristan auf – die Verweigerung der Liebenden gegenüber der geforderten Integration in die Gesellschaft. Auch insofern ist der blinde Trieb des Eros zunächst eine Manifestation der zerstörerischen Kraft des Willens.

IV. Aus der tragischen Erkenntnis der verhängnisvollen Beschaffenheit der Welt als Wille erwachsen auch Möglichkeiten zur Überwindung von Pessimismus und Resignation. Es ist zunächst die Vorstellung seines »liebe[n] Nürenberg«, die Hans Sachs tröstet. Inmitten der chaotischen Weltläufte steht das eigene Gemeinwesen wie eine Insel im Strom: »[F]riedsam treuer Sitten« und »getrost in Tat und Werk«, bietet es dem grausamen Wahn immer wieder Trotz. Die Stadt macht zwar ebenfalls mit beim Tanz auf dem Vulkan des Schopenhauer’schen Willens – das zeigt die Prügelszene. Nürnbergs Gemeinwesen wäre verloren, gäbe es da nicht ein System von Ordnung, Reglement und Überwachung, von Zünften und Festen, Kunst und Arbeit. Darin erkennt Hans Sachs in der Tat eine Möglichkeit, den »Wahn« zu »bemeistern«. Dieser kann zumindest soweit gebändigt werden, dass es mit der gelegentlichen Abfuhr kollektiver Aggression sein Bewenden hat und das bloße Auftreten eines Nachtwächters dem Spuk ein Ende setzen kann. Nicht von ungefähr folgt der nächtlichen Prügelei am nächsten Tag der wohlgeordnete Aufzug der Zünfte. Den Schlüssel zu dieser positiven Bewertung des Gemeinwesens bietet Wagners bereits zitierte Schrift Über Staat und Religion. Dort definiert Wagner den Staat zunächst ganz nüchtern als eine Interessengemeinschaft, welche der Bändigung der Einzelegoismen und dem Schutz vor latenter Aggressivität dient. Der Einzelne opfert dabei einen Teil seiner Freiheit, um sicher leben zu können. Soweit folgt Wagner im Wesentlichen Schopenhauer. Dieser sieht die Funktion des Staates vor allem darin, dem »Raubthier« Mensch einen »Maulkorb« anzulegen, um es vor dem verbrecherischen Egoismus von seinesgleichen zu schützen. Anders als Schopenhauer kommt Wagner jedoch zu einer insgesamt positiven Bewertung des Staates: Der Verzicht auf Aggression und Gewalt, welcher das Funktionieren des Staatswesens im Inneren ermöglicht, verhilft dem Einzelnen im Rahmen von Recht und Gesetz zu einer Entfaltung U LR IK E K IENZLE

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der übrigen Aspekte seiner Persönlichkeit. Es ist zu betonen, dass Wagner hier an das Ideal einer – in zeitgenössischem Verständnis – demokratischen Ordnung denkt, wie er sie in den Meistersingern auf die spätmittelalterliche freie Reichsstadt Nürnberg projiziert hat: Die Bürger verwalten ihr Gemeinwesen auf der Grundlage von Abstimmungen und Mehrheitsbeschlüssen. Der Staat als Interessengemeinschaft funktioniert aber nur solange, wie der Einzelne dessen Wohl über die eigene Freiheit, ja, sogar über die eigene Existenz stellt. Um diesen Gedanken zu begründen, greift Wagner auf Schopenhauers Konzeption der Illusion zurück und führt sie eigenständig weiter. Der Wille, so Schopenhauer, gaukelt dem Individuum eine Illusion vor, um ein Ziel zu erreichen, dessen Erkenntnis dem Individuum selbst verborgen bleibt. So sei dem Insekt keineswegs bewusst, worauf es mit dem kunstvollen Termitenbau hinauswolle, den es so eifrig und unter Aufopferung des eigenen Lebens vorantreibe. Dem Willen gehe es um die Erhaltung der Gattung – dafür ist der Termitenbau notwendig –, nicht aber um die des einzelnen Tieres. Wagner seinerseits beschreitet einen neuen Weg, indem er diesen Gedanken auf das Staatswesen überträgt. Patriotismus, schreibt er, beruht auf der wahnhaften Vorstellung der Staatsbürger, der Untergang des Staates sei ein größeres Unglück als die Gefährdung ihrer individuellen Existenz. Gleichwohl betrachtet Wagner diese Täuschung als konstitutiv im Hinblick auf die Begründung und Entwicklung eines Gemeinwesens. Die Illusion besitzt insofern lebenserhaltende Funktion, als sie ein sinnvolles und einigermaßen gewaltfreies Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht. Die negativen Attribute eines reglementierten Zusammenlebens sind Wagner ebenfalls bewusst. Sie zeigen sich in der Verknöcherung und in den Verschrobenheiten der Meister. Sie manifestieren sich in überzogenem bürgerlichen Tugendstreben, in der Begierde nach materiellem Wohlergehen und sozialer Anerkennung, aber auch in der Manie, Traditionen und Regeln zu konservieren. Indem sie die Befriedigung ihrer Einzelegoismen im Rahmen der vom Staat vorgegebenen Grenzen und durch peinliche Erhaltung der aufgestellten Regeln suchen, sind sie ebenso sehr Werkzeug des Willens wie das unbewusst an seinem Bau arbeitende Insekt. Sie sind damit aber auch den Tücken und Fallstricken des Kampfes aller gegen alle ausgesetzt, wie Schopenhauer sie beschreibt. Allein Hans Sachs gelingt es, aus der Erkenntnis dieses Wahns eine neue Freiheit im Umgang mit sich selbst und mit den anderen zu gewinnen. Er bekennt sich zum Nürnberger Gemeinwesen, obwohl er dessen Kehrseiten sehr wohl durchschaut. Er will zweierlei: Einerseits sieht er sich verpflichtet, dieses Gemeinwesen und seine Ordnung zu erhalten – deshalb hält er es für notwendig, den nächtlichen Fluchtversuch der Liebenden zu verhindern. Andererseits will er die Konventionen aufbrechen, die das Gemeinwesen in die Erstarrung führen und dem Einzelnen den Raum zur freien Selbstentfaltung zunehmend zu beschneiden drohen. 51

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Dazu bedarf es der Kunst – dies ist der zweite Lösungsweg, den Wagner zur Überwindung des Pessimismus anbietet. Kunst ist hier in jenem Doppelsinn zu verstehen, der dem Begriff als »techne« ursprünglich, bei Aristoteles, noch anhaftet: Sie ist sowohl angewandtes Handwerk als auch freie Kunst. In der Person des Hans Sachs sind beide Aspekte vereinigt: Er versteht sich als »Schuh- / macher und Poet dazu«.

V. Die drei angesprochenen Aspekte von Wagners Schopenhauer-Rezeption in der Meistersinger-Dichtung – die tragische Erkenntnis der Welt als Wille, die Bewältigung seines zerstörerischen Potenzials im Ideal des Staatswesens und die Utopie der Kunst – werden im Vorspiel zum dritten Aufzug im Sinne einer orchestralen Konklusion konzentriert gegeneinandergestellt und einer fiktiven Lösung zugeführt – einzig durch die semantische Dimension der Musik. (Siehe Notenbeispiel rechts.) Zunächst intonieren die Celli das Motiv, mit dem Sachs’ Klage über den Wahn und die Sinnlosigkeit der Geschichte beginnt. Nach sieben Takten wird diese instrumentale Klangrede in den Bratschen, sodann in den zweiten und ersten Violinen gleichsam vervielfältigt, in polyphoner Auffächerung und kontrapunktischer Arbeit durchgeführt und in ihrem Ausdrucksgehalt bedeutend intensiviert. Inmitten dieser pessimistischen Bestandsaufnahme der Welt als Wille leuchtet als unvermutete Vision ein Bläserchoral auf, welcher das g-Moll des resignativen Beginns nach G-Dur aufhellt und ihm einen positiven Gedanken gegenüberstellt: Es ist die Melodie des »Wach’ auf«-Chores, den das Volk im Schlussbild als eine spontane Huldigung ihres großen Meisters Hans Sachs anstimmen wird (Takt 16 ff.). Mit dieser Antizipation ist zugleich die Utopie des Staates angesprochen, welcher den Künstler trägt, während dieser ihm seinerseits die Regeln vorgibt, nach denen das Gemeinwesen sich konstituiert. Die Streicher beantworten diese Vision mit einer Reminiszenz an das Schusterlied (Takt 25 ff.). Damit wird zugleich die Symbolisierung der Kunst in ihrer pädagogischen Funktion als Spiegel des bürgerlichen Lebens, als Einübung von Tugenden der Selbstbeherrschung und als Verführung zum Weiterleben durch das Erlebnis der Schönheit vergegenwärtigt. Das Schuster­ lied erklingt indessen nicht mehr, wie im zweiten Aufzug, als derbe Burleske, sondern es wird zum Ausdruck elegisch-melancholischer Versonnenheit verwandelt, in seinem Klangcharakter gemildert und gleichsam geläutert. Wagner verklärt es zusehends, indem er es in freier Fortspinnung bis in die hohen Lagen der Violinen hinaufführt (Takt 35 ff.). Die Fortsetzung des Chorals in den Bläsern löst diese künstlerische Vision ab (Takt 44 ff.). Schusterlied und Choralhymnus werden also kontrastierend U LR IK E K IENZLE

→ Beginn des Vorspiels vom 3. Aufzug: Klavierauszug Die Meister­singer von Nürnberg von Karl Klindworth, Mainz u.a.: Schott, o.J.

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einander gegenübergestellt, die Utopie des Staates und die Vision der Kunst sind gleichsam komplementär aufeinander bezogen. Aber die tragische Erkenntnis der Welt als Wille ist auch durch die Utopie nicht gänzlich aufgehoben: Das Wahn-Motiv setzt wiederum ein, in seiner Expressivität noch gesteigert (Takt 51 ff.). Der Heroismus des Philosophen – dies will Wagner mit dieser Musik zum Ausdruck bringen – bewährt sich darin, dass er die Spannung der pessimistischen Erkenntnis aushält und das Leben dennoch bejaht.

VI. Das Schlussbild des dritten Aufzuges führt beide Symbolstränge zusammen: Die Utopie eines Gemeinwesens auf der Grundlage der Kunst verbindet Wagners frühere Ideen der Revolutionszeit mit den Prämissen der Schopenhauer’schen Philosophie. Die Anerkennung der Kunst und ihre Übertragung auf das Reglement bürgerlichen Zusammenlebens soll die zerstörerischen Aspekte des Willens bändigen; das Refugium der Schönheit bietet gleichzeitig Schutz vor den drohenden Konsequenzen der tragischen Erkenntnis. Die Schlussworte des Hans Sachs: »zerging in Dunst / das heil’ge röm’sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil’ge deutsche Kunst«15 offenbaren vor diesem Hintergrund eine neue Dimension: Der Zusammenbruch eines Staatswesens – ein historisches Ereignis, dem Hans Sachs bei der Lektüre seiner »Welt-Chronik« oft begegnet sein dürfte – ist nach Schopenhauer unvermeidliche Konsequenz der Zerrissenheit des Weltwillens und spiegelt das universelle Leiden auf der Ebene der Politik. Die Kunst jedoch bietet nicht allein das Paradies, in welches das leidende Individuum sich vor den Widrigkeiten der Zeitläufte flüchten kann, sondern sie ist zugleich der Lebensquell, aus dem sich die zerrüttete politische Ordnung immer wieder zu regenerieren vermag. Die Utopie einer zumindest temporären Versöhnung von Kunst und Staat hat Wagner in den Meistersingern auf das Idealbild der spätmittelalterlichen Reichsstadt projiziert. Dessen Untergang ist in den Schlussworten jedoch bereits mitgedacht. Das Gleichgewicht der Kräfte, welches das ideale Gemeinwesen zusammenhält, ist gefährdet: durch Ignoranz und Machtstreben, durch Egoismus und Aggressivität – der zerstörerische Wille hat mannigfaltige Spielarten. Um diese heikle Balance zu bewahren, bedarf es jedoch gerade der tragischen Erkenntnis eines Hans Sachs und der Einsicht in die integrative Rolle der Kunst. Die apotheotische Huldigung des Volkes an Hans Sachs, die antizipierend bereits im Vorspiel zum dritten Aufzug vorweggenommen wird, ist Ausdruck dieser Erkenntnis: In »Nürnbergs teurem Sachs« erscheint sie exemplarisch personifiziert. Die »gute[n] Geister«, die es zu »bann[en]« gilt, sind Philosophie und Kunst. Nur auf ihrer Grundlage – davon ist Wagner überzeugt – ist friedliches und sinnerfülltes Zusammenleben in Staat und Gemeinschaft überhaupt möglich.

→ XX

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→ Folgende Seiten: Szenenbild Die Meistersinger von Nürnberg

1) Dieser Text ist eine Kurzfassung des gleichnamigen Kapitels aus meinem Buch … dass wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 173-188. 2) Vor allem in den Briefen an seinen Freund August Röckel, der wegen revolutionärer Umtriebe im Gefängnis sitzt, versucht Wagner, seine neuen Einsichten zu vermitteln. Seine gewandelte Ästhetik des musikalischen Dramas legt er in der Beethoven-Festschrift von 1870 sowie in zahlreichen Aufsätzen dar. 3) Diese und die folgenden Textpassagen aus dem Wahn-Monolog nach SSD 7, S. 233 ff. 4) Sämtliche Schriften und Dichtungen (SSD) 8, S. 8. 5) Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV) I, S. 201. 6) WWV I, S. 236 ff. 7) WWV I, S. 441. 8) WWV I, S. 415. 9) »Vor dem Kinde lieblich hehr, / mocht’ ich gern wohl singen; / doch des Herzens süß’ Beschwer / galt es zu bezwingen.« (SSD 7, S. 256) 10) SSD 7, S. 254. 11) SSD 8, S. 8: »In ihm [dem Staat] drückt sich das Bedürfnis als Notwendigkeit des Übereinkommens des in unzählige, blind begehrende Individuen geteilten, menschlichen Willens zu erträglichem Auskommen mit sich selber aus. Er ist ein Vertrag, durch welchen die einzelnen, vermöge einiger gegenseitiger Beschränkung, sich vor gegenseitiger Gewalt zu schützen suchen.« 12) Vgl. WWV I, S. 430 f. und 435. 13) SSD 8, S. 11 ff. 14) SSD 7, S. 213. 15) SSD 7, S. 271.

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Matthias Schmidt

DAS STÄNDCHEN ALS » JÜDISCHER TEMPELGESANG «

Sixtus Beckmesser – eine antisemitische Karikatur?


Eklat Wien, 27. Februar 1870. Unter Skandalgetöse geht in der Hofoper die Erstaufführung der Meistersinger von Nürnberg über die Bühne. Während der gesamten Vorstellung gibt es Störungen. Insbesondere beim Ständchen von Sixtus Beckmesser im zweiten Aufzug kennt die Empörung keine Grenzen mehr. Der Musikkritiker Ludwig Nohl berichtet für die Leipziger Neue Zeitschrift für Musik vom Publikumsaufruhr und begründet ihn auf bemerkenswerte Weise: Auslöser sei ein »mit ganz besonderem Raffinement ausgebreitete[r] irrthümliche[r]« Bericht gewesen, demzufolge »das Lied Beckmessers« auf »einer jüdischen Melodie« beruhe. Die Behauptung, es sei »vom Componisten gewählt [worden], um die Juden und ihre Musik zu verspotten«, habe schließlich »eine rührige und zähe Gegenpartei zu einem geschlossenen Manöver« zusammengebracht. Wie selbstverständlich geht Nohl davon aus, dass die Befürworter Wagners »Deutsche« und die Gegner »Juden« gewesen seien, die erst durch arglistige Zeitungspropaganda zu ihrem Unmut aufgestachelt wurden. Der finale »Sieg« der applaudierenden Wagner-Anhänger sei, so Nohl hämisch, ein solcher der »deutsche[n] Ausdauer und Tapferkeit« gegen »manch armen verführten Sohn der Maccabäer« gewesen. Die Vermutungen des bekennenden Wagnerianers und Antisemiten Nohl stehen in einer langen Tradition von Diskussionen darüber, ob es in Wagners künstlerischem Werk judenfeindliche Charakterportraits gebe. Neben Mime und Alberich im Ring des Nibelungen oder Kundry im Parsifal ist es insbesondere der Stadtschreiber Sixtus Beckmesser in den Meistersingern, der im Verdacht steht, als antisemitisch überzeichnete Figur dargestellt worden zu sein. Wagner hat alles dafür getan, solchen Verdacht nicht verstummen zu lassen. So veröffentlichte er 1869, im Jahr nach der Uraufführung der Meis­ tersinger in München, ganz bewusst seine berüchtigte Schmähschrift Das Judenthum in der Musik. Wagner tat dies zum zweiten Mal: War der Erstdruck 1850 noch weitgehend resonanzlos geblieben, wurde seine Attacke nun von einem in Europa rapide anwachsenden Antisemitismus getragen, der sie zu einem wirkungsreichen Politikum machte. In der Folgezeit bildete sein Text einen wichtigen Bezugspunkt für zahlreiche judenfeindliche Hetzschriften bis hin zu Theo Stengels und Herbert Gerigks berüchtigtem Lexikon der Juden in der Musik (Berlin 1940). In diesem Fahrwasser konnten auch die Meistersinger mit ihrem bekenntnishaften Alleinvertretungsanspruch einer »heil’ge[n] deutsche[n] Kunst« den Ruf eines politisch verfänglichen Werkes nie mehr abschütteln. Alles, was Wagner »den Juden« in seiner Schrift vorhalten zu können meint: eine angeblich »fremdartige und unangenehme« Sprechweise, die sich in der »Fratze des gottesdienstlichen Gesanges in einer Volkssynagoge«, vor allem aber in einem mechanischen »Nachsprechen« und »Nachkünsteln« zeige, ist später auch aus den Meistersingern herausgelesen worden. Der Merker 59

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Beckmesser stört lautstark mit Kreidestrichen ein Lied Walther von Stolzings, das erkennbare Anspielungen auf das antisemitische Grimm’sche Märchen Der Jude im Dorn aufweist; das Ständchen, das Beckmesser Eva darbringt, ist mit zahllosen Akzenten auf falschen Wortsilben versehen und verursacht eine nächtliche Prügelei (bzw. in vermeintlicher Anlehnung an eine »jüdische Melodie« den erwähnten Aufruhr in der Hofoper); im Schlussakt stiehlt Beckmesser ein Lied, das Stolzing nach den Vorgaben von Hans Sachs angefertigt hat und blamiert sich erneut beim unverständigen und seelenlosen Vortrag des Gesangs. Die Forschung hat sich allerdings bis heute auf keine eindeutige Position festlegen wollen: Bereits Theodor W. Adorno mutmaßte, dass Wagner sämtliche »Zurückgewiesenen« seiner Musikdramen als »Judenkarikaturen« angelegt habe. Sander Gilman verwies in The Jew’s Body darauf, wie Wagner die »Andersartigkeit« des Jüdischen mithilfe der Betonung erfundener körperlicher Eigenschaften (wie einer zappeligen Gereiztheit oder ungezügelten Gestik) hervorgehoben habe. Paul Lawrence Rose oder Barry Millington sahen die Meistersinger mit antisemitischen Stereotypen belastet. Dagegen argumentierten etwa Dieter Borchmeyer, Udo Bermbach oder Hermann Danuser, dass Beckmessers Handlungen und Eigenschaften der europäischen Komödienkonvention entsprächen und sein Gesang vor allem den italienischen Belcanto parodiere. Zwischen der rüden Eindimensionalität von Wagners judenfeindlichen Angriffen außerhalb der Bühne und der Vielschichtigkeit seines Komponierens zu vermitteln, fällt offenkundig schwer. Dass aber das eine nie vollständig im anderen aufzugehen vermag, lässt sich an der Figur des Beckmesser besonders eindrücklich studieren. Zum einen ist Beckmesser im Werk ein vielgestaltig und tiefgründig gezeichneter Charakter. Sein regelwütiges Nachahmen und unglückliches Taktieren endet auf einem tragischen Platz zwischen allen Stühlen: dem des Sachwalters der Meistertradition (Hans Sachs) und dem des Vertreters einer neuen Kunst (Walther von Stolzing). Zum anderen dienen Wagners Judenfeindschaft und seine Formel von der »deutsche[n] Kunst« einer rücksichtslosen Selbstvermarktung, welche die Verbreitung seiner Musik zwischen Verleumdungkampagnen und Publicity fördern sollte. Zwischen diesen Polen ist auch Sixtus Beckmessers politische Rolle zu verorten.

Politik Die Uraufführung der Meistersinger 1868 in München war zwar ein Erfolg, weitere Aufführungsangebote aber ergaben sich nur zögerlich. Wagner ließ daraufhin selbst in seine Judenthum-Schrift den Verdacht einfließen, dass hierfür die »Einmischung des jüdischen Wesens in unsere Kunstzustände« M AT T HI AS SCHMIDT

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verantwortlich sein müsse. So klagte er etwa, die Wiener Oper habe verhindert, die Meistersinger ins Programm zu nehmen, entgegen der, wie Wagner annimmt, »allgemein günstige[n] Haltung des Publicums«. Mit dem Streuen solcher Verschwörungstheorien über die »jüdischen« Ränke in Presse und Kulturpolitik ließ Wagner ein breiteres Bewusstsein für »Jüdisches« in der Musik allmählich erst entstehen. Entsprechend war es kein Wunder, dass die Aufführungen nach 1869 (nicht nur in Wien) vor dem Hintergrund seiner aufsehenerregenden Schrift wahrgenommen wurden. Das Entstehen und die Verbreitung effekthascherischer Nachrichten wurde hierdurch jedenfalls befördert: Bereits eine Woche vor der lang erwarteten (durch Krankheit und aufführungstechnische Probleme immer wieder verzögerten) Premiere berichtete die liberale Wiener Morgen-Post über das Beckmesser-Ständchen, es zeichne »sich durch eine bizarre Karrikirung der schulgerechten Meistersingerweise und Note für Note durch die frappanteste Verwandtschaft mit einem jüdischen Tempelgesang aus, den man von traditionell geschulten ›Vorsängern‹ kleiner Orte an hohen Festtagen wie oft hören kann«. Und der Text fährt neckisch fort: »Sollte der Judenfresser Wagner da wirklich bei dem ihm in die Seele verhaßten Volksstamme eine kleine Anleihe gemacht haben?« Als Richard und Cosima Wagner aus dritter Hand von den Gerüchten der Morgen-Post erfuhren, glaubten sie der Geschichte offenbar nicht recht: »Unter anderem hatten die J. dort verbreitet, das Lied von Beckmesser sei ein altes jüdisches Lied, welches R. habe persiflieren wollen«, so heißt es in Cosimas Tagebuch. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch der Zeitungsartikel kaum auf einer faktischen Beobachtung denn vielmehr auf einer polemischen Zuspitzung beruhte. Womöglich handelte es sich schlichtweg um eine Retourkutsche: Wagner wird genau dasjenige unterstellt, was er selbst jüdischen Komponisten vorwarf – das uninspirierte Kopieren von Vorgegebenem und das unverständige Aneignen einer fremden Sprache. Ungeachtet des Morgen-Post-Gerüchts aber wird eine mögliche Verbindung Beckmessers zum »Jüdischen« andernorts nirgendwo verhandelt – auch nicht in einem der zahlreichen übrigen Wiener Zeitungsberichte zur Premiere. Über das Ereignis lässt sich so lediglich schließen, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen »Applaudirende[n] und Zischende[n]« gehandelt habe, die sich einer allgemeinen Zu- und Abneigung gegenüber Wagner verdankte; allenfalls um einen »Kampf zwischen Wagnerianern und Antiwagnerianern«, der zwar auch das Lautenständchen Beckmessers betraf, vor allem aber einen »Kampf der Parteien« sich ereignen sah. Bestätigt wird diese Diagnose durch den großartigen satirischen Schriftsteller Daniel Spitzer, der alle Erwartungen an einen »kleinen Religionskrieg« (aus der explosiven Mischung von Judenthum-Schrift und Meistersinger-Aufführung) enttäuscht sah. Die »christlich-musikalische[n] Germanen« hätten ebenso gezischt, wie die vom »Semithentum« geprägten Zuhörer applaudiert hätten. 61

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Und eine konfessionelle Zuordnung von Befürwortern und Gegnern Wagners sei nicht möglich gewesen.

Komik

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Auch der berühmte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, den Wagner bekanntlich schon 1861 als Vorbild für seinen Merker unter dem Namen »Veit Hanslich« aufs Korn genommen und später in der Judenthum-Schrift prominent geschmäht hatte, reagierte gänzlich unbeeindruckt. Hanslick kannte die soeben erschienenen Angriffe Wagners gegen sich als »Juden«, als er seine Kritik zur Wiener Erstaufführung 1870 schrieb. Doch gegenüber derjenigen zur Münchner Uraufführung 1868 veränderte er inhaltlich kaum etwas. In der Neuen Freien Presse bemerkte Hanslick über die Tumulte im Zuschauerraum zwar zunächst, dass ein »unverfälschte[r] Ausdruck der Meinung unseres Publicums schwerlich« zu erschließen gewesen sei. Doch sein Eindruck des Wiener Beckmesser ist derselbe wie in München: Hanslick beschreibt eine Person, die nicht als »komische« Figur wahrgenommen werden kann, die »verwirrt und furchtsam« ihren Text so »verdreht«, dass sie »unter Spott und Gelächter abtreten muss«. Und Hanslick begründet sein Unbehagen an Beckmesser keineswegs mit Wagners judenfeindlicher Haltung, sondern mit dessen Unfähigkeit zum buffonesken Genre: Wo Beckmesser »komisch wirken« wolle, so Hanslick, sei seine musikalische Darstellung »gespreizt, überladen, ja häßlich bis zur Unausstehlichkeit«. Vorgetragen würden »grause Dissonanzen« von einem Mann, der »in seiner Freude ebenso barbarisch und unnatürlich singt, wie früher im Zorne«. So schaffe Wagner mit Beckmesser keine heitere Karikatur eines Sonderlings, sondern ein vieldeutiges Zerrbild, das die Grenzen zwischen der pedantischen Lähmung und der fratzenhafter Lebendigkeit des Merkers und seiner Gemeinschaft verwische. Hanslick trifft (bei aller Polemik) einen wesentlichen Punkt: Wagner hat selbst darauf hingewiesen, dass Beckmesser »kein Komiker« sei. »Er ist gerade so ernst wie alle anderen Meister«, »nur seine Lage und die Situationen, in die er gerate, ließen ihn lächerlich erscheinen«. Die »anderen Meister« erst erzeugten also die ihnen selbst eng verschwisterte abgründige Kehrseite: jene unbewegliche Kleingeistigkeit, die in Beckmesser mehr finster als heiter zur Gestalt komme. Warum Wagner die Meistersinger ein »Satyrspiel« nannte, wird hierdurch erklärbar: als Anspielung auf ein Genre der antiken griechischen Komödie, in dem ein Darsteller Situationen und Umgebungen begegnet, die nicht seinem gewöhnlichen Umfeld entsprechen. Er muss Aufgaben lösen, die nicht in seinem Ermessen liegen. Und tatsächlich: Wenn Beckmesser den Gesang des Stolzing ins Mechanische verhärtet, so geschieht dies nicht nur auf der Ebene folgenloser Scherze. Beckmesser ist als Schreiber ein hoher städtischer Amtsträger, der sich in der DAS STÄ N DCHEN A LS » J Ü DISCHER T EMPELGE SA NG «


Welt des Handwerkerstandes zurechtfinden muss. Er entspricht damit dem antisemitischen Stereotyp des vom einfachen Volk weit entfernten Funktionärs. Zugleich aber spiegelt er sein erstarrtes Umfeld: Beckmesser ist keine Karikatur einer clownesken Person, sondern diejenige einer Gemeinschaft im Regelkorsett. Deren Risse werden durch den Grenzgänger Beckmesser erst deutlich. Gelacht wird schließlich allein auf Kosten des Außenseiters: Und so offenbaren sich in Beckmesser auch die Rohheit und die Zwänge einer nur vorgeblich einträchtigen Gemeinschaft. Dies muss in der Aufführung in Wien 1870 besonders deutlich hervorgetreten sein: So hat der Rezensent des Neuen Wiener Tagblatts bemängelt, dass der skandalumwitterte Auftritt von Julius Campe als Beckmesser mehr »häßlich als drollig« gewesen sei und weniger »dupirte Narrheit« als vielmehr »intriguante Bosheit« offenbart habe. Die Aufführung zeigte jene schillernde Vielschichtigkeit, welche die Wirkung der Meistersinger von jeher bestimmte: Hanslick, der von Wagner in die Nähe von Beckmesser gerückt wird, fühlt sich davon keineswegs angesprochen; Nohl weist Vorwürfe gegenüber Wagner zurück, Antisemit zu sein, obwohl er dabei selbst antisemitisch argumentiert. Und Cosima Wagner versucht, aus dem Eklat in der Hofoper einen »Kampf« zwischen »Deutschen« und »Juden« zu machen, obwohl sie ahnt, dass vermutlich erst der wohlwollend gesonnene Anteil des »jüdischen« Publikums die Meistersinger in Wien zu einem Erfolg gemacht hat.

Anstiftung Dass Beckmesser als »jüdischer« Charakter angelegt wurde, ist weder belegt noch bewiesen. Aber die Figur setzt sich dennoch aus allem zusammen, was Wagners Abscheu hervorrief: die »wälsche« Opernmusik Frankreichs und Italiens, jede gegen ihn gerichtete Musikkritik oder das »Judenthum«. Beckmesser, den der Musiktheater-Regisseur Barrie Kosky in solchem Sinne als »Frankenstein-Kreatur« bezeichnet hat, ist eine gezielte Provokation und das Ergebnis politischen Ehrgeizes. Dabei war Wagner fast jedes Mittel recht. Die Koppelung von Juden­ thum-Schrift und Meistersinger ist in der Zeit des rasch anwachsenden Antisemitismus als Angebot an das Bürgertum in Monarchie und Kaiserreich zu verstehen. Es richtet sich an dasselbe Publikum, das den Komponisten des Tristan Jahre zuvor noch selbst harsch als Neutöner und Revolutionär ausgegrenzt hatte. Nun spricht Wagner eine gesellschaftliche Gruppe an, die in Deutschland kurz vor dem nationalen Taumel der Reichsgründung 1871 steht und zugleich durch die sozialen Verwerfungen der industriellen Moderne verunsichert ist. Auch in Wien bemüht er sich um Deutschnationale wie Traditionalisten über das gemeinsame Feindbild der »Juden« als unbeteiligten Dritten. Die Figur Beckmesser nimmt dabei die perfekte Scharnierfunktion M AT T HI AS SCHMIDT

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ein: Sie legt die Finger in die Wunde einer altmodischen, erstarrten Gesellschaft. Und zugleich kann sie vom Zukunftstraum einer völkischen Harmonie als etwas Fremdartiges ausgeschlossen werden. Wagner verbleibt dabei strategisch immer auf der Ebene der ästhetischen Anstiftung: Sein Ziel ist in erster Linie nicht der Sieg einer politischen Gesinnung, sondern die Anerkennung der eigenen künstlerischen Größe gegenüber allem, was ihm im Weg steht. Mögliche Kollateralschäden sind einkalkuliert. Das »Jüdische« an Juden interessiert Wagner vor allem als politische Kategorie, die sein persönliches Fortkommen vermeintlich behindert oder begünstigt. Es handelt sich bei Wagners Judenfeindschaft nicht um eine Ideologie, die sich als Kunst tarnt. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Kunst, die für Ideologien empfänglich gemacht wird.

Literatur Jens Malte Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015 Richard Wagner und die Juden, hrsg. von Dieter Borchmeyer u.a., Stuttgart: J.B. Metzler 2000 Matthias Schmidt, Eingebildete Musik. Richard Wagner, das jüdische Wien und die Ästhetik der Moderne, München: edition text + kritik 2019

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Richard Schuberth

VON NATIONEN, VÖLKERN UND ANDEREN PALATSCHINKEN

Wie das Völkische entstand und warum wir nur glauben, es überwunden zu haben


Für die meisten Menschen hatten Volksbezeichnungen bis Mitte des 19. Jahrhunderts nur einen groben Orientierungswert. Es handelte sich um relative Kategorien, konnte jede Zusammenballung von Individuen bezeichnen: das lustige Völkchen der Musikanten, das Bienenvolk (womit eben nicht die Art der Honigbiene, sondern der jeweilige Bienenstock gemeint ist) oder die Sachsen, die Richard Wagner in einem berühmten Zitat als Volk identifiziert (und zwar als eines, das »schmierig, dehnig, plump, faul und grob« sei). Je weiter entfernt Untertanen anderer Herrschaftsdomänen lebten, desto ähnlicher zeigten sie sich dem eigenen Blick. In diesem Sinne sprach man seit der frühen Neuzeit von Franzosen, Italienern, Mauren, Deutschen, Türken, Slavoniern, Illyrern, Russen. Ob die Untertanen des Franzosenkönigs – zwei Drittel von ihnen sprachen 1789 nicht das gängige oder gar nicht Französisch – nun Franzosen in einem heute geläufigen ethnischen Sinn waren, darüber machte sich eine Welt, die keinen Bedarf an kulturwissenschaftlicher Exaktheit hatte, nicht viele Gedanken. Es ist zum Beispiel fraglich, ob man die frankophonen Bewohner des Königreichs Savoyen als Franzosen wahrnahm. Viel wichtiger war die konfessionelle Zugehörigkeit. Es sollte noch Generationen dauern, bis die politologische Unterscheidung zwischen einem politischen und einem kulturellen Nationsmodell als Antagonismus erfolgen würde, in der Regel existierten Hybride davon nebeneinander, doch Ersteres ging Letzterem voraus. Eines hatten sie gemeinsam: Sie waren Folgen eines Modernisierungsund Säkularisierungsprozesses. An die Stelle der Konfessionsgemeinschaft oder der Gemeinschaft der Untertanen trat wie in den USA und dem revolutionären Frankreich das Volk als Souverän. Eine Nation, so die berühmte Definition des Abbé Sieyés, sei »ein Körper, dessen Mitglieder unter einem gemeinsamen Gesetz leben und durch ein und dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind«. Die ethnische Aufladung dieses Begriffs sollte später, zuerst in Deutschland, stimuliert durch die romantische Interpretation von Johann Gottfried Herders Volksgeistkonzept, erfolgen. Der Begriff Volk erfährt im 18. Jahrhundert einen signifikanten Bedeutungswandel. Neben Rasse und Nation beginnt er als protowissenschaftliche Kategorie die Taxonomierwut seiner Zeit zu befriedigen. Diese positivistische Bestimmung des Begriffes divergiert mit der nach wie vor gebräuchlichen, pejorativen Synonymverwendung für Pöbel. Von den aufklärerischen Protagonisten der antifeudalen Revolution wird die herablassende Anrufung Volk in einen emanzipatorischen Kampfbegriff gewendet. Das langsame Erstarken einer besitzenden, aber vorerst rechtlosen Mittelschicht, die sich in ihrem ideologischen Selbstverständnis antifeudal und zunächst auch antihierarchisch gab, sowie der damit verbundene Fortschritt der Produktivkräfte leiteten einen Homogenisierungsprozess ein, der von der Herausbildung absolutistischer Territorialstaaten begünstigt wurde. 69

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Nicht mehr Fürst oder Klerus, sondern das Volk begründe demnach legitime Herrschaftsansprüche. Die englischen und französischen Protagonisten eines politischen Volkskonzepts genossen den unschätzbaren Vorteil, bereits innerhalb gewachsener protonationaler Strukturen zu agieren: merkantilistische Territorialstaaten mit stabilen Außengrenzen und einer relativ starken Einbindung der Bourgeoisie in politische und ökonomische Entscheidungsgremien. Das bourbonische Frankreich verfügte über ein Staatsvolk, kulturell und sprachlich, also ethnisch völlig different. Im Gegensatz dazu war das, was später Deutschland werden sollte, in etliche Fürstentümer, Grafschaften und Kleinstaaten gegliedert und nur durch die relative Gemeinsamkeit kontinuierlich ineinandergreifender Dialekte linguistisch vereint. Wohlgemerkt war es nicht zerstückelt oder zersplittert, wie es uns unser national geprägtes Unbewusstes gerne einflüstern würde. Denn der Zerstückelung muss ein Ganzes vorausgehen. Das Heilige Römische Reich (dem erst ab der Neuzeit deutscher Nation angehängt wurde) war alles andere als ein homogener Nationalstaat. Das politisierte Bürgertum Frankreichs bestritt eine soziale Revolution, das eher apolitische, aber emotionalisierte Bürgertum der deutschen Länder drückte seine revolutionären Ambitionen eher in national-kultureller Semantik aus. Die Franzosen schickten ihre Aristokraten aufs Schafott, die Deutschen – von einigen kosmopolitischen und jakobinischen Ausnahmen abgesehen – begnügten sich damit, ihre Adeligen in die Dorfschule zu schicken, zum Nachsitzen, wo man ihnen per Rohrstock das fremdländische Französeln austreibt und einbläut, genauso Germane zu sein wie der Schusterbalg am Nebensitz. Ehrlichkeit, Echtheit der Gesinnung und Emotionalität sind Kampfbegriffe und Selbsteinschätzung zugleich, womit allem Artifiziellen, Wurzellosen und Aufgesetzten Paroli geboten werden soll. Im deutschen Kontext wird der L’homme ideal nicht nur von den Fesseln der feudalen Bevormundung emanzipiert, sondern auch gleich von der Verstandeskälte der Aufklärung. Beides wird mit Franzosentum synonym gesetzt, und das nicht erst seit der »Napoleonischen Bedrohung«. Seine kulturellen Tugenden schöpft das deutsche Beamten- und Dichterbürgertum diachron aus der kulturellen Vergangenheit, synchron aus der Kultur des Bauerntums; und in einem zunehmend organizistischen und historisierenden Weltbild spielt diese Unterscheidung keine wesentliche Rolle mehr, denn, wie Wilhelm Heinrich Riehl es 1885 auf den Punkt brachte: »Bauern sind, was wir waren.« So schafft die deutsche Gegenaufklärung mit ihrer Volksmetaphysik den Kunstgriff, sowohl feudalen Absolutismus als auch dessen ideologischen Widerpart, die kritisch-rationalistische und ausgesprochen universalistische Aufklärung, in einem fort zu ethnisieren. In der Wurzel- und Traditionslosigkeit des kritischen Denkens, mit dem die französische Aufklärung daran ging, dem christlich-feudalen Weltbild philosophisch und später auch politisch R ICH A R D SCH U BERT H

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den Garaus zu machen, ortet sie dieselben Untugenden, die sie bereits an der höfischen Etikette verabscheute. Wenn die französischen Aufklärer vom Menschen sprächen, dann würden sie eine »Hypostase des Franzosen« (Alain Finkielkraut) meinen. Nun ist das Weltbild der französischen Aufklärung (falls dieser verallgemeinernde Singular überhaupt zulässig ist) eher eurodenn ethnozentristisch, wovon sich die genuin ethnozentristischen Deutschen schwer überzeugen ließen. Entlang dieser sich zunehmend nationalisierenden Dichotomien formieren sich zugleich auch die Polaritäten Moderne–Tradition, Rationalität– Emotionalität, Zivilisation–Kultur, sozial–national, Universalismus–Partikularismus. Festzuhalten bleibt, dass der Kulturbegriff in seiner völkischen Variante den spezifischen historischen Bedingungen einer kleinen Beamtenund Dichterschicht entspringt, die ihre Idiosynkrasien, ihre Verliebtheit in die eigene Gefühlswelt, das Ressentiment des Ewigzukurzgekommenen und die Affinität zum Bigott-Bodennahen zu Nationalcharakteren hypostasiert – auf ihrem Siegeszug vom bedrohten zum bedrohlichen Völkchen. Ob Kultur nun in den ersten Lebensmonaten in die Wiege gelegt oder aber bereits in der DNS mit ins Leben gebracht wird, bleibt sich bei einer Vorstellung von ihr als Nicht-Gemachtes, als substanzhaftes, authentisches Substrat, letztlich gleich. Spätestens seit ihrer Emanzipation begannen im Vorurteil der europäischen Völker die Juden die französischen Intellektuellen als Unglücksbringer der Moderne abzulösen. Die traditionellen Antisemitismen erlangten neue Konnotationen. Die Antithese von Kultur und Zivilisation, wie sie in nuce im 18. Jahrhundert bereits angelegt ist, könnte besser nicht auf den Punkt gebracht werden, als der nationalsozialistische Kreisleiter von Innsbruck, Hans Hanak, 1938 in der Begrüßung der NS-Frauenschaft der Stadt es tut: »Kultur kann nicht anerzogen werden. Kultur muss im Blute liegen. Das sehen wir heute am besten bei den Juden, die höchstens unsere Zivilisation, nie aber unsere Kultur sich aneignen konnten.« Wie aber konnte die Nationalisierung, das Volk als Basis einer Staatsidentität, die feste Überzeugung, homogenen, geschlossenen Völkern mit uralter historischer Kontinuität anzugehören, sich im Bewusstsein der Massen festsetzen, und das sogar innerhalb einer oder weniger Generationen? Nach dem Dreistufenmodell des Historikers Miroslaw Hroch existiert das Konzept der Nation als kulturelle Einheit zunächst nur in den Köpfen von Gelehrten und Dichtern, in einer zweiten Phase wird es von politischen Interessengruppen aufgegriffen, ehe es schließlich durch Agitation, Medien und Beschulung zum Gemeingut der Massen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass die meisten dieser Gelehrten zunächst Philologen waren, denn die Sprache bot sich als das plausibelste einende Band bei der Überwindung rein konfessioneller Identitäten an. »Die Sprache ist die Nation«, wusste der bedeutendste griechische Aufklärer seiner Zeit, Adamantios Korais. So wie im Rassebiologismus die Hautfarbe als »Leitmerkmal« bei der 71

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Feststellung von Rassen fungierte, war dies bei Volk und Nation die Sprache. Die Hautfarbe wäre zwar das augenscheinlichste, aber doch ein recht blasses Kriterium zur Kategorisierung geschlossener Menschengruppen, hätte man nicht angenommen, dass damit noch etliche andere Eigenschaften korrelierten. Nicht anders verhielt es sich mit Stämmen, Völkern und Nationen, welche eben nicht nur Sprachgemeinschaften, sondern durch Herkunft, Schicksal, Sitte, Gesinnungsart, Territorium und Kochrezepte organisch verschmolzene Entitäten seien, die – und hier setzt die pragmatische Pointe der ganzen Übung an – als Happy End ihrer oft tragischen Geschichten auf Eigenstaatlichkeit drängten. Die Einordnung der Menschheit nach Völkern und Stämmen musste in seiner Frühphase mitnichten chauvinistisch sein oder über Freund-FeindFronten erfolgen, sondern befriedigte zunächst bloß das protowissenschaftliche Bedürfnis, den göttlichen Plan, der per Aufklärung etwas an Göttlichkeit eingebüßt hatte, zu entschlüsseln, und das scheinbar Inkohärente zu systematisieren. Gut gemeint, etwas konservativ, aber mit durchaus humanistischer Absicht entwarf Herder die Welt als kulturelles Bienenwabensystem. Zwar wusste man, dass diese Völkchen per Synthese irgendwann entstanden waren, aber je mehr historische Tiefe, desto würdiger. Rein ordnungslogisch hatte das zur Folge, dass das Hybrid als Sekundäres, als Verfälschung gewertet wurde, und diese Verwurzelungsideologie trotz ihrer toleranten Anfänge magnetisch an Antimodernismus und Antisemitismus zu haften kam. Doch das Hybrid ging der kulturellen Homogenität des modernen Nationskonzeptes immer voraus, die ihrerseits stets das Produkt strukturellen Zwanges war. In seiner 13. Rede an die Deutsche Nation (1807) machte Johann Gottlieb Fichte die Grenzen, die Herder gezogen hatte, dicht: »Die ersten, ursprünglichen, und wahrhaft natürlichen Grenzen des Staates sind ohne Zweifel ihre inneren Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen, es gehört zusammen und ist natürlich eins und ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung zu stören.« Aber wie wurden Sprachgemeinschaften Schicksalsgemeinschaften, wie funktioniert dieses philologische Primat in der Praxis? Das lässt sich schön durch das Palatschinkenmodell, wahlweise auch Pfannkuchen- oder CrêpeModell, erklären. Stellen wir uns die Kulturen der Menschen als eine verwirrende Vielfalt ungeordnet übereinanderliegender Crêpe-Schichten vor. Größere überlappende Crêpes wie Konfession und Sprache und kleinere lokale Crêpes wie Wirtschaftsweise, Trachten, Dialekte, Standeskulturen usw. Nationales Denken und nationale Herrschaftspraxis wollen diese Crêpes auf R ICH A R D SCH U BERT H

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Deckungsgleiche bringen, und so schneiden sie aus den Teigschichten der Inkohärenz um die Ränder der Sprach-Palatschinken herum ein kreisrundes Segment in die Tiefe und alle darunter liegenden Segmente auseinander und kappen sie von ihren abertausenden Überschneidungen, kappen sie – kurzum – von ihrer Geschichte. Diese tortenähnlichen Crêpe-Talons sind ihre Nationen, und in der Tat sehen die vielen Crêpe-Säulen nun tatsächlich so aus, als hätten sie immer schon so ausgesehen und wären auf kreisrundem Grundriss Etage für Etage hochgewachsen wie Wolkenkratzer. In Gesellschaften, in welchen sich noch kein starkes, politisch emanzipatorisches Bürgertum herausgebildet hatte und noch immer das religiöse Bekenntnis das Abstraktum einer auf Sprache beruhenden Kulturgemeinschaft dominierte, musste weiter die Religions-Crêpe als Hauptmarker herhalten. Der Historiker Emanuel Turczynski sprach von Konfessionsnationalismus. So aufrichtig den Dichtern und Gelehrten der nationalen Erlösung auch die Schönheit der Brüderlichkeit im Zeichen der gemeinsamen Kultur vorgeschwebt haben mag, in praxi erwies sich der Nationalismus als probate Ideologie, um territoriale Machtdomänen und kapitalistische Märkte abzustecken sowie unterschiedliche Klasseninteressen in einem gemeinsamen Abstammungsmärchen zu harmonisieren. Und dies tut er ungebrochen. Allmählich wandelte sich also ein politisches Nationskonzept, dessen Nation prinzipiell alle Bürger eines Territorialstaats umfasste, zu einem kulturellen, zum Beispiel dem deutschen, dem zufolge der Schweizer Bergbauer, der Wiener Teilzeithistoriker und der friesische Kranführer nicht nur eine gemeinsame Abstammung, sondern auch eine tiefe emotionale Bindung teilten, die zum piemontesischen Bergbauern, dem Budapester Teilzeithistoriker und dem dänischen Kranführer eine unüberwindliche Glaswand hochzöge. Als 1989 die Berliner Mauer fiel und »zusammenwuchs, was zusammengehört« (Willy Brandt), wies auch der Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs Jörg Haider – wie er es auch oft zuvor getan hatte – darauf hin, wo Österreich eigentlich hingehöre. Er bezeichnete es als »ideologische Missgeburt«. Und innerhalb der Grenzen seiner völkischen Logik behielt er sogar Recht. Haiders Affront provozierte zwar wenig Denken, dafür aber ein breites Spektrum an Gefühlen, von Verlegenheit bis panischer Identitätsunsicherheit. Österreichische Tageszeitungen initiierten Preisausschreiben für die definitive Beantwortung der alten Fragen Wer sind wir? – oder noch konkreter: Wer sind wir, wenn wir nicht sie sind?, als gelte es binnen kürzester Zeit einen genuin österreichischen Volksgeist aus dem Hut zu zaubern. Misslänge dies, wäre die Konsequenz klar und unumgänglich. Es bliebe Österreich dann kein anderer Weg, als die Fahne einzurollen und beim Deutschen Bundestag die Aufnahme als 17. Bundesland zu beantragen, um als kreuzfideler Süssi wieder einmal die Volksgemeinschaft von Ossis und Wessis zu bereichern. Und so grub man, jung und alt, links und rechts von links, aber links von Haider, in gemeinsamer nationaler Kraftanstrengung die sterblichen Über 73

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reste von Awaren und nach dem Zweiten Weltkrieg von den eigenen Müttern und Vätern vertriebenen und ermordeten Denkern und Künstlern aus; deren Spuren, Freuds Psychoanalyse und die Salzburger Nockerl, das Sarazenenblut auf Herzog Leopolds Nahkampfgarderobe, die tschechische Großmama und die Sozialpartnerschaft, Prinz Eugens Sieg über Belgrad und – weil ma net so san – den türkischen Naschmarktstand, den guten alten Kaiser und den guten alten Austromarxismus, den Austrofaschismus und die gemütliche Schlampigkeit, die diesen erst so richtig gemütlich machte und die später als kommodes Interieur jenes Akklimatisierungscenters fungierte, das nordischen Italien- und Griechenlandurlaubern Österreich bedeutete: All dies in den Entsafter und die Essenz herausgepresst, mittels welcher der Beweis erbracht werden sollte, dass das österreichische Volk kein piefkinesisches sei. Die nationale Spurensuche stiftete auch – das sei am Rande erwähnt – unerwartete Liebschaften. Überlebende der 1968er-Revolution fielen hinter die 1918er zurück und mutierten Hals über Kopf zu Monarchisten honoris causa, indem sie Loblieder auf das friedliche Auskommen der Völker in der neoabsolutistischen Kaiserdiktatur sangen. Philologen und Dialektforscher mochten zu der Einsicht gelangt sein, dass die Republik Österreich Anrechte auf Bayern und Teile Siebenbürgens besitze, Vorarlberg jedoch konsequenterweise an die Schweiz abzutreten sei. Dass diese Komödie gegen Ende des 20. Jahrhunderts und 34 Jahre nach der Verkündung des Staatsvertrags jeder Notwendigkeit entbehrte, das hätten die österreichischen Intellektuellen von jenen französischen Abgeordneten aus Lothringen und dem Elsass lernen können, die 120 Jahre zuvor keinerlei Probleme damit hatten, O Tannenbaum zu singen und trotzdem ihre staatspolitische Loyalität zu bekunden. Denn 1870, als das expansionistische Preußen mit der Ideologie des Volksgeistes im Tornister sich daran machte, das zweifellos deutschsprachige Elsass zu annektieren, bäumte der politische Nationsgedanke sich noch einmal in seiner ursprünglichen Stärke auf. Die meisten der elsässischen und lothringischen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung machten den deutschen »Befreiern« einen Strich durch die Rechnung. Sie bekundeten Frankreich ihre politische Loyalität. »Aber«, frohlockt Ernest Renan, der Apologet des voluntaristischen Nationalstaates, »es (Elsass. R. S.) will nicht zum deutschen Staat gehören: Und damit ist die Frage entschieden. Es wird vom Recht Frankreichs, vom Recht Deutschlands gesprochen. Diese Theorien berühren uns weit weniger als das Recht der Elsässer, Lebewesen aus Fleisch und Blut, nur einer solchen Macht zu gehorchen, mit der sie einverstanden sind.«

→ Wolfgang Koch als Beckmesser

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Paula M. Bortnichak & Edward A. Bortnichak

TRAUMARBEIT: DIE INNERE WELT DER MEISTERSINGER I. Vorbemerkung Die Epoche der Romantik zeichnete sich durch eine geradezu obsessive Beschäftigung mit der unscharfen Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, zwischen Wachen und Traum aus. Nicht selten stellten Träume die größte Inspiration für die damaligen Künstler dar, egal, ob über den Weg des natürlichen Schlafes oder eines durch Arzneimittel oder Drogen hervorgerufenen veränderten Bewusstseinszustandes. PAU LA M. BORT N ICH A K & EDWA R D A. BORT N ICH A K

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Nur wenige Exponenten der Geschichte westlicher Kunst haben solch umfangreiche Zeugnisse ihrer lebenslangen Faszination für veränderte Bewusstseinszustände hinterlassen wie Richard Wagner. So nehmen Erinnerungen an seine Träume in seinen autobiografischen Aufzeichnungen eine zentrale Rolle ein. Besonders die Tagebücher von Wagners zweiter Ehefrau Cosima sind derart gespickt mit Verweisen auf die Träume ihres Gatten und seine Versuche, deren Bedeutung zu verstehen, dass sie mit den in der heutigen klinischen Forschung verwendeten Traumtagebüchern verglichen werden können. In Cosimas Tagebüchern werden die letzten 15 Lebensjahre des Komponisten Tag für Tag geschildert, und die Einträge beginnen für gewöhnlich immer mit der Beschreibung jedes Traumes, von dem er ihr nach dem Aufwachen berichtete! Fast jede Seite von Cosimas umfangreichen Aufzeichnungen verdeutlicht, wie sehr Wagner auf seine eigenen Träumen achtete und wie gern er die Metapher des Traumes und des Träumens heranzog, um sich und seine Kompositionen zu erklären. Richard Wagners Opus ist ein perfektes Beispiel für die geradezu obsessive Beschäftigung der Romantiker mit veränderten Bewusstseinszuständen, und eine Betrachtung seines Werkes aus Sicht der Traumkunst kann wertvolle Erkenntnisse bringen. Konkret stellen Die Meistersinger von Nürnberg eine besonders gute Grundlage für eine solche Analyse dar, denn sie enthalten eine Fülle von Verweisen auf Träume und Träumen, Wünsche und Wahnvorstellungen sowie außerdem Überlegungen darüber, was real und was imaginär ist. Die Oper kann als ein eindringliches und vielschichtiges Meisterwerk betrachtet werden, das letztlich vom Innenleben seiner fein gezeichneten und spürbar »menschlichen« Figuren getragen wird.

II. Träume in Wissenschaft, Philosophie und Religion Die Romantiker waren nicht die ersten, die sich Gedanken über die Bedeutung ihrer Träume machten. Seit Beginn der Geschichtsschreibung beschäftigt sich die Menschheit mit der rätselhaften Welt des Träumens. Zu Wagners Zeit waren es Intellektuelle wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schelling, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, die sich mit diversen Geisteszuständen befassten und Träume als Tore zu einer anderen Welt betrachteten. Konkret machte das Werk Schopenhauers, besonders sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (ursprünglich 1819 erschienen und 1844 neu aufgelegt), auf Wagner, der sich in der mittleren Phase seiner Karriere befand, tiefen Eindruck. Schopenhauer vertrat die Auffassung, dass die Wahrnehmung der Welt durch den Menschen ein Produkt seiner Vorstellungskraft, Gefühle, Sehnsüchte und Beobachtungen ist und die Wirklichkeit als hetero 77

T R AUM A R BEIT: DIE IN N ER E W ELT DER MEIST ERSINGER


genes Konstrukt bezeichnet werden kann, das sowohl das Traumleben als auch die wache Existenz umfasst. All diese Aspekte der Existenz sind gleichermaßen Teil der Wirklichkeit, die sich einem Individuum präsentiert, und der Schlüssel zur Überwindung der Unzufriedenheit des Menschen mit seiner Existenz liegt darin, durch Entsagung für ein ausgewogenes Verhältnis zu sämtlichen Komponenten des Lebens zu sorgen. Schopenhauer befasste sich schon früh mit der Philosophie des Ostens, und sein Hauptwerk spiegelt die grundlegenden Lehren des Buddhismus wider. Die Wiederveröffentlichung von Die Welt als Wille und Vorstellung im Jahr 1844 erfolgte zeitgleich mit der Erstveröffentlichung von Introduction à l’histoire du bouddhisme indien (Einführung in die Geschichte des indischen Buddhismus), ein bedeutendes Werk des französischen Gelehrten Eugène Burnouf, das Wagner gut bekannt war und seiner Generation von Intellektuellen als Einführung in die buddhistische Denkweise diente. Im 20. Jahrhundert begann mit der Arbeit von Freud und Jung die wissenschaftliche Erforschung von Träumen. Der österreichische Arzt Sigmund Freud konzentrierte sich in der theoretischen Arbeit und der klinischen Praxis auf die Traumanalyse – sein bahnbrechender Klassiker zum Thema, Die Traumdeutung (1899), erschien unmittelbar vor Anbruch des neuen Jahrhunderts. Freud ging davon aus, dass Träume unsere unbewussten Wünsche widerspiegeln und der Traumzustand besagte tief sitzenden, fast vergessenen Wünsche bei unserer nächtlichen Suche nach Wunscherfüllung kurz in unser Bewusstsein aufsteigen lässt. Träume haben sowohl einen manifesten Inhalt (die erinnerten Bilder, die wir direkt im Traum sehen) als auch einen latenten Inhalt (unsere Gedanken und Wünsche, die indirekt durch die Symbolik im Traum repräsentiert werden). Die Aufgabe von Psychoanalytikern bestand darin, dieses klinische »Material« aus erinnerten Träumen zu verwenden, um Patienten bei der Entschlüsselung des latenten Inhalts ihrer Träume zu unterstützen, so zu versuchen, die innerpsychischen Konflikte zu lösen, die sich in diesen Träumen widerspiegeln, und in weiterer Folge den gequälten Geist zu heilen. Obwohl Freud als großer wissenschaftlicher Pionier, der Träume als »Königsweg zum Unbewussten« erforschte, unsere Bewunderung verdient, waren seine Theorien aufgrund seines Festhaltens an der These, dass fast alle Träume latent einen auf die kindliche Sexualität bezogenen Inhalt aufweisen, generell begrenzt. Spätere psychoanalytische Arbeiten, vor allem die seines Schülers Carl Jung, warten mit sehr interessanten Alternativen zu Freuds Theorien auf und bieten eine Erklärung für die universelle Funktionsweise der menschlichen Psyche. Jung vertiefte die Freud’sche Grundlage durch die Erforschung sogenannter »Archetypen« (also jener universellen, kulturell geprägten Symbolik, die in Träumen vorkommt), die Konzentration auf den manifesten Inhalt von Träumen bei deren Deutung sowie die Infragestellung der zentralen Rolle verdrängter kindlicher sexueller Begierden. In der Traumanalyse Jungs sind die Multidimensionalität der Wirklichkeit sowie PAU LA M. BORT N ICH A K & EDWA R D A. BORT N ICH A K

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die Bedeutung sämtlicher Traumebenen elementar, außerdem auch die für die im Osten hochgelobten Klarträume typische Mischung von Wach- und Traumzuständen – sie lässt diese Komponenten direkt in die westliche Deutungspraxis einfließen. Da Klarträume in unserer Analyse der Meistersinger eine entscheidende Rolle spielen werden, sind einige Hintergrundinformationen zu dieser besonderen Traumkategorie erforderlich. Träume zeichnen sich durch eine Art Kakophonie aus bekannten wie unbekannten Bildern und die Tatsache aus, dass sich Personen, Ort und Zeit stets ändern können. Als eine Art postdramatisches Theater des Geistes bombardieren sie Schlafende mit vielfältigen, bisweilen widersprüchlichen Bildern und Erzählsträngen und können von einem Augenblick auf den anderen stark wechselnde Gefühlsreaktionen hervorrufen. In der Regel können Träumende in ihren Träumen entweder Handelnde oder Beobachter sein, doch ist ihnen während des Traumerlebnisses nicht bewusst, dass alles »nur ein Traum« ist. Normalerweise wird erst beim Aufwachen klar, dass man geträumt hat. Der Klartraum ist eine einzigartige Form besonders intensiven Träumens, die schon lange bekannt ist, aber erst in den letzten 50 Jahren durch Schlafstudien mit bildgebenden Untersuchungen des Gehirns objektive Bestätigung fand. Den frühesten Beleg des Phänomens »Wachen während des Träumens« in der westlichen Welt lieferte der französische Sinologe Marquis d’Hervey de Saint-Denys im Jahr 1867, der Begriff »luzider Traum« (Klartraum) wurde 1913 von dem niederländischen Psychiater Frederik van Eeden geprägt. Das Hauptmerkmal eines luziden Traums (im Gegensatz zum nicht luziden Traum) besteht darin, dass Träumende nach Beginn des Traumes während des Traumerlebnisses erwachen und noch schlafend erkennen, dass sie träumen. Ab diesem Moment können die nunmehr Klarträumenden manchmal den Verlauf des Traumes kontrollieren. Die nachfolgenden Bilder lenken und den Ausgang des Traums beeinflussen können Klarträumer nur in einem Ausmaß, in dem das Lenken mit dem Gesamtrahmen des bereits im Ablauf befindlichen Traums in Einklang zu bringen ist. Dank dieser Fähigkeit, den weiteren Verlauf des Traums kontrollieren zu können, verspüren Klarträumer ein Gefühl der Erleichterung und Ermächtigung, wenn sie schließlich aus dem Schlaf erwachen. Normalerweise bemerken Träumer, dass sie träumen, wenn sie Bilder aus der materiellen Welt erkennen, die in ihrer Darstellung im Traum irgendwie eigen anmuten – aufgrund dieser Unstimmigkeiten erkennen Klarträumer noch im Schlaf, dass sie sich in einem Traum befinden. Der angestrebte Ausgang des Traumes ist oft Grundlage für kreative Problemlösungen im Wachleben des jeweiligen Menschen. Darin besteht der Zweck und der große Vorteil des Klarträumens als elementare Verbindung zwischen den beiden Realitäten der Existenz – dem Imaginierten oder Geträumten und dem Materiellen. Ein Klartraum ist die gewaltigste und potenziell erhellendste aller Traumerfahrungen… und bezeichnenderweise ist der Traum, den Walther

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von Stolzing im dritten Aufzug der Meistersinger beschreibt, das perfekte Beispiel für einen Klartraum!

III. Träume und Traummetaphern der handelnden Figuren in den Meistersingern im makroanalytischen Überblick Die Meistersinger sind ein rätselhaftes Werk und nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Obwohl sie als komische Oper bezeichnet werden, bieten sie dennoch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Conditio humana. Analysiert man die Meistersinger nach den von Henri Bergson in seinem Klassiker Le Rire. Essai sur la signification du comique (Das Lachen: Ein Essay über die Bedeutung des Komischen) dargelegten Grundsätzen, so können sie als ein Werk der höchsten und komplexesten Kategorie der Bühnenkomödie eingeordnet werden. Die Figuren der Oper wirken sofort erkennbar menschlich und »echt«, weil sie wie wir mit ihren inneren Dämonen kämpfen, während sie sich durch ihren manchmal komischen, manchmal tragischen Lebensweg quälen. Den Rahmen für alles bilden philosophische Fragen über die Natur des Willens und die Grenze zwischen Realität und Irrealität, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, von denen die Meistersinger genau wie die tragischen Werke Wagners getragen werden. Keine der Figuren in den Meistersingern ist zufrieden damit, was oder wer sie sind – alle möchten etwas anderes sein, und dieser Widerspruch zwischen Istzustand und Wunschzustand, dem Hier und Jetzt und dem Bild, das ihnen für ihr zukünftiges Selbst vorschwebt, kommt durch die von ihnen geschilderten Träume sowie die zur Beschreibung ihrer Welt ständig herangezogenen Traumanalogien zum Ausdruck. Jeder sinnt auf seine Weise darüber nach, was echt ist und was nicht. Wie Volker Mertens, Timothy McFarland und andere bereits festgestellt haben, ist auf »Makro«-Ebene der Analyse der Schauplatz der Meistersinger selbst ein Artefakt. Bei dem von Wagner präsentierten Nürnberg handelt es sich um eine idealisierte Betrachtung aus dem 19. Jahrhundert – den »Nürnberg-Mythos«. Die historische Stadt des 16. Jahrhunderts entsprach ganz und gar nicht dem Wagner’schen Nürnberg. Das echte Nürnberg von Dürer und Sachs war mehr eine moderne, reglementierte und unpersönliche Gesellschaft als eine auf gemeinsamen Bräuchen und Vertrautheit beruhende Gemeinschaft, wie sie von Wagner dargestellt wurde: Nach dieser sehnte sich sein Publikum, das aus Bürgerinnen und Bürgern der neu gegründeten deutschen Nation bestand. Wie ein Traumbild taucht Wagners Nürnberg als etwas vage Erkennbares auf, das aber nicht ganz der historischen Realität entspricht. PAU LA M. BORT N ICH A K & EDWA R D A. BORT N ICH A K

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Außerdem erinnert die poetische Struktur der Meistersinger an die Welt der Träume und den Prozess des Träumens. Am auffälligsten ist, dass das Libretto anders als in den übrigen Werken Wagners auf gereimten Versen basiert und die ständige Verwendung dieses poetischen Mittels eine geradezu hypnotische Wirkung ausübt. Wir werden in einen traumähnlichen Zustand versetzt, während wir mit einem Bühnenbild und einer Handlung konfrontiert sind, die oft anachronistisch und surreal anmuten – man denke etwa an den Schusterpoeten aus dem 16. Jahrhundert, der über Schopenhauer’sche Konzepte sinniert und dabei von einem Orchester aus dem späten 19. Jahrhundert begleitet wird, das archaische Kompositionsformen imitiert. Hinzu kommt der ständige Einsatz romantischer Ironie im Text, wie Mary Cicora in ihrem wichtigen Buch Modern Myths and Wagnerian Deconstruc­ tions, Hermeneutic Approaches to Wagner’s Music Dramas (2000) ausführlich beschreibt. Die Figuren schlüpfen regelmäßig aus ihren Rollen, um ihre Situation zu kommentieren, ähnlich wie Klarträumer, die wach sind, während sie träumen, und ihr eigenes Traumleben beurteilen können. Besonders Sachs wechselt ständig und ist einmal Teil der Handlung, einmal Außenstehender, denn er agiert sowohl als eine Art Regisseur des Stückes als auch als Figur im Stück selbst auf. Cicora weist darauf hin, dass das Werk sowohl auf der konkret-wörtlichen als auch auf der figurativen Ebene angesiedelt ist – in ihrer aufschlussreichen Analyse führt sie zahlreiche Beispiele für Verdopplung, Schauspiel, Spiegelung und Stilmaskierung (letztere im Hinblick auf die Musik) an, die allesamt als treibende Kraft für Ironie fungieren. Die Nicht-Linearität, die Vermischung von Bildern und die Vielschichtigkeit des Inhalts, die für gewöhnlich in Träumen zu beobachten sind, wurden von ihr perfekt beschrieben. Außerdem ist festzustellen, dass der gesamte zweite Aufzug in einer Art vagem Grenzbereich spielt, den Wagner in seinen Original-Regieanweisungen als zum Teil schmale Gasse, »nach dem Hintergrunde zu krumm abbiegend«, beschreibt. Er erörtert weiters, wie dieser Raum von Häusern, Treppen und Bäumen gesäumt ist, was die Sichtlinien weiter durchbricht und das Bühnenbild komplexer macht. Im weiteren Verlauf dieses Aufzuges schreitet zunächst der Abend fort, bis schließlich die Nacht hereinbricht und einige Details noch mehr in der Dunkelheit verborgen liegen. In den Meis­ tersingern ist diese Szene bezeichnenderweise die einzige Nachtszene – alles schläft und träumt, und zu Beginn wie am Ende tritt ein Nachtwächter auf, der dafür sorgt, dass sich die Bewohner der Stadt zur Ruhe begeben. Natürlich hat Wagner eine typische nächtliche Straßenszene des Spätmittelalters beschrieben, aber wie immer in den Meistersingern ist nichts so, wie es scheint. Setzt Wagner diese krumme, verschlungene nächtliche Straßenlandschaft als Metapher für das Unbewusste ein, dessen Gedankengänge genauso geheimnisvoll, leicht düster und verschlungen sind und das sich zum Teil im Traum offenbart? Für uns ist die Beschreibung des Abends in einer Nürnberger Gasse 83

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eine potenzielle Traumlandschaft. In der Tat wird dieser Aufzug auch als Kulisse für die Träume all dieser Bewohner des Wagner’schen Nürnberg dienen. Schließlich ist zu beachten, dass das berühmte Quintett aus dem dritten Aufzug deutlich als Träumerei zu erkennen ist, als Eva es anstimmt. Sämtliche weiteren Protagonisten dieses herrlichen Ensemblestücks führen die Traumanalogie fort, als sie sich jeweils fragen, ob sie in diesem Moment wachen oder träumen. Für Eva hat das von ihr im Quintett beschriebene Erwachen eine doppelte Bedeutung: einerseits das konkrete Erwachen aus ihrem schönen »Traum«, einen Teil von Walthers Preislied hören zu dürfen, und die übertragene Bedeutung ihrer freudigen Erwartung, endlich voll und ganz Frau zu werden, wenn ihr Geliebter später beim Wettsingen ihre Hand gewinnt. Das Meistersinger-Quintett ist ein zutiefst spiritueller Moment: In diesem magischen Augenblick hält das Geschehen inne, und es liegt nicht nur über den beiden Paaren ein Segen, sondern auch über dem Publikum, das Zeuge dieser magischen Transformation wird. Allen auf der Bühne und im Publikum ist in diesem Moment klar, dass Träume Wirklichkeit sind; die Grenze zwischen Wacherfahrung und Traumvisionen, die in den Meistersin­ gern bislang ohnehin immer fließend angelegt war, ist nun völlig verflogen. Es ist bezeichnend, dass Wagner für diesen Moment höchster Seligkeit, der spirituell ebenso wie in Bezug auf die für Eva und Walther bevorstehende neue Lebensphase den Höhepunkt dieses Meisterwerks darstellt, Traumbilder gewählt hat.

IV. Analyse der Schlussszene auf der Festwiese aus Sicht der Traumkunst Die abschließenden Minuten der Meistersinger – gemeint sind hier ungefähr die letzten zehn – stellen moderne Regie- beziehungsweise Produktionsteams normalerweise vor große Herausforderungen. Das Problem beginnt mit Walthers Weigerung, die Kette mit den Denkmünzen aus Pogners Händen anzunehmen, also den Preis, mit dem er nach dem Sieg im Wettsingen in die Meistergilde aufgenommen werden soll. Es ist bezeichnend, dass er seinen neuen Status vehement ablehnt: »Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!« Hier ist zu beachten, dass im deutschen Adjektiv »selig« die Konnotation von Glücksseligkeit (spirituell betrachtet) mitschwingt, was für unsere spätere Argumentation entscheidend ist. Sachs tadelt Walther für die Ablehnung des Preises und liefert auch die Erklärung dafür (Monolog »Verachtet mir die Meister nicht«). Diese Erklärung wird vom modernen Publikum üblicherweise als drohende, fremdenfeindliche Tirade wahrgenommen, zumal der Schusterpoet vor zukünftigen feindlichen Bedrohungen des deutschen Lebens und der deutschen Kultur aus dem Ausland warnt. Hier verspüren PAU LA M. BORT N ICH A K & EDWA R D A. BORT N ICH A K

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wir eindeutig einen Widerspruch zwischen dem, was wir an dieser Stelle hören, und unserer ursprünglichen Tendenz, die Meistersinger als geniales Werk und Sachs als gutmütige Vaterfigur sehen zu wollen. Die Jubelrufe des Volkes, das Sachs’ ultranationalistische Ansichten noch wiederholt, sind die letzten Stimmen, die wir in dieser Oper vernehmen, und bei einer wörtlichkonkreten Interpretation des Schlussbildes bleibt ein bitterer Nachgeschmack zurück. Wie kann uns die Betrachtung der Meistersinger durch die Brille der Traumkunst dabei helfen, diese letzten Momente mit dem übrigen Werk in Einklang zu bringen? Wenn wir die einzigartige Macht erkennen, die Walther als Träumer erlangt, bietet sich eine mögliche Lösung. In den Meistersingern wird Walthers Entwicklung vom sensiblen Jüngling mit aufwallenden Gefühlen zum »erleuchteten«, wissenden, reifen Liebhaber und disziplinierten Künstler geschildert. Bei dieser Entwicklung leuchten ihm seine Träume den Weg, und er verwendet die durch diese Träume erlangten Erkenntnisse in seiner Kunst, um Meister seiner selbst und seiner Lage zu werden. Walther ist eng mit Parsifal verwandt, denn beide befinden sich auf Visionssuche (Traumsuche) nach Selbstfindung und Erleuchtung. Wie bei Wagners »reinem Toren« liegt der Schlüssel zu Walthers Meisterschaft in Schopenhauers Grundsatz der Entsagung und dem eng damit verbundenen buddhistischen Weg zur Erleuchtung durch Vermeidung ablenkender »Anhaftungen« oder Bindungen (wie etwa Wahn) und Mitgefühl für andere. Walther ist erwiesenermaßen in der Lage, aus sämtlichen Dimensionen der Wirklichkeit Erkenntnisse zu erlangen, also sowohl aus dem bewussten Zustand oder Wachzustand als auch aus dem Unbewussten, wie es sich in Träumen manifestiert. Wahre Achtsamkeit verlangt den Einsatz des gesamten Geistes: Man muss sämtliche Dinge genau betrachten, um zu lernen, zu wachsen und zu träumen, ganz nach der von Walther in »Am stillen Herd« zu Beginn des Stückes beschriebenen Methode. Was hat Walther also gelernt, wie hat er es gelernt, und wie könnte unser Wissen um diese Dinge unsere Sicht auf den Schluss der Meistersinger ändern? Um diese Fragen zu beantworten, muss der Aufruhr im zweiten Aufzug, Herzstück des Werkes, in einem neuen Licht betrachtet werden. Die Straßenprügelei, deren Zeuge Walther wurde, war nicht der für eine Slapstickkomödie beziehungsweise einen Schwank typische harmlose Stoff, sondern ein Ausbruch von Gewalt, der Beckmesser physisch wie psychisch gezeichnet und auch Walther traumatisiert hat, wodurch letzterer schließlich zur für ihn so wichtigen Einsicht gelangt: Der von Sachs angezettelte kollektive Wahn öffnet seine Augen, sodass Walther von nun an in der Lage ist, Wahn zu erkennen. Ihm wird klar, dass Sachs Anstifter des Aufruhrs ist und auch hinter der Demütigung Beckmessers steht, und als ihm diese Fehler in Sachs’ Charakter bewusst werden, erkennt er, dass der Schusterpoet ihm zwar die Grundlagen des Meistergesangs beibringen, aber für größere Lebenslektionen kein Vorbild sein kann. Sachs mag die Gefahren des Wahns auf intellektueller 85

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Ebene verstehen, doch er ist nicht Herr über den Wahn in ihm selbst. Es ist äußerst bezeichnend, dass Walthers Traumnacht im Zwischenspiel zwischen dem Aufruhr und dem Morgen des Johannistags exakt der Moment ist, an dem er seinen Klartraum hat, der Erleuchtung bringt: Dieser liefert nicht nur den Stoff für das Preislied, sondern sorgt auch dafür, dass alles mit einfließt, das er erlebt, aber bisher nicht ganz verstanden hat. Wichtig zu erwähnen ist außerdem, dass man von Walther keinerlei negativen Gefühlsäußerungen gegenüber seinem Widersacher mehr vernehmen wird. Walther erkennt die Vielschichtigkeit von Sachs’ Wesen, also die intellektuellen Fähigkeiten seines Lehrers und dessen Stolz auf seinen Status in der Gemeinschaft, aber auch sein völlig fehlendes Mitgefühl für Beckmesser, dem nicht viel Glück im Leben beschieden ist – all das wird auf der Festwiese, wo Walther erlebt, wie der Stadtschreiber eine weitere Demütigung durch Sachs erfährt und beim Wettsingen den gnadenlosen Spott der Menge über sein schlecht interpretiertes Lied ertragen muss, nochmals bekräftigt. So kommen wir schließlich zu Walthers Ablehnung der Mitgliedschaft in der Meistergilde, die er damit begründet, dass er auch ohne diesen Status »selig« genug ist. Die Bedeutung dieser Aussage ist nun klar: Die leere Täuschung, der »Wahn« eines solchen Status interessiert ihn nicht, er wollte nur Evas Liebe gewinnen, die ihm Preis genug ist – Sachs’ nationalistische Tirade, jede »Rationalisierung« der Bedeutung des Meistersinger-Wahns stößt bei ihm auf taube Ohren. Das von Sachs in seinem Schlussmonolog zum Ausdruck gebrachte Gefühl wird von Walther als reiner, unverfälschter Wahn, konkret als drittes seiner drei großartigen Beispiele für Irrtum und Wahn, die in diesem Werk gebracht werden, erkannt. Die Kette mit den Denkmünzen, also der Meistersingerpreis, bedeutet ihm nichts, auch der Lorbeerkranz für den Sieger, der ihm auf die Stirn gesetzt wird, nicht – er gibt ihn nur zu gern an Sachs ab, den solch leerer Pomp mit Stolz und Genugtuung erfüllt. Das Volk hält weiter krampfhaft am Wahn vom Ruhm des Nationalismus und vom Meistergesang fest, doch Walther kann damit nichts anfangen. Als der Vorhang fällt, hat sich der nunmehr erleuchtete, wissende junge Mann, der in einen Wahn hineingeraten war, dank der aus seinen Klarträumen gewonnenen Erkenntnisse daraus befreit. Walther von Stolzing hat gelernt zu lieben: Nun sieht er nichts als seine Geliebte und betrachtet den Jubel, den das Volks Sachs in den großartigen, aber gleichzeitig auch ernüchternden Schlussmomenten des Werks entgegenbringt, bloß als Bestätigung seiner eigenen Erleuchtung und Erkenntnis. → Eine umfassendere Version dieses Textes ist zu finden in: Paula M. Bortnichak & Edward A. Bortnichak, Dream Work: The Inner World of Die Meistersinger; The Wagner Journal Band 15/1 (März 2021), Seite 4-25

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Theodor W. Adorno

» Das Unbewusste, dessen Begriff Wagner von der Metaphysik Schopenhauers empfing, ist bei ihm bereits Ideologie: Musik soll die entfremdeten und verdinglichten Beziehungen der Menschen anwärmen und klingen lassen, als wären sie noch menschlich. «



Ulrike Kienzle

DAS SCHUSTERLIED

← Michael Volle als Hans Sachs

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Der Text des Schusterliedes ist – bei aller gewollten Holprigkeit der altertümlichen Knittelverse – ein hochartifizielles sprachliches Gebilde, das in seiner symbolischen Mehrdeutigkeit Rätsel aufgibt. Vordergründig gesehen, handelt es sich um eine humoristische Paraphrase des Sündenfall-Mythos und ihre etwas bemühte Verknüpfung mit dem Schusterhandwerk. Auch hierin verbirgt sich jedoch eine Transformation zentraler Gedanken Schopenhauers. Der steinige Weg, den Adam und Eva zu gehen haben, ist eine Metapher für die Härten des Daseins in einer Welt, die vom Willen beherrscht wird. Das Anpassen der Schuhe für Adam und Eva deutet auf die Linderung dieses Leidens hin. Die Schuhmacherei steht in den Meistersingern allgemein, und nicht nur im Schusterlied, als Symbol für die stofflich-materielle Seite der Lebensbewältigung. Wenn Eva im dritten Aufzug klagt: »Ach, Meister! Wüsstet Ihr besser als ich, / wo der Schuh mich drückt«1, so spielt sie mit diesem hintergründigen Sprichwort auf ihre emotionale Zerrissenheit zwischen väterlichem U LR IK E K IENZLE


Gebot, ihrer Liebe zu Walther von Stolzing und ihrer Zuneigung zu Sachs an. Wenn andererseits der verprügelte und geschundene Beckmesser ausruft: »Den Teufel! So dünn war ich noch nie beschuht: / fühl’ durch die Sohle den feinsten Kies«2, so wird der Schuh als Symbol für den Schutz vor (physischer wie psychischer) Verwundung deutlich. Der gut gearbeitete, passende Schuh steht für eine gelungene Integration in das gesellschaftliche Leben und für ausreichenden Schutz gegen das von Wahn und Willen verursachte Leiden. Der Ausruf von Hans Sachs im dritten Aufzug : »Hat man mit dem Schuhwerk nicht seine Not«3, lässt sich konsequent in diesem Sinne deuten – Sachs gebraucht hier mit Bedacht das Handwerk der Schuhmacherei als Metapher für seine Rolle als väterlicher Ratgeber und Freund der jungen Eva, als Lehrmeister Walther von Stolzings und als Mentor des Liebespaares. Pech und Wachs sind eine Metapher für die seelischen Beziehungen zwischen den Menschen, und die Kunst der Naht ist eine Umschreibung der ehelichen Verbindung (dies wird beim Auftritt Walther von Stolzings in der Schusterstube deutlich, wenn Sachs sich um Evas Schuhwerk bemüht). Die Schuhe, die Hans Sachs herstellt, sind zugleich Symbol für die praktische Hilfe, die er in den Bedrängnissen des Lebens anbieten kann. Dieses Selbstverständnis findet im Schusterlied Ausdruck. Hans Sachs versteht es, wie er selbst sagt, den Wahn »fein [zu] lenken«. Doch dazu bedarf es der Kunst im zweiten Sinne, so wie Schopenhauer sie im dritten Buch der Welt als Wille und Vorstellung definiert hat. Während der Versenkung in die platonische Idee, welche Schopenhauer als Objekt der Kunst begreift, schweigt der Wille, und der Rezipient wird zum reinen, ungetrübten Subjekt des Erkennens. Kunst vermag aus der Fron des Willens zu erlösen, wenn auch nur für Augenblicke. Schopenhauer schätzt vor allem die Musik, die für ihn unmittelbares Abbild des Willens ist, im Gegensatz zu den anderen Künsten, welche die Idee der Erscheinung nachahmen. Über ihr Wesen und ihre Wirkung heißt es: »Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergiebt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Quaal.«4 Dies hat Wagner wörtlich genommen: Das Paradies, von welchem Sachs in seiner nicht ganz bibeltreuen Genesis-Adaption berichtet, ist Schopenhauers »ewig fernes Paradies«, das Reich der ästhetischen Kontemplation. Der Mensch hat dieses Paradies nach Überzeugung von Hans Sachs auch durch den Sündenfall, der schon bei Schopenhauer als alttestamentliches Symbol für die verheerende Wirkung des Willens in Form von Selbstüberhebung, Machtstreben und erotischer Begierde verstanden wird, nicht endgültig verloren: Es bleibt, zumindest temporär, erreichbar in der Kunst. Das Leiden des Daseins weckt Sehnsucht nach dem paradiesischen Zustand der ästhetischen Kontemplation. Darum beauftragt im Schusterlied Gott einen U LR IK E K IENZLE

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Engel mit dem Anpassen eines geeigneten Schuhwerks, das dem Individuum dazu verhelfen soll, die Härten des steinigen Lebensweges leichter zu ertragen. Schuhmacherei und Poeterei, praktische Lebensbewältigung und Erlösung in der ästhetischen Kontemplation, werden hier in eins gesetzt. Die Kunst hat die Funktion, das Leben überhaupt erträglich zu machen und es mit Sinn zu erfüllen. Es ist bezeichnend, dass sich Hans Sachs schließlich selbst als dieser Engel zu erkennen gibt: »Wär’ ich nicht fein / ein Engel rein, / Teufel möchte Schuster sein.«5 In seiner zweifachen Identität als Handwerker und als Dichter verkörpert Hans Sachs den angesprochenen Doppelsinn der Kunst. Etwas kompliziert wird diese Konstruktion dadurch, dass Sachs in den folgenden Versen eine weitere Engelsgestalt einführt: »Gäb’ nicht ein Engel Trost, / der gleiches Werk erlos’t, / und rief’ mich oft ins Paradies, / wie dann ich Schuh’ und Stiefeln ließ’! / Doch wenn der mich im Himmel hält, / dann liegt zu Füßen mir die Welt, / und bin in Ruh’ / Hans Sachs ein Schuh- / macher und Poet dazu.« Diese Engelsgestalten – das ist trotz aller Hermetik unzweifelhaft – sind Künstler-Allegorien. Dass dem künstlerischen Genie die Welt zu Füßen liegt, paraphrasiert Schopenhauers Konzeption, wonach das reine Subjekt des Erkennens sich im Augenblick der ästhetischen Kontemplation als Urgrund und Träger der Welt erkennt.6 Das immer wiederkehrende Erlebnis solcher Versenkung in die Kunst (»und rief’ mich oft ins Paradies«) tröstet über das Leiden des Daseins hinweg, bewahrt vor Lebensflucht und Resignation (»wie dann ich Schuh’ und Stiefeln ließ’«) und gewährt die Kraft der heiter-abgeklärten Selbstvergewisserung (»und bin in Ruh’ / Hans Sachs ein Schuh- / macher und Poet dazu«). Welche Bedeutung dieser doppelten Konzeption – Kunst als Mittel zur Lebensbewältigung und als metaphysischer Trost – zukommt, offenbart der Dialog zwischen Hans Sachs und Walther von Stolzing im dritten Aufzug. Hier entwirft Wagner die Utopie der Kunst als Spiegel des gesellschaftlichen Lebens und verknüpft sie mit dem Ideal des Staates. Vordergründig geht es um eine Unterweisung in den Regeln des Meistergesangs – Hans Sachs möchte seinen Zögling dazu bewegen, ein Meisterlied zu dichten. Unterschwellig jedoch vermittelt Hans Sachs dem jungen Ritter die Kunst der bürgerlichen Lebensführung. Auf dessen Einwurf: »Ich lieb’ ein Weib und will es frei’n, / mein dauernd Eh’gemahl zu sein«7, antwortet Hans Sachs enigmatisch: »Die Meisterregeln lernt beizeiten, / dass sie getreulich euch geleiten«. Umgekehrt beantwortet Sachs alle künstlerischen Fragen Walthers mit Metaphern aus dem bürgerlichen Familienleben. Nachdem Stolzing glücklich den ersten »Stollen« seines Liedes gereimt hat, fordert Sachs, der zweite Stollen müsse nun »ganz gleich« gestaltet sein. Auf die Frage Walthers nach dem Sinn dieser Regel antwortet Sachs nicht etwa mit einer kunsttheoretischen oder ästhetischen Begründung, sondern ganz schlicht: »Damit man seh’, / ihr wähltet euch gleich ein Weib zur Eh’.« Ebenso erklärt er den »Abgesang«: »Ob euch gelang / ein rechtes 91

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Paar zu finden, / das zeigt sich an den Kinden. / Den Stollen ähnlich, doch nicht gleich, / an eig’nen Reim’ und Tönen reich; / dass man’s recht schlank und selbstig find’, / das freut die Eltern an dem Kind: / und euren Stollen gibt’s den Schluss, / dass nichts davon abfallen muss.« Das so vollendete Lied ist also ein Bild der bürgerlichen Familie, ein Symbol der gelungenen Integration des Eros, den Wagner ja zunächst als eine blind wirkende, chaotische Kraft beschrieben hat, in das Gemeinwesen. Die »Meisterregeln«, die es »beizeiten« zu lernen gilt, sind also keineswegs nur Anweisungen zum Abfassen eines Liedes nach der Tabulatur. Sie sind vielmehr Spiegelbild der ethischen und moralischen Grundsätze, nach denen der Wahn zu »bemeistern« ist. Die Kunst hat in dem Prozess der gesellschaftlichen Disziplinierung somit unmittelbare pädagogische Funktion. Wenn künstlerische Regel und bürgerliche Lebensform konsequent parallel gesetzt werden, so ist dies keineswegs nur äußerliche Einkleidung. Vielmehr manifestiert sich darin Wagners Postulat der Bewältigung des Willens und seiner zerstörerischen Aspekte. Die Auszeichnung als Meister besitzt daher immer einen Doppelsinn von künstlerischer Vollendung und Beherrschung des chaotischen Willens. Dieser Prozess einer Bändigung der Triebkräfte des Willens mit den Mitteln der Kunst zugunsten eines möglichst friedlichen Zusammenlebens in der Gemeinschaft exemplifiziert Wagner in der Charakterstudie des jungen Walther von Stolzing. Im ersten Aufzug verschreckt sein ungezügelter, noch wenig strukturierter Gesang die biederen Meister. Ihm fehlt offensichtlich der Wille zur sozialen Integration. Dass aus dem jungen Heißsporn ein Meister wird, ist das Ergebnis seiner Unterweisung in Fragen der Kunst und des Lebens zugleich. Dazu muss Hans Sachs die Triebkraft des Eros bei Walther gleichsam umleiten: Aus dem zerstörerischen, blinden Wahn der Liebe erwächst ja andererseits auch die spontane Kreativität des Ritters. Stolzing wird jedoch erst in dem Moment heirats- und gesellschaftsfähig, da er durch das Dichten seines Preisliedes, in welchem die Bewahrung der Regeln und die Freiheit der Intuition sich produktiv verbinden, vor allem Volk bewiesen hat, dass er seine spontane Triebenergie zu bändigen und zugleich mit den Meisterregeln auch die bürgerlichen Lebensformen zu respektieren in der Lage ist. Meister ist für Hans Sachs allerdings nicht, wer sich den Regeln der Tabulatur blindlings beugt, sondern wer trotz der Bedrängnisse des Lebens zwischen Wahn und Regel, zwischen Unfällen und Zufällen des Daseins noch immer imstande ist, das Leben selbst zu bejahen und dies durch das Bekenntnis zur Schönheit in der Kunst zum Ausdruck zu bringen. Hans Sachs erklärt das so: »Kam Sommer, Herbst und Winterzeit, / viel Not und Sorg’ im Leben, / manch’ ehlich’ Glück daneben, / Kindtauf’, Geschäfte, Zwist und Streit: / denen’s dann noch will gelingen / ein schönes Lied zu singen, / seht, Meister nennt man die.« Meister sind Lebens-Künstler; ihre Lebens-Kunst rettet vor den Gefahren der pessimistischen Welterkenntnis. U LR IK E K IENZLE

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Auf Stolzings Frage, wer die Regeln für die Gestaltung der Lieder festgelegt habe, erwidert Sachs: »Das waren hoch bedürft’ge Meister, / von Lebensmüh’ bedrängte Geister: / in ihrer Nöten Wildnis / sie schufen sich ein Bildnis, / dass ihnen bliebe / der Jugendliebe / ein Angedenken, klar und fest, / dran sich der Lenz erkennen lässt.« Das »schöne Lied«, verfasst im Angesicht der »Wildnis« des Daseins, ist indessen nur »Angedenken« und Abglanz ursprünglichen Lebens. Die Gefahr einer Erstarrung in fixierten Gesetzen ist daher umso größer, je mehr sich die Meistersinger von der Kraft unmittelbaren Lebens im »Lenz« entfernen: Die Problematik der Regelpoetik erwächst aus ihrer übermäßigen Bewusstheit. Die sklavische Anhänglichkeit an die Regeln der Tabulatur, der Wust von totem Wissen, welches der Lehrjunge David im ersten Aufzug vor dem erstaunt-unwilligen Walther von Stolzing ausbreitet, droht die Kraft der schöpferischen Kreativität in der Kunst zu ersticken. Zur steten Erneuerung der Meisterregeln ist daher immer wieder die Kraft der Jugend vonnöten. Deshalb will Hans Sachs, als »bedürft’ger Mann«, dass der junge Walther von Stolzing ihm die Regeln »neu erkläre«, ohne sie freilich vorher zu kennen: Er soll also seiner Intuition folgen und diese schließlich durch einen Akt der Bewusstmachung zu neuen, jederzeit verfügbaren Strukturgesetzen erheben. Die Aufgabe des ›Pädagogen‹ Sachs besteht dann nur noch in der Integration des Neuen und Lebendigen in das immer wieder erneuerungsbedürftige Gebäude der Tradition.

1) Sämtliche Schriften und Dichtungen (SSD) 7, S. 251. 2) SSD 7, S. 243. 3) SSD 7, S. 252. 4) Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV) I, S. 331. 5) Dieses und die folgenden Zitate aus dem Schusterlied nach SSD 7, S. 211 ff. 6) vgl. WWV I, S. 234 f. 7) Dieses und die folgenden Zitate aus dem Gespräch zwischen Stolzing und Sachs nach SSD 7, S. 235 ff.

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Wolf Rosenberg

VERSUCH ÜBER DEN MEISTER­SINGERHUMOR

Über keinen Begriff herrscht so viel Unstimmigkeit wie über den des Humors. Gewiss: Würde man es sich leicht machen, ihn schlicht als Synonym für Witz oder Scherz, Komödiantik oder Heiterkeit, Spaß oder Schmäh einzusetzen, kurz für alles, worüber sich lachen, lächeln, kichern oder grinsen lässt, so könnte man wohl weitgehend zu einem Consensus in puncto Meistersinger kommen. Beckmesser gilt als komische Figur – was er nicht ist –, sein falsches Skandieren, seine irrwitzigen Reime in der Serenade oder seine surrealistische Verzerrung des Walther’schen Preisliedes verfehlen ihre Wirkung nicht, und schließlich handelt es sich ja um eine Komödie. Aber es gibt durchaus auch humorlose Komödien, und ein Trauerspiel muss nicht unbedingt auf Humor verzichten (siehe Shakespeare). Was also ist Humor? Wenn man »trotzdem lacht«? Bei aller Trivialität enthält die abgeschliffene Redensart ein Körnchen Wahrheit: mit dem Wort »trotzdem« wird das Element des Paradoxen, ohne das Humor nicht denkbar ist, zumindest angedeutet; weitaus schlimmer sind jene Definitionen, die offiziell in Lexika und Enzyklopädien angeboten WOLF ROSEN BERG

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werden. Manche, die der Sache breiteren Raum gewähren, setzen zunächst einmal Humor sorgfältig von Ironie, Satire, Persiflage, Sarkasmus, kurz: allem, was auf kritisch-polemische Einstellung zurückgeht, ab; dass eigentlich eine »negative« Einstellung gemeint ist, eine häretische, bestätigt sich, wenn man zur eigentlichen Definition gelangt. Eine besonders knappe, die aber für die anderen einstehen kann, bezeichnet Humor als »eine seelische Grundhaltung, die in den Missständen des Lebens menschliche Unzulänglichkeiten erkennt und lachend verzeiht«.

Seltsame Sorten des Humors Auf die Gefahr hin, als humorlos betrachtet zu werden, muss der Verfasser bekennen, dass er in den Missständen solcher Definitionen keine menschlichen Unzulänglichkeiten, sondern nur faustdicke Ideologie erkennen kann. Denn man wird jene seelische (?) Grundhaltung bestenfalls bei Leuten antreffen, die über der Sache zu stehen meinen, weil sie die Sache erst gar nicht ernst zu nehmen bereit sind und die dazu beitragen, dass an den Missständen des Lebens nur ja nichts geändert werde. Es handelt sich da um etwas, was besser mit dem Begriff »sonniger Humor« umschrieben wäre und was sich in Schmunzelgeschichten für den deutschen Kamin niedergeschlagen hat. Wenn dann noch als »Meister deutschen Humors«, das heißt als Meister derlei Gartenlaubenkitsches, Dichter vom Range und von der politischen Wachheit Lessings oder Jean Pauls bezeichnet werden, so kann man zwar lachen, aber nicht lachend verzeihen. Wohin es führt, wenn solche lexikalischen Verdrehungen unkritisch übernommen werden, kann an einem Zitat aus einer ansonsten recht vernünftigen Abhandlung über Richard Wagner exemplifiziert werden. Da heißt es: »Mit den Meistersingern verließ Wagner die mystische Welt ... Hier, in der behaglichen Atmosphäre Alt-Nürnbergs, tritt denn auch ein Element in Erscheinung, nach welchem man sonst in Wagners Œuvre vergeblich forscht: der vom Leiden befreiende, versöhnliche Humor.« Abgesehen davon, dass da eine große Komödie zu einem harmlosspießigen Genrestück degradiert wird, forscht man in ihr vergeblich nach jener neuen Sorte von »Humor«. Hingegen mag es sich lohnen, für einen Moment in Wagners »mystische« Welt hinabzutauchen; denn ebenso wie der Schlüssel zu Shakespeares Humor am ehesten in den Narren-Szenen der Tragödien zu finden ist, wo all das, was unversöhnlicher Weise über die »Missstände des Lebens« zu sagen ist, als Narrenweisheit vorgetragen wird, die Faunsmaske also tiefsten Ernst verbirgt, so können wir auch im Falle Alt-Nürnberg am raschesten zum Ziel kommen, wenn wir einen kleinen Umweg machen, zum Beispiel über die Ring-Tetralogie. Ein Zitat, nicht aus den zum Teil fast burlesken Mime-Szenen in Sieg­ fried, bei denen textlich wie musikalisch der Humor gewiss zu offensichtlich 95

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ist, noch aus der Partie des Loge, der ja ein wenig den Shakespeare’schen Narren spielt, sondern aus der, einen tragischen Wendepunkt spiegelnden, dramatischen Auseinandersetzung zwischen Fricka und Wotan im zweiten Walküre-Aufzug. Dort ruft die Schutzheilige bürgerlicher Moral in tiefster Entrüstung über das Zwillingspaar Siegmund/Sieglinde aus: »Wann ward es erlebt, dass leiblich Geschwister sich liebten?« Worauf Wotan gelassen repliziert: »Heut’ hast du’s erlebt.«

Wagners Humor: Verflechtung von Ernst und Spiel In diesen vier Worten wird auf die liebenswürdigste Weise Gift verspritzt. In ihnen steckt weit mehr als eine schlagfertige Antwort. Zur Begriffsbestimmung des Humors gehört die Verflechtung von Ernst und Spiel; solche Verflechtung findet hier in mehreren Dimensionen statt. Fricka hat KlischeeDenken in klischierte Sprache gekleidet und auf eine Weise argumentiert, die dazu dienen soll, den Gegner zum Schweigen zu bringen, indem sie eine »rhetorische« Frage stellt. Wotan gibt sich naiv, tut so, als ob er das Rhetorische nicht erkannt hätte, und beantwortet, höflich wie er ist, eine Frage, die nicht als Frage gemeint war. Er nimmt sie beim Wort. Schlimmer noch: er beantwortet die Frage wahrheitsgetreu. Zugleich entlarvt er damit unkritische Denkschemata, wobei er sich der sokratischen Methode bedient, das heißt: anstatt ein Tor zu schießen, macht er dem Gegner deutlich, dass dieser bereits ein Eigentor fabriziert hat; und die beliebte These, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, ist inzwischen durch die Realität ebenso entkräftet wie das Dogma von der Unabänderlichkeit aller Dinge. Dies die Mitteilung. Also Humor in doppelter Verschränkung. Während Ironie das Gegenteil von dem, was sie meint, ausspricht, und es dabei bewenden lässt, ist es hier so, dass Wotan tatsächlich meint, was er sagt, aber zugleich auch noch etwas anderes meint. Hinter dem gespielten Ernst verbirgt er wirklichen Ernst plus Ironie, Spott, Sarkasmus; und in einer weiteren Schicht lauert jener gefährliche Ernst, der etwas über die Missstände des Lebens und ihre mögliche Beseitigung impliziert.

Hans Sachs: Witz und Humor in allen Schattierungen Man braucht demnach nicht vergeblich nach Humor in Wagners Dramen zu forschen, und seinem Wesen nach gleicht er dem, den wir in der »beWOLF ROSEN BERG

→ Autograf der MeistersingerPartitur, 1867

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haglichen« Atmosphäre von Alt-Nürnberg antreffen; nur enthält er dort naturgemäß noch mehr Entfaltungsmöglichkeiten und Varianten. Die reichste Palette hat Wagner der Zentralgestalt des Werkes, dem Sachs zugeteilt, dessen Ausdrucksweise mit beziehungsvollen Anspielungen, Zwischen- und Untertönen, Mehrdeutigkeiten und Hintergründigkeiten gespickt ist und der, je nachdem ob er mit der Pognerin, mit Stolzing, mit Beckmesser oder der gesamten Meistergruppe konfrontiert ist, Witz und Humor in allen Schattierungen kundtut, von liebevoller Ironie gegenüber Eva bis zu versteckten Bosheiten im Umgang mit dem Stadtschreiber, der wiederum durch totale Humorlosigkeit gekennzeichnet ist. Bei ihm nun könnte man von »unfreiwilligem Humor« sprechen, wenn es das gäbe; korrekter und mehr im Sinne sauberer Begriffsscheidung wäre es, ihm unfreiwillige Komik zuzubilligen; denn Humor kann nur ein freiwilliger sein, setzt, um im modernen Jargon zu sprechen, einen Akt der Emanzipation voraus. Wagner hat das recht plastisch an der Figur des Stolzing demonstriert, des jungen, zunächst mehr von der Emotion als vom Intellekt gelenkten Protestlers, der auf die Begebenheiten um ihn herum noch völlig verständnis- und humorlos reagiert (man denke daran, wie er im zweiten Aufzug bei jeder Gelegenheit zum Schwert greifen möchte, sich verhält wie ein jugendlicher Don Quichote) und der erst allmählich, vor allem durch die kleine Unterrichtsstunde bei Sachs im dritten Aufzug, zu Bewusstsein, zu selbstständigem Denken und damit auch zu Humor gelangt.

Die eine wunde Stelle: Missdeutbare Grundideen Oder zeigt er Mangel an Humor, wenn er am Schluss, nachdem er sein Ziel erreicht hat und Beckmesser blamiert ist, »mit schmerzlicher Heftigkeit« die Meisterwürde ablehnt? (Sein begründeter Hass gegen die Zunft wäre kein ausreichender Grund.) Wie immer man das wertet, man steht vor der bedauerlichen Tatsache, dass Wagner ein Stichwort brauchte, um Sachs eine salbungsvolle Ansprache halten zu lassen. (Kann von »versöhnlichem Humor« ohnehin nirgends in diesem Stück die Rede sein, so erweist es sich hier, dass Wagner sogar, wo er versöhnlich wurde, seinen Humor einbüßte.) Das »Verachtet mir die Meister nicht« ist die wunde Stelle, die einzige auch, auf die sich teutonisches Wagnerianertum, inklusive Hitler, mit einer gewissen Berechtigung berufen konnte, während doch die politischen, sozialen und ästhetischen Grundideen des Werkes unversöhnlich gegen alles Reaktionäre gerichtet sind. Sachs, der sich vehement dafür einsetzt, dass das Volk beim Preissingen zu Gericht sitzen solle und nicht die »Experten«, knüpft an die demokratischen »Wunschträume« des jungen Wagner an; in einer freien WOLF ROSEN BERG

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Gesellschaft, so schrieb Wagner in einem seiner Manifeste von 1849, werde Kunst nicht mehr für die Bildungsphilister, sondern fürs Volk gemacht werden, mehr noch: wie in früheren Zeiten vom Volk produziert werden.

Ursprünglich mit Humor verteidigt Das pompöse Finale steht nicht nur im Widerspruch zum Ganzen; es fällt auch erheblich in der Qualität ab; Sachsens Sprache wird flach, hat plötzlich keine dichterische Kraft mehr. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Wagner selbst mit dem Schlussteil nicht glücklich war, ihn wieder streichen wollte und es allein dem Einfluss Cosimas zuzuschreiben ist, dass er nichts mehr änderte. Aufschlussreich dürfte auch sein, dass er ursprünglich keine Apotheose im Sinne gehabt hat, sondern einen eher heiter-ironischen Schluss. In einer Notiz aus dem Jahre 1851 heißt es: »Sachs verteidigt da die Meistersingerschaft mit Humor und schließt mit den Worten: ›Zerging in Dunst das heil’ge römische Reich / Uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst‹.« Mit Humor verteidigen – das hätte bedeutet: die positiven Seiten der Gilde hervorheben, aber dergestalt, dass noch die Distanz zu den negativen mitschwinge. In solchem Kontext hätten auch die beiden Schlusszeilen, die er ja in der Endfassung beibehielt, weniger pathetisch geklungen. Nach der unerträglichen Deutschtümelei jedoch, die dem Sachs später in den Mund gelegt wurde, erhält das Wort »deutsch« in der letzten Zeile ein Gewicht, das ihm gar nicht zugedacht war; denn es geht ja da um die gewiss nicht ganz unblasphemische Heiligsprechung der Kunst und die Missachtung des von der Kirche heiliggesprochenen Staates; die Attribute »deutsch« und »römisch« waren zweifellos von sekundärer Bedeutung. Ein Blick auf das Vorspiel zum ersten Aufzug mag Auskunft darüber geben, wie Wagner mit rein instrumentalen Mitteln seine Einstellung zur Meistersingerschaft zum Ausdruck gebracht hat, wie er sie »mit Humor verteidigt«. Dass die marschartigen Themen, durch die gleich zu Beginn die Zunft gekennzeichnet wird, einen ironischen Unterton haben, erweist sich nicht nur daran, dass sie im Es-Dur-Mittelteil karikiert und im Schlussteil mit der eigenen Karikatur kombiniert werden, sondern auch an ihrer melodischharmonischen Struktur: sie sind Musik aus zweiter Hand, nicht charakteristisch für Wagner oder zumindest nicht für Wagners späten Stil, und könnten ernsthafter Weise bestenfalls im Tannhäuser vorkommen; man vergesse auch nicht, dass ja die Meistersinger als Satyrspiel zum Sängerkrieg auf Wartburg gedacht waren. Sie tragen Stolz und leicht übersteigertes Selbstbewusstsein zur Schau; die Diatonik, die simplen Stufenfolgen, ihr leicht Triviales, das jedoch nicht parodistisch gemeint ist, schafft die ironische Distanz: Humor als Mittel einprägsamer Darstellung, nicht gemütvoller Heiterkeit dienend, sondern der Schärfung unserer kritischen Fähigkeiten. 99

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» WAHRTRAUMDEUTEREI «

Ein Schriftwechsel von Ulrike Kienzle und Sergio Morabito zu Wagners Meistersingern


SERGIO MORABITO

Wagner wendet sich mit den Meistersingern erstmals wieder dem »real existierenden« Theater seiner Zeit zu. Anders als das monumentale Ring-Projekt, das einer utopischen Bühne der Zukunft zugedacht ist, anders als der Tristan, der sich als zunächst unaufführbar erwiesen hat, entwickelt Wagner das neue Werk mit Rücksicht auf die Theaterkultur seiner Zeit und führt es zu einer umjubelten Premiere. Und die Zeit der Meistersinger-Entstehung von 1861 bis 1865 führt Wagners Existenz insgesamt zu einer Wende. Die Amnestie von 1862 ermöglicht dem aufgrund der Teilnahme an der 1848er Revolution steckbrieflich Verfolgten und in die Schweiz Geflohenen die Rückkehr nach Deutschland. Im gleichen Jahr trennt Wagner sich endgültig von seiner ersten Frau Minna und verbindet sich mit Cosima Liszt-von Bülow. 1864 rettet ihn der frischgebackene, 18jährige König Ludwig II. von Bayern aus höchster finanzieller Bedrängnis und wird zu seinem wichtigsten Mäzen, der die Uraufführungen der Meistersinger und des Tristan ermöglicht, die der fertiggestellten Ring-Teile Rheingold und Walküre – gegen Wagners Willen – erzwingt und trotz manch weiterer Zerwürfnisse auch das Bayreuther Festspielunternehmen rettet, als öffentliche Spenden und Wagners eigene Mittel zu versiegen drohen. Das 1845 erstmals angedachte Werk war zunächst als Satyrspiel zur Tann­ häuser-Tragödie intendiert, als heiteres, bürgerliches Gegenstück zum feudalen Sängerkrieg auf Wartburg. Aber erst 1861, als Wagner sich des alten Komödienplanes erinnert, wird ihm bewusst, dass in der Gestalt des historischen Schusterpoeten Hans Sachs (1494-1576) eine Maske bereitlag, die ihm all das auszusprechen gestattete, was künstlerisch, philosophisch und ideologisch in ihm gärte. Alles historische, gesellschaftliche und politische Geschehen erscheint in die Sphäre des Wahns entrückt. »Wahn! Wahn! Überall Wahn! Wohin ich forschend blick’, in Stadt- und Weltchronik, den Grund mir aufzufinden, warum gar bis aufs Blut die Leut’ sich quälen und schinden in unnütz toller Wut!« sinniert der alternde Witwer Sachs, in seiner Werkstatt über einen Folianten gebeugt. Die dargestellte frühbürgerliche Welt des Stadtstaates Nürnberg in der Reformationszeit wird entwirklicht, in dem sie als Fata Morgana illusionär vergegenwärtigt wird. Totalitär wird der Jubel der Massen, der dem Volkskünstler Sachs gilt, einerseits inszeniert und zugleich für nichtig erklärt. Denn erst die Entwertung der »Welt als Vorstellung« macht die Versöhnung des Künstlerideologen Wagner mit ihr möglich: Die eigene, in den Wirren der 48er Jahre angestrebte Veränderung der Welt ist gescheitert, weil sie – so vermeint Wagner seiner Schopenhauerlektüre entnehmen zu dürfen – scheitern musste. Über die »Welt als Wille«, den blinden Kampf der Egoismen vermag nur die Kunst sich verklärend zu erheben: Wagners Theaterkunst. Den sublimen Taschenspielertrick, dessen sich Wagner zur Apotheose seines Schaffens bedient, hat Paul Bekker 1924 treffend pointiert: »[Wagner] eignet sich eine Philosophie an, die das Täuschende des realen 101

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Erscheinungslebens lehrt, um auf Grund dieser Lehre für sein Theater die Glaubwürdigkeit der Wahrheit fordern zu können.« All die demagogischen Aspekte von Wagners Schaffen und nicht zuletzt seiner Musik, an denen sich seine bedeutendsten Interpreten immer wieder abgearbeitet haben, gipfeln in den Meistersingern in einer Proklamation »machtgeschützter Innerlichkeit«: »Zerging in Dunst das heil’ge röm’sche Reich, uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst.« Die Fundierung nationaler Identität im vermeintlich politik- und geschichtsfreien Raum der Kunst machte die Meistersinger für ihren Missbrauch möglicherweise noch anfälliger, als die sie begleitende chauvinistische Attacke auf alles als »unecht« und »welsch« Gebrandmarkte. Bei aller posierten Einsicht in die Hinfälligkeit alles Zeitlichen: Der Wahn nationalistischer Ideologien wurde von Wagner nicht durchschaut, sondern fatal bestätigt. Und die Widersprüche häufen sich. Wagners eigene Dramaturgie führt die behauptete Versöhnung von kultureller Tradition und Erneuerung ad absurdum. Wie stets bei Wagner entwertet die Vorentschiedenheit der Konflikte durch Polarisierung der Figuren in Sympathie- und AntipathieTräger seine Lösungsangebote. Nachdem die bürgerliche, zunftmäßig organisierte Gesangsübung der Meistersinger nach Shakespeares Modell der Handwerkerszenen im Sommernachtstraum parodiert und der amtierende Prüfungsvorsitzende oder »Merker«, der Stadtschreiber Beckmesser, als lächerlicher Kunstbürokrat zunächst vorgeführt und anschließend zusammengeschlagen wurde, soll sie im Finale als Garant national-kultureller Kontinuität herhalten. Sachs will durch die Hochzeit des genialischen Ritters von Stolzing mit der Goldschmiedstochter Eva ein Symbol der geglückten Verbindung von alt und neu ermöglichen, nein erzwingen. Denn die beiden jungen Leute wollen nichts anderes, als sich den gesellschaftlichen und ideologischen Zwängen ihrer Vätergeneration durch Flucht entziehen. ULRIKE KIENZLE

Es ist natürlich gut, dass Du als Theaterschaffender den Finger auf die Wunde legst, während es mir primär darum geht, Wagners Intentionen zu verstehen. Ich sehe also durchaus – produktiven – Diskussionsbedarf. So glaube ich nicht, dass alles historische und politische Geschehen von Wagner in die Sphäre des Wahns entrückt wird – umgekehrt ist der »Wahn«, d.h. das, was Schopenhauer als »Wille« definiert – eine metaphysische Gegebenheit, auf die der Mensch durch umsichtiges politisches Handeln reagieren muss. Tut er das nicht, versinkt die Welt – so wie wir es jetzt gerade in Russland und in der Ukraine sehen – in Machtgier, Gewalt und Zerstörung. Dieser »Wille« ist ein zerstörerisches, irrationales, triebhaftes Potenzial von ungeheurer Wucht. Die Begegnung mit Schopenhauers Philosophie war für Wagner die entscheidende Wende. Stellen wir uns vor: Nachdem er als linksradikaler Revolutionär die Welt unter Einsatz seines Lebens verändern wollte, hält ihm der große EIN SCHR IF T W ECHSEL VON U LR IK E K IENZLE U N D SERGIO MOR A BITO

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Weise, der nicht nur Kant und Hegel, sondern auch Buddha und die Upanishaden gelesen hat, die metaphysische Bedingtheit seines Tuns vor. Durch Schopenhauer kommt Wagner zum ersten Mal ernsthaft in Kontakt mit der Erkenntniskritik Immanuel Kants: Wir sehen die Welt immer nur so, wie unsere Sinne und unser Denkvermögen sie uns vorspiegeln. »Die Welt ist meine Vorstellung« – ein ungeheurer Satz! An Kants Diktum, das »Ding an sich« sei unerforschlich, sind bekanntlich einige Genies der romantischen Generation zugrunde gegangen, denken wir an Heinrich von Kleist. Schopenhauer löst das Problem so: Alles, was existiert, ist eine Emanation des unpersönlichen »Willens zum Dasein«, und der will nichts als leben, auch auf Kosten anderer seiner Hervorbringungen. So kommt das Leiden notwendig in die Welt. Und die Menschen erkennen es nicht einmal, dass Täter und Opfer in Wirklichkeit eins sind. Deshalb sitzt Hans Sachs im 3. Aufzug verzweifelt vor seiner »Stadt- und Weltchronik« (wahrscheinlich dachte er an die Schedel’sche Weltchronik, in der es eine tolle Darstellung der Stadt Nürnberg gibt) und rätselt darüber nach, wie wir aus diesem Widerspruch wieder herauskommen. Das ist natürlich ein Selbstporträt Wagners. Er suchte nach der Schopenhauer-Lektüre einen Ausweg aus dem Pessimismus Schopenhauers – und er sucht ihn nicht nur in der Kunst, sondern auch und gerade in der Politik! Natürlich brauchte er dazu einen Partner, und den glaubte er in Ludwig II. gefunden zu haben, weil der junge König eben kein kalter Politiker war wie alle anderen vorher. Also verstand er sich als eine Art »Prinzenerzieher«, der den Achtzehnjährigen beraten wollte. Dass Wagner sich in Ludwig getäuscht hatte, bezeugen nicht zuletzt einige höchst resignierte und bestürzte Äußerungen aus Wagners späterer Zeit, die Cosima aufgezeichnet hat. Wagner hat die ersten Pläne zu den Meistersingern in einer Zeit geschmiedet, als nach den Napoleonischen Befreiungskriegen die Hoffnung der Romantiker auf einen freiheitlichen, republikanischen deutschen Staat von Metternich mit Füßen getreten und das Ancien Régime wiederhergestellt wurde. Für die Generation der Romantiker war das die tiefste Enttäuschung, die sie sich vorstellen konnten. Viele Romantiker wurden aus Verzweiflung katholisch – Wagner dagegen ging auf die Barrikaden. Die Revolution von 1848/49 versprach eine Neuauflage dieser Hoffnungen, aber auch sie wurde brutal zerschlagen. Ist es da ein Wunder, wenn ein Mann, der kommunistische Ideen von der Abschaffung des Privateigentums und von der Kunst als Medium des freiheitlichen Diskurses pflegte, der seine lebenslange Stellung als Hofkapellmeister aufs Spiel setzte und für seine Ideale kämpfte, nun bitter bestraft im Zürcher Exil sitzt über den Sinn und Unsinn von Politik nachdenkt und in Schopenhauers Metaphysik eine Erklärung für das Scheitern findet? Das hat ihn vor den schwersten Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen gerettet und uns den Tristan geschenkt. Schopenhauers Erklärung hat etwas Unausweichliches: Die Welt 103

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wird von Egoismus und einem blind wütenden Triebwillen bestimmt, den Wagner »Wahn« nennt – der Begriff ist übrigens eine freie Übersetzung des indischen »maya« = Täuschung, den er aus den von Schopenhauer geschätzten vedischen Schriften herauslas. Dass er aber die Ausweglosigkeit der Schopenhauer’schen Philosophie nicht einfach hinnehmen will, sondern trotzdem wieder ein soziales, gesellschaftliches Leben ermöglichen will, spricht durchaus für ihn. Für ein solches Modell in der Vergangenheit kommen als Vorbilder nur die Freien Städte in Frage, die nicht von Herrschern korrumpiert und tyrannisch regiert wurden: Frankfurt zum Beispiel oder eben Nürnberg. Übrigens wollte er Ludwig II. dazu bewegen, seine Residenz nach Nürnberg zu verlegen. Liest man Schriften wie Deutsche Kunst und deutsche Politik oder Was ist deutsch, so müssen wir uns immer vor Augen halten, dass diese Schriften vor der Reichsgründung 1871 entstanden sind, zu einer Zeit, als Preußen die militärische Vormachtstellung im Deutschen Bund behaupten wollte. Deutschland war immer noch zerrissen in unzählige winzige Fürstentümer und alles andere als ein mächtiges Land. Der Begriff »deutsch« verweist nach Jacob Grimm auf das Wort »deutlich« und kam erst nach der Teilung des Reichs durch Karl den Großen auf. So zumindest schreibt Wagner in Was ist deutsch 1865. »Deutsch« kann also nur im Sinne einer »Kulturnation« gemeint sein: Menschen, die dieselbe Not empfinden (wie er in einer Revolutionsschrift verkündet hatte) und die dieselbe, verständliche Sprache sprechen. Vom Ideal der Demokratie nach dem Vorbild des alten Griechenland (allerdings ohne Sklavenhaltung, die er verabscheute) ist Wagner, trotz seiner Freundschaft mit Ludwig II., eigentlich nie wirklich abgerückt. In Wagners fiktivem Nürnberg spielt er die Möglichkeiten einer solchen Demokratie experimentell im Geiste durch, und das finde ich höchst spannend: Es gibt weder einen Kaiser noch einen Bürgermeister noch einen Priester, der hier etwas zu sagen hatte. Die Handwerker scheinen die Geschicke ihrer Stadt selbst zu lenken. Anhand der demokratischen Verfassung der Meistersinger mit Wahlen und Abstimmungen zeigt er Möglichkeiten und Gefährlichkeiten einer solchen demokratischen Ordnung auf, deren Funktionieren in der Praxis zur damaligen Zeit noch nirgends erprobt und bewährt war. Sehr hellsichtig hat er gesehen, dass selbst im »lieben Nürenberg« (das deshalb »lieb«, d.h. geschätzt ist, eben weil es sich auf das demokratische Abenteuer eingelassen hat) Gewalt und Triebimpulse des »Willens« (bei Wagner »Wahn« genannt) noch immer durchbrechen. Der kluge Politiker (Hans Sachs) versucht, ohne Gewalt auszukommen, weshalb Sachs ja auch die Flucht Walthers und Evas vereitelt und versucht, das System von innen heraus zu revolutionieren und zu stärken: ohne Regelüberschreitung, ohne Entführung, ohne Gewalt, dafür mit der integrativen Kraft der Kunst. Denn jede Gesellschaft braucht ein Selbstverständnis, und das sieht er in der Kunst. EIN SCHR IF T W ECHSEL VON U LR IK E K IENZLE U N D SERGIO MOR A BITO

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Leider funktioniert das nur bedingt. Beckmesser ist das Bauernopfer oder der Sündenbock (nach René Girard, Der Sündenbock: Einer muss ausgeschlossen werden, damit die anderen sich wieder vertragen). Ziemlich nüchtern ist das gedacht, finde ich, und sehr »realpolitisch«. Deshalb – und nur deshalb – bleibt am Schluss die Hoffnung, dass in der Kunst eine Utopie formuliert werden kann, an der man sich in solchen Krisenzeiten orientieren kann. Oder wie würdest Du die Rolle der Kunst gerade heute – Klimawandel, Corona, Ukrainekrieg – sonst definieren? Würdest Du sie abschaffen, nur weil sie keine friedliche Welt hervorbringen kann? Nein, die Kunst zeigt uns ein »Bildnis« (wie es im Kunstgespräch heißt), sie ist »Wahrtraumdeuterei« (ein wunderbares Wort), indem sie in der Freiheit des Gedankens eine Welt imaginiert, an deren Realisierung wir immer wieder arbeiten müssen, auch wenn wir Rückschläge erleben. Und dazu gehört auch, gewisse Regeln zu kennen und sich ihnen probehalber erst einmal zu fügen (wie Walther von Stolzing das lernt), sie aber in genau dem Augenblick zu überschreiten, wenn etwas Neues entstehen will (wie Sachs ihm das zugesteht). Im Kunstgespräch wird das Ideal der bürgerlichen Familie mit der Tabulatur des Meisterliedes in Parallele gesetzt. Die Kunst als Übung in gewaltfreier Kommunikation! Ich finde, das ist ein sehr moderner Gedanke. Die Bewegung der »Kreativtherapie« hat darin ihren Ursprung. So sehe ich das. Der Schlussgesang von Hans Sachs ist ein Appell, angesichts von drohenden Gewaltexzessen im Kleinen (Nürnberg) wie im Großen (Zerfall der politischen Ordnung) dennoch eine Utopie zu erschaffen, damit wir Menschen überhaupt weiterleben können und nach Möglichkeit an der Realisierung der Utopie arbeiten, ohne zu verzweifeln… Und das geht wiederum nur innerhalb eines gesteckten Horizonts, und den nennt Wagner die »deutsche Kunst«. Mit »welschem Tand« und dem Zerfall des Reiches ist natürlich der Dreißigjährige Krieg gemeint, auf den der historische Hans Sachs hier hellsichtig vorausweist. Wie wir alle wissen, hat dieser sinnlose Krieg nicht nur zu unfassbarem Elend, sondern auch zu einer totalen Entfremdung zwischen dem absolutistischen Herrscher ( jedem Duodezfürsten sein KleinVersailles auf Kosten der Bauern und kleinen Handwerker, und Friedrich der Große konnte sich zwar mit Voltaire toll auf Französisch unterhalten, aber er konnte keinen normalen Brief auf Deutsch schreiben, bei Wagner heißt das dann: »Kein Fürst dann mehr sein Volk versteht«) und den sogenannten »Untertanen« geführt (was für ein schreckliches Wort). Dem stellt Wagner die Idee entgegen, dass die Bürger selbstbewusst ihre Tradition weiterpflegen, so gut es eben geht, d.h. manchmal verschroben und spießig, aber immerhin frei, um sich nicht unterkriegen zu lassen. SERGIO MORABITO

Völlig richtig, aber eben doch nur die eine Seite der Medaille. Denn untrennbar davon ist das völkische Paradigma, das dieser Geschichtskonstruktion 105

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zugrunde liegt, nämlich die Abwertung und Abwehr jeglichen aufgeklärten staatlichen und gesellschaftlichen Denkens, das als Zivilisation die deutsche Kultur angeblich bedroht. Sachs singt in seiner »Habt Acht!«-Brandrede plötzlich wie Wotan. Ganz ähnlich wie das musikalische Säbelrasseln im ersten Lohengrin-Aufzug straft die Musik die angeblich defensive – hier: kulturelle – Selbstverteidigungs-Strategie Lügen. Und bereits der vorgeblich radikale Demokrat Wagner der Dresdner Zeit kam nicht ohne die Instanz des Königs aus. Seinen bayerischen Märchenprinzen sollte Wagner dann übrigens als »Ludwig der Deutsche« titulieren. ULRIKE KIENZLE

Wagner hat sich von der Rassentheorie Gobineaus, die ihn zunächst interessierte, mit Entschiedenheit wieder abgewandt. Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, sagt er einmal sehr euphemistisch. Der Idealismus, der Kant und Schiller, Beethoven und eben auch Wagner selbst beseelt, ist ein Ersatz für die fehlende politische Macht, die ja erst 1871 geschaffen wurde. Was dann im Bismarck-Staat geschah, hat Wagner zutiefst erschüttert und mit Widerwillen erfüllt: Militarisierung, Tierversuche, Industrialisierung, Ausbeutung des Proletariats… Dem setzt er dann seine von Schopenhauer und dem Buddhismus inspirierte Mitleidsethik entgegen, siehe Parsifal. SERGIO MORABITO

Ich denke, du hast gleich zu Beginn die Differenz benannt, die uns bewegt: Ich muss als Dramaturg und Regisseur die konzeptuellen Voraussetzungen für etwas schaffen, was jenseits der immanenten – tatsächlichen oder unterstellten – ästhetischen und philosophischen Wagner’schen Intentionen liegt, sonst kommt erfahrungsgemäß nur mehr oder weniger braves und bunt-dekoratives Bildungstheater heraus, im gediegensten Fall »Verflachung durch Tiefsinn«. Um mit Heiner Müller zu sprechen: Theater ist Konflikt und nichts anderes. Dass natürlich auch und gerade die Wagner’schen Intentionen nichts sind, was der Geschichte entzogen wäre, ist dir natürlich ebenso bewusst wie mir, und dass sie politisch gewirkt haben (und weiterwirken: aktuelles Beispiel die berüchtigten Wagner-Truppen, die ihren Namen der Vorliebe von »Putins Koch« für den Bayreuther Meister verdanken), liegt daran, dass in ihnen die Saat für historisches gesellschaftspolitisches Unheil heranreifte. Russlands Angriffskrieg, den du angesprochen hast, wird propagandistisch mit einem zu schützenden nationalkulturellen Paradigma begründet, das dem Wagner’schen keineswegs unverwandt ist. Das entbindet uns selbstverständlich nicht von der strengsten und verantwortungsvollsten Lektüre »sine ira et studio«, deren Kunst du so vorbildlich beherrschst.

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ULRIKE KIENZLE

An Wagner herumzukritisieren ist immer leicht. Ich will Wagner nicht verteidigen, sondern verstehen, und da bin ich – glaube ich – durchaus nicht harmoniebedürftig, sondern versuche zu differenzieren. Am leichtesten mit seiner Wagner-Kritik macht es sich übrigens Adorno… SERGIO MORABITO

Offenbar nehmen wir Adorno sehr unterschiedlich wahr. Ihm gelingt es doch, das Unbehagen an Wagners autoritärem Charakter in der Fiber des Komponierten selbst nachzuweisen und zu objektivieren, jenseits dem Wust von Wagners pseudophilosophischen Ergüssen und ohne dabei seine bahnbrechenden musikdramatischen und kompositorischen Errungenschaften zu negieren. ULRIKE KIENZLE

Seine These, dass Beckmesser eine Judenkarikatur sei, klingt zwar toll und macht viel Effekt, hat aber meines Erachtens keine Grundlage. Juden waren in Freien Reichsstädten in keinerlei Weise an der Verwaltung einer Stadt beteiligt. SERGIO MORABITO

Wagner wusste genau, warum er die antisemitische Blaupause, die er dem Beckmesser unterlegt, nicht explizit gemacht hat. Das hat mit seinem idealistischen Kunstbegriff zu tun, der alle soziale und geschichtliche Realität ins mythisch überhöhte Gleichnis verwandeln möchte. Dass er der Uraufführung der Meistersinger 1868 die Neuauflage seines Pamphlets Das Judentum in der Musik folgen ließ, ist kein Zufall. Jens Malte Fischer weist nach, dass zum Auslöser dieser Neuauflage Wagners Ärger über die – übrigens nach wie vor lesenswerte – Meistersinger-Rezension des von einer jüdischen Mutter geborenen Musikkritikers Eduard Hanslick war. Und wir alle wissen, dass Beckmesser ursprünglich »Hans Lich« heißen sollte. ULRIKE KIENZLE

Ich sehe Beckmesser als eine tragische Figur, die sich in einem unheilbaren Dilemma verstrickt: Er will Eva heiraten, ohne ein echter Liebhaber zu sein, und wie in einer Art von Schizophrenie und Verkennung der Realität (auch eine Form von »Wahn«) kann er dann nicht mehr zurück, bekommt vor lauter Stress einen »Tunnelblick« und macht dadurch auch für sich selbst alles kaputt. Johannes Martin Kränzle hat in der Bayreuther Inszenierung diese wachsende Angst und Verzweiflung großartig dargestellt, der Judenkarikatur bedarf es da nicht, auch wenn das In-die-Ecke-gedrängt-Werden natürlich ein soziales Phänomen ist, das den Juden angetan wurde – übrigens auch in den »Freien Städten«: Es gab zu Beginn der Neuzeit ein Judenpogrom seitens der kleinen Handwerker. Sie konnten während einer Wirtschaftskrise 107

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ihre Schulden nicht bezahlen, plünderten die Judengasse, bereicherten sich an ihrem Besitz und vertrieben die Juden aus der Stadt. Die Patrizier holten sie zurück, und der Kaiser stellte sie unter seinen besonderen Schutz. Eine Geschichte mit Happy End ist das natürlich auch nicht gewesen, wie wir seit 1933 wissen. Die Verprügelung Beckmessers ist ein Dumme-Jungen-Streich eines Puber­ tierenden (David), der überhaupt nicht weiß, wen er vor sich hat. Und in der Prügelszene schlagen alle gegenseitig aufeinander ein. Das hat nichts mit einem Judenpogrom zu tun, sondern mit der schlummernden Aggressivität, die in jedem steckt. Beckmessers Scheitern bei der Brautwerbung ist übrigens berechtigt: Sein Lied ist unglaublich toll, aber eben kein Wettgesang um eine Braut, sondern DADA, moderne Kunst, Experiment, das nicht geschätzt werden kann. Bei der Entfernung Beckmessers geht es meines Erachtens um Masse und Macht (Canetti) und um Das Heilige und die Gewalt (Girard) – die Ausstoßung des Sündenbocks, um die Gesellschaft zu stabilisieren. SERGIO MORABITO

Ja, das kann ich nur bestätigen. Es ist grandios, wie Beckmesser intuitiv seine Situation in Worte fasst, die einen viel modernen Kunstbegriff antizipieren und den du hier als DADA bezeichnest: Das Aufbrechen von syntaktischen Zusammenhängen zugunsten einer Sprache, in der die Not dieses Menschen zu einem verstörenden sprachlichen Ausdruck findet. Leider nur einen sprachlichen, denn kompositorisch lässt Wagner ihn mit den Floskeln seines Werbelieds aus dem 2. Aufzug (»Den Tag seh’ ich erscheinen«) verhungern. Und natürlich wird das »Unverständliche« ausgeschieden – nach Wagners Definition lautet die Bedeutung von Deutsch: »das was uns, den in uns verständlicher Sprache Redenden, heimisch ist«. Wie in späteren totalitären Systemen wird das nicht unmittelbar Verständliche, das gegen künstlerische Konventionen wahrhaft Rebellierende ridikülisiert und pathologisiert. Während das angeblich Revolutionäre (beide Gesänge Walthers) von vorneherein auf seine niedrigschwellige musikalische Mehrheitsfähigkeit hin erfunden ist. Ich würde sogar so weit gehen, in Beckmesser ein geheimes Selbstporträt seines Autors zu sehen, nicht unähnlich, wie ihm das auch bei Mime unterlaufen ist. Adorno hat darauf verwiesen: Wagner ist ganz ebenso wie Beckmesser ein Spezialist, Spezialist für Bühnenwirkung und Orchesterklang. Beckmesser glaubt, nur durch seine musikalische Expertise die Hand Evas gewinnen zu können – und Wagner war von seiner Werk-Idee besessen und hat ihr ebenfalls alles untergeordnet und dienstbar gemacht. Nicht zuletzt seine Beziehungen zu Frauen, die er als Katalysatoren für den jeweiligen Schaffensprozess benutzt. Beides sind darin zutiefst neurotische und gewiss auch tragische Figuren. EIN SCHR IF T W ECHSEL VON U LR IK E K IENZLE U N D SERGIO MOR A BITO

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Um der unguten Vermischung von großer Kunst mit kultischem Ritual bei Wagner beizukommen, ist es m. E. genau der falsche Weg, heute noch halbwegs vertretbar erscheinende »Botschaften« aus seinen Werken und Schriften herauslesen und -filtern zu wollen, über die die Kunst ja heute insgesamt nicht mehr verfügt. Der Weg der radikalen Hinterfragung und Dekonstruktion der Wagner’schen »Lösungsangebote« erscheint mir da deutlich gegenwartsnäher und zukunftshaltiger. ULRIKE KIENZLE

Darüber könnten wir noch lange diskutieren! Halten wir fest: Die Meistersin­ ger sind ein grandioses Experiment in der Verkleidung der Dürerzeit. Lassen wir uns nicht blenden: Das Stück ist modern und betrifft uns alle, gerade in der jetzigen Situation!

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Richard Wagner lässt Hans Sachs im Finale der Meistersinger Töne zur »heil’gen deutschen Kunst« anschlagen, die heute vielfach als nationalistisch empfunden werden. Sätze, die stets aufs Neue grobes Unbehagen hervorgerufen haben – und vom Volk in der Schlussszene übernommen werden: damit schließt die Oper. Für Regisseur Keith Warner ist in seiner Inszenierung auch deswegen die Frage der Verantwortlichkeit des schaffenden Künstlers zentral. Eine Fragestellung, die auch heute, im aktuellen Diskurs um Aussage und Aufgabe von Kunst, viele Diskutantinnen und Diskutanten spürbar umtreibt. Erst einmal angesprochen, tauchen eine Vielzahl von weiterführenden Momenten auf: Ist dem Künstler, der Künstlerin die Konsequenz all der Wirkung eines Werks zurechenbar? Müssen mögliche Interpretation bedacht werden? Hat eine Künstlerin, ein Künstler die moralische Verpflichtung, das Schaffen unter den Gesichtspunkt der größtmög­ lichen humanitären Aussage zu stellen? Und sind erfundene Charaktere die (un­ bewusste) Widerspiegelung des eigenen Ichs – und dementsprechend belastbar für eine Beurteilung? Ist Kunst dann gut, wenn sie »richtig« ist? Und muss eine Künst­ lerin, ein Künstler sich vorab Fragen nach der Wirkung eines Werkes stellen? In seiner Inszenierung lässt Warner Hans Sachs jedenfalls diese Verantwor­ tung erkennen und die von ihm gesprochenen Worte »deutsche Kunst« durch einen Stapel fremdsprachiger Bücher erweitern: um Kunst ganz allgemein geht es! In ihrem folgenden Essay, einem Originalbeitrag für dieses Programmbuch, stellt sich die Schriftstellerin Anna Kim genau dieser Fragestellung und gibt, gewissermaßen in einem Werkstattbericht, Einblick in ihre hochpersönliche Aus­ einandersetzung mit diesem Thema.


Anna Kim

REDE UND ANTWORT

Es war ein ungewöhnlich warmer Oktober-Nachmittag in Prishtina, nur eine Stunde zuvor war ich vom Flughafen abgeholt und durch die Innenstadt gefahren worden. Das Gedränge auf den Straßen hatte sich, wie ich bemerkte, verschlimmert, für eine Fahrt, für die man früher fünfzehn Minuten unterwegs war, brauchten wir fast eine Stunde – was meine Nervosität intensivierte: Vierzehn Jahre, nachdem mein Roman Die gefrorene Zeit erschienen war, sollte ich das erste Mal einem Publikum Rede und Antwort stehen, das die im Buch beschriebenen Ereignisse aus eigener Erfahrung kannte. Ich war besorgt; ich fragte mich, wie mein Buch, wie meine Worte verstanden würden. Ich hatte mich bei der Niederschrift um politische Neutralität bemüht, aber würde es das Publikum genauso sehen? Würde es meine Bemühungen verstehen? Das erste Mal war ich im Juni 2005 im Kosovo gewesen. Der Jugoslawienkrieg war seit sechs Jahren zu Ende, die Spannungen zwischen der Kosovoserbischen und albanischen Bevölkerung im Norden des damals noch nicht unabhängigen Landes allerdings nicht beigelegt; sie sind es heute, 2022, noch 111

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← Georg Zeppenfeld als Veit Pogner und Hanna-Elisabeth Müller als Eva

immer nicht. Auf den Straßen waren hauptsächlich die weißen Limousinen der UN zu sehen sowie die braungrünen KFOR-Jeeps, die besser in diese Land­ schaft aus Brauntönen passte: Alles schien staubbraun oder schlammig-grau, selbst das bisschen Gras auf den schmalen Wiesenstreifen im Stadtzentrum. In solch einer farblich tristen Umgebung stach das Weiß-Blau der Vereinten Nationen besonders hervor – ihre mehrstöckigen Gebäude mit Portier-Häuschen und Stacheldrahtzaun strahlten geradezu. Meine Recherchen führten mich auf das UN-Gelände, wo das forensische Team der Vereinten Nationen stationiert war; ich hatte angefragt, ob ich es bei der Arbeit beobachten dürfe, und meine Anfrage war freundlich aufgenommen worden. An dem Nachmittag war ich bei einer survey dabei: Der forensische Anthropologe, Archäologe und zwei Militärpolizisten, ausgestattet mit schriftlichen Zeugenaussagen, inspizierten einen Ort nicht unweit von Prishtina, um darüber zu entscheiden, ob an dieser oder einer anderen Stelle gegraben werden sollte. In den folgenden Tagen war ich bei Obduktionen dabei, bei weiteren Geländeerkundungen, interviewte den Pathologen und die Anthropologinnen und Anthropologen; ich hatte mir vorgenommen, die Geschichte eines Kosovo-Albaners zu erzählen, der auf der Suche nach seiner im Krieg verschleppten Frau mit einem langwierigen und mühevollen Identifikationsprozess konfrontiert wird; schließlich bringt die Suche zutage, dass sie ermordet und in einem Massengrab verscharrt wurde. Ich hatte nicht viel, aber doch einiges über diesen Prozess gelesen, der in den meisten Fällen etliche Jahre dauerte, DNS-Untersuchungen beinhaltete, doch in vielen Fällen nie abgeschlossen werden konnte. Bei den Ante-Mortem-Daten-Interviews in Wien war ich dabei gewesen. Ich hatte beobachtet, wie die befragten Menschen um Antworten rangen, wie wichtig es ihnen war, Auskunft zu geben; jede Kleinigkeit, und sei sie auch noch so unwichtig, konnte dabei helfen, die vermisste Person zu finden. Es dauerte vier bis fünf Stunden, bis der Fragebogen ausgefüllt war. In der Mitte des Tisches befanden sich neben einem Teller Kekse und einem Krug Wasser ein Plan Kosovos und eine Box Taschentücher. Während mir gegenüber verzweifelt in der Erinnerung gesucht wurde, schrieb ich mit: Ich notierte jedes Wort. Ich hatte mir vorgenommen, für diesen Roman nichts zu erfinden, alles sollte auf Recherchen beruhen, absolut alles. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich die UN-Berichte über die Gräueltaten im Jugoslawienkrieg las, ob ich sie vor meiner Reise in den Kosovo las oder danach. Ich weiß nur noch, dass sich jedes Wort in mein Gedächtnis brannte, jeder Satz. Und an noch eines erinnere ich mich: Dass es mir mit der Zeit nicht mehr möglich war, die Täter zu unterscheiden. Die Taten glichen einander, in ihrer extremen Grausamkeit, in ihrer Verachtung dem gegenüber, was wir »menschlich« nennen. Dabei waren die Berichte recherchiert und geschrieben worden, um die Täterschaft eindeutig festzustellen und festzuhalten. Sie sollten die Grundlage für die Anklage in Den

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Haag bilden. Mein Lese-Eindruck bestärkte mich in meinem Vorhaben, nur ja keine Schuld zuzuweisen. Ich wollte von den Vorkommnissen berichten, jedoch auf keinen Fall selbst richten, dazu hatte ich kein Recht; es war das Recht der Opfer, meine Aufgabe war, ihre Geschichte zu erzählen. Ich war mir darüber im Klaren, dass ich weder objektiv noch neutral oder unparteiisch sein konnte. Dadurch, dass ich einen Kosovo-Albaner in den Mittelpunkt meines Romans gestellt hatte, hatte ich bereits Partei ergriffen. Die Parteinahme bereitete mir Kopfzerbrechen, ich versuchte, eine andere Lösung zu finden, fand aber keine; bei einem Essay wäre es vielleicht möglich gewesen, bei einem Roman nicht. Die Stärke des Romans liegt darin, dass sie zwar in einer Chronologie feststeckt, dafür lassen sich komplexe Zusammenhänge darstellen, vor allem aber auch Widersprüche, Mehrdeutiges, Vieldeutiges. Diese Komplexität kommt natürlich auch dadurch zustande, dass ich als Autorin auf die Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser zählen kann: Ich kann mich darauf verlassen, dass meine Worte ergänzt werden. Ich bemühte mich daher um Ausgewogenheit. Durch meine Gespräche mit den UN-Forensikerinnen und -Forensikern in Prishtina – im Grunde waren das keine Gespräche, sondern Trinkgelage, die von war stories unterbrochen wurden, bei denen die Rednerinnen und Redner versuchten, einander an sensationellen Details zu übertreffen –, hatte ich von Kosovo-Serbinnen und – Serben gehört, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihre albanischen Mitmenschen gerettet hatten; zudem wusste ich, dass das Kriegsverbrechertribunal gegen einzelne Mitglieder der UÇK ermittelte. All diese Dissonanzen baute ich in die Geschichte ein, in der Hoffnung, die Leserinnen und Leser zum Innehalten, Nachfragen zu bewegen und das vermeintlich eindeutige Bild um andere Facetten zu ergänzen. Mehr war aus meiner Sicht nicht möglich und auch nicht nötig – mein Interesse galt nicht den politischen Entwicklungen, Verwicklungen, die zum Krieg führten, sondern dem Vorgang des Trauerns, oder genauer gesagt der Frage: Was passiert, wenn man nicht trauern kann? Was passiert, wenn man nicht weiß, was dem Vater, dem Bruder, dem Onkel zugestoßen ist? Der Jugoslawienkrieg hinterließ ein Massentrauma, auch, weil der Aggressor bewusst das Verschleppen als Kriegstaktik eingesetzt hatte: Wenn ein Familienmitglied vor den Augen der Familie »verhaftet« wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die verbliebenen Mitglieder fluchtartig das Haus verlassen, sehr groß. Mir ging es um das Trauma, das bleibt, wenn man dem Ungewissen über einen Zeitraum von sechs, sieben Jahren (oder länger) ausgesetzt war. Ich wollte in meinem Roman beschreiben, wie das Trauern, das niemals einsetzen konnte, die Gegenwart behindert, die Zukunft verhindert, kurz: Mir ging es um den individuellen Schmerz, nicht die (allgemeine) Politik. Vierzehn Jahre später fand ich mich im Architekturzentrum der Universität Prishtina wieder; in all den Jahren zuvor hatte ich keine Einladung in den Kosovo erhalten. Ein kosovarischer Fernsehsender hatte einen Kameramann A N NA K IM

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geschickt, der die gesamte Veranstaltung aufzeichnete. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. Ich begann die Lesung; ich lese grundsätzlich immer den Anfang eines Buches, hauptsächlich deshalb, weil ich so wenig wie möglich erklären möchte. Es widerstrebt mir, meine Romane zu erklären, denn jede Erklärung läuft auf eine Interpretation hinaus, und das Interpretieren ist meiner Ansicht nach die Aufgabe der Leserinnen und Leser. Tatsächlich bemühe ich mich in meinen Romanen um Konstruktionen bzw. Erzähl-Konstellationen, die es erlauben, das Erzählte auf viele verschiedene Arten zu verstehen. Es ist mir wichtig, gerade die Freiheit im Denken (denn was ist Lesen anderes als ein Miteinander-Denken) zu bewahren. Nach der Lesung war es totenstill. Die Moderatorin musste eingreifen und mir eine Frage stellen, um dem Publikum, das hauptsächlich aus Studierenden der Germanistik bestand, Mut zu machen. Sie fragte mich nach meiner Recherche, ich berichtete vom Office of Missing Persons and Forensics der Vereinten Nationen. Kaum hatte ich meinen Bericht abgeschlossen, als ich einen Arm erblickte, das dazugehörige Gesicht konnte ich aufgrund der vielen Menschen nicht sehen. Warum der Entführer in der Stelle, die ich vorgelesen hatte, Albanisch gesprochen hätte, wurde ich gefragt. Warum Albanisch, warum nicht Serbisch? Ich erwiderte, ich hätte damals bei der Zeugenaussage mitgeschrieben und sie nicht verändert. Zudem sei die UÇK laut Berichten von Überlebenden auch in Entführungen involviert gewesen. Aber, ließ die Stimme nicht locker, es sei die Rede von blonden Haaren, das deute ihrer Meinung nach auf einen Serben hin. Oder, wurde sie unterbrochen, einen Kroaten? Montenegriner? Mazedonier? So wurde spekuliert, und mein Hinweis, dass das Entführen eine Kriegstaktik war, um Gerüchte dieser Art zu verbreiten, nicht gehört. Ich wurde noch vom Publikum gefragt, wann ich mit dem Schreiben begonnen hätte und warum; wie der Schreibprozess abläuft etc. Dann waren zwei Stunden vorüber, und ich war froh, als die Moderatorin die abschließende Frage stellte, die sich wie immer auf einen neuen Roman bezog. Während ich den alten in den Rucksack packte, stellte ich fest, dass meine Hände leicht zitterten. In dem Moment hörte ich sie wieder, die Stimme von vorher: Sie gehörte zwei jungen Studentinnen. Sie bedankten sich dafür, dass ich mich der Geschichte Kosovos angenommen hätte. Dann sagten sie, ich müsse verstehen, ich müsse bitte verstehen, sie hätten diese Frage gestellt, weil die Frage der Schuld noch immer nicht eindeutig geklärt sei. Serbien, sagten sie und holten tief Luft, Serbien sei für den Krieg verantwortlich, doch Serbien akzeptiere dies nicht. Es sei wichtig für sie, dass sich Serbien schuldig bekenne, die UÇK habe für die Befreiung der Albaner gekämpft, ihre Väter hätten für die Befreiung der Albaner gekämpft, als Mitglieder der UÇK. Und mein Vater, hier wurde die Stimme der einen Studentin leiser, war ein guter Mensch.

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Impressum

Richard Wagner DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG Spielzeit 2022/23 Premiere der Produktion: 4. Dezember 2022 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Barry Millington: Gilt’s hier der Kunst? (Übersetzung: Andrew Smith transtext) – Keith Warner im Gespräch mit Oliver Láng: Sachs im Traumspiegel – Katharina Kastening: Keith Warner als Regisseur (Übersetzung: Andrew Smith transtext) – Philippe Jordan: Das Mysterium des Schaffenprozesses – Matthias Schmidt: Das Ständchen als »jüdischer Tempelgesang« – Richard Schuberth: Von Nationen, Völkern und anderen Palatschinken – Anna Kim: Rede und Antwort ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Handlung, in: Die Meistersinger von Nürnberg-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1975 (leicht überarbeitet) – Alexandra Steiner-Strauss: Gegen Sachs halten Sie Ihr Herz fest, in: Die Meistersinger von Nürnberg-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2012 – Ulrike Kienzle: Nürnberg als Wille und Vorstellung, in: … dass wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 173-188 (gekürzt) – Ulrike Kienzle: Das Schusterlied, in: … dass wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musik­ dramen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 173-188 – Wolf Rosenberg: Versuch über den Meistersinger-Humor, in: Die Meistersinger von Nürnberg-Programmheft der Wiener Staatsoper, 1975 – Schriftwechsel von Sergio Morabito & Ulrike Kienzle: »Wahrtraumdeuterei«, in: Die Meistersinger von Nürnberg-Programmheft, Deutsche Oper Berlin, 2022 – Paula M. Bortnichak & Edward A. Bortnichak: Traumarbeit: Die innere Welt der Meister­singer (Übersetzung: Andrew Smith transtext), in: The Wagner Journal, März 2021 (gekürzt)

BILDNACHWEISE Coverbild: CRACKED EGG © Annika Lischke, Fotografie Jens Bösenberg Szenenbilder Seite 2, 3, 11, 18, 19, 25, 49, 56, 57, 62, 66, 67, 75, 80, 81, 88, 112, 117: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH akg-images: Seite 38, 43, 97 Bregenzer Festspiele/Monika Forster: Seite 28 Österreichische Nationalbibliothek/ABO Projektes Google: Seite 41 Klavierauszug Die Meistersinger von Nürnberg von Karl Klindworth, Mainz u.a.: Schott, o.J.: Seite 53 Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.

→ Michael Laurenz als David und Christina Bock als Magdalene



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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


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Foto: Bill Lorenz

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