Programmheft »Fin de partie«

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GYÖRGY KURTÁG

FIN DE PARTIE


INHALT

s. 4 DIE HANDLUNG s. 10 ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH s. 12 SINGEN IST VERMITTELN GYÖRGY KURTÁG IN KONVERSATION s. 16 DER FEINE KLANG DER IDEEN SIMONE YOUNG s. 23 WIR GEHEN HERUM, ALS HÄTTE ES EINE BEDEUTUNG HERBERT FRITSCH IM GESPRÄCH s. 30 WARTEND, ERSCHÖPFT UND RESILIENT THOMAS MACHO s. 40 »SAG DEINEN SCHAUSPIELERN NICHTS DAVON!« ALAN SCHNEIDER UND SAMUEL BECKETT IM BRIEFWECHSEL, TEIL 1 s. 46 SCHRITTE. ENDEN. ZU GYÖRGY KURTÁGS FIN DE PARTIE, SCÉNES ET MONOLOGUES ROLAND MOSER

s. 58 GYÖRGY KURTÁG: LEBENSLAUF BÁLINT ANDRÁS VARGA s. 62 HAMM MARIE LUISE KASCHNITZ s. 66 »SUCH NICHT ÜBERALL TIEFERE GRÜNDE« ALAN SCHNEIDER UND SAMUEL BECKETT IM BRIEFWECHSEL, TEIL 2 s. 72 ZWEI TEXTE UM NICHTS SAMUEL BECKETT s. 78 DIE UNMÖGLICHKEIT EINES UNENTSCHIEDEN NIKOLAUS STENITZER s. 86 SCHLUSS JETZT SAMUEL BECKETT s. 96 IMPRESSUM


Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir. Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende. C L OV, 3 . S Z E N E


GYÖRGY KURTÁG SAMUEL BECKETT:

FIN DE PARTIE SCÈNES ET MONOLOGUES

Text SAMUEL BECKETT OPER in einem Akt ORCHESTERBESETZUNG Piccolo / 2 Flöten / Altflöte Bassflöte / 2 Oboen / Englischhorn 2 Klarinetten in B (beide auch Klarinette Es) Bassklarinette in B / 2 Fagotte Kontrafagott / 2 Hörner in F 2 Trompeten in C (beide auch Flügelhorn in B) 2 Posaunen / Tuba / Pauken / Schlagwerk (Vibraphon, Xylophon, kleine Trommel, / 3 Bongos, 3 Tomtoms, Taburin, große Trommel, Steel Drum, 3 hängende Becken, Handzimbeln, Tamtam, Maracas, Flexaton, Ratsche, 2 Triangeln, Peitsche, 3 chinesische Gongs, Gong in F und in H, Glocken in A und Gis, Tempelblock, Holzblock, Marimba) Cimbalom / Harfe / Celesta / Pianino / Klavier 2 Bajans / 10 Violinen / 8 Violen / 8 Violoncelli 6 Kontrabässe (1–3 5-saitig)

AUTOGRAPH Paul Sacher Stiftung, Basel URAUFFÜHRUNG 15. November 2018 Teatro alla Scala, Mailand ÖSTERREICHISCHE ERSTAUFFÜHRUNG 16. Oktober 2024 Wiener Staatsoper SPIELDAUER

1 H 45 MIN

KEINE PAUSE




DIE HANDLUNG 1. PROLOG: ROUNDELAY Nell singt ein Gedicht von Schritten am Strand am Ende des Tages.

2. PANTOMIME DES CLOV Hamm in seinem Rollfauteuil ist mit einem Laken bedeckt. Ebenso zwei Mülltonnen, die in einem leeren Raum stehen. Clov durchmisst den Raum. Er holt eine Leiter, um aus den Fenstern sehen zu können. Er sieht auch unter Hamms Laken, er lacht. Schließlich zieht er das Laken von Hamms Fauteuil. Hamms Gesicht ist mit einem Taschentuch bedeckt.

3. ERSTER MONOLOG DES CLOV Clov sinniert über das Ende. Er bringt ein Gleichnis ins Spiel: Legt man immer ein Körnchen zum anderen, ist eines Tages ein Haufen entstanden – »der unmögliche Haufen«. Er will in seine Küche mit den »hübschen Dimensionen« gehen – drei Meter mal drei Meter mal drei Meter – und dort warten, bis Hamm pfeift.

4. ERSTER MONOLOG DES HAMM Hamm erwacht gähnend: Nun sei es an ihm zu spielen. Hamm sinniert über den Umfang seines Leidens im Verhältnis zu anderen Leiden. Hamm äußert die Notwendigkeit eines Endes »auch in diesem Unterschlupf« und beschäftigt sich mit seinem eigenen Zögern, zu enden. Endlich beschließt er, sich lieber schlafen zu legen, und bläst auf seiner Trillerpfeife. Clov, der auf das Pfeifen hereinkommt, weigert sich, ihn zum Schlafen fertigzumachen: Er habe ihn gerade aufstehen lassen und habe zu tun.

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DIE HANDLUNG

5. MÜLLEIMER Der Deckel der einen Mülltonne öffnet sich, und Nagg kommt zum Vorschein. Er klopft auf den Deckel der anderen, und Nell schaut heraus. Auf Naggs Wunsch versuchen die beiden erfolglos, sich zu küssen. Diese sich täglich wiederholende »Komödie« geht Nell gegen den Strich. Nagg hat einen Zahn verloren. Die beiden überprüfen ihre Sinne: Ihr Sehvermögen hat gelitten, ihr Gehör dagegen nicht. Nagg erinnert an den Tandemunfall in den Ardennen, bei dem die beiden ihre Beine verloren haben. Sie amüsieren sich köstlich. Hamm beschwert sich über den Lärm der beiden, der ihn vom Schlafen abhält. Er beklagt auch ein Tropfen in seinem Kopf, »wie ein Herz«, wie er sagt. Das amüsiert Nagg, der von Nell zurechtgewiesen wird: Es sei zwar nichts komischer als das Unglück, aber über einen Witz, der zu oft erzählt werde, lache man nicht mehr. Nagg erzählt den Witz vom Schneider, der Hose und der Erschaffung der Welt. Während er sich köstlich über die Pointe amüsiert, ist Nell in einer Erinnerung an den Comer See verfangen, wo die beiden sich verlobt hatten. Auf Zurechtweisung Hamms verschwindet Nagg in seinem Eimer. Hamm ruft Clov, der die beiden »ins Meer werfen« soll. Clov nimmt Nells Arm und stellt fest, sie habe keinen Puls mehr.

6. ROMAN Nun will Hamm seine Geschichte erzählen. Er verspricht Nagg ein Dragee, damit er ihm zuhört. Die Geschichte handelt von einem Mann, der in der Christnacht auf dem Bauch kriechend aufgetaucht sei, um Nahrung für sein Kind oder eine eventuelle Aufnahme bei Hamm zu erbitten. Hamm ist unzufrieden mit seiner eigenen Erzählung. Die Geschichte würde das Einführen weiterer Personen erfordern. Er pfeift nach Clov, der erklärt, in der Küche eine Ratte angetroffen zu haben. Deren Ausrottung sei durch Hamms Pfeifen unterbrochen worden. Hamm ruft zum Gebet, doch ihm, Nagg und Clov misslingt die Andacht. Die Existenz Gottes wird zur Disposition gestellt. Als Nagg seinen Lohn für sein Zuhören einfordert, eröffnet ihm Hamm, dass es keine Dragees mehr gäbe.

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DIE HANDLUNG

7. MONOLOG DES NAGG Nagg vergleicht die aktuelle Situation mit der Zeit, als Hamm ein Kind war und nachts nach ihm rief. Er wünscht sich, dass irgendwann wieder eine Situation eintritt, in der er Hamms einzige Hoffnung ist.

8. VORLETZTER MONOLOG DES HAMM Hamm bringt seine Traurigkeit zum Ausdruck. Er denkt an all jene, die aus allen Ecken gekrochen seien und denen er hätte helfen und die er hätte retten können. Dann aber erinnert er daran, dass man auf der Erde sei, dagegen gäbe es kein Mittel. Er wägt seine Möglichkeiten ab und reflektiert das Ende, das schon im Anfang sei. Er variiert das Gleichnis von den Körnchen und dem Haufen: Das ganze Leben warte man, dass ein Leben daraus werde. Er pfeift nach Clov.

9. DIALOG ZWISCHEN HAMM UND CLOV Hamm und Clov sprechen über ihre wechselseitige Abhängigkeit. Die Ratte in der Küche sei entkommen, sagt Clov. Hamms wiederholt gestellte Frage, ob es nicht Zeit für sein Beruhigungsmittel sei, beantwortet Clov endlich positiv. Es sei aber kein Beruhigungsmittel mehr da und werde auch nie mehr welches geben.

10. »ES IST ZU ENDE, CLOV« UND VAUDEVILLE DES CLOV Es sei zu Ende, erklärt Hamm: Er brauche Clov nicht mehr. Clov soll ihm nur den Bootshaken lassen. Bevor Clov ihn verlasse, bittet er ihn noch um ein paar Worte »aus seinem Herzen«. Clov singt ihm ein Vaudeville.

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DIE HANDLUNG

11. LETZTER MONOLOG DES CLOV Clov sinniert über die Ordnung der Dinge und das Verhältnis von Leiden und Strafe, von Verfügbarkeit und Freiheit. Seine Gewohnheiten nicht ändern zu können bedeute, dass »es« auch nie enden und er nie gehen werde. Er stellt sich ein Ende vor, das sich von selbst ereignet. Wenn er falle, werde er weinen vor Glück.

12. ÜBERGANG ZUM FINALE Förmlich bedanken sich Clov und Hamm beieinander. Hamm bittet Clov, ihn noch mit dem Tuch zu bedecken, bevor er geht, aber Clov ist schon fort.

13. LETZTER MONOLOG DES HAMM Während Hamm versucht, sich mithilfe des Bootshakens fortzubewegen, kommt Clov in Reisekleidung wieder herein. Hamm bemerkt ihn nicht. Hamm will sich dem seit jeher verlorenen Endspiel widmen, er will nicht mehr verlieren. Noch einmal kommt er auf seine Geschichte zurück: Jenen Mann, der seinen kleinen Sohn bei sich behalten wollte, habe er daran erinnert, was die Erde jetzt sei. Und ihm damit seine Verantwortung vor Augen geführt.

ENDE DES ROMANS Hamm pfeift noch einmal, ruft nach seinem Vater. Dann wirft er seine Pfeife von sich, und auch den Stoffhund, den er zuletzt liebkost hat, und faltet sein Taschentuch auseinander.

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Folgende Seiten: PHILIPPE SLY als HAMM




ÜBER DIESES PROGRAMM- BUCH »A moi de jouer«, singt Hamm in seinem ersten und in seinem letzten Monolog in Fin de partie, György Kurtágs erster Oper. »Jetzt spiele ich«, oder auch einfach: »Ich bin dran.« 2010 war es für Kurtág an der Zeit, sich erstmals an die Komposition eines dezidierten Musiktheaterwerks zu machen. Der Schritt ereignete sich spät und scheint dabei nur konsequent im Werk des 1926 geborenen ungarischen Komponisten. Kurtágs Werkkatalog enthält sowohl eine Fülle an bemerkenswerten Vokalkompositionen, darunter Vertonungen von Gedichten Anna Achmatowas, Friedrich Hölderlins oder Rimma Dalos’, für Solostimme ebenso wie für Chor und Vokalzyklen wie die bereits legendären Kaf ka-Fragmente (1985–87). Kurtágs Denken und Werk haben sich immer wieder mit dem des irischen Literaturnobelpreisträgers Samuel Beckett berührt. Die Kompositionen Samuel Beckett: What is the word (in zwei Fassungen 1990/1991) und Pas á Pas – Nulle Part … – poèmes de Samuel Beckett (1993–1998, überarbeitet 2007–2008) sind aus dieser Auseinandersetzung entstanden. Die Expressivität der Stimmen sowie die Verteilung der Musikerinnen und Musiker im Raum in der zweiten Fassung von What is the word – eine von Kurtág

häufiger eingesetzte Praxis – erweisen die Signifikanz des performativen Elements im vielfältigen Werk dieses Komponisten. In Fin de partie, der Oper nach dem Schauspiel, mit dem sich György Kurtág seit 1957 beschäftigt, kommt sie in Gestalt höchster musikalischer Theatralität zum Vorschein. Für dieses Programmbuch hat der Komponist schriftlich Auskunft zu Fragen über seine Arbeitsweise, den vorläufigen Charakter seiner Partitur und zukünftige Projekte gegeben (S. 12). Der Komponist Roland Moser ist mit György Kurtág seit vielen Jahren verbunden. Sein Aufsatz (ab S. 46), der ursprünglich nach einem Probenbesuch im Budapest Music Center entstand und für die Zeitschrift Musik-Konzepte stark erweitert wurde, widmet sich exklusiv Kurtágs Fin de partie und macht die Oper in eindringlicher Weise zugänglich. Für dieses Programmbuch wurde der Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Autor gekürzt und von diesem mit einem neuen Schluss versehen. »Eine Musik, die in den Schatten lebt«, nennt Premierendirigentin Simone Young György Kurtágs Kompositionen. Für die Dirigentin hat Kurtág Becketts Theater schlicht ideal in Musik gesetzt. Sie weist auf

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

Besonderheiten in Par titur und Orches­t rierung hin und bewundert dabei unter anderem den musikalischen Humor des ungarischen Meisters (ab S. 16). Über das Lachen in Becketts und Kurtágs Werk schreibt auch Thomas Macho in seinem Essay ab Seite 30. Der Kulturwissenschaftler gelangt anhand der Begriffe »Wartend«, »Erschöpft« und »Resilient« von der Frage nach einem möglichen Blick auf Becketts und Kurtágs Fin de partie heute über eine bemerkenswerte Reihe von Lektüren zu Günther Anders – und dem Trost. Regisseur Herbert Fritsch nähert sich Texten wie Gesten und Gesten wie Musik. Im Interview spricht er über den Wert der Unwissenheit, das Rätsel der Probe und das Wesen des Menschen: »Eine Behauptung« (ab S. 23). Nur im Deutschen bedeutet »Endspiel« auch ein sportliches Entscheidungsspiel. »Fin de partie« und »End­game« dagegen sind exklusive Bezeichnungen für die letzte Phase eines Schachspiels. Nikolaus Stenitzer schreibt in seinem Beitrag (ab S. 78) über Spielarten von Samuel Becketts Schachmetapher und die schwierige Lage, in die er seine Figuren gebracht hat.

Samuel Becketts Werk ist philosophische Literatur, die sich in der Lektüre, in der Aufführung eröffnet. Es ist kein Zufall, dass der Autor am liebsten gar keine erläuternden Worte über sein Werk verlor: Es sollte in der vorliegenden Form gelesen und gesehen, nicht im Nachhinein erklärt werden. Dieses Programmbuch enthält drei Prosatexte Becketts, die entscheidende Themenkomplexe im Werk des Nobelpreis­trägers berühren, formale wie inhalt­l iche: Sein, Nichts, Wiederholung (Seite 72 und S. 86). Von den zahlreichen Auseinandersetzungen anderer Künstlerinnen und Künstler mit Becketts Werk gibt dieses Programmbuch einen Ausschnitt aus einem Aufsatz Marie Luise Kaschnitz’ wieder, in der die Autorin eine auch für die Neuproduktion von Fin de partie interessante Lesart der Figur des Hamm anbietet (S. 62). Der Briefwechsel zwischen Samuel Beckett und dem Regisseur Alan Schneider schließlich (S. 40 und S. 66) zeigt in teils höchst amüsanter Weise die Herausforderungen, die die Arbeit mit Becketts Text zu allen Zeiten mit sich brachte.

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NIKOLAUS STENITZER IN KONVERSATION MIT GYÖRGY KURTÁG

SINGEN IST VERMITTELN nis Becketts Fin de partie, das Schau­spiel, das zur Vorlage Ihrer Oper wurde, gilt als einer der Texte, die für Sie persönlich am wichtigsten sind. Können Sie die erste Begegnung mit dem Werk beschreiben? gk Ich habe das Stück zum ersten Mal 1957 in Paris gesehen, als mein Freund, der Philosoph und Ästhet Róbert Klein, mich in die Vorstellung mitnahm. Ich hatte durch György Ligeti schon vorher von Beckett gehört. Er sagte mir, dass En attendant Godot ein brillantes Stück sei, das ich unbedingt sehen müsse, wenn es zufällig gespielt würde. Ich muss zugeben, dass ich von der Fin de partie-Aufführung in Paris nichts ver­ standen habe, weil meine Französischkenntnisse damals dafür nicht ausreichten. Aber das Stück hatte trotzdem eine starke Wirkung auf mich, sodass ich mir sofort beide Stücke gekauft habe. Und seither auch alle anderen Werke Becketts auf Französisch, Englisch und Ungarisch. nis Über sein Stück Nicht Ich (UA 1972) hat Beckett einmal gesagt, er hoffe, dass es »das Publikum an den Nerven packt, nicht am

Verstand«. Generell war Beckett bekannt für seine kategorische Weigerung, bei der Interpretation seiner Werke zu helfen oder diese gar zu erklären. Als »Theater des Absurden« kann Fin de partie dem Zitat zu Nicht Ich entsprechend affektiv rezipiert werden, »mit den Nerven«; natürlich wird der Text aber auch immer wieder neu gedeutet. Verraten Sie ihre eigene Deutung von Fin de partie? Oder würden Sie auch sagen, dass wir das Werk nicht deutend, sondern affizierend erleben sollen? gk Vergessen wir, dass Becketts Theater absurd ist! Das ganze menschliche Leben steckt in seinen Werken. Nichts in Fin de partie ist absurd. Als ich Musik zu Becketts Texten schrieb, war es für mich immer das Wichtigste, dass der Text und die Musik gleichwertig sind. So wie in L’incoronazione di Poppea oder in Otello und Falstaff. nis Die einzige wirklich große Veränderung, die Sie gegenüber Becketts Schauspiel vorgenommen haben, ist die Hinzufügung eines Prologs: Becketts Gedicht

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SINGEN IST VERMITTELN

Roundelay wird von der Darstellerin der Nell intoniert, ehe die Handlung beginnt. Was steckt hinter diesem Prolog? Und was bedeutet Ihnen Roundelay? gk Die Form von Roundelay entspricht der des Theaterstücks und umkreist das gewählte Thema der Annahme des nahenden Todes, genauso wie Becketts Stück, das die Geschichte eher kreisförmig als linear erzählt. In Clovs erstem Einsatz mit dem Satz »Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peutêtre finir...« wird die ganze Geschichte erzählt. Aus diesem Satz ist das ganze Stück von Beckett geboren worden. nis Beckett sagte einmal, sein Lieblingssatz aus Fin de partie sei Hamms Reaktion auf Clovs Beobachtung, dass Nagg weint: »Also lebt er.« Welchen Satz aus dem Stück finden Sie besonders eindrucksvoll? Welcher war für Ihre Komposition wichtig? gk Der eben zitierte Satz ist der für mich wichtigste: »Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir.« nis Es gibt eine Erzählung von Ihnen über Ihr Komponieren, die sehr wichtig erscheint. Die Psychologin Marianne Stein, die für Sie eine sehr wichtige Beraterin geworden ist, habe Ihnen geraten, zunächst einmal »zwei Töne miteinander zu verbinden«, also bei einem isolierten kompositorischen Problem zu beginnen. Das sei für Sie entscheidend gewesen, um Ihre Form zu finden. Würden Sie sagen, dass das weiterhin gültig ist? gk Marianne Stein hatte dieses Verbinden zweier Töne nur als eine Übung für mich gedacht, aber für mich wurde es eine kompositorische Idee.

Im Grunde sind meine Formen daraus geboren worden, zuallererst in den Nyolc zongoradarab [Acht Klavierstücken, 1960], an denen ich zum größten Teil schon in Paris gearbeitet hatte. Seitdem ist es für alle meine Werke gültig, einschließlich Fin de partie. nis Sie setzen in Ihren Kompositionen manchmal musikalische Zitate anderer Komponisten in Beziehung zu ihrer eigenen Musik, gewissermaßen in Dialog. Können Sie dieses Verfahren beschreiben? gk Die Beschreibung wäre, dass es sich bei den Zitaten in meinen Werken nicht um Zitate handelt, sondern um Reflexionen. nis Becketts Fin de partie zeichnet sich durch besonders exakte Regieanweisungen aus, die auch den Sprechrhythmus betreffen. Sie haben das nicht nur sehr genau in die Komposition übernommen, sondern überdies sehr viele ungewöhnliche Vortragsbezeichnungen hinzugefügt, etwa quasi nitrito (wie wiehernd) oder lontano-lontano, quasi in sogno (von weit her, wie im Schlaf). Ist es Ihrer Erfahrung nach für die Sängerinnen und Sänger schwierig, Ihre Vorstellungen umzusetzen? gk Die Sänger sollten in der Lage sein, den Text unabhängig von der Ge­ sangsstimme so auszudrücken, als ob sie Schauspieler wären. Ein Sänger, der seinen Part nur singt, tut noch nichts. Vielmehr muss er die Syntax der Sätze und die Botschaften hinter den Worten verstehen und vermitteln. Schon aus die­sem Grund haben wir mit den Sängern der Mailänder Urauffü-

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SINGEN IST VERMITTELN

hrung zwei Jahre lang vor der Premiere gearbeitet. nis Viele Kritiken stellen Besonderheiten des Orchesters in Ihrer Oper heraus: Es ist sehr groß besetzt, mit teils ungewöhnlichen Instrumenten wie Cimbalom oder Bajan. Zumeist spielen aber kleinere, teils fast kammer­ musikalische Gruppen. Wie würden Sie die Orchestrierung charakterisieren? gk Die Aufgabe der Orchestrierung ist es, die Worte des Textes zu verstärken. Genau wie in meiner vokalen Kammermusik. nis Sie haben etwa 60 Prozent des Schauspieltextes vertont, auf der Partitur von Fin de partie steht immer noch »versione non definitiva«. Welche Szene würden Sie noch schreiben wollen? gk Ich würde sehr gerne noch jene Szenen schreiben, in denen es um den Hund geht. Clovs größte Rebellion besteht darin, Hamm mit dem Hund auf den Kopf zu schlagen. In der Schlussszene wird die Tatsache, dass Hamm alles aufgegeben hat, darin ersichtlich, dass er am Ende den Hund wegwirft. Dafür fehlt in der Oper die Vorgeschichte. nis Arbeiten Sie gerade an einer anderen, neuen Komposition, über die Sie schon sprechen können?

gk Ja, ich komponiere ein Einpersonenstück, eine einaktige Oper nach einem Text von Christoph Hein über Maria Dorothea Stechard, die mit Georg Christoph Lichtenberg zusammenlebte, sie war »ohne priesterliche Einsegnung seine Frau«, wie er schrieb. Sie verstarb mit 17 Jahren, und in dem Stück geht es darum, dass sie im Jenseits auf ihren Mann wartet, der noch viele Jahrzehnte am Leben bleibt. Das ist eine fiktive Geschichte und zugleich eine, die ich selbst durchlebe. [György Kurtágs Ehefrau und künstlerische Partnerin Márta starb im Jahr 2019, Anm.] nis Ihr Parisaufenthalt 1959 brachte entscheidende Erkenntnisse für Ihren Weg als Musiker. Dem Streichquartett, das Sie dann geschrieben haben, haben Sie die Opuszahl eins gegeben. Sie wollten den Neuanfang markieren und haben einmal die Exposition dieses Streichquartetts als »Ausgangspunkt für ein ganzes Lebenswerk« bezeichnet. Können Sie den Weg von diesem Ausgangspunkt zu Fin de partie beschreiben? gk Den Weg kann ich nicht beschreiben, aber ich sehe die Kafka-Fragmente, die ich ebenfalls Marianne Stein gewidmet habe, als einen ähnlichen Wendepunkt an.

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DER FEINE KLANG DER IDEEN SIMONE YOUNG ÜBER FIN DE PARTIE Der Klang von György Kurtágs Fin de partie ist der Klang fantasievoll betonter Sprache. Bei guten Musiktheaterstücken kann man generell sagen, dass die Musik untrennbar am Text hängt – und diese Oper zieht ihr ganzes Dasein aus dem Text. Das Französisch ist absolut perfekt in Musik gesetzt. Man kann es an einer einzelnen Stelle aus der Partitur beschreiben: in einem Takt schreibt Kurtág dreifaches Piano, Esitando, Legato, Misterioso, Largamente rinforzando. Und das ist alles in einem Takt – fast für jedes gesungene Wort ein eigener Hinweis. Da sind auch dynamische Hinweise, kleine Vortöne, Tenu­tostriche, ein Legatostrich über das Ganze – es ist unglaublich detailliert. Und aus den vielen kleinen Fragmenten und dieser unheimlich detaillierten Bearbeitung der Gesangslinie hat Kurtág am Ende aber große Monologe komponiert, vor allem für die beiden Hauptcharaktere. Die Sprache ist sogar in die Orchesterstimmen eingeschrieben, dort, wo die Orchestermusiker parallel mit dem Text spielen – etwa, wenn die Stimme von Hamm in der Bassklarinette gedoppelt wird, die Stimme von Clov häufig im Kontrabass. Interessant ist, wie die Komposition die unterschiedlichen Textformate gestaltet. Den

sehr schön gesungenen Monologen stehen Strecken gegenüber, auf denen Kurtág sich gewissermaßen auf Monteverdi bezieht, in einem Rezitativstil, der nahe am parlando ist. Da ist ein Bezug in den Formen, wie die Sprache geführt wird, wie die Stimmen in den Dialogen geführt werden, die man als eine moderne Art von Rezitativ bezeichnen kann. Wie ein Verweis auf die Oper vor Mozart. In der Instrumentation gibt es außerdem eine Besonderheit: Das Cimbalom, das Hackbrett, ist in der Partitur in eine Instrumentengruppe eingebettet, die man als eine modern interpretierte Cembalo-Gruppe bezeichnen könnte: Cimbalom, Klavier, Pianino, Harfe, zwei Bayans, das sind chromatische Knopfakkordeons. Ein wenig wie eine Continuogruppe, die durch das Stück läuft. Aber das ist gewissermaßen nur das raffinierte, fein gebaute Skelett des Ganzen. Insgesamt ist die Partitur sehr viel nuancierter als das. Den Orchesterteil kann man dabei, grob zusammengefasst, durchaus als Kammermusik empfinden: Eine Kammermusik, die sich mit der richtigen Gestaltung ausgezeichnet auf der großen Opernbühne macht. Auch in Benjamin Brittens A Midsummernight’s Dream gibt es ja weite Strecken, die nur kammermusikalisch

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DER FEINE KLANG DER IDEEN

notiert sind. Richard Strauss hat das auch immer wieder gemacht, besonders in Ariadne auf Naxos: Da steht ein enormer Apparat – und es spielen sieben Musiker. All das kann man sehr gut auf der großen Bühne aufführen, wenn man es entsprechend gestaltet, und genauso ist es mit Fin de partie.

IM VERBUND MIT DEM THEATER DES ABSURDEN György Kurtág ist bekannt für seine Vorliebe für Fragmente und Miniaturen – man denke nur an seine Vokalzyklen. In den Kafka-Fragmenten etwa gibt es Stücke, die nur aus wenigen Takten bestehen. Diese Liebe zur kleinen Form findet auch ihren Weg in die Partitur, und der reduzierte Text von Samuel Beckett ist für ihn als Komponisten das perfekte Pendant. Aber über das ganze Werk hinweg bildet seine musikalische Sprache eine einheitliche Linie. Es ist höchst komplex und schwierig in wenige Worte zu fassen, aber absolut entscheidend ist, dass es die ganze Zeit über mit der Theorie und Ideologie des Theaters des Absurden verbunden bleibt. Zugleich ist auffällig, dass man, auch wenn man die Partitur nicht kennt und das Stück nur hört, gewisse Miniaturen schnell erkennt und wiedererkennt, in gewisser Weise Leitmotive. Das sind die sehr klaren Motive, die er als »Conductus A« und »Conductus B« bezeichnet, aber es gibt auch kleine Figuren, die fast wie Volksmusikmotive klingen. Ein Motiv, das in den Bayans, den Knopfakkordeonen, eingeführt wird, ist fast wie eine Sekunde Zirkusmusik. Dieses Motiv kehrt dann immer wieder, aber in Fragmenten, die in unterschiedlichen Ins-

trumentengruppen auftauchen, etwa in den Streichern im Tremolo. Das sind keine Leitmotive im Sinne von Wagner oder Strauss, eher kleine Hinweise, die die 14 Szenen auf raffinierteste Art verbinden. In diesem Werk liegt vieles im Subtext, es zielt auf das Unbewusste. All die detaillierten Miniaturpausen, Vorzeichen, mehrfachen Pianissimi, dann wieder Pianissimo mit einem kleinen Akzent, aber sul ponticello, damit die Töne wie verhaucht sind: Man könnte sagen, dass das eine Musik ist, die in den Schatten lebt. Das ist eine Beschreibung, die auch auf das Schauspiel von Beckett zutrifft: Es ist ein Stück, das in den Schatten lebt. Wir befinden uns dort in einer postapokalyptischen Welt, wir wissen nicht, was draußen ist – ob es überhaupt ein Außerhalb dieser vier Menschen gibt. Ein Relikt, ein Überbleibsel einer Katastrophe. Dieses Theater des Absurden ist im Schatten des Zweiten Weltkriegs entstanden, und Kurtág kann sich auf seine Erfahrung aus den Nach-UdSSR-Jahren stützen. Das Theater lebt in den Schatten, und die Details sind in den Schatten zu spüren, zu hören, aber vielleicht nicht unmittelbar zu erkennen. Der Text ist klar, aber die Bedeutung ist verhüllt, und so ist es in der Musik auch. Es gibt eine Stelle der Partitur, an der Clov sehr tief singt, begleitet im dreifachen Piano von Kontrafagott, Bassklarinette, Bassflöte – lauter Instrumente, die man kaum wahrnimmt. Cello, auch im dreifachen Piano, Legatissimo in chromatischen Figuren. Das alles spürt man eher im Bauch, als dass man es mit den Ohren wahrnehmen würde. Und dafür ist der Text dann sehr präsent, obwohl auch Clovs Stimme im dreifachen Piano

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notiert ist. Es ist also eine unheimlich feine Arbeit. Es gibt auch rhythmische Figuren, die eine Struktur des Ganzen bilden. Der angesprochene »Conductus« taucht als Basisrhythmus immer wieder auf, in verschiedenen Figuren, wodurch eine Verbindung zwischen den verschiedenen Szenen hergestellt wird. »Conductus« ist übrigens eigentlich eine Bezeichnung aus dem Hochmittelalter für die Begleitmusik von Prozessionen und die Auftrittsmusik geistlicher Würdenträger in der Kirche. Hier ist es wie eine zerrissene, manchmal stolpernde, fragmentarische Auftrittsmusik, die Monologe einleitet, manchmal aber auch unterbricht. Grundsätzlich ist alles so fein gearbeitet, dass man das als Zuhörer beim ersten Hören gar nicht alles begreifen und erfassen kann. Und vielleicht ist das so auch richtig. Denn das Theater des Absurden ist etwas, das man anzufassen versucht, und in dem Moment, in dem man es zu fassen glaubt, verschwindet es wieder. »Mercurial« würde man es im Englischen nennen, quecksilbrig. Kurtág stellt in fast jedem Takt ein Rätsel, und das bedeutet, dass er unheimlich nah an Becketts Konzeption ist. Er setzt zum Beispiel das Fagott in einer Weise ein, dass man sagen kann: Es sind darin die Gedanken ausgedrückt, die nicht ausgesprochen werden. Mit dieser Art zu komponieren bewegt er sich vollkommen auf dem Boden des Theaters des Absurden, das im Prinzip das Gegenteil eines bedeutungsvollen existenzialistischen Theaters ist. Es operiert mit Ideen. Eine Geschichte wird erzählt. Aber wo wir uns etwa in der Zeitlinie dieser Geschichte befinden, ist sehr unklar. Das Stück beginnt mit dem Text »Fini, c’est fini.« Am Ende geht Clov weg – aber ist es das erste

Mal, dass er weggeht? Das zweite, das dritte Mal? Wir wissen darüber noch gar nichts. Nell stirbt – stirbt sie wirklich? Ist das etwas, das jeden Tag passiert? Es ist dieses unkonkrete Geschehen, das dann auch zu großen Pausen zwischen den gesungenen Sätzen führt. Und die Musik soll uns, glaube ich, dazu führen, dass wir diese Brüche für uns selbst ausfüllen. Wo sind wir in der Zeit? Aus welchem Blickwinkel wird erzählt? Und diese überraschenden Espressivofiguren im Fagott verstehe ich als unsere Perspektive, die der Zuschauer. Als unsere Gedanken, die nicht ausgesprochenen Gedanken. Aber das ist eine persönliche Interpretation.

HÖRBARES SCHWEIGEN UND SCHWARZER HUMOR Schon Becketts Stück macht sich ein wenig über das existenzialistische Theater lustig, das unmittelbar davor Konjunktur hatte. Aber ohne erhobenen Zeigefinger. Kurtágs Musik führt das fort: Sie lockt uns manchmal auf Fährten, lässt uns denken: Jetzt müsste es hier weitergehen. Aber dann: Stopp, nichts. Kurtág hat die Substanz des Theaters des Absurden quasi perfekt in Musik gefasst. Dabei läuft es der Intention dieses Theaters eigentlich völlig zuwider, es in Musik zu setzen. Denn die Musik gibt uns konkrete Gefühle. Und darum gibt es meiner Ansicht nach in Kurtágs Partitur so viele Stellen, die im Pianissimo stehen, geflüstert, schattiert, Flageoletts in den Streichern, Rauschen in den Maracas oder auf den Becken. Es sind unheimlich viele fast-Noten, Fast-Geräusche. Fast subliminal. Dadurch wischt der Komponist das Emotionale, das mit traditionellen Opernstimmen und Instru-

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DER FEINE KLANG DER IDEEN

menten unweigerlich folgen würde, erst einmal weg und macht Platz. Aber der Platz, der so entsteht, ist kein Vakuum. Häufig gibt es das, was ich als hörbares Schweigen bezeichnen würde. Verdi macht etwas Ähnliches in Aida in der Konziliumsszene. Amneris ist auf der Bühne, Radamès ist hinten mit Ramfis und dem Männerchor. Auf ihre Fragen antwortet er nicht. Verdi schreibt: Hinter der Bühne Gran Cassa, also große Trommel, ganz leises Tremolo. Das ist eigentlich Schweigen, aber es ist ein spürbares Schweigen. Und dieses spürbare Schweigen setzt auch Henze immer wieder ein: Entweder Gran Cassa, oder ganz leicht auf den Maracas, oder ein leichtes Vibrato auf einem Flageolett. All das ist eigentlich: hörbares Nichts. Oder das komponierte weiße Rauschen. Und das ist die verhüllte Bedeutung, von der ich gesprochen habe. Was das Publikum davon wahrnehmen soll, sind dabei nicht die Details der Partitur, sondern die Folgen im Ausdruck: eine Leichtigkeit, ein Fragezeichen. Der Weg dorthin führt über eine unheimlich genaue Probenarbeit. Fin de partie muss perfektionistisch geprobt werden, denn auch unser Komponist György Kurtág ist als Perfektionist bekannt. Es bedeutet immer eine zusätzliche Verantwortung, ein Werk eines lebenden Komponisten aufzuführen. Das ist sein Kind – man will ihm nicht das Gefühl geben, dass wir dem Kind die Haare abgeschnitten haben oder es zu dick haben werden lassen. Wir haben eine zusätzliche Verantwortung, dass das auch für ihn befriedigend ist. Aber es bedeutet auch eine zusätzliche Inspiration, dass dieser Komponist nach wie vor so kreativ ist. György Kurtág hat an dem Stück immer weitergearbei-

tet, immer wieder neue Tempi und neue Informationen weitergegeben, wenn es einen neuen Cast gab. Unsere Arbeit und unsere Herausforderung bestanden auch darin, durchzusortieren, was wir für diese Sänger und für diese Inszenierung brauchen. Ein unheimliches Verdienst György Kurtágs auch gegenüber Beckett wollen wir dem Publikum unbedingt zugänglich machen: Das ist der Humor, den er in Musik gesetzt hat. Wir haben generell die Sicht auf moderne Musik, dass alles sehr seriös ist. Es ist alles sehr dunkel, fast fromm. Kurtág will weg davon. Wie auch Beckett davon weg wollte. Aus dem Schauspiel hat sich eine gewisse Tradition entwickelt – vor allem in Deutschland, Herbert Fritsch hat immer wieder darauf hingewiesen –, die es sehr dunkel, grau, langsam und bedeutungsvoll interpretiert hat. Sowohl Beckett als auch Kurtág sehen viel mehr Witz in der ganzen Sache. Da gibt es falsch zitierten Baudelaire, falsch zitierten Shakespeare. Einen Moment, der an Strawinsky erinnert. Einen anderen Moment, der an Bartók erinnert. Diese kleinen Elemente sollen auch ein kleines Schmunzeln hervorrufen. Was für mich besonders frappierend war, als ich mit Kurtág an der Partitur gearbeitet habe, das war die Freude, die er aus dem bösen, schwarzen Humor dieses Textes zieht. Es gibt einige Stellen, an denen Kurtág direkt auf Beckett hinweist, oder auch auf Baudelaire. Diese Stellen hat er mir immer mit großem Genuss gezeigt und erklärt; etwa den Satz Hamms aus der 8. Szene, den er mir als seinen »Kernsatz« beschrieben hat: »Et toute la vie on attend que ça vous fasse une vie.« (»Und das ganze Leben wartet man, dass ein Leben dar-

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aus werde.«) Ich finde, dieser böse Humor gehört unbedingt zu dieser Art von Theater dazu. Es ist das Geheimnis, das unter dem ganzen Stück liegt. Kurtág hat in den Gesangslinien immer dort leicht übertrieben, wo dieser böse Humor zum Tragen kommt. Im Sommer habe ich mich auch auf zwei langen Flügen durch Theodor W. Adornos Text Versuch, das Endspiel zu verstehen gearbeitet. Ich stimme ihm hundertprozentig darin zu, dass dieser ganze Dünkel um Beckett falsch ist. Wenn man Becket­ts Stücke mit guten Schauspielern sieht, sind sie absolut packend.

DIE BESTECHENDE DEUTLICHKEIT DER VORLÄUFIGEN FASSUNG Für die Vorbereitung der Produktion habe ich einige Tage intensiv mit György Kurtág in Budapest gearbeitet. Wir sind die Partitur genau durchgegangen, er hat sie am Klavier gespielt, wir haben alle Stimmen gesungen. Viele der Fragen, die ich in diesem Zusammenhang an ihn hatte, sind für den Zuhörer nicht so wichtig, für mich aber sehr – Fragen zum Notentext, der sehr viele verschiedene Symbole verwendet, zu den Korrekturen, die nach den ersten Aufführungen dazugekommen sind. Wir haben auch über den »indefinitiven« Charakter des Werks gesprochen – das Werk wurde ja als »vorläufige Fassung« uraufgeführt, und offiziell handelt es sich auch bei unserer Produktion um die »vorläufige Fassung«. Was mich dabei unter anderem interessiert hat, war eine Szene aus Becketts Schauspiel, die in der Oper nicht vorkommt: die Szene mit dem Hund. Diese Szene ist besonders grotesk – Hamm verlangt von Clov »seinen Hund«, der sich dann

als eine Puppe herausstellt, die Clov offenbar gebastelt hat und die noch dazu unfertig ist, nur drei Beine hat. Es ist vielleicht die skurrilste Szene im Werk, und ich habe mich tatsächlich gefragt, warum sie in der Oper fehlt. György Kurtág erzählte mir auf meine Frage, dass seine Frau Marta Kurtág ihn immer wieder aufgefordert habe, gerade diese Szene zu schreiben, aber er sei nie dazugekommen. Márta Kurtág ist 2019 gestorben, und er meinte, dass er ohne sie wohl nicht die Kraft hätte, die Szene noch zu schreiben. Aber für ihn fehlt sie eigentlich. Er hatte außerdem einige Notizen in seiner Partitur, die nicht in das gedruckte Werk eingegangen sind, und ich fühlte mich sehr geehrt, dass ich diese Notizen abschreiben durfte. Natürlich hat sich mein Verhältnis zu Kurtágs Musik durch die intensive Arbeit an der Partitur intensiviert. In Australien wird sie nicht viel gespielt, ich habe sie vor allem in Deutschland kennengelernt. Einige kleine Ensemblestücke habe ich selbst aufgeführt. Was ich gut und auch schon länger kenne, sind viele der kleinen Klavierstücke aus der Sammlung Jatekok (Spiele). Und er komponiert immer noch! Als ich für die Vorbereitung in Budapest war, kam ich morgens zu ihm, und er zeigte mir gleich ein Klavierstück, das er nachts komponiert hatte. Aus diesen Stücken lernt man viel über seine Harmonien und ihre Symboliken – etwa die Quinte als ein Beispiel für ein Intervall, das in seinem Werk sehr wichtig ist. Über den Sommer habe ich noch einmal sehr viel von seiner Musik gehört, etwa die Kammermusikarbeiten, für die er bekannt ist. Das hat mir schon vieles erzählt. Die Probenarbeit führt mich nun immer wieder auf meine Bewunderung für seine Partitur zurück – dass er, auch

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DER FEINE KLANG DER IDEEN

in seinem Alter, mit einer derartigen Deutlichkeit schreibt. Es ist einfach alles in der Partitur, was ich brauche. Ich könnte gar nichts verstehen vom Theater des Absurden, nichts von seiner

anderen Musik – und könnte trotzdem fast alles aus der Partitur lesen, was ich brauche, um damit zu arbeiten. Das ist absolut bemerkenswert.

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NIKOLAUS STENITZER IM GESPRÄCH MIT HERBERT FRITSCH

WIR GEHEN HERUM, ALS HÄTTE ES EINE BEDEUTUNG prolog herbert fritsch Vielleicht antworte ich auf deine Fragen einfach so wie der heilige Joseph von Copertino. Der heilige Joseph von Copertino ist der Schutzheilige der Flieger und der Prüflinge. Du wirst gleich verstehen, warum. In seiner Familie galt dieser Josef als der Depp, man wusste nicht, was man mit ihm anfangen sollte. Schließlich hat man ihn in ein Kloster gebracht, damit er dort die Toiletten putzt und solche Sachen. Dann kam der Tag, als in Bologna das große Priesterexamen abgehalten wurde. Da sind die alle los und haben gesagt: Copertino, du bleibst schön hier. Sie waren schon alle in Bologna, da denkt plötzlich der Joseph von Copertino: Moment. Ich will auch Priester werden. Und dann haben sich die Leute erzählt, dass da plötzlich einer mit Riesenschritten über die Landschaft geflogen ist. Und er kam in Bologna an gerade in dem Moment, als der letzte Prüfling rauskam und sagte: Jetzt bin ich noch dran. Die haben nichts bemerkt und haben gesagt: Okay. Und dann haben die ihm eine ganz komplizierte Frage gestellt, Gottesbeweis oder irgendetwas. Und Joseph von Copertino GEORG NIGL als CLOV

hört zu. Lässt sich Zeit. Und dann sagt er: »Amen.« Und alle so: »Das gibt’s doch gar nicht. Richtig!« Und sie haben ihm immer weiter Fragen gestellt, und auf jede Frage hat er gesagt: »Amen.« Die Prüfer sind durchgedreht. Und am Schluss haben sie gesagt: »Er hat die Prüfung bestanden.« Deswegen ist er der Schutzheilige der Prüflinge. Und so wie er könnte ich auch auf alle deine Fragen antworten: »Amen.« Der heilige Joseph von Copertino ist aber auch der Schutzheilige der Flieger. Er ist nämlich beim Beten immer in totale Verzückung geraten. Richtig in Ekstase. Und er hat dann scheinbar zu fliegen angefangen. Und dann sind die anderen stinksauer geworden und haben gesagt: Das geht nicht, und sind vor Gericht gezogen und haben ihn angeklagt. Wegen Levitation. Das war nämlich eins zu viel. Das ist nämlich schon unbescheiden. Er wollte dann seine Schuld auch eingestehen vor dem Richter, aber je mehr er das versucht hat, desto höher ist er nach oben geflogen. Es gibt auch ein Bild von El Greco von Juan de la Cruz und Teresa de Avila, auf dem die beiden fliegen. Sie waren beide Klostervorstände, und sie waren

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verliebt ineinander. Er hat sie besucht und stand vor ihrem Gitter im Kloster, und dann sind sie beide hochgeflogen. Weil sie sich ja nicht berühren durften. Und das hat El Greco dann gemalt. Juan de la Cruz ist auch ins Verlies geworfen worden, weil er Gedichte geschrieben hat, die sind total pornographisch. Er war deshalb lange im Gefängnis und hat dort kein Schreibzeug bekommen. Also hat er neue Gedichte im Kopf gemacht und sie sich gemerkt, und als er rausgekommen ist, hat er sie alle aufgeschrieben. Teresa von Avila hat dieses Buch geschrieben, Die innere Burg. Darin schreibt sie, dass Gott auch hinter den Kochtöpfen sei. Diese ganzen Mystiker interessieren mich sehr, auch Meister Eckhart. nis Du hast jetzt schon angefangen, die erste Frage zu beantworten, die ich dir stellen wollte. Die Frage lautete nämlich: Was liest du gerade? hf Meister Eckhart habe ich tatsächlich gerade wieder gelesen. Aber was ich jetzt immer wieder lese, ist Die fröhliche Wissenschaft von Nietzsche. Das zweite Buch beginnt mit einem großartigen Text: An die Realisten. Außerdem habe ich gerade ein Buch über den Dreißigjährigen Krieg angefangen. Diese Geschichte der westfälischen Ordnung interessiert mich brennend. Den Simplicissimus von Grimmelshausen habe ich mehrfach gelesen. Ein sehr schönes Buch und eine sehr interessante Beschreibung des Dreißigjährigen Krieges. Mich interessiert das auch bezogen auf die ganzen Kriegshandlungen, die wir gerade erleben. Wobei ich mich nicht zu irgendwas bekennen oder irgendeine Partei ergreifen will. Meine Arbeit ist mein Bekenntnis. Das ist mein Glau-

benssatz. Aber beim Lesen mache ich das häufig so, dass ich ein Buch einfach aufschlage und dann mittendrin zu lesen anfange. Das ist für mich viel genussvoller, als von vorne nach hinten zu lesen. Das ist auch durch das Internet entstanden, wo man durch Links im Text von einem zum andern kommt. Das war dann auch das Prinzip meines Projekts Hamlet X, wo ich gesagt habe: Genauso stelle ich mir das vor mit einem Stück, zerstückeln und neu machen, indem man mittendrin eine Szene anschaut und dann wieder woanders hingeht – dadurch entsteht eine neue Perspektive. nis Das erinnert mich an eine Geschichte, die György Kurtág als einen Schlüsselmoment für sein Komponieren beschrieben hat. Nach einer großen Krise riet ihm die Psychologin Marianne Stein, zuerst einmal mit dem Verbinden von zwei Tönen zu beginnen. Also: Mit der kleinsten Einheit. Das hat ihm geholfen, die Krise zu überwinden, und es wurde dann zu einem regelrechten Credo seines Komponierens. Lässt sich das nicht genau so auf deine Regiearbeit übertragen? Wenn du inszenierst, scheinst du auch immer von möglichst kleinen Einheiten auszugehen. hf Ja, natürlich. Meine kleinste Ein­ heit ist ein Einatmen und ein Ausatmen. Oder ein Ansatz: Wie spreche ich. Die kleinste Einheit ist eine Geste, die darauf hinweist: Gleich kommt da was. Die Geste ist meine Musik. Die Geste und die Grimasse. Geste und die Grimasse können revolutionär sein in dieser gesten- und grimassenlosen Zeit. Die können etwas in Bewegung setzen.

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Und beim Inszenieren ist es so, dass ich der Grimasse und der Geste folge. Das ist also tatsächlich so wie das Verbinden von Tönen, einen nach dem anderen, und das Ergebnis ist dann auch eine Gestenpartitur, eine Grimassenpartitur. nis Und die entsteht aus dem Aneinanderfügen der kleinen Teile? hf Ohne dabei noch an das große Ganze zu denken. Es ist, wie wenn man auf einen Berg geht. Wenn du da immer hoch guckst auf den Gipfel und sagst »Oh Gott, ist das weit« – dann schaffst du’s nicht. Sondern einfach immer einen Schritt nach dem anderen, und eher auf die Füße und in die nächste Umgebung schauen. nis Und wann ist es ein Ganzes? hf Nie. nis Samuel Beckett konnte sich an seine Geburt erinnern. Du auch? hf Nein. Aber ich kann mich erinnern, dass ich als Baby entführt wurde. Das lag an einem innerfamiliären Konflikt, zu dem ich nichts Näheres sagen will. Aber ich sehe immer noch das Bild von einem Motorroller vor mir. Ich werde festgehalten und der Motorroller rast weg. Das war ein hochdramatischer Augenblick, und das Bild habe ich immer noch im Kopf, auch wenn ich damals ein Säugling war. nis Wie hat sich das auf dein weiteres Leben ausgewirkt? hf Ich wurde von meiner Mutter getrennt, und das hat eine Spannung in mir hinterlassen, die etwas erzeugt, und ich wundere mich auch, weil das eigentlich eine extreme Traumatisierung ist, die ich erlebt habe. Aber dadurch, wie viel Liebe mir meine Großeltern entgegengebracht haben, bin

ich nicht ganz abgestürzt. Fast, aber nicht ganz. nis Was würdest du sagen: Bringst du mit deiner Arbeit das zum Vorschein, was der Autor oder die Autorin in ein Werk hineingedacht hat? Oder etwas anderes? hf Das weiß ich nicht. Ich glaube auch, dass ein Autor nicht ganz genau sagen kann, was er sich gedacht hat. Er hat es einfach gemacht. Und so geht es mir mit meiner Arbeit. Ich weiß ja nicht genau, worum es geht. Es wäre schlimm, wenn ich das wüsste. Da ist wiederum Meister Eckhart wichtig für mich: Die Predigt Vom Unwissen. Darin sagt er, dass es darum geht, vom Wissen in die Unwissenheit zu kommen. Mir geht es darum, einen Text zu bearbeiten, zu traktieren, um ein Orakel zu bekommen. Ich habe das schon oft gesagt: Ich halte es für völlig falsch, alles inhaltlich auf Punkt und Komma genau zu erklären. Ich halte es für richtig, auf den Klang zu gehen, auf eine Atmosphäre, die plötzlich bei einer Probe entsteht. Eine Atmosphäre, aus der Dinge von sich aus passieren. nis Was ist der Darsteller, die Darstellerin in deiner Arbeit? hf Grundsätzlich ist es so: Jeder Darsteller und jede Darstellerin hat irgendeine Eigenschaft. Eine Besonderheit. Ich habe einmal eine Schauspielerin erlebt, die die Augen in verschiedene Richtungen bewegen konnte. Das ist für mich schon so ein Ereignis, dass ich denke, damit kann ich einen ganzen Abend bestreiten. Dann gibt es einen Sänger, der eine großartige Stimme hat, komplizierteste Rhythmen singt und das mit gestischen Grimassen verbindet, dass ich nur noch staune: Das ist

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auch ein Alleinstellungsmerkmal, eine Fähigkeit. Das sind nur Beispiele, aber grundsätzlich ist der Darsteller oder die Darstellerin das Singuläre, mit dem ich arbeiten will. An der Oper stellt sich das an einer Stelle von selbst her: Die Leute sind alle virtuos im Umgang mit ihrer Stimme. Das sind Schauspieler auch, aber beim Schauspiel ist es meistens ein Weg, vom Sprechen ins Singen zu kommen. Für mich muss es immer Gesang sein. Sobald der Mund aufgeht, muss es Gesang sein. Und jede Bewegung ist Tanz. nis Das ist also der Darsteller. Und was ist der Mensch? hf Wenn ich das wüsste. Beziehungsweise: Eigentlich frage ich mich das häufig, gerade in letzter Zeit. Wenn ich so durch die Straßen gehe, denke ich mir: Wozu sind diese Leute alle da? Was machen die alle? Habe ich mir das ausgesucht, oder ist das für mich ausgesucht worden? Werde ich hier geprüft? Sind das eigentlich alles Menschen, die eine Möglichkeit für mich sind, wenn ich auf sie zugehen und sie ansprechen würde? Jeder Mensch hat doch bestimmt auch einen Schlüssel, der ihn mir zugänglich macht. Vielleicht vergeude ich mein Leben gerade, weil ich mir nicht klar mache, was es bedeuten könnte, wenn mich auf der Straße ein Radfahrer fast umfährt und mich anschreit. Dass ich da in eine Geschichte hineingeraten könnte, die ich aber vermeide. Die Summe all dessen ist dann der Mensch. nis Die Summe der Entscheidungen? hf Vielleicht die Summe der nicht getroffenen Entscheidungen. Vielleicht müsste ich einfach mal auf der Straße auf jemanden zugehen und sagen: Entschuldigen Sie. Wir sind gerade gemein-

sam hier auf der Erde. Wir könnten auch einfach einmal miteinander reden. Aber auf der anderen Seite kommt dann wieder der Gedanke: Das muss passieren. Wenn man sich jemanden auf der Straße schnappt und sagt, wir müssen jetzt miteinander reden, ist das ja auch etwas gewalttätig. nis Welche Rolle spielt das Vergehen von Zeit für dich? hf In der Apokalypse des Johannes gibt es den berühmten Satz: »Es wird keine Zeit mehr sein.« Daran denke ich sehr viel. Ich habe mich immer mit meinem Tod beschäftigt, und jetzt immer mehr. Ich denke sehr viel darüber nach, was das ist. Ich muss auch sagen: Solange es nicht weh tut, bin ich ganz schön neugierig. Was das sein wird, was da wohl passiert mit einem. Dabei kommt einem natürlich die eigene Begrenztheit in den Sinn – und auch die Begrenztheit der Sinne. Wenn ich etwa einen Hund sehe: der hat Sinne, die ich nicht habe. Ein Hund kann riechen, wenn jemand einen epileptischen Anfall hat. Es gibt Wesen, die Radioaktivität wahrnehmen können. Wir können das nicht. Das heißt, es muss einen sinnlichen Raum geben, in dem Dinge wahrnehmbar sind, die wir nicht wahrnehmen können. Und das betrifft auch das Thema Zeit: Wir haben einen Zeitsinn, den andere Lebewesen vielleicht nicht haben. Und der sich im Lauf des Lebens wiederum verändert. Je älter ich werde, desto schneller geht alles. Und dann weiß ich: Bald wird keine Zeit mehr sein. Mich interessiert im Zusammenhang mit dem Zeitsinn aber auch die Langeweile. Es auszuhalten, irgendwo zu sitzen und nichts zu machen. Und dabei plötzlich zu realisieren, dass dabei auch eine ganze Menge passiert.

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Dass man nämlich die Zeit erfühlt. Dass man die Zeit als eine Tortur empfindet. Wenn es über etwas heißt: »das ist kurzweilig«, da bin ich dann immer ganz skeptisch. Wenn Unterhaltung »kurzweilig« ist, bedeutet das: Ich hau mein Leben ganz schnell weg. Ich verbrenne mich wie eine Fackel. Warum kann ich nicht einfach da sitzen und mich damit unterhalten, dass ich so nach und nach »grain upon grain« lege? Und wir legen Note auf Note. Schritt auf Schritt. nis Du zitierst die Stelle aus Fin de partie beziehungsweise Endgame, in der es um das sophistische Paradox geht: Man legt Korn auf Korn, aber wann ist es ein Haufen? Beckett schreibt das dann weiter: »Und das ganze Leben wartet man darauf, dass es ein Leben werde.« hf Durch das Älterwerden fängt man aber auch an, sich zu entschälen. Immer mehr Sachen abzulegen. Sich mehr von außen her zu erklären, nicht von innen her. Die Zeit zu akzeptieren, zu akzeptieren, dass wir diese Zeitwahrnehmung haben und dass wir andere Wahrnehmungsräume gar nicht erahnen können. Und dadurch vielleicht eine andere Demut entwickeln. Als Beckett in Paris angegriffen und niedergestochen wurde, hat er den Angreifer bei der anschließenden Gerichtsverhandlung gefragt, warum er das getan hat. Und der hat gesagt: Das weiß ich nicht. Nicht nur die Frage, auch die Antwort ist beeindruckend. Und passt zu Beckett. Bei unserer Arbeit kommen wir jetzt auch an die Stellen, an denen Sänger mich fragen: Warum mache ich das jetzt? Warum sage ich das? Ich kann dann nur

sagen: Da ist kein Grund. Du performst, dass du etwas wüsstest. Du performst eine Autorität. Du spielst dich auf als jemand, der genau Bescheid weiß. Das ist der Mensch: Eine Behauptung. nis Eine Behauptung von Bedeutung? hf Im Schauspiel kommt diese Frage sogar einmal vor, Hamm sagt da: »Fangen wir jetzt etwa an, etwas zu bedeuten?« Und Clov lacht: »Bedeuten! Das ist gut!« Beckett spricht mir aus dem Herzen mit dem, was er zeigt. Und wenn mich ein Sänger dann fragt, warum er jetzt dahin oder dorthin geht, dann sage ich: Das frage ich mich den ganzen Tag. Das ist das, was wir tun: Wir gehen herum, als hätte es eine Bedeutung. Hamm ist deswegen eine so interessante Figur in der Weise, wie er Dinge behauptet. Er erzählt eine Geschichte, und natürlich kann man interpretieren und sagen: Der kleine Junge, von dem er da spricht, ist eigentlich er selbst gewesen, und die andere Figur in der Geschichte war sein Vater. Aber das ist uninteressant. Viel interessanter ist die hochdramatische Weise, in der er die Geschichte vorträgt. Alles, was er sagt, wird dramatisiert – und schon ist da auch etwas. Etwas, woran man glauben kann. Und dabei ist da gar nichts! Vor Kurzem habe ich zufällig die Auslöschung von Thomas Bernhard an der Stelle dieser riesigen Tirade aufgeschlagen, in der es darum geht, dass alle Schauspieler sind. Alle spielen, dass sie arbeiten, dass sie irgendwas bedeuten. Und das beschreibt genau das! Das ist genau unser Stück. Es geht um das Bedeutung-Zeigen, das Bedeutungen-Vorhalten. Den Bedeutungsgenerator.

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Folgende Seiten: HILARY SUMMERS als NELL CHARLES WORKMAN als NAGG




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WARTEND, ERSCHÖPFT UND RESILIENT­ Spätestens seit dem Beginn des 21. Jahr­­ hunderts leben wir im Schatten unentwegt kommentierter Krisen und Weltuntergangsängste, die auch unser gegenwärtiges Bewusstsein prägen. Zuerst war es das Millennium selbst, das solche Ängste beschwor, danach der Anschlag auf das World Trade Center in New York (am 11. September 2001), die Weltfinanzkrise von 2007 und 2008, der Beginn des Bürgerkriegs in Syrien (seit März 2011) und die Nuklearkatastrophe von Fukushima (am 11. März 2011), die Erinnerung an die Weltuntergangsprophezeiungen des Maya-Kalenders für das Jahr 2012. Danach wurden 2015 die kollektiven Ängste vor Migration geschürt, Ängste vor Ansteckungen und zugleich vor Einschränkungen der Freiheitsrechte während der Covid-Pandemie ab 2020, zuletzt die Ängste vor den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, die häufig mit Atomkriegsdrohungen einhergehen, vor allem aber die Ängste vor den zunehmenden Gefährdungen durch die Erderwärmung, durch Überschwemmungen, Waldbrände oder

Erdbeben, durch den beschleunigt fortschreitenden Klimawandel und das Artensterben. Nach Angaben der Umweltstiftung WWF könnte eine Million Arten in den nächsten Jahrzehnten aussterben; jeden Tag verschwinden rund 150 Arten von unserem Planeten, und ihr Untergang vollzieht sich fast tausendmal so schnell wie die Entstehung neuer Arten. Nicht zufällig erscheinen jährlich zahlreiche apokalyptische Sachbücher, Romane, Filme und Fernsehserien, wobei sich manchmal sogar die Genres überschneiden. So bezeichnet etwa der jüngste Bericht des Weltbiodiversitätsrats eine halbe Million Arten als »dead species walking«, deren Überleben immer unwahrscheinlicher werde. »Dead species walking«, dead men sitting, sei es in Mülltonnen oder im Rollstuhl: Wie sehen und hören wir heute Samuel Becketts Endspiel?

WARTEND 1956 schreibt Beckett – nach einigen Vorarbeiten aus dem Jahr 1955 – das ein-

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aktige Theaterstück Fin de partie, das am 3. April 1957 in der französischen Originalfassung im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wird. Im selben Jahr 1956 erscheint im Münchner Beck Verlag Die Antiquiertheit des Menschen von Günther Anders. In der Mitte dieses Bandes – nach den Analysen über Die prometheische Scham und Die Welt als Phantom und Matrize, aber noch vor dem Kapitel Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit – findet sich der Essay Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück »En attendant Godot«, den Anders bereits im Januarheft 1954 der Neuen Schweizer Rundschau veröffentlichte. Die Uraufführung von En attendant Godot fand am 5. Januar 1953 im Théâtre de Babylone in Paris statt, unter der Regie von Roger Blin, der zugleich die Rolle des Pozzo spielte, die deutsche Uraufführung – in der Übersetzung von Elmar Tophoven – am 8. September 1953 im Berliner Schlosspark Theater. Ich weiß nicht, ob Anders eine Aufführung in Paris oder Berlin gesehen hat; aber gewiss kannte er die 1953 im Suhrkamp Verlag erschienene Druckfassung. Beckett selbst hat wohl den Anders-Essay in der Neuen Schweizer Rundschau gelesen, wie aus seinem Brief an Peter Suhrkamp vom 22. Januar 1954 hervorgeht, in dem er schreibt: »Im übrigen bin ich sehr daran interessiert, den Artikel von Günther Anders zu lesen, und ich danke Ihnen, daß Sie die Zusendung an mich veranlaßt haben.« Drei Jahrzehnte später hat Anders in einem Interview mit Fritz J. Raddatz betont, die Affinität zwischen Beckett und ihm selbst sei »in der Tat unbestreitbar«. Zunächst wurden Warten auf Godot und das Endspiel auf den Existentialismus oder die »transzendentale Obdach-

losigkeit« (Georg Lukács) bezogen. Doch schon Günther Anders beschrieb Becketts Stücke als negative Parabeln, Darstellungen eines Stillstands, der nicht Sinnverluste oder Gottes Tod beklagt, sondern vielmehr das Fehlen von Zwieback und Beruhigungstabletten. Die Figuren warten, also erwarten sie etwas. »Darum tritt Becketts Stück mit Recht auf der Stelle; darum beginnen (nicht anders als Straßenpassanten im Theater, die links die Bühne verlassen, um sie von rechts als angeblich andere wieder zu betreten) die Geschehnisse und Gespräche zu zirkulieren; Vorher und Nachher werden wie Rechts und Links, also zeitneutral; nach einer Weile wirkt die Zirkulation stationär, die Zeit scheint zu stehen und wird, wenn man der Hegelschen ›schlechten Unendlichkeit‹ den Ausdruck nachbilden darf, zur ›schlechten Ewigkeit‹.« So ähnlich hat es fünf Jahre später auch Adorno ausgedrückt, in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen: »Ontologie kommt nach Hause als Pathogenese des falschen Lebens. Dargestellt wird es als Stand negativer Ewigkeit.« Diese »schlechte« oder »negative« Ewigkeit ist »Zeitvertreibung«. Sie wirkt mitunter komisch, wie Anders an Wladimir und Estragon bemerkt, »denn die metaphysische Komik von Clowns besteht ja in der grundsätzlichen Verwechslung von Seiendem und Nichtseiendem, darin, über nicht existierende Stufen zu stolpern oder Stufen so zu behandeln, als wären sie nicht da«. Stolpernde Clowns: Jean Anouilh soll kurz nach der Pariser Uraufführung von Warten auf Godot gesagt haben: »Pascals Pensées, gespielt von Fratellini-Clowns.« Die Brüder Albert (1877–1940), François (1879–1951) und Paul Fratellini (1886–1961) traten

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zwischen den Weltkriegen im Pariser Circus Médrano auf und avancierten rasch zu umjubelten Stars, auch unter den französischen Intellektuellen. In Becketts Endspiel wird – ebenso wie im gekürzten Libretto György Kurtágs – viel gelacht. Nagg erzählt zum wiederholten Mal den alten Witz vom Schneider, der die Fertigstellung einer Hose verzögert, worauf sein Kunde irgendwann verärgert ausruft: »Goddam, Sir, nein, das ist wirklich unverschämt, so was! In sechs Tagen, hören Sie, in sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen. Ja, mein Herr, jawohl, mein Herr, sage und schreibe: die Welt!« Darauf antwortet der Schneider: »Aber Milord! Milord! Sehen Sie sich mal – verächtliche Geste, angeekelt – die Welt an … Pause … und sehen Sie da – selbstgefällige Geste, voller Stolz – meine Hose!« Beckett hat, wie Hamm, den Witz gern erzählt; er findet sich schon als Motto und Titel einer Rede aus dem Jahr 1945 über die Malerei der mit Beckett befreundeten Brüder Bram und Geer van Velde: Die Welt und die Hose. Die einsilbigen Vornamen der Malerbrüder passen zum Endspiel, ebenso wie die vielen Spekulationen über die verborgene Bedeutung der Namen Hamm, Clov, Nell und Nagg. Adorno hatte Hamm – gegen Becketts Widerspruch – mit Shakespeares Hamlet assoziiert, aber auch mit einem Sohn Noahs. Und er zitierte eine zweite Version, die sich auf den englischen Ausdruck »ham actor« bezog, übersetzt etwa als »Schmierenkomödiant«. Eine dritte Erklärung verdanken wir Ernst Schröder, der in Becketts eigener Endspiel-Inszenierung – Premiere am 25. September 1967 im Berliner Schiller-Theater – den Hamm spielte. Er konfrontierte den Autor mit folgender These: »Hamm ist die Abkürzung des

deutschen Wortes ›Hammer‹. Clov ist französisch ›clou‹, der Nagel, und daher nicht ›clove‹ auszusprechen. Nagg ist die Abkürzung des deutschen ›Nagels‹. Nell kommt vom Englischen ›nail‹, der Nagel. ›Also ein Spiel für einen Hammer und drei Nägel?‹ – Frage des Schauspielers. Antwort Becketts: ›Wenn Sie so wollen.‹« Gegen alle Namensspekulationen hat Günther Anders (unter Berufung auf Beckett) eingewendet, es sei dem Autor nie um die Namen, sondern stets nur um das Warten gegangen.

ERSCHÖPFT 1992 veröffentlicht Gilles Deleuze einen Beckett-Essay (bei Les Éditions de Minuit) unter dem Titel L’épuisé, in deutscher Übersetzung von Erika Topho­ven: Erschöpft. Zu Beginn unterscheidet Deleuze die Erschöpfung von der Ermüdung. »Erschöpft sein heißt viel mehr als ermüdet sein«; der »Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. Die Möglichkeit bleibt jedoch bestehen, denn man verwirklicht nie alle Möglichkeiten, man schafft sogar in dem Maße, wie man sie verwirklicht, neue. Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft. Der Ermüdete kann nichts mehr verwirklichen, der Erschöpfte hingegen kann keine Möglichkeiten mehr schaffen.« Erschöpfung zwingt zur Kombinatorik, jenseits von Entscheidungen; wir bleiben, warten, sitzen fest. »Der Kombinierende sitzt an seinem Schreibtisch«, denn »die Erschöpfung läßt sich nicht zur Ruhe betten, sie bleibt, wenn die Nacht gekommen ist, am Tisch sitzen, den entleerten

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Kopf auf den gefangenen Händen«. Es sei »die schlimmste Haltung, sitzend den Tod zu erwarten, ohne aufstehen oder sich hinlegen zu können, auf den Schlag lauernd, der uns ein letztes Mal auffahren läßt und uns zur Strecke bringt für immer. Sitzend, man kehrt nicht davon zurück, man kann nicht einmal mehr eine Erinnerung in sich bewegen. […] Aber warum horcht der Sitzende auf Wörter, Stimmen, Laute?« Der Begriff der Erschöpfung, den Deleuze in einer Art von spinozistischem Nihilismus entwirft, erinnert auch an die »Entschöpfung«, die »Decreation«, die Zurücknahme der Schöpfung, beispielsweise durch eine Sintflut. Während Beckett an Fin de partie arbeitet, schreibt er am 7. Februar 1955 an Pamela Mitchell, er habe »in der Heiligen Schrift die Geschichte von der Sintflut« gelesen. »Hätte doch der Allmächtige nie eine Schwäche für Noah entwickelt.« Gott experimentiert mit der Schöpfung, die er übt und gelegentlich verwirft: »Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den Herrn den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben.« [Gen. 6,5–7] Bekanntlich überlebt nur die Familie Noahs in der Arche, begleitet von vielen Tierpaaren, die Katastrophe der Sintflut. Denn Noah, so wird versichert, »war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen«; die »Erde aber war in

Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.« [Gen. 6,9–12] Ein nächster Schöpfungsversuch soll jedoch erst nach einem weiteren Weltuntergang unternommen werden. Schon der Prophet Jesaja hatte die künftige Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde angekündigt [Jes. 65,17]; und auch in der Offenbarung des Johannes heißt es: »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr.« [Offb. 21,1] In seiner Erzählung Omphalos befasst sich der Science-Fiction-Autor Ted Chiang mit den Widersprüchen zwischen Kreationismus und Evolutionstheorie, und zwar am Beispiel von Philip Henry Gosse und dessen Werk Omphalos: An Attempt to Untie the Geological Knot (1857). Ted Chiang konfrontiert die sogenannte »Omphalos-Hypothese« mit der gegenwärtig aktuellen Exoplaneten-Forschung und der fiktiven Entdeckung eines Planeten im Zentrum des Sternsystems von 58 Eridani, der von einer Sonne umkreist wird. Die Entdeckung führt zu mehreren theologischen Erklärungsversuchen: »Die erste lautete, dass die Menschheit das Ergebnis eines unabhängigen Schöpfungsaktes sei, ein Experiment oder ein Probelauf für das eigentliche Projekt. Laut der zweiten war die Erschaffung der Menschheit eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, eine Art ›Mitschwingung‹, die durch die Ähnlichkeit unseres Sonnensystems mit 58 Eridani erzeugt worden war. Die dritte Hypothese lautete, dass die Menschheit auf der Erde tatsächlich der Folgende Seiten: CHARLES WORKMAN als NAGG GEORG NIGL als CLOV PHILIPPE SLY als HAMM




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eigentliche Zweck der Übung war, und dass das Leben auf 58 Eridani der Probelauf oder die Nebenwirkung war.« Aber diese dritte Hypothese werde für sehr unwahrscheinlich gehalten. In ihrem Roman Pure Colour (2022) vergleicht die kanadische Schriftstellerin Sheila Heti den Schöpfergott mit einem Künstler. Der Roman beginnt mit folgenden Sätzen: »Als Gott Himmel und Erde erschaffen hatte, trat er zurück, um die Schöpfung zu betrachten, wie ein Maler von der Staffelei. Dies ist der Moment, in dem wir leben – der Moment, in dem Gott zurücktritt. Wer weiß, wie lange er schon dauert. Zweifellos seit Anbeginn der Zeiten. Aber wie lange ist das? Und wie lange wird der Moment noch anhalten? Man sollte meinen, Gottes Innehalten beim Schritt zurück, bevor er wieder vortritt und sein Werk abschließt, wäre augenblicklich wieder vorbei – aber es scheint ewig zu dauern. Und wer weiß auch schon, wie lang- oder kurzlebig diese unsere Welt vom Fluchtpunkt der Ewigkeit aus erscheint?«

RESILIENT Becketts Personen sind Wartende, Bleibende, Erschöpfte. Und zugleich sind sie auf seltsame Weise auch widerspenstig, robust, zäh und resilient. In ihrer Erscheinung verkörpern sie – Wladimir und Estragon unter dem Baum, den Beckett selbst gelegentlich auf Caspar David Friedrichs Bild Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (von 1819) bezogen hat, Hamm, Clov, Nell und Nagg im Rollstuhl und in den Mülleimern – auch eine Art von Trotz im Schatten einer Endzeit, die nicht enden kann und soll. Gegen die Faszination für apokalyptische Ereignisse hat Günther Anders wiederholt auf die Differenz zwischen

Endzeit und Zeitenende hingewiesen, beispielsweise in einem Seminar über Moralprobleme im Atomzeitalter, Februar 1959 im Klubhaus der Freien Universität Berlin: »Wir haben dafür zu sorgen, daß die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde; also, daß der Umschlag niemals eintrete.« Vielleicht ist dieser Umschlag in Becketts Endspiel längst eingetreten; dennoch scheinen die Personen des Stücks nicht aufgeben zu wollen, auch wenn ihnen zunehmend alle Dinge des täglichen Gebrauchs, selbst Getreidebrei, Zwieback und Medikamente, fehlen. Wie oft verkündet Clov, er wolle den gelähmten Hamm verlassen, kommt aber doch wieder zurück und bleibt in der Tür stehen! Die Personen lachen, kichern, krächzen und hören erneut den Witz von der Welt und der Hose; Nell kommentiert: »Nichts ist komischer als das Unglück«, und »wir lachen darüber, wir lachen darüber, aus vollem Herzen, am Anfang«. Hamm konstatiert stolz: »Fern von mir ist der Tod« und verrät das Geheimnis seiner Widerstandskraft: »Ich bin nie dagewesen.« Er weiß jedoch: »Wenn ich falle, werde ich weinen … vor Glück.« Hamm ist blind; und Nagg fragt Nell: »Siehst du mich?« Sie antwortet: »Schlecht. Und du?« Sie resümieren beide: »Unsere Sehkraft hat gelitten.« Doch nach wie vor können sie hören: »Unser Gehör hat nicht gelitten.« Sie hören die Stimmen, das Geräusch der zuschlagenden Tür, ja selbst die Stille. Als Hamm seine Weihnachtsgeschichte vom Mann erzählt, der sein Kind im verschneiten Wald zurückgelassen hat, um ein wenig Brot zu erbetteln, sagt er im Erzählton: »Es breitete sich eine große Stille aus.« In Kurtágs Libretto

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heißt es dagegen, passender vielleicht: »Eine lange Stille war zu hören.« Becketts Titel Endspiel wurde gelegentlich mit einem Fußball- oder Schachspiel assoziiert, seltener mit dem musikalischen Spiel der Instrumente. Adorno hat jedoch in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen mehrfach musikalische Referenzen betont, etwa, wenn er schreibt: »Musikhaft ist die Handlung des Stücks insgesamt komponiert, über zwei Themen wie vormals Doppelfugen. Das erste Thema ist, daß es zu Ende gehen soll, die unscheinbar gewordene Schopenhauersche Verneinung des Willens zum Leben. Hamm stimmt es an; die Personen, die keine mehr sind, werden zu Instrumenten ihrer Situation, als hätten sie Kammermusik zu spielen. […] Das zweite Thema ist Clov zugeordnet, dem Diener. Nach einer freilich sehr verdunkelten Geschichte lief er Schutz suchend Hamm zu; aber er hat auch manches vom Sohn des wütend impotenten Patriarchen. Dem Ohnmächtigen den Gehorsam kündigen ist das Allerschwerste, unwiderstehlich sträubt sich das Geringfügige, Überholte gegen die Abschaffung. Kontrapunktiert sind die beiden Handlungen dadurch, daß der Todeswille Hamms eins ist mit seinem Lebensprinzip, während der Lebenswille Clovs den Tod beider herbeiführen dürfte.« Adorno zitiert Marie Luise Kaschnitz: »Hamm, der im Endspiel blind und unbeweglich im Rollstuhl sitzt, ist von allen bizarren Instrumenten Becketts das mit den meisten Tönen, dem überraschendsten Klang.« An einer anderen Stelle moniert Adorno, Beckett treffe sich »mit jüngsten Tendenzen der Musik nicht zuletzt darin, daß er, der Westliche, Züge aus Strawinskys radikaler Vergangenheit, die beklemmende

Statik der zerfällten Kontinuität, mit avancierten expressiven und konstruktiven Mitteln aus der Schönbergschule amalgamiert.« Beckett war bekanntlich viele Jahre lang liiert mit der Pianistin Suzanne Déchevaux-Dumesnil, die er im März 1961 auch heiratete; sie starb wenige Monate vor ihm selbst am 17. Juli 1989. In den späten Werken, von den Hörspielen bis zu den Fernsehstücken, hat sich Beckett wiederholt mit musikalischen Themen befasst, beispielsweise im Geister-Trio von 1976, das sich auf das Largo von Beethovens fünftem KlavierTrio bezieht, oder in Nacht und Träume von 1983. Dieses Fernsehspiel zeigt eine männliche Gestalt im Profil, die an einem Tisch sitzt und sich selbst als Doppelgänger träumt, der – vergleichbar mit einer viktorianischen Gespensterfotografie – im rechten oberen Bilddrittel erscheint. Eine abgetrennte Hand reicht dem geträumten Doppelgänger einen Kelch, wischt ihm die Stirn ab, legt sich tröstend auf seinen Kopf. Die Szene wird wiederholt, wobei sie jetzt den ganzen Bildschirm ausfüllt. Dazu erklingt eine Melodie aus Schuberts Lied Nacht und Träume, gesummt und gesungen. Gesten und Töne verweisen aufeinander. »Das Stück ist selbstreflexiv in doppeltem Sinne«, bemerkt Therese Fischer-Seidel in ihrem Beitrag zum 2005 erschienenen Sammelband Der unbekannte Beckett: »Ein Träumer träumt sich selbst und träumt von seiner Erlösung.« Allen musikalischen Bezügen zum Trotz wurden Becketts Werke selten vertont; 1977 komponierte Morton Feldman seine einzige Oper, eine Art von »Anti-Oper« auf Grundlage eines Librettos, das lediglich die wenigen Zeilen der Kurzerzählung weder

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WA RT E N D, E R S C HÖP F T UND RESILIENT

noch (vom September 1976) umfasste. Im Jahr 2010 begann schließlich György Kurtág mit der Komposition von Fin de partie, seiner ersten Oper, zugleich auch einem Spätwerk, denn damals war Kurtág bereits 84 Jahre alt, also ein Jahr älter als Beckett selbst geworden ist. Doch kehre ich hier nochmals zum Anfang meiner Überlegungen zurück: zu unseren gegenwärtigen Ängsten, zu Endzeit und Zeitenende. Mehr als ein halbes Jahrhundert vor Kurtágs Oper hatte Günther Anders seinen Beckett-Essay zu En attendant Godot mit folgenden Sätzen abgeschlossen: Gerade Becketts

traurige Clowns scheinen zum »Refugium der Menschenliebe« geworden zu sein, zur »Komplizenhaftigkeit der Traurigen zum letzten Trost. Und ist, was da auf dem trostlos dürren Grunde der Sinnlosigkeit sprießt: der bloße Ton der Menschlichkeit, auch nur ein winziger Trost; und weiß auch die Tröstung nicht, warum sie tröstet und auf welchen Godot sie vertröstet – sie beweist, daß Wärme wichtiger ist als Sinn; und daß es nicht der Metaphysiker ist, der das letzte Wort behalten darf, sondern nur der Menschenfreund.«

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PHILIPPE SLY als HAMM GEORG NIGL als CLOV



BRIEFE

»SAG DEINEN SCHAUSPIELERN NICHTS DAVON!«

ALAN SCHNEIDER & SAMUEL BECKETT IM GESPRÄCH ÜBER FIN DE PARTIE, TEIL 1 Der amerikanische Regisseur Alan Schneider inszenierte die amerikanischen Erstaufführungen von Waiting for Godot (1956) und Endgame (1958) und realisierte Film, das einzige Drehbuch, das Samuel Beckett geschrieben hat (1967, mit Buster Keaton in der Hauptrolle). Alan Schneider und Samuel Beckett unterhielten über viele Jahre einen intensiven Briefwechsel. Am 3. Mai 1984 wurde Schneider in London von einem Motorrad erfasst und tödlich verletzt, als er sich anschickte, eine Straße zu überqueren, um einen Brief an Beckett aufzugeben.

ALAN SCHNEIDER AN SAMUEL BECKETT 8. November 1957 Bin natürlich das Skript weiter durchgegangen, auf einer Suche, die niemals enden wird. Habe aber jetzt ein paar Fragen, die ich gerne beantwortet oder zumindest in Betracht gezogen hätte, wenn du nicht zu beschäftigt bist. Ich werde die Paginierung der Druckfahnen verwenden, denn da wir jetzt vervielfältigte Skripte haben, gibt es verschiedene Systeme der Seitennummerierung. Also, los gehtʼs: Seite 1:

In der einleitenden Regieanweisung sagst du, Hamm habe einen Lappen [rag] über den Knien. Daran

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»SAG DEINEN SCHAUSPIELERN N IC H T S DAVON !«

kann ich mich nicht erinnern. Hatte er einen Lappen (zusätzlich zu dem Taschentuch?) Was ist damit passiert? Seite 2 Gehe ich recht in der Annahme, dass du die Begriffe »end« [enden] und »die« [sterben] durchgehend synonym verwendest? Oder gibt es einen Grund, warum du an irgendeiner Stelle das eine Wort anstelle des anderen verwendest? Seite 3 Wir müssen vielleicht ein verständlicheres oder gängigeres Äquivalent für »Spratt’s Medium« finden [eine in Großbritannien verbreitete Marke für Hundekuchen, Anm.]. Habe festgestellt, dass niemand hier von dem Namen gehört hat. Seite 4 Gibt es einen bestimmten Grund, warum Clov »mein Licht« sagt? (Hamm erwischt ihn hier natürlich.) Seite 7 Bis jetzt glauben wir, dass wir die Schneidergeschichte machen können wie geschrieben; wenn Zensurprobleme, geben wir Bescheid. (Kelly ist fantastisch darin!) Seite 9 Mir ist nicht ganz klar, was Hamm meint, wenn er sagt, er habe in seine Brust gesehen. Seite 11 Auch nicht klar, warum Clov sagt: »Ihr wollt also alle, dass ich euch verlasse.« Und Hamms Antwort: »Du kannst uns nicht verlassen.« Ist das »königlich«, »redaktionell«, ????????? Warum gerade in dieser Sequenz? Seite 12 Was sind Clovs Visionen? Seite 15 ALLES, WAS DU MIR ÜBER HAMMS GESCHICHTE ERZÄHLEN WILLST, IST WILLKOMMEN! Seite 17 Mir ist nicht ganz klar, oder zumindest bin ich mir nicht sicher, warum Hamm wütend sagt: »Mach weiter, kannst du nicht weitermachen?« Seite 19 Nicht ganz klar (vielleicht mache ich zu viel daraus) über die Stelle, an der Hamm abwesend und mit gesenktem Kopf sagt: »Thatʼs right.« Warum gerade diese Regieanweisung? Zu diesem Zeitpunkt? Seite 20 Ist dir eingefallen, wer »dieser alte Grieche« war? Und ich weiß nicht, ob ich verstehe, warum Clov sagt: »Hast du Halsweh?« Will er damit andeuten, daß Hamm selbst dem Ruf der Erde folgen sollte ???????????

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BRIEFE

SAMUEL BECKETT AN ALAN SCHNEIDER

21. November 1957

Seite 1

»Rag« [Lappen] ist ein Druckfehler für »rug« [Wolldecke]. Blin hat keinen verwendet. Unwichtig. Seite 2 Ich glaube, in diesem Text ist »end« stärker als »die«. Soweit ich mich erinnere, verwenden Hamm und Clov niemals »die« im Bezug auf sich selbst. Ihr Tod geht einfach mit dem Ende von »this ... this ... thing« einher. Aber von meiner Seite gibt es da kein System, und die Begriffe werden so natürlich verwendet wie möglich. Ich sage nicht »death­game«, so wie ich auch nicht sage, Mother Pegg »ended« an der Dunkelheit. Seite 3 Im Französischen ist es »bisquit classique«. Wenn es in den US keine besonders bekannte Sorte von Hundekuchen gibt, kannst du dir mit »classic biscuit« oder »standard biscuit« oder »hard tack« behelfen. Seite 4 In seiner Küche ist es sein Licht, sein Leben. Sein durch den bestimmten Artikel zu ersetzen, normalisiert und zerstört den Sinn. Seite 9 Vermutlich in einem Traum – »last night« – er sah das Innere seiner Brust. Seite 11 »All«, weil Nell soeben Clov befohlen hat, zu »desert«. »Us« bedeutet Hamm, Nagg und Nell. Seite 12 Ich weiß nur, worauf angespielt wird – sein leichtes Sterben. Das ist, wenn Du so willst, ein ironischer Anklang an Apostelgeschichte 2,17. Sie ertragen ihr »thing«, indem sie sich davon wegprojizieren, Clov nach außen aufs Weggehen, Hamm nach innen aufs Ausharren. Wenn Clov zugibt, dass sich seine Erscheinungen vermindern, bedeutet das, dass sein Fluchtmechanismus am Zusammenbrechen ist. Dramaturgisch ermöglicht dieses Element, dass seine Wahrnehmung des Lebens (Junge) am Ende und natürlich der Ratte als Halluzinationen interpretiert werden können. Seite 15 Was soll ich über Hamms Geschichte noch sagen? Technisch stellt sie die größte Schwierigkeit des Stücks dar, wegen der vielen Tonlagen. Dramaturgisch kann sie als Auslöser der Ereignisse betrachtet werden, die zu Clovs Ankunft führen, allein vermutlich, weil der Vater unterwegs umgekommen ist, und zu dem Beginn des speziellen Horrors, auf den dieses Stick begrenzt ist. Sie ermöglicht auch, dass Clovs »Wahrnehmung« des Jungen am Ende als Vision seiner selbst verstan-

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»SAG DEINEN SCHAUSPIELERN N IC H T S DAVON !«

den werden kann auf der letzten Etappe zum »shelter« (was du durchweg anstelle von »refuge« verwenden kannst, wenn du möchtest). Seite 17 »Keep going etc« bedeutet »frag mich weiter nach meiner Geschichte, lass den Dialog nicht sterben«. Ein wenig später in der­selben Bedeutung ironisch von Clov wiederholt. Siehe »return the ball« in Godot. Ich glaube, diese ganze Passage – bis zur Wiederkehr des »end«-Motivs – sollte als farcenhafte Parodie höflicher Salonkonversation gespielt werden. Seite 19 Weil Hamm erschöpft ist. Begründe es, wenn du möchtest, mit Clovs Weigerung, ihn zu berühren. Seite 20 Hamms Stimme erschöpft nach dem Schrei (zweites »Whatʼll I do!«). Clovs »pity« bedeutet: »Schade, dass du mir nicht die Möglichkeit gibst zu sagen: ›Es gibt keine Lakritze mehr.‹« Der alte Grieche: Ich finde meine Notizen zu den Vorsokratikern nicht. Die Streitfrage des Haufens und des Kahlkopfs (mit welchem ausfallenden Haar beginnt die Glatze) wurde von allen Sophisten benutzt und wird verschiedentlich wohl dem einen oder anderen zugeschrieben. Sie widerlegen die Realitat der Menge auf die gleiche Art und mit dem gleichen Denkfehler wie in der Streitfrage mit dem Bogen und mit Achilles und der Schildkröte, ein Jahrhundert früher von Zenon dem Eleaten erfunden, wo die Realität der Bewegung widerlegt wird. Der führende Sophist, gegen den Platon seinen Dialog geschrieben hat, war Protagoras, und er ist wahrscheinlich der »alte Grieche«, dessen Namen Hamm vergessen hat. Ein Zweck des Bilds im ganzen Stück ist es, die Unmöglichkeit zu suggerieren, dass das »thing« auf logische, d. h. eristische Weise jemals zu einem Ende kommt. »Das Ende liegt im Anfang, und doch machen wir weiter.« Mit anderen Worten: die Unmöglichkeit der Katastrophe. Beendet an seinem Anfang, und an jedem nachfolgenden Punkt, setzt es sich fort, ergo kann niemals enden. Sag deinen Schauspielern nichts davon!

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Folgende Seiten: HILARY SUMMERS als NELL GEORG NIGL als CLOV




ROLAND MOSER

SCHRITTE. ENDEN. ZU GYÖRGY KURTÁGS FIN DE PARTIE, SCÈNES ET MONOLOGUES PAS Á PAS 1957/58 verbringt György Kurtág ein für sein späteres Leben entscheidendes Jahr in Paris. Mit Robert Klein, dem Philosophen, wie Kurtág selbst aus dem heute rumänischen Banat stammend, besucht er Roger Blins erste Inszenierung des brandneuen Beckett-Stücks Fin de partie. Und erinnert sich später: »Ich habe kein Wort verstanden.« Das ist der erste Schritt. Das Eingeständnis. Beckett lehnte jede Deutung dieses Spiels ab. György Ligeti ist ein begeisterter Beckett-Leser und für den Freund gern Vermittler. Aber Kurtág braucht mehr Zeit. Erhalten ist, 20 Jahre später aufgezeichnet, ein kleines Skizzenblatt zu Footfalls aus Becketts Short plays. Schritte. Wörter ... ihnen entlang geht der Weg, immer wieder. Auch an Steinen vorbei. Entscheidend ist eine Begegnung mit der sprachbehinderten Sängerin und Schauspielerin Ildikó Monyók. 1990 komponiert Kurtág für sie sein op. 30, sein erstes Stück nach einem Text von Beckett: What ist the word, eine Folge von 53 nummerierten Wörtern/Silben, zunächst in ungarischer Übersetzung. Er spielt es uns privat am Klavier mit ei-

nem Finger, versucht zu singen, spricht. Später weitet er das Stück großräumig aus zum op. 306, mit verteilten Instrumentalisten im weiten Konzertsaal. Mitten in einer intensiven Hölderlin-Arbeit mit dem Sänger Kurt Widmer beginnt Kurtág für diese Baritonstimme einen Zyklus zu Texten aus Becketts Mirlitonnades und Chamfort-Übersetzungen zu schreiben. Die Stimme geht über drei Oktaven. »Unaufführbar«, sagt Márta Kurtág lakonisch. Sie hat für Singstimmen das untrügliche Gespür. Zur Entlastung des Ganzen fügt er später ein großes Schlagzeug und Streichtrio hinzu: ... pas a pas – nulle part ... op. 36. Wieder sind Schritte auslösend, Bewegungen, zu denen Stolpern ebenso gehört wie Stottern zur Rede. Oder wie im Kafka­Text, aus op. 24,2: Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über den Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen als begangen zu werden. Man möchte meinen, dass dieser wahre Weg fast zwangsläufig zu Fin de partie führen musste, dem Spiel der Ausweglosigkeiten, Hindernisse und Beschädigungen. Voreilige Zuordnungen bleiben aber besser weg. Es gilt nur der Moment. Hier und jetzt.

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SCHRITTE. ENDEN.

POUBELLE – SCHMUTZ, REINHEIT Um 2010 herum tritt bei György Kurtág die Absicht, Fin de partie von Beckett zu komponieren, ins konkrete Stadium. In seinem 85. Lebensjahr stehend ist er sich bewusst, damit das größte Unternehmen seines Lebens auf sich zu nehmen. Die Möglichkeit, es nicht zum Ende bringen zu können, schreckt ihn nicht, spornt ihn vielleicht sogar an. Dass er sich gleich hinter die abgründigste Szene macht, wird nicht erstaunen: Poubelle (Mülleimer, als Titel hier von Kurtág gesetzt). In zwei großen, nebeneinanderstehenden hohen Abfalltonnen mit Deckeln stecken Hamms beinlose Eltern. Das Bild ist schon 1957 nach der Uraufführung um die Welt gegangen. Auf Naggs Klopfen öffnet sich der Deckel neben ihm. Nell. Ihre Hände erscheinen, dann taucht der Kopf auf. Bonnet de dentelle (Haube aus Spitzen), teint tres blanc. Mit diesem Wort blanc ist schon ein zentrales Wort aus Kurtágs Sicht berührt, nicht nur auf Nell, sondern auf das ganze Stück und darüber hinaus bezogen. Es bedeutet nicht nur weiß, sondern auch »rein«. Seit dem ersten Akkord des Streichquartetts op. 1 zieht sich die Vorstellung von »Reinheit« (und »Schmutz«) durch sein ganzes Œuvre. Dass Nell, obschon sie bereits im ersten Drittel des Werks stirbt, schon damit bestimmend für das Ganze wird, sei hier erst angedeutet. Hintersinnig, ihr erstes Auftauchen aus dem schmutzigen Kübel mit einem schwierigen Fagott-Solo in höchster Lage einzuleiten, bevor jemand etwas sagt. Es markiert die Bedeutung des Moments mit rein musikalischem Mittel. Zu einem Instrument gehört für

Kurtág nicht nur sein Klang, son­dern seine ganze Natur, seine Grenzen, Möglichkeiten und Unmöglichkei­ten. Das Solo wird bloß von einigen Streicher-Staccati begleitet. Seine enorme Exponiertheit, Gefährlichkeit mag ein Hinweis darauf sein, wie sich »Dra­matik« in diesem Stück äußert. Im Gegensatz zu diesem Solo steht eine chromatisch fallende Melodie des Englischhorns, ironisch banal zu den Worten pourquoi cette comédie tous les jours (hein)?, nachdem Nagg vergeblich versucht hat, Nell zu berühren. Der Komponist verdoppelt nicht einfach das Dichterwort, bleibt aber musikalisch ganz nah bei Becketts Sprache. Die Musik folgt dabei ihrem eigenen Sprach-Charakter in Artikulation und Gliederung. Klangteppiche, wie sie anderswo in neueren Opern vorkommen, gibt es hier keine. Das ganze Werk steht bewusst in einer Traditionslinie seit Monteverdi, in der Tonfall und Wortfall nachbarlich aufgefasst werden. Kurtág erwähnte dazu im Gespräch die Incoronazione di Poppea. Die Worte der beiden Alten sind durchaus normal, alltäglich. Eine erste Erinnerung gilt dem Unfall mit dem Tandem, der sie ihre Beine gekostet hat, und endet im Gelächter. Eine Rolle spielt dann ein Biscuit. Und Nagg spottet über den Sohn Hamm, der ein Herz in seinem Kopf entdeckt hat. Nell: Rien nest plus drôle que le malheur, je te lʼaccorde. Mais ... (»Nichts ist komischer als das Unglück, zugegeben. Aber ...«) Beckett soll einmal in einer Probe des Stücks beiläufig gesagt haben, das sei der wichtigste Satz. Nagg möchte eine Geschichte erzählen, kommt aber noch nicht dazu. Man spricht über das Kratzen, sich und einander. Wo es bei Beckett detaillierter

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wird, kürzt Kurtág ab, um zu dem für ihn wichtigsten Moment zu kommen: Nells Erinnerung an ihre Verlobung auf dem Comer See, mit einer Bootsfahrt, auf der sie vor Lachen gekentert sind. Die Kürzung dieser Kratz-­Episode erfolgte erst 2017 in der letzten Fassung, vielleicht, um die etwas »unreine« Stelle, die Kurtág 2014 noch vollständig komponiert hatte, nicht über Gebühr auszubreiten. Damit wird Nells Blick ins Wasser zentral: Cʼétait profond. Et on voyait le fond. Si blanc. Si net. Si blanc ... Danach reagiert sie nie mehr auf Naggs Worte, bleibt bei sich. Naggs nicht enden wollende Geschichte vom Engländer, der eine Hose fürs Neujahrsfest angepasst haben möchte und monatelang darauf warten muss, nennt Kurtág »Song« (28 Partiturseiten), dramaturgisch eingesetzt als Zeitdehnung mit der Aufgabe, Nells Ende hinauszuzögern. In Naggs einsame Lacher setzt Hamm ein Assez! ... ça va donc jamais finir! Nell, wieder: On voyait le fond ... Hamm pfeift Clov herbei: Enlève-moi ces ordures. Fous-les à la mer. (»Weg mit dem Dreck! Ins Meer damit!«) Nell hört nicht hin. Die Streicher beginnen eine Abschiedsmusik in Pendelbewegung. Nell: Si pur ... si blanc; zu Clov, der neben ihr steht, kaum hörbar: Déserte (»Hau ab«). Clov meldet Hamm, sie habe keinen Puls mehr ... Hier senkte sich bei der Uraufführung ein schwarzer Zwischenvorhang. In Becketts Stück wird Nells Tod überspielt, mit abschätzigen Wortspielen Hamms und seiner Anweisung, die Kübel zu verschrauben. Kurtág hatte das ursprünglich auch komponiert, aber, wie er sagte, auf Wunsch seiner Frau Márta wieder entfernt. Gefragt,

wie er sich den Übergang zur folgenden Szene vorstelle, sagte er nur: »schwarz«. Es ist nicht zu leugnen, dass Nells Tod in Kurtágs Oper eine Gewichtsverschiebung gegenüber Beckett bewirkt; aber nicht romantisierend, sondern einem Bedürfnis folgend, dem Hintergründigen mehr Raum zu geben: nicht nur wie hier formal, sondern bis in viele auskomponierte Pausen hinein (Un temps. bei Beckett) und in subtile intervallische Eigenheiten, etwa steigende und melodisch fallende Quinten in Nells Gesangspartie und den sie begleitenden Instrumenten; später an Stellen, die an sie erinnern, wie etwa die zunehmenden Anklänge von Trauermärschen in den Schlussmonologen Clovs und Hamms (CONDUCTUS B und A). Bis in den rein instrumentalen Epilog hinein bilden reine Quinten, harmonisch und melodisch mit Chromatik in Spannung gehalten, ein tragendes Element. Kurtág wies darauf hin, dass Quinten nicht nur im Deutschen, sondern auch im Ungarischen als »rein« bezeichnet werden. Nell, die als einzige Person keinen Monolog hat, bleibt damit auf eigene Weise bis zum Ende anwesend und nachwirkend. Ihr galt auch Márta Kurtágs besondere Anteilnahme während der langen Entstehungszeit des Werks, wie einige Eintragungen von ihrer Hand in der handschriftlichen Partitur Kurtágs bezeugen.

UN TEMPS – PAUSE, ECHO Becketts Texte sind musikalischen Kompositionen nicht nur vergleichbar – es sind musikalische Kompositionen. Kurtág nähert er sich der Sprache geradezu mit einer »Verbegrifflichung« von Tönen, auch »Verpersönlichung«: Es gibt bei ihm Gespräche zwischen

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Tönen. Schon in seinen frühen kurzen Játekok-Klavierstücken spielen sich kleine Szenen zwischen wenigen Tönen ab, etwa ein leises Gespräch mit dem Teufel, das auch in späteren Werken immer wieder auftaucht. Töne sind für Kurtág nicht ein zu organisierendes neutrales Material, sondern lebendige Wesen, sich anziehend oder abstoßend. In der Zeitgestaltung teilt er mit Beckett eine Neigung zu kurzen szenischen Momenten mit exzessiven Kontrasten. Einer besonderen Betrachtung bedarf der ganz eigene Umgang mit Pausen bei beiden. Beckett schreibt nicht »pause« oder »silence«, sondern Un temps. Ein paar hundert Mal in diesem Text (in späteren Werken und Regiebüchern wurde das manchmal sogar in Sekunden angegeben). Was heißt Un temps? Schwierig zu übersetzen. Eine Zeit? Unmöglich. Eine Weile? Zu beschaulich. Der Übersetzer Elmar Tophoven, sicher in Übereinstimmung mit dem Autor, schreibt in der deutschen Fassung schlicht Pause. Ohne Artikel. Was heißt das? Nach Grimms Wörterbuch Bd. VII von 1889: 1. Im allgemeinen unterbrechung, der stillstand einer wieder fortgesetzten thätigkeit. 2. Besonders das (berechnete) zeitweise innehalten beim Lesen, sprechen, declamieren u.s.w., namentlich das vorschriftsmäszige innehalten in der musik und das zeichen dafür. Mit einem Schiller-Zitat: beide gehen ohne ein wort zu reden einige pausen lang ... auf und ab. Oder von Lenau: er höret durch des Liedes pausen hellen schlag von rosseshufen. Vielleicht trifft der deutsche Begriff umfassender den Sachverhalt, als es die französische »pause« täte. Der unbestimmte Artikel Un (immer mit großem U) zeigt immerhin etwas Spezifisches an. Die Dauer will reflektiert

und bestimmt sein. Immer wieder. Wie »gehen« und »enden«. In Kurtágs von Beckett getreu übernommenen Szenenanweisungen finden wir immer (B. Un temps.), selbst wenn er sie (selten) nicht direkt umsetzt. B. heißt Beckett-Zitat. Diese Stellen sind bei Kurtág aber nicht stumm, sondern in ganz besonderer Weise auskomponiert. Mal ein zartes tonales Sätzchen des Bayan mit leisen Piatti (nach notre vue a baissé – Oui.). Später, nach Oui, je l’entend, nur ein leiser Schlag auf große Trommel und Becken. Es scheint in solchen Momenten, als ob ein sonst abwesendes Grundwasser sicht- und riechbar würde. Ausnahmsweise kann es auch ein kurzer Schrecken sein – il faut gueuler –, an eine Außenwelt gerichtet, die nicht mehr existiert. Das sind nicht Gedankenstriche oder Pünktchen, sondern Verweise auf ein Etwas. Aber was? Auch hier begegnen wir Nells Abwesenheiten. (Die Zitate stammen aus den Anfängen von Poubelle. Es könnten Dutzende weitere gegeben werden.)

LES VOIX – DIE STIMMEN, DIE PERSONEN Wer mag nicht erstaunt, gar erschrocken sein, als in den frühen 2010er Jah­ ren bekannt wurde, György Kurtág sei dabei, Fin de partie zu komponieren? Für Singstimmen und Orchester. Für große Häuser (Salzburg zuerst, später, weil die Arbeit länger dauerte, Mailänder Scala). Was für Welten sollten da zusammenkommen? Becketts Sprache ist schnörkellos, trocken und dabei auf ganz eigene Art musikalisch. Sein Spiel verlangt einen engen Innenraum. Für die Oper sind es nun freilich große Bühnen mit singen-

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den Menschen, reichhaltigem Orchester, Dirigent, Publikumsaufmarsch in bis zu vierstelligen Zahlen. Die Gattung Oper hat schon seit ihren Anfängen bewiesen, dass sie nichts so gut kann, wie mit Widersprüchen zu leben. Vorausgesetzt, dass dabei mit Unmöglichem auch authentisch umgegangen wird. Ausgangspunkte sind Geste und Stimme, Rhythmus und Tonfall, Licht und »gestimmte« Menschen auf der Bühne, im Saal, im Orchester. Viel zum Spielen, zum Gewinnen und Verlieren. Was sind das hier für Stimmen? Eine wie Ildíko Monyók? Oder Konzert-, Opernstimmen? Sprechgesang? Einfach Alleskönner? Letzteres mag schon zutreffend sein. Es sind wirklich vier ganz außerordentliche Personen, die über den Operngesang hinaus, den sie beherrschen, auch ganz andere Töne und Arten der Artikulation zur Verfügung haben. Doch Kurtág bleibt bei all dem fast durchgehend dem traditionellen Gesang treu. Ungewöhnlich vor allem für große Häuser sind viele sehr leise Partien. Becketts Sprache ist, vor allem in den Dialogen, einfach. Sie verdichtet sich aber erheblich in den großen Monologen von Hamm, der zentralen Figur, um die sich das Spiel dreht. Er beschäftigt sich in seinem Kopf seit Langem mit einer komplizierten Geschichte, die er nur erzählend weiterbauen kann. Deshalb braucht er zunächst eine Zuhörerschaft. Clov lehnt ab, muss dafür den Vater Nagg im Kübel wecken. Es kommt zu einem harten Schlagabtausch zwischen Sohn und Vater: H: Salopard! Pourquoi mʼas-tu fait? N: Je ne pouvais pas savoir. H: Quoi? Quʼest-ce que tu ne pouvais pas savoir? N: Que ce serait toi. Erst in der Rollenumkehr, dem jetzt

kindlich erscheinenden Vater fürs Zuhören ein Dragée in Aussicht zu stellen, kann Hamm seine Geschichte (den Roman, wie er sie einmal nennt) loswerden. Sie handelt von einem Mann, der sich in beißender Kälte bäuchlings anschleicht, um für sein Kind Hilfe zu erhalten. Schon Beckett differenziert verschiedene genau benannte Tonlagen: z. B. den »Erzählton« un long silence se fit entendre, gefolgt vom »Normalton« joli ça ... , »Erzählton« Il arrachait les pins mortes et les emportait ... au loin ..., »Normalton« un peu faible ça. Hier spricht auch der Romancier Beckett mit hinein. Man könnte vielleicht von einem abwechselnd epischen und dramatischen Rezitativ sprechen, mit vorweggenommener Selbstkritik dazu. Kurtág komponiert das so kunstvoll differenziert, dass eine Übersicht nicht leicht zu gewinnen ist. Die inhaltlich bedingte Schwierigkeit darf sich hier ausleben. Die Stimmgattungen der vier Prota­ gonisten von Fin de partie lassen sich nicht einfach den traditionellen Genres zuordnen. Hamm ist ein sehr wandelbarer Bassbariton. Da er sich außer mit den Armen und dem Kopf nicht bewegen kann, liegt fast das ganze dramatische Geschehen in seiner Stimme. Das ist auch im originalen Sprechstück so. Clov, der Diener, ist die einzige Person, die fähig ist, auf den eigenen steifen Beinen über die Bühne zu gehen, aber nicht fähig zu sitzen, doch fähig, eine Leiter zu besteigen zu den beiden Fenstern in der Höhe, hinter denen es nichts mehr zu sehen gibt. Er verfügt für seine virtuose Partie über eine hohe Baritonstimme. Seine Ambivalenz als Abhängiger vom ebenso, aber anders abhängigen Hamm äußert sich immer wieder im Aufflammen von Wider-

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stand, der zu keinem Ziel führen kann. »Wie Feuer und Asche« sei das Spiel, soll Beckett gesagt haben, während der Zuschauerraum eindunkelte zur Generalprobe, so berichtet Ernst Schröder, der in Becketts eigener Berliner Inszenierung 1967 den Hamm spielte. Zu Clovs Pantomime, mit der Becketts Stück beginnt, hat Kurtág eine sehr seltsame »Ouvertüre« komponiert: zwei leise Akkorde, kurz und lang. Kurtágs »Signatur«: der zweite mit zwei großen Terzen um eine verminderte Sexte, die sich wie eine reine Quinte (!) anhört, der erste analog mit zwei kleinen Sexten um eine übermäßige Terz, die sich wie eine reine Quarte anhört. In Clovs Stimme, dem sehr beweglichen, hohen Bariton, erklingen Becketts erste Worte des Stücks: Fini, cʼest fini, ça va finir, ça va peut-etre finir. Ein Vivo bezeichnetes virtuoses Solo, aber ganz leise (so funktioniert Becketts wie Kurtágs »Dramatik«)! Das Orchester hält sich mit lauten Einwürfen nicht an diese Vorgabe. Clov wartet auf seinen nächsten Einsatz (ganz spät wird Hamm mit den gleichen Worten das lange »Finale« einleiten, aber, nicht ganz überraschend, bereits mit Nells fallenden Quinten). Nagg, beinlos in seiner Tonne, singt mit kräftiger Tenorstimme, sehr beweglich, nicht heldenhaft freilich, aber punktgenau schlagfertig. Nach Anhörung von Hamms langer Geschichte (dem »Roman«) schreit er wie ein Kind vergeblich nach der versprochenen Praline. Er erinnert sich, wie er als Vater den kleinen Hamm nach ihm schreien hörte und möchte nun so lange am Leben bleiben, bis er nochmals zur einzigen Hoffnung für seinen Sohn würde. Es sind seine letzten Worte. Er schlägt auf Nells Eimerdeckel, schreit ihren Na-

men, realisiert erst jetzt, dass sie nicht mehr lebt, zieht sich zurück und klappt seinen Deckel zu. Nell, Mezzosopran, hat wie erwähnt als einzige keinen Monolog. Ihre meist kurzen Worte fallen in lange Pausen. Man mag an Mélisande denken oder gar an Penelope? Sie singt, noch bevor das Spiel beginnt, ihr Lied, ein »Roundelay«, hors jeu, in englischer Sprache. Nur ihr weißer Kopf ist sichtbar wie durch ein Schlupfloch im Vorhang. Der Text stammt zwar von Beckett, wurde aber viel später als das Stück geschrieben. Eventuell extra für eine besondere, fast volkstümliche Gesangsnummer? So einfach dieses Lied daherkommt, so kunstvoll ist es auch musikalisch komponiert, ohne dass man sich dessen bewusst wird (Liedtext siehe folgende Seiten). Eine »lydische« Zelle, im Halbtonabstand beantwortet mit der »phry­ gischen« Umkehrung. Die Quinten des – as und a – d, wie scheinbar beiläufig hingesetzt, werden im 4. Takt b – es – b long sole sound zum Zentrum, lange nachwirkend. Kurtág bezeichnete im Gespräch dieses kleine Stück als eine »geistige Zusammenfassung« des Ganzen. Fortsetzung ab S. 54

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S K AOM PU FZ EL E IBLEEC K E T T / R O U N D E L A Y / 1 9 7 6

ON ALL THAT STRAND AT END OF DAY STEPS SOLE SOUND LONG SOLE SOUND UNTIL UNBIDDEN STAY THEN NO SOUND ON ALL THAT STRAND LONG NO SOUND UNTIL UNBIDDEN GO STEPS SOLE SOUND LONG SOLE SOUND ON ALL THAT STRAND AT END OF DAY

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SA MUEL BECKET T / RONDEL / 1976

AM GANZEN STRAND AM ENDE DES TAGES SCHRITTE EINZIGER LAUT LANGE EINZIGER LAUT BIS UNGEBETEN STILLESTEHEN DANN KEIN LAUT AM GANZEN STRAND LANGE KEIN LAUT BIS UNGEBETEN WIEDER GEHEN SCHRITTE EINZIGER LAUT LANGE EINZIGER LAUT AM GANZEN STRAND AM ENDE DES TAGES

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ROLAND MOSER

LES INSTRUMENTS – CHARAKTERE, STÜTZEN, SOLI Obschon es nur selten danach klingt, ist es ein ziemlich großes Orchester. Nicht primär ein Kollektiv, sondern eine Gemeinschaft instrumentaler Stimmen mit spezifischen Aufgaben. Dazu gehört fast immer das Stützen der Singstimmen, manchmal ihre freiere Begleitung. Verdopplungen, die in sogenannt avancierter Musik etwas verpönt waren, spielen hier auch ohne Singstimmen eine wichtige Rolle. Obschon Kurtág Einzelinstrumente gern sehr charakteristisch einsetzt, lässt er sie doch oft nicht allein, bricht ihre Auffälligkeit durch Verdopplung, aber nicht automatisch wie koppelnde Orgelregister, sondern immer artikulierend in stetem Wechsel der Farben. Zum Beispiel werden schon in den ersten Takten des Werks signalhafte Posaunen-Achtel vom Cimbalom unisono mitartikuliert. Schon im dritten Takt tritt das Klavier dazu. In den folgenden fünf Takten wird sehr leise die Pulsation von acht ineinander verschachtelten tiefen Instrumenten fortgesetzt, was einen Klang ergibt, der kaum mehr lokalisierbar ist. Die vollmundige Ankündigung wurde zurückgenommen. Dann kehrt das Paar aus Posaune und Cimbalom zurück, unisono legato, und führt, gestört von einer halbtönig dazu meckernden Trompete, zum sanften Anfang von Nells »Roundelay«. Sehr oft hören wir einstimmige Melodien, horizontal getragen von »Sekundgängen« in den Haupttönen und gefärbt von chromatischen Nachbarschaften und verräumlichenden Harmonie-Klängen. Das führt zu einer ganz eigenen Art von Heterophonie.

Die Orchesterbesetzung enthält zum traditionellen Kern von 13 Holz- und neun Blechbläsern, Streichern, Harfe, Celesta, Vibrafon und Pauken (melodisch!) recht viel Schlagzeug und die für diesen Komponisten so typischen Zusatzinstrumente Klavier, Pianino mit Supersordino, Cimbalom und Bayan (das osteuropäische Akkordeon). Tutti fehlen durchgehend bis auf einen kurzen Moment vor dem Schluss im rein instrumentalen Epilog. Es gibt freilich auch etliche Soli für diese Instrumente. Sie haben eine eigene dramatische Funktion. Man mag an Mozart denken, besonders an die Liebe beider Komponisten zur Klarinette und zum Fagott. Das Fagott mit einer minimalistischen »Melodie« aus drei Tonpaaren über lange Pausen hinweg ist ein Beispiel; es führt zum Aufwachen Hamms. Die halsbrecherisch hohe Melodie vor der ersten Erscheinung Nells (aus der Poubelle) wurde schon erwähnt. Weniger exponiert, aber herzerwärmend ist eine »Cadenza« der Soloklarinette unmittelbar nach Nells Erinnerung an den Seegrund, si blanc, bezeichnet »sciolto, rubato, piano dolce«, nicht auftrumpfend, sondern wie beiläufig die Zeit überlistend. Unmittelbar danach folgt, für den Song Naggs mit der unsäglichen Hosengeschichte, das fleißige Akkordeon (Bayan). Es gehört zusammen mit dem Pianino mit Supersordino und dem Cimbalom zum festen Bestand von Kurtágs »Continuogruppe«. Sehr anschmiegsam sind die Flöten (besonders für Nell) und die Bassklarinette (für die Männer). Die Pauken werden auch melodisch eingesetzt, sogar als Verdopplung der Singstimme (z. B. nach dem Anfang

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SCHRITTE. ENDEN.

von Hamms »dernier monologue«: Vieille fin de partie perdue, finir de perdre.) Besonders tiefe Instrumente glänzen mit Soli, etwa die Basstuba und der Kontrabass. Des Aufzählens wäre kein Ende im Garten dieser reichen Instrumentengemeinschaft.

LES SCENES, LES MONOLOGUES – FORM, DRAMATURGIE Fin de partie von Beckett spielt in einem einfachen Innenraum mit zwei Fenstern in der Höhe, durch die aber keine Außenwelt mehr sichtbar ist. Es sind fortlaufende Gespräche. Spiel- und Handlungszeit sind identisch, ohne Szenenwechsel. Kurtág nennt sein Werk Fin de partie, scènes et monologues, opera en un acte version dramaturgique de György Kurtág dʼaprès la pièce de Samuel Beckett. Er verwendet etwa die Hälfte von Becketts Text. Den einzelnen Ab­ schnitten gibt er Titel, aber nicht opern­­ übliche wie Rezitativ, Arie, Duett, sondern Prolog, Monolog, Dialog, Epilog, Finale. Außer dem letzten sind es Begriffe aus dem Sprechtheater, die Beckett seinerseits meidet. Nur Kurtágs Titel Poubelle fällt aus diesem Rahmen. Dieser Teil war offenbar die Initialzündung für das Werk. In der Mitte der Oper steht das umfangreichste Stück: Roman, wie Kurtág es, einer Bemerkung Hamms entnommen, nennt. Es ist die schon erwähnte, im Entstehen begriffene Geschichte, an der Hamm arbeitet mit dem einzigen Mittel, das ihm verblieben ist: dem mündlichen Erzählen. Mit wechselnden Stimmen: Im Erzähl-Ton, dazwischen selbst reflektierend und kritisch kommentierend.

Beckett hatte in den späten 1940er Jahren für sein Schreiben zur französischen Sprache gefunden über drei Romane und ein Theaterstück (En attendant Godot). Das mochte sogar nach zehn Jahren noch nachklingen. Die Arbeit an der neuen Sprache. Beckett beginnt sein Stück stumm, mit der – exakt beschriebenen – Pantomime des Dieners Clov. Kurtágs Oper setzt vor diese Pantomime Nells spielerisches, kurzes Roundelay, hors jeu, in englischer Sprache, um mit diesem ebenso schlichten wie vieldeutigen Lied dem nachfolgenden Spiel der drei Männer einen zweiten Boden zu geben. Dieser bleibt spürbar durch das ganze Stück bis in den instrumentalen Epilog hinein. Die letzten Monologe von Clov und Hamm scheinen diesen zarten Gefühlsbereich auch immer stärker zu berühren. Das mag eine etwas gewagte »Interpretation« sein. Beckett lehnt Interpretationen seines Stücks ab. Und Kurtág? Ist die dazugekommene Musik nicht auch eine Interpretation? Wie Beckett hat Kurtág das Ganze ohne größere Pausen durchkomponiert. Die Großform der Oper wirkt ganz organisch gewachsen um die drei zentralen Stücke Poubelle, Roman und Hamms Avantdernier monologue. Dieser ist auch schon ein Anfang: auf das sehr lange Finale hin. Der Einstieg ins Werk geht über kürzere, kontrastreiche Szenen und die knappen ersten Monologe von Clov und Hamm. Die Teile des großen langen Finales wirken dagegen einheitlicher, wie ein großer Abgesang der beiden Männer, die sich trennen möchten und dabei einander immer näher kommen. Den musikalisch tragenden Hintergrund dazu bilden –

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SCHRITTE. ENDEN.

wieder – Schritte: CONDUCTUS. Schon mitten im Avantdernier monologue finden wir, von Márta Kurtágs Hand, im Manuskript der Partitur diesen Begriff annotiert. Später immer wieder, differenziert in CONDUCTUS B und A. Es sind nicht zitathafte Verweise auf bekannte Trauermärsche, sondern einfache rhythmische und harmonische Gebilde, immer wieder auftauchend, mit homophonen Akkorden. Wenn hier von »Großform« die Rede ist, heißt das nicht, dass alles so vorbestimmt war. Die Entstehungsgeschichte der Niederschriften von 2012 bis 2017 ist etwas komplizierter. Sie begann schon früher. Kurtág hat das Ganze zweimal von Hand durchgeschrieben, auf Hunderte von A4-Blättern (manchmal drei übereinander). Zwischen den Niederschriften des detaillierten Particells und der definitiven Orchesterpartitur kam es zu einer massiven Kürzung (75 Seiten im Particell, um die 20 Minuten ...) nach dem Roman und Naggs Monolog, eine große Szene mit Hamm und Clov, die direkt in den Avantdernier mono­logue geführt hätte. Die Gründe können sowohl formaler wie inhaltlicher Natur gewesen sein. Der Abschluss der Arbeit war dem Vernehmen nach nur ein provisorischer, im August 2017, durch den Uraufführungstermin bedingt (nach etlichen Verschiebungen). Die ersten Proben hatten schon früher stattgefunden. Kurtág komponierte immer noch weiter. Ob es noch zu Überraschungen kommen könnte?

GEORG NIGL als CLOV

Vermutlich spielte Márta Kurtág eine wichtige Rolle bei der Entstehung der »provisorischen« Gestalt dieser Oper. Sie hat als Dozentin jahrzehntelang mit jungen Sängerinnen und Sängern an der Hochschule gearbeitet, war vertraut mit Grenzen des Möglichen wie mit deren Überschreitungen. Auch für Formales hatte sie ein untrügliches Gespür. Kürzungen gehören im Opernbetrieb zum Alltag, aber auch Längen müssen möglich sein (Wagner!). Selbst Bleistift-Spuren ihrer Hand finden sich in der zweiten Hälfte der handschriftlichen Partitur von Fin de partie, aber nicht Kürzungen, sondern für das Orchester, wie oben erwähnt, das Schlüsselwort CONDUCTUS. Später noch differenziert in CONDUCTUS A und B. Diese langen »Schlusspartien« gehörten nach dem Avantdernier Monologue Hamms nur noch ihm und Clov, den er um »etwas zum Abschied« bittet. Das gibt Clov noch die Chance, fast eine Arie zu singen (on m’a dit). Die beiden entlassen einander mit dem doppeldeutigen Wort remercier: »kündigen« und/ oder »danken«. In seinem letzten »Monolog« findet Hamm nur noch zu wenigen Worten und Bruchstücken seiner Geschichte, getragen vom Orchester mit einem CONDUCTUS DES RÊVES (TRAUMCONDUCTUS). Der vierminütige Schluss (EPILOGUE) gehört ganz dem Orchester: Eine Elegie mit Doppelquinten im Fortissimo mit crescendo, dann zurückgenommen bis in die Stille.

Dieser Text erscheint mit folgender formaler Abweichung: Becketts Original wird im Haupttext in kursiver Schrift und ohne Anführungszeichen verwendet, Kursiva sind hier also immer Originalton Beckett (und Originalton Kurtag). Die deutschen Übersetzungen (immer nach Topho­ven/Beckett) wurden mit Anführungszeichen an allen wichtigen Stellen in den Haupttext auf­genommen.


B Á L I N T A N DR Á S VA RG A

GYÖRGY KURTÁG: LEBENSLAUF GYÖRGY KURTÁG wurde am 19. Februar 1926 in Lugoj im Banat geboren. Seit 1948 ist er ungarischer Staatsbürger. 2002 hat er auch die französische Staatsbürgerschaft angenommen. 1931 erhält er im Alter von fünf Jahren bei Klára Vojkicza-Peia seinen ersten Klavierunterricht. Viel hat er dem gemeinsamen Musizieren mit seiner Mutter zu verdanken, mit der er vierhändige Bearbeitungen von Haydn- und Beethoven-Sinfonien sowie Mozart-Ouvertüren spielte. Die erste echte pädagogische Persönlichkeit, der er Erlebnisse zu verdanken hat, die sich auf sein Leben und auch sein kompositorisches Schaffen ausgewirkt haben, war Magda Kardos in Timişoara. Mit den Kompositionsstudien (Harmonielehre und Kontrapunkt) begann er bei Max Eisikovits gleichfalls in Timişoara. Im September 1945 bewarb er sich an der Budapester Musikakademie. Damals lernte er György Ligeti kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. 1946 begann er sein Studium in Budapest. Pál Kadosa (Klavier), Leó Weiner (Kammermusik), Sandor Veress und später Ferenc Farkas (Komposition) waren seine Professoren. Doch entscheidende Impulse bekam er auch von Pál Járdányi. 1951 erwarb er sein Diplom als Pianist bei Pál Kadosa und im Hauptfach Kammermusik bei Leo Weiner. 1955 legte er bei Ferenc Farkas sein Diplom im Fach Komposition ab. 1947 heiratete er Márta Kinsker. Als Lebensgefährtin, Mutter des 1954 geborenen Sohnes György Kurtág jr., Pianistin, erste Zuhörerin und Kritikerin der entstehenden Kompositionen spielte sie bis zu ihrem Tod 2019 in Kurtágs Leben eine bestimmende Rolle.

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GYÖRGY KURTÁG: LEBENSLAUF

1957/58 besuchte er in Paris Olivier Messiaens und Darius Milhauds Kurse. Den größten Einfluss allerdings übte Marianne Steins Unterricht auf ihn aus. Sie half ihm nicht nur dabei, einen Weg aus einer über Jahre lähmenden Schaffenskrise zu finden. In seiner Komponistenlaufbahn schlug sie ein neues Kapitel auf, wies ihm die Richtung (»Marianne teilte mein Leben in zwei Hälften«). Das erklärt die Widmung des Streichquartetts op. 1. Und Jahre später widmete er Marianne Stein auch die Kafka-Fragmente op. 24. Während der in Paris verbrachten Monate hatte Kurtág den Konzerten der Domaine musical bleibende musikalische Eindrücke zu verdanken. Dort hörte er unter anderen zahlreiche Boulez-Werke unter dem Dirigat des Komponisten, der das Ensemble gegründet hatte. Dieses Jahr, insbesondere einige in Köln verbrachte Tage auf der Rückreise – als er Ligeti wiedersah, der ihm die elektronische Artikulation vorstellte, Stockhausen kennenlernte und dessen Gruppen für drei Orchester hörte –, wirkte sich auf Kurtágs Laufbahn entscheidend aus. Die gewonnenen Eindrücke spielten bei der Entstehung des ersten Streichquartetts op. 1 eine große Rolle. Zwischen 1960 und 1968 korrepetierte Kurtág die Solisten der Ungarischen Philharmonie. 1967 nahm er seine Lehrtätigkeit an der Budapester Musikakademie auf. Anfangs war er Pál Kadosas Assistent für das Fach Klavier, dann unterrichtete er Kammermusik. 1986 ging er in den Ruhestand, unterrichtete jedoch bis 1993 weiterhin an der Musikakademie. Anschließend gab er regelmäßig Kammermusikkurse in zahlreichen Ländern Europas sowie den USA.

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GYÖRGY KURTÁG: LEBENSLAUF

1971 hielt er sich für ein Jahr als DAAD-Stipendiat in Westberlin auf. 1973 und 1996 wurde er mit dem Kossuth-Preis, der höchsten staatlichen ungarischen Ehrung für Kunst und Kultur ausgezeichnet. 1981 fand die Uraufführung von Die Botschaften der verstorbenen R. W Troussowa op. 17, eines Auftragswerks des Ensemble Intercontemporain, in Paris statt. Die Solistin war Adrienne Csengery, Sopran, es dirigierte Sylvain Cambreling. Der durchschlagende Erfolg des Werks leitete Kurtágs internationale Karriere ein. 1993 zog er auf Einladung des Berliner Wissenschaftskollegs für zwei Jahre als composer-in-residence der Berliner Philharmoniker nach Berlin. 1995/1996 weilte er als Gast des Wiener Konzerthauses in Wien, dann folgten Amsterdam (1996–1998), erneut Berlin (1998–1999) und Paris (1999–2001). Zwischen 2001 und 2015 lebte das Ehepaar Kurtág in St. André de Cubzac unweit von Bordeaux. Heute lebt György Kurtág in Budapest. György Kurtág sind zahlreiche Auszeichnungen und Preise verliehen worden: 1998 beispielsweise der Ernst von Siemens Musikpreis und 2006 der Grawemeyer Award – einer der angesehensten Musikpreise der Welt – für seine Komposition ... concertante … op. 42. Die Uraufführung seiner Oper Fin de partie (2018) wurde bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zur »Uraufführung des Jahres« gewählt und bei den International Opera Awards 2019 als beste Uraufführung ausgezeichnet. 2024 wurde der Asteroid (550942) Kurtág nach ihm benannt.

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PHILIPPE SLY als HAMM



MARIE LUISE KASCHNITZ

HAMM Hamm, der im Endspiel blind und unbeweglich im Rollstuhl sitzt, ist von allen bizarren Instrumenten Becketts das mit den meisten Tönen, dem überraschendsten Klang. Von ihm erleben wir in den weißgesichtigen halbtoten Eltern noch ein Stück seiner Vergangenheit; die Geschichte, die er »so gut wie möglich« erzählen will, soll ein Kunstwerk, sein Kunstwerk sein, ist aber auch seine Lebensgeschichte und die Geschichte seiner Schuld. Er hat es am schwersten von all diesen Sterbenden, weil er noch Phantasie besitzt, sich nicht wie Wladimir und Estragon mit allerlei Rechthabereien das eigene Noch-am-Leben-Sein beweisen muss. Er träumt gelegentlich von einer Flucht übers Meer, äußert einmal die Hoffnung, dass doch nicht alles umsonst gewesen sei, und weiß, dass seine Gedanken und Träume, sein Nie-wirklich-da-Sein ihn die Rettung so vieler Menschen versäumen ließen. Er ist voll Verachtung für seine Eltern, die sich von Mülltonne zu Mülltonne noch immer so viel zu sagen haben und Zwiebäckchen teilen, auch voller Hass, weil sie einst seinen Kinderruf nicht hören wollten – jetzt lässt er den Vater vergeblich betteln und weiß doch schon, dass am Ende wieder er selbst es sein wird, der vergeblich ruft. Er kennt die Furcht vor den Haifischen, vor dem Zuendegehen der lebenserhaltenden Pillen, vor der Ratte, die Clov nicht getötet hat. Er weiß alles voraus und besser und bezeichnet in der Erzählung von dem verrückten Maler, der in einer blühenden Landschaft nichts als Asche sah, seine eigene Lage als einen Wahnsinn, eine Sehweise, die den Tatsachen gar nicht entspricht. Diese Erkenntnis macht nichts besser, ändert nichts daran, dass er den kahlen Raum als sein Gefängnis und die untergehende Welt draußen als die andere Hölle empfindet. Seine Gebete haben nichts Blasphemisches, aber eher etwas von einer alten Erinnerung, gegen die sich aufzulehnen sinnlos geworden ist, einem ewigen Versuch, ein Verhältnis wiederherzustellen, das nicht mehr oder noch nicht wieder existiert. Die Worte des Herzens, nach denen er zuletzt verlangt,

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HAMM

das Stück Poesie, das er sich aufsagt, sind ebenso alte Menschheitserinnerung und ein verlorenes Glück. Aber wie Clov fragt, glaubst du an ein zukünftiges Leben, antwortet Hamm, meines war immer ein zukünftiges, das ist Titanenstolz, halbe Göttlichkeit, wie der trotzige Ausspruch »fern von mir ist der Tod«. Hamm ist das letzte Bewusstsein, die letzte Einbildungskraft, das letzte Gebet des Menschen, ihm und nur ihm traut man zu, dass er zu sterben versteht. Und bei all seinem spaßhaft ängstlichen Bestreben, im Rollstuhl die genaue Mitte des Raumes einzunehmen, ist er tatsächlich ein Mittelpunkt, ein Brennpunkt, in dem das Leben sich noch einmal sammelt und verglüht. Sag noch etwas, bittet Hamm den zum Fortgehen gerüsteten Clov, ein paar Worte aus deinem Herzen, nicht anders wie die alte Frau Roney auf dem unheilvollen Heimweg anfleht, sei lieb. Aber Clov geht fort, gebeugt, weiser geworden, bereit, besser leiden zu lernen. Hamm bleibt nichts mehr als die Erinnerung an die Stunde, in der er Clov seine Verantwortung gegenüber dem heranwachsenden Leben klar gemacht hat. Das ist das bisher nie erzählte Ende seiner Geschichte, ist auch seine Rechtfertigung, die er aber jetzt gleichsam nur der Vollständigkeit wegen noch vorbringen muss. Es bleibt ferner das schon Vorausgesehene, der vergebliche Ruf nach dem längst verstummten Vater, der Pfiff, mit dem er Clov nicht mehr zurückholen kann. Dann wird alles fortgeworfen, die Pfeife, der Stoffhund, mit dem noch einmal ein Wesen erschaffen werden sollte, das tote Ding, das Clov ihm über den Kopf geschlagen hat, was aber auch zum Spiel gehörte und zur Auflehnung eben gegen dieses nie endenwollende Spiel Anlass gegeben hat. Die Requisiten werden fortgeworfen. Das letzte, das Taschentuch, gehört Hamm allein und es dient ihm, der nun wirklich allein ist, gegen die Stille, die Starre das Gesicht zu bedecken.

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Folgende Seiten: HILARY SUMMERS als NELL CHARLES WORKMAN als NAGG




BRIEFE

»SUCH NICHT ÜBERALL TIEFERE GRÜNDE«

ALAN SCHNEIDER UND SAMUEL BECKETT IM AUSTAUSCH ÜBER FIN DE PARTIE, TEIL 2 ALAN SCHNEIDER AN SAMUEL BECKETT 5. Januar 1958 Ich habe in ganz New York nach einer Pfeife gesucht, die so gut klingt wie die, die du in Paris hattest. Besteht die Möglichkeit, dass jemand, der mit der Pariser Produktion in Verbindung steht, so eine findet und sie uns vite schickt? Wir zahlen den Zoll, wenn nötig. Ansonsten benutzen wir eine Pfeife amerikanischer Art, die nicht das Alter und die Erfahrung von eurer hat. Danke. Ich werde versuchen, einen Schnappschuss vom Set zu machen und dir zu schicken. Hast du jemals die Schnappschüsse von unseren Pariser Abenteuern erhalten? Oder hast du deshalb in letzter Zeit nicht geschrieben????? Einige Fragen, die in dieser Probenwoche aufgetaucht sind, manche nicht wirklich wichtig, aber jede Hilfe ist willkommen: Warum sind die Gesichter von Hamm und Clov »sehr rot« und die von Nell und Nagg »sehr weiß«? (Hat das mit Alter, Energie, »Blutdruck« zu tun?) Uns gefällt die Idee, dass Hamm eine Decke über den Knien hat – am Anfang und am Ende; könnte Hamm deshalb später, wenn er um eine Decke bittet, sagen: »noch eine Decke«? Die Sache mit Clovs Licht – Mir ist immer noch nicht klar, warum Hamm sagt: »Sieh mich an und komm dann zurück und sag mir, was du von deinem Licht hältst.«

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»SUCH NICHT ÜBERALL TIEFERE GRÜNDE«

Wenn Hamm sagt: »Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir nicht«, nehme ich an, dass er sich auf seinen eigenen Gag bezieht – »Warum? Bist du geschrumpft?« Ist das korrekt? Wenn Nagg in der Mitte seiner langen Rede sagt: »Man muss mit den Zeiten leben«, ist der Gedankengang nicht ganz klar. Warum sagt Hamm: »Bin ich sehr weiß?« (das steht in Zusammenhang mit meiner ersten Frage). Wünschte immer noch, du könntest ein stärkeres Wort als »Petting Parties« finden. Das heißt hier drüben nicht viel. »Orgien« ist besser; aber vielleicht fällt dir ein anderes Wort ein. Ich höre, George Devine [Direktor des Royal Court Theatre, Anm.] hat Probleme mit der Zensur. Hier drüben fallen uns nur zwei schwierige Stellen ein: Die Pisse – mit der wir wahrscheinlich durchkommen. Der Bastard! Er existiert nicht – womit wir wahrscheinlich nicht durchkommen und das wir vielleicht streichen müssen: Der Bastard. Das eigentliche Rätsel für mich: »Noch ein paar solcher Gags und ich rufe.« Ich nehme an, Hamm meint den Gag: Peace to our .... Arses ............ aber warum sagt er ... »und ich rufe«? Hast du oder hat Roger Blin sich mit dem Problem beschäftigt, dass man die Iris seiner Augen nicht sehen kann, weil »sie ganz weiß geworden sind«? Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich habe sogar an Kontaktlinsen gedacht, obwohl der Schauspieler sie vielleicht nicht tragen kann. Ansonsten werden wir aber seine Augen sehen, wenn er die Brille abnimmt, es sei denn, er hält sie geschlossen, daher die Frage. Wie steht es um die Produktion in Wien? […] In meinem Webster Abridged wird die Windgeschwindigkeit mit einem ANEMOMETER gemessen. Ist das okay für dich??????? (Ist eigentlich nicht so wichtig.) Und so weiter. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich die Arbeit an dem Stück genieße, wie sehr ich davon überzeugt bin und wie viel wir alle davon haben. Es ist ein echtes Privileg. Ich wünschte nur, du wärst jeden Tag hier bei uns. Sobald wir eröffnet haben, werde ich meine Bemühungen verdoppeln, dich herüberzulocken. Sofern wir einen guten Lauf haben ....

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BRIEFE

SAMUEL BECKETT AN ALAN SCHNEIDER 10. Januar 1958 Hier, damit Du Deinen Quälgeistern entkommst: 1. Gesichter rot und weiß: wahrscheinlich wie Werthers grüner Frack, weil der Autor sie so gesehen hat. Such nicht überall tiefere Gründe. Wenn es da einen gibt, ist er mir nicht bekannt. Wirklich unlogisch, dass H[amm] und C[lov], die eingesperrt sind, rote Gesichter haben sollen. Dramaturgisch dient es dazu, die Paare zu betonen und getrennt zu halten. 2. Selbst wenn H durchgängig rug benutzt, ist »give me a rug« viel besser als »give me another rug«. Weil er so friert, merkt er nicht, dass er schon eine hat. 3. Ich dachte, wir hatten das schon durch. Jeder hat sein eigenes Licht. Hamm, blind, ist im Dunklen, sein Licht ist erstorben. Was er meint, ist: »Denk an mich in meiner dunklen Welt und jammere mir nichts vor, weil sich deine Welt verfinstert.« Ich hoffe, das spricht für die Wichtigkeit des betonten »your«. 4. Ja, »that« ist das Schrumpfen von Clov. 5. Typischer Illogismus. Das Leben ist ein Erbitten und Versprechen von etwas, wovon Erbittender und Versprechender wissen, dass es nicht existiert. 6. Das bezieht sich auch auf Nr. 10. H weiß nicht, dass er rot ist. Er glaubt, er ist weiß (ausgeblutet) – (unmittelbarer Anlass für die Zeile ist das Frieren wegen des offenen Fensters, wenn Du so willst), so wie er glaubt, dass seine Augen weiß sind. Dass sie in Wirklichkeit nicht weiß sind, ist unwichtig. Blin dachte auch an Kontaktlinsen. Aber das ist die Antoine-Methode und hier falsch [André Antoine, 1858–1943, französischer naturalistischer Regisseur, Anm.]. Seine Vorliebe für Weiß erscheint auch in der Hundeszene. Das Verlangen der Blinden nach Weiß und Licht. 7. Vielleicht »leching«. Gutes starkes altes Wort und folgt gut auf »lick your neighbour«. Für das Höhnische daran hatte ich »petting parties« benutzt. 8. Lord Scarborough zu Gefallen habe ich der Änderung von »pee« zu »relieve myself« zugestimmt und, wo das später als Substantiv wiederkommt, zu »relief«, »arse« zu »rump« und »balls« (vom Hosenstall) zu »hames«. Aber ich habe mich geweigert, die Gebetspassage anzutasten, deren Streichung verlangt wurde. Es ist

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»SUCH NICHT ÜBERALL TIEFERE GRÜNDE«

unverzichtbar, dass die gespielt wird, wie sie dasteht. Wenn du »pee« ändern musst, dann ziehe ich »leak« oder »urinate« gegenüber »relief« vor. »He doesnʼt exist« ohne »the bastard« ist für mich einfach nicht hinnehmbar. Devine kommt mich hier besuchen. Der hinzunehmende Schaden muss Grenzen haben. 9. Was H hier tut, ist ein Aufschieben, mit Hilfe solcher »Sachen« wie dem Bootshaken, der Kappe, der Brille, Versen und Geschichten, er zögert den Moment heraus, wo er nach Clov pfeifen (»call«) und nach seinem Vater rufen muss, d. h. den Moment seines endgültigen Verfalls. Sein Pfeifen nach Clov wird im Verlauf des Stücks von der wachsenden Angst begleitet, dass es unerwidert bleibt (s. besonders am Ende des vorigen Monologs, beginnend mit »you weep, and weep etc«). Diesmal ist er sich sicher, dass Clov nicht »angerannt kommt« und dass sein Vater nicht antworten wird. Aber er kann nicht absolut sicher sein, bis er vergeblich gepfiffen und gerufen hat. (Das erklärt auch, warum Clov durchweg sofort nach dem Pfeifen auftreten muss). Vor dieser absoluten und finalen Gewissheit schreckt H mit seinen »Sachen« zurück. »Gags« ist nicht gut. In der englischen Ausgabe habe ich das in »squirms« geändert, was auch nicht gut ist, aber Hamms Lage vielleicht besser zum Ausdruck bringt. Vielleicht wäre »business« möglich. »A little more business like that etc.« 10. siehe 6. 11. Roger ist gestern nach Wien abgereist. Premiere Ende Februar. [Roger Blin führte Regie bei der Produktion im Wiener Theater am Fleischmarkt, die schließlich am 6. März 1958 eröffnet wurde, Anm.] […] 13. Anemometer ist natürlich richtig. Mein schlechtes Korrekturlesen. Weil Blin nach Wien gefahren ist, wahrscheinlich mit der Pfeife, kann ich da nicht viel machen. Wenn ich eine andere finde, schicke ich sie mit. Anbei Briefe mit ein paar Streichungen. Danke für alles, was du tust und für die große Mühe, die du dir machst. Grüße an die Schauspieler.

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Folgende Seiten: GEORG NIGL als CLOV PHILIPPE SLY als HAMM




SAMUEL BECKETT

ZWEI TEXTE UM NICHTS IV Wohin ginge ich, wenn ich gehen könnte, was wäre ich, wenn ich sein könnte, was sagte ich, wenn ich eine Stimme hätte, wer spricht so und nennt sich ich? Einfach antworten, jemand möge einfach antworten. Es ist derselbe Unbekannte wie immer, der einzige, für den ich existiere, in der Höhle meiner Inexistenz, seiner, unserer, das ist eine einfache Antwort. Denkend wird er mich nicht finden, aber was kann er machen, lebendig und ratlos, ja, lebendig, was er auch sagen mag. Mich vergessen, mich ignorieren, ja, es wäre das Klügste, er kennt sich aus. Warum diese plötzliche Freundlichkeit nach soviel Vernachlässigung, das ist leicht zu begreifen, das ist es, was er sich sagt, aber er begreift nicht. Ich bin nicht in seinem Kopf, nirgends in seinem alten Körper, und doch bin ich da, für ihn bin ich da, bei ihm, daher das ganze Durcheinander. Das müsste ihm genügen, mich abwesend wiedergefunden zu haben, aber nein, er will mich da haben, mit einer Gestalt und einer Welt, wie er, trotz ihm, ich, der ich alles bin, wie er, der nichts ist. Und wenn er fühlt, dass ich ohne Existenz bin, will er, dass ich der seinen beraubt sei, und umgekehrt, verrückt, verrückt, er ist verrückt. Eigentlich sucht er mich, um mich zu töten, damit ich tot sei wie er, tot wie

die Lebenden. Er weiß das alles, aber es dient zu nichts, es zu wissen, ich aber weiß es nicht, ich aber weiß nichts. Er bestreitet, dass er überlegt, aber er tut nichts anderes als überlegen, falsch, als wenn das helfen könnte. Er glaubt zu stammeln, er glaubt stammelnd mein Schweigen aufzufangen, mit meinem Schweigen zu schweigen, er möchte, dass ich es sei, der ihn stammeln lässt, freilich stammelt er. Er erzählt seine Geschichte alle fünf Minuten, wobei er sagt, es sei nicht seine, merkwürdige Schläue. Er möchte, dass ich es sei, der ihn hindert, eine Geschichte zu haben, freilich hat er keine Geschichte, ist das ein Grund, mir eine andrehen zu wollen? So überlegt er, daran vorbei, das ist klar, aber woran vorbei, eben das ist zu prüfen. Er lässt mich sprechen, wobei er sagt, dass ich es nicht sei, geniale Idee, er lässt mich sagen, dass ich es nicht sei, ich, der nichts sagt. Das alles ist wirklich plump. Wenn er mir noch die dritte Person zuerkennte, wie seinen anderen Schimären, aber nein, er will nur mich, für sein Ich. Als er mich hatte, als er ich war, beeilte er sich, mich fallenzulassen, ich existierte nicht, er mochte das nicht, das war kein Leben, freilich existierte ich nicht, er auch nicht, freilich war das kein Leben, er hat es jetzt, sein Leben, auf dass er es verliere, wenn er den Frieden will, und selbst dann. Sein Leben, sprechen wir darüber, das mag

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ZWEI TEXTE UM NICHTS

er nicht, er hat begriffen, nämlich dass es nicht seines ist, es ist nicht er, was für ein Gedanke, ihm so was anzutun, das ist gut für Molloy, für Malone, das sind die Sterblichen, die glücklichen Sterblichen, aber er, kein Gedanke daran, so was durchzumachen, er, der sich nie gerührt hat, er, der ich ist, wenn man alles in Betracht zieht, und was alles und wie in Betracht zieht, er brauchte nur nicht dahin zu gehen. So spricht er, heute abend, so lässt er mich sprechen, so spricht er zu sich, so spreche ich, es gibt nur mich, mit meinen Schimären, heute abend, hier, auf Erden, und eine Stimme, die kein Geräusch macht, weil sie niemanden angeht, und einen Kopf voller Kriegsmüder und sofort wieder aufgestandener Toter, und einen Körper, ich hätte ihn beinahe vergessen. Heute abend, ich sage heute abend, es ist vielleicht Morgen. Und alle diese Dinge, welche Dinge, um mich herum, ich will sie nicht mehr leugnen, es lohnt sich nicht mehr. Wenn es die Natur ist, sind es vielleicht Bäume und Vögel, sie gehören zusammen, Wasser und Luft, damit alles weitergehen kann, ich brauche die Einzelheiten nicht zu kennen. Ich sitze vielleicht unter einer Palme. Oder es ist ein Zimmer, mit seinen Möbeln, alles Nötige, um das Leben bequemer zu machen, nur wenig Licht, wegen der Mauer vor dem Fenster. Was ich tue, ich spreche, ich lasse meine Schimären sprechen, das kann nur ich sein. Ich muss auch schweigen und lauschen und dann die Geräusche des Ortes hören, die Geräusche der Welt, na, bemühe ich mich nicht, vernünftig zu sein. Das ist mein Leben, warum nicht, es ist eines, wenn man will, wenn man absolut darauf besteht, ich sage nicht nein, heute abend. Es bedarf dessen, wie es scheint, sobald Sprache da ist, es ist keine Ge-

schichte erforderlich, eine Geschichte ist nicht unerlässlich, nur ein Leben, das ist der Fehler, den ich gemacht habe, einer der Fehler, eine eigene Geschichte gewollt zu haben, wo das bloße Leben genügt. Ich mache Fortschritte, es wurde Zeit, ich werde schließlich mein dreckiges Maul halten können, wenn nichts Vorhergesehenes eintritt. Aber jener, der kommt und geht, der es schafft, den Ort zu wechseln, ganz allein, selbst wenn ihm nichts geschieht, eben, jener da. Ich, ich bleibe hier sitzen, wenn ich sitze, oft fühle ich mich sitzen, manchmal stehen, es ist das eine oder das andere, oder liegen, das ist noch eine Möglichkeit, oft fühle ich mich liegen, es ist eins von den dreien, oder knien. Auf der Welt zu sein, das ist die Hauptsache, die Positur ist nicht so wichtig, wenn man nur auf Erden ist. Atmen, mehr wird nicht verlangt, Herumirren ist keine Pflicht, Gastfreundlichsein auch nicht, man kann sich sogar für tot halten, vorausgesetzt, dass man es bemerkbar macht, kann man sich ein milderes Reglement erträumen, ich weiß nicht, ich träume nicht. Es nützt unter solchen Bedingungen nichts, zu sagen, ich sei woanders, ein anderer, wie ich bin, habe ich alles Nötige bei der Hand, um was zu tun, ich weiß nicht, das, was ich zu tun habe, endlich bin ich wieder allein, welche Erleichterung muss das sein. Ja, es gibt Momente, wie in diesem Moment, wie heute abend, da es beinahe den Anschein hat, als sei ich dem Reich des Möglichen wieder anheimgegeben. Dann geht es vorbei, alles geht vorbei, ich bin wieder weit weg, ich habe noch eine Geschichte in weiter Ferne, ich erwarte mich in der Ferne, damit meine Geschichte beginne, damit sie ende, und wieder kann diese Stimme nicht

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SAMUEL BECKETT

meine sein. Dahin ginge ich, wenn ich gehen könnte, der dort wäre ich, wenn ich sein könnte.

IX Wenn ich sagte, Dort gibt es einen Ausweg, dort irgendwo gibt es einen Ausweg, der Rest würde sich finden. Worauf warte ich nur, um es zu sagen, um es zu glauben? Und was bedeutet der Rest? Werde ich antworten, versuchen zu antworten, oder aber weitermachen, als ob ich nichts gefragt hätte? Ich weiß nicht, ich kann nichts wissen, weder im Voraus, noch nachher, noch gleichzeitig, die Zukunft wird es lehren, ein naher oder ferner Moment, ich werde nicht hören, ich werde nicht verstehen, so sehr stirbt alles, kaum geboren. Und die Ja und Nein bedeuten nichts in diesem Munde, sie sind wie Mühsal skandierende Seufzer, oder sie sind Antworten auf eine nicht begriffene Frage, auf eine stumme Frage, in den Augen eines Stummen, eines Zurückgebliebenen, der nicht begreift, der nichts begriffen hat, der sich in einem Spiegel erblickt, der vor sich blickt, in die Wüste, mit aufgesperrten Augen, ja seufzend, nein seufzend, dann und wann. Es tut sich ja was im Kopf, das kommt vor, was heißt, dass dieselben Dinge wiederkehren, die einander mitreißen oder vorantreiben, man braucht nicht zu wissen welche. Es geht mechanisch, wie die großen Kälten, die großen Hitzen, die langen Tage, die langen Nächte, des Mondes, das ist meine Überzeugung, denn ich habe Überzeugungen, wenn sie an der Reihe sind, dann habe ich keine mehr, so ist das, man muss es glauben, das heißt, man muss es sagen, da ich es gerade sagte. Der Ausweg, heute abend ist der Ausweg an der Reihe, könnte

man es nicht für ein Duo halten, oder für ein Trio, ja, mitunter hört es sich so an, dann geht es vorüber und hört sich nicht mehr so an, hat sich niemals so angehört, hört sich wie nichts an, gleicht nichts, die Frage erhebt sich nicht, die Frage nach dem, was es ist. Welche Mannigfaltigkeit und zugleich welche Monotonie, wie mannigfaltig es ist und zugleich wie, wie soll man sagen, wie monoton. Wie bewegt es ist und wie ruhig zugleich, welche Wechselfälle im Herzen welches Unveränderlichen. Momente des Zögerns, eher seltene als häufige, wenn man wählen müsste, und schnell überwundene, zugunsten der alten Crux, von der zunächst alles abhängt, dann viel, dann wenig, dann nichts. Das ist es, Wortschwall, umhülle mich, Wortlawine, damit keine Rede mehr sei von irgendeinem Geschöpf, weder von einer zu verlassenden Welt noch von einer zu erreichenden, auf dass es damit zu Ende sei, mit den Welten, den Geschöpfen, den Worten, dem Elend, dem Elend. Und kaum ist das gesagt, Ah, sage ich mir, damit hätte man rechnen müssen, wenn ich nur sagen könnte, Dort gibt es einen Ausweg, dort irgendwo gibt es einen Ausweg, wäre alles gesagt, es wäre der erste Schritt, auf dem langen gangbaren Weg, Endstation Grab, schweigend zu gehen, Schrittehen für Schrittehen, nicht wieder rückgängig zu machende, in den langen Gängen zuerst, dann in tödlicher frischer Luft, durch Tage und Nächte, immer schneller, nein, immer langsamer, aus leicht begreiflichen Gründen, und dabei doch immer schneller, aus anderen leicht begreiflichen Gründen, oder aus denselben, anders begriffenen, oder genauso begriffenen, aber in einem anderen Moment, einem früheren Moment, einem späteren Moment, oder im selben

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ZWEI TEXTE UM NICHTS

Moment, es gibt ihn nicht, es würde ihn nicht geben, ich fasse zusammen, unmöglich. Wüsste ich, woher ich gekommen bin, nein, ich hätte eine Mutter, ich hätte eine Mutter gehabt, und woraus ich hervorgegangen bin, mit welcher Mühe, nein, ich hätte es vergessen, alles vergessen, was lässt mich dies sagen, was mich jenes sagen lässt, was mich alles sagen lässt, und das ist nicht sicher, nicht so sicher wie es die Mutter wäre, wie es das Grab wäre, wenn es einen Ausweg gäbe, wenn ich sagte, dass es einen Ausweg gäbe, lasst es mich sagen, Dämonen, nein, ich werde nichts verlangen. Ja, ich hätte eine Mutter, ich hätte ein Grab, ich wäre nicht hieraus hervorgegangen, man geht hieraus nicht hervor, das ist hier mein Grab und meine Mutter, heute abend ist das alles hier, ich bin tot und in Geburt begriffen, ohne geendet zu haben, ohne beginnen zu können, das ist mein Leben. Wie vernünftig dies ist, und worüber beklage ich mich nur, nicht mehr auf und ab zu gehen, vor dem Friedhof, indem ich mir sage, Wenn diese Komödie nur solange dauert, dass ich enden kann, sollte dies meine Klage sein, es ist möglich. Ich hatte recht, besorgt zu sein, und mich dabei zu fragen worüber, und ich suchte auf und ab gehend, was es wohl sein könnte, und ich fand es, indem ich mir sagte, Das bin ich nicht, ich habe noch nicht begonnen, man hat mich noch nicht gesehen, und indem ich mir sagte, Doch, doch, das bin ich, und zwar, was mehr ist, im Begriff, nicht mehr zu sein, und den Schritt beschleunigend, um vor der folgenden Bedrängnis anzukommen, als liefe ich auf der Zeit, und indem ich mir sagte, und und so weiter. Ich blieb sicherlich nicht unbemerkt, seit all der Zeit, und doch

hätte man nicht gesagt, dass ich nicht unbemerkt blieb. Ich meine nicht das Guten-Tag-Sagen, es hätte niemanden so verwirrt wie mich, fast ebenso wie eine Verbeugung, ein Kuss oder Händedruck. Aber die anderen Zeichen, die nicht zu unterdrückenden Zuckungen und Grimassen, durch die man unwillkürlich von den Leuten bestätigt wird, auch die nicht, scheint mir, wenn nicht vielleicht seitens der immerhin gut abgerichteten, mit Scheuklappen versehenen Pferde, die die Leichenwagen zogen, und auch da maß ich mir wahrscheinlich zuviel Ehre an. Fürwahr, ich finde kein einziges Gesicht wieder, das ist doch der Beweis dafür, dass ich nicht da war, nein, das beweist nichts. Die Tatsache aber, nicht belästigt worden zu sein, ist es möglich, dass ich dafür unempfindlich geblieben bin. Leider glaube ich, dass sie sich bei mir zu den verbindlichsten Rohheiten hätten hinreißen lassen können, ich sage nicht, ohne dass ich es gemerkt hätte, aber ich sage, ohne dass es mir geholfen hätte, mich mehr dort zu fühlen als anderswo. Und ich habe vielleicht die Hälfte meines Lebens in den Gefängnissen ihres Arkadiens verbracht, um für die Delikte der anderen Hälfte zu büßen, ohne dass mir mein problematisches Wacheschieben, in der Freiheit, vor dem Friedhofstor, durch einen einzigen Augenblick Rast erleichtert zu werden schien. Und wenn sie aus Überdruss, zu sehen, wie ich mich nach jeden Zwangsferien erhob und wieder zum Friedhofstor zurückkehrte, sich erlaubt hätten, ihren Schlägen ein wenig Nachdruck zu verleihen, gerade genug, um den Tod zu vergönnen, ohne sich im Geringsten über die Leiche herzumachen, dort, am Friedhofstor, wo ich erschienen war, am gleichen Morgen, nachdem man mich

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ZWEI TEXTE UM NICHTS

nach bezahlter Schuld, an die Gesellschaft, kaum wieder losgelassen hatte, und meinem alten Vergehen wieder frönte, hin und her, bald mit langsamen, bald mit hastigen Schritten, gleich denen des Verschwörers Catilina, als er auf den Ruin des Vaterlandes sann, wobei ich mir sagte, Das bin ich nicht, doch ich bins, und wobei ich mir sagte, Dort gibt es einen Ausweg, nein, nein, ich verwechsele etwas, ich muss hier und dort verwechseln, jetzt und damals, genauso wie ich sie damals verwechselte das Hier von damals, das Damals von dort, mit anderen Räumen und anderen Zeiten, schlecht wahrgenommenen, aber nicht schlechter als jetzt, jetzt, da ich hier bin, wenn ich hier bin, und nicht mehr dort, vor dem Friedhof, ratlos auf und ab gehend. Oder habe ich mich nur hingesetzt, am Ende, mit dem Rücken an die Mauer, vor mir die lange Nacht, während der die Toten im Totenhemd auf ihrem Totenbett oder im Sarg liegend darauf warten, dass die Sonne aufgeht. Was mache ich bloß, ich versuche festzustellen, wo ich bin, um gegebenenfalls anderswohin gehen oder mir sagen zu können, Nur warten, man möge mich abholen, das ist mein Eindruck, mitunter. Dann vergeht er und, nein, ich merke, dass es nicht so ist, es ist etwas anderes, schwer zu Fas-

sendes, das ich nicht fasse, oder fasse, je nachdem, und das kommt auf dasselbe heraus, denn das ist es auch nicht, sondern noch etwas anderes, oder das erste, das wiederkehrt, oder es ist immer dasselbe, dieselbe Sache, die sich meiner Ratlosigkeit anbietet und verschwindet, bevor sie sich ihr von neuem anbietet, meiner ungestillten oder vorübergehend verhungerten Ratlosigkeit. Der Friedhof, ja, dorthin werde ich zurückkehren, heute abend dorthin, von meinen Worten getragen, wenn ich hier raus könnte, das heißt, wenn ich sagen könnte, Dort gibt es einen Ausweg, dort irgendwo gibt es einen Ausweg, genau zu wissen wo, wäre eine einfache Frage der Zeit, und der Geduld, und des folgerichtigen Denkens, und des treffenden Ausdrucks. Aber der Körper, um dorthin zu gehen, wo ist der Körper? Das ist nebensächlich, das ist nebensächlich. Und ich bin sicher, ich würde dorthin gehen, zum Ausweg, früher oder später, wenn ich sagen könnte, Dort gibt es einen Ausweg, dort irgendwo gibt es einen Ausweg, der Rest würde sich finden, die anderen Worte, früher oder später, und die Kraft, um dorthin zu gehen, und der Weg, um dorthin und hindurchzugehen und die schönen Dinge zu sehen, die der Himmel trägt, und die Sterne wiederzusehen.

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DIE UNMÖGLICHKEIT EINES UNENTSCHIEDEN FIN DE PARTIE UND DAS SCHACHSPIEL­ Versuch, das Endspiel zu verstehen, nannte Theodor W. Adorno seinen berühmt gewordenen Aufsatz über Samuel Becketts noch berühmteres Schauspiel. Und auch wenn der Professor in seinen Schriften grundsätzlich die Möglichkeit auszuschließen scheint, er habe irgendetwas nicht oder falsch verstanden, ist der Titel nicht der Koketterie verdächtig. Adornos ästhetische Philosophie lässt Kunstwerken ihre Rätselhaftigkeit: Sie unterrichten nicht als des sittlichen Bürgers Abendschule, sondern machen unbekannte, über das Bestehende hinausreichende Potenziale erfahrbar. Dass Adorno auf bestimmten Anteilen seiner Interpretation von Becketts Text auch gegen den ausdrücklichen Widerspruch des Autors bestand – berühmt Adornos Assoziation von »Hamm« und »Hamlet« –, steht dabei gerade nicht auf einem anderen, sondern auf demselben Blatt: Seine Auseinandersetzung mit Kunstwerken ist grundsätzlich nie die Suche nach der vordergründigen Intention des Autors, sondern versucht, dessen Anteil an der »unbewussten Geschichtsschreibung seiner Epoche« herauszuarbeiten (so die Formulierung in der Ästhetischen

Theorie). Ob man Adornos Assoziation zwischen Becketts Hamm und Shakes­ peares Dänenprinzen folgen oder sie als Irrweg verwerfen möchte, darf wiederum unabhängig davon entschieden werden, was Beckett davon hielt. Versuche, das Endspiel zu verstehen, haben immer dann Konjunktur, wenn eine Auseinandersetzung mit Becketts Text ansteht, entsprechend auch angesichts des so erfreulichen wie berechtigten Interesses, das György Kurtágs Fin de partie ausgelöst hat. Besprechungen von Aufführungen des Kurtág-Werks zeigen den Effekt des Beckett-Textes ebenso sehr wie die Auseinandersetzungen innerhalb von Produktionsteams, die das Werk zur Aufführung bringen: Die Feststellung, dass der Sinn von Fin de partie, wie Adorno schreibt, eben der sei, »dass es keinen hat«, ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Auseinandersetzung, beziehungsweise, in guter Beckett-Tradition, beides zugleich. Becketts Text ist zu herausfordernd, zu voll von versteckten Hinweisen und Bildern, die durchaus entschlüsselbar sind – und die Korrespondenzen zeigen, dass der Autor seine vielen Quellen selbstverständlich benennen konnte. Dass

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er es nicht tat und sich entsprechende Anfragen verbat, ist Teil seiner künstlerischen Versuchsanordnung: Das momentweise Verzweifeln der Darstellenden, das Clancy Sigal plastisch für die Proben zur Londoner Inszenierung von 1964 beschrieb; die fassungslose Begeisterung des Berliner Hamm-Darstellers Ernst Schröder, als er berichtet, dass Beckett auf seine Frage, ob Hamm nicht vielleicht ein schlechtes Gewissen habe, geantwortet habe: »Glauben Sie?« –, all das ist Teil des Endspiel-Kosmos, der sich bei jeder Neuproduktion aufs Neue organisiert.

KEINE CHANCE AUF DAS FINALE Dem Versuch, gerade das Endspiel zu verstehen, stellt sich in Gestalt des deutschen Titels ein besonderes Hindernis entgegen. Beckett schrieb bekanntlich viele seiner Texte auf Französisch, so auch Fin de partie, und stellte die Übertragungen ins Englische dann häufig selbst her – unter auch brieflich bezeugten Qualen und Mühen. Bestehendes zu übertragen war ihm noch anstrengender, als Neues zu schaffen. Beckett dachte beim Schreiben im Rhythmus der Sprache, in der er schrieb, was ihm bei der Übersetzung großen Kummer bereitete. Aus der Übersetzerwerkstatt, in der aus Fin de partie Endgame werden sollte, klagte Beckett am 3. März 1957 an seinen Dichterkollegen Thomas McGreevy: »Ich finde, es verliert im Englischen an Kraft, die ganze Schärfe ist verloren, ebenso der Rhythmus. Wäre ich nicht vertraglich an das Royal Court Theatre gebunden, würde ich eine Aufführung in englischer Spra-

che überhaupt nicht zulassen.« Die Schwierigkeiten führten dann dazu, dass zumindest die Uraufführung nicht in englischer Sprache stattfand: Am 3. April 1957 ging Fin de partie zwar im Londoner Royal Court Theatre zum ersten Mal über die Bühne, allerdings auf Französisch. Die Übertragungen von Becketts Werken ins Deutsche besorgten Elmar und Erika Tophoven in enger Zusammenarbeit mit Beckett. Elmar Tophoven weist in seinem Text über diese konkrete Übersetzungsarbeit (Von ›Fin de partie‹ zum ›Endspiel‹, 1968) auf bekannte Schwierigkeiten der Reibung zwischen wörtlicher und phonetisch stimmiger Übersetzung hin. Und er verweist auch auf eine Besonderheit des deutschen Titels: »Fin de partie evoziert das Ende eines Schachspiels, eines Denkspiels deutlicher als Endspiel, das einen ebenso gut an einen Sportwettkampf denken lässt.« Tophoven nennt hier – die Definition von Schach als Sport, auf die schon Marcel Duchamp Wert legte, beiseitelassend – die Besonderheit des deutschen »Endspiel« sowohl gegenüber »Fin de partie« als auch gegenüber dem englischen »Endgame« beim Namen. Nur im Deutschen ist der Titel zweideutig und lässt etwa an das letzte Spiel in einem Pokalwettkampf denken: Das entscheidende Spiel, aus dem die Siegerinnen und Sieger hervorgehen werden, das Spiel, das den Bewerb beendet, das in jedem Fall entschieden werden muss. Für diese Veranstaltungen ist im Englischen der Begriff »finals« gebräuchlich, »finale« im Französischen – das Wort, aus dem lateinischen »finis« gebildet, was wiederum »Ende« bedeutet, gibt es bekanntlich auch im Deutschen. Umgekehrt

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heißen Entscheidungsspiele weder »Endgame« noch »Fin de partie« – dieser Titel ist dem »Spiel der Könige« vorbehalten. Im Schach bedeutet »Endspiel« das, was die Begriffe »Fin de partie« und »Endgame« exklusiv bezeichnen: Die letzte der drei Phasen, in die sich eine Schachpartie unterteilen lässt. Jede Schachpartie beginnt mit der Eröffnung, in der die Figuren »entwickelt«, also in eine für die gewählte Strategie vorteilhafte Stellung gebracht werden. Die Entwicklung findet übrigens auch dann statt, wenn keine besonders ausgefeilte Strategie zum Einsatz kommt. Die Figuren ändern in jedem Fall ihre Stellung, kommen gewissermaßen aus der Reserve. Eröffnungen sind besonders gut dokumentiert, und erfahrene Schachspielerinnen und -spieler beherrschen grundsätzlich eine Anzahl klassischer Eröffnungen. Die Eröffnung endet, wenn die meisten Figuren entwickelt sind und der König gesichert ist, meist durch eine Rochade, den Stellungswechsel mit einem Turm. Im anschließenden Mittelspiel wird mit der Stellung taktiert, die sich aus der Eröffnung ergeben hat. Hier müssen Spielerinnen und Spieler versuchen, mit ihrem taktischen und strategischen Geschick zu reüssieren, um das Spiel für sich zu entscheiden. Figuren werden abgetauscht, sodass sich deren Anzahl immer mehr verringert. Wenn sich nur noch wenige Figuren auf dem Feld befinden, beginnt die letzte Phase: das Endspiel.

ZEHN ZÜGE IM VORAUS Definitionsgemäß ist der Übergang vom Mittelspiel zum Endspiel fließend. Kennzeichnend für Endspiele ist aber, dass die Könige hier notge-

drungen eine größere Rolle spielen. Da weniger Figuren im Spiel sind, um sie zu verteidigen, müssen die Könige selbst aktiv werden. So einfach und formalisiert sich der Verlauf in einer Schachpartie in der Theorie darstellen lässt, so nachvollziehbar erscheint das Bild des Schachspiels als komplexe Metapher für den Verlauf des Lebens oder den Gang der Geschichte, wie es in Literatur, Kunst und Philosophie immer wieder zur Anwendung kam. Yoko Ono schuf 1966 ihr White Chess Set, bei dem, wie der Name verrät, alle Felder und alle Figuren dieselbe (weiße) Farbe haben: Die gewohnte Opposition wird in eine zunehmend unübersichtliche, unverständliche Situation überführt. In Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Idiot erklärt der todkranke Ippolit Terentjew in seiner schriftlich dargelegten Notwendigen Erklärung die Unvorhersehbarkeit der Folgen des eigenen Handelns anhand einer Schachpartie: »Es ist doch ein ganzes Leben und eine unendliche Menge von Verzweigungen, die uns verborgen sind. Der beste Schachspieler, der scharfsinnigste von allen, kann nur einige Züge im Voraus übersehen; von einem französischen Spieler, der ganze zehn Züge voraussehen konnte, schrieb man wie von einem Wunder. Und wie viele Züge gibt es hier, wie vieles ist uns unbekannt?« Die Unmöglichkeit, alles zu bedenken, alles vorauszusehen, fesselt; der Versuch, dennoch alle Eventualitäten mit menschlichen Mitteln zu meistern, der sich in letzter Konsequenz als Überlebenskampf darstellt – all das macht die Spannung, die Faszination im Schachspiel aus. Walter Benjamin verwendete in seinen Thesen über den Begriff der Geschichte ein bestechendes Bild, um

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DIE UNMÖGLICHKEIT EINES UNENTSCHIEDEN

die Besonderheit seiner Geschichtsphilosophie auf den Punkt zu bringen. Er beschreibt einen Schachautomaten, der jeden Gegner habe schlagen können: Eine Puppe »in türkischer Tracht« habe scheinbar von selbst jeden Zug mit dem perfekten Gegenzug erwidert. Tatsächlich, so Benjamin, habe es sich aber ganz anders verhalten: »In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe mit Schnüren lenkte.« Das Bild der scheinbar perfekten Beherrschung oder auch: des perfekten Verständnisses des Spiels, dessen eigentlicher Protagonist im Verborgenen bleiben muss, ist die Blaupause für Benjamins geschichtsphilosophisches Postulat: »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann jeden schlagen, wenn sie die Theologie in Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« Benjamin leitet mit diesem Bild seine Arbeit mit dem Begriff des Messianischen ein, der für seine Geschichtsphilosophie von entscheidender Bedeutung ist. Das Messianische steht dabei notwendigerweise mit dem Begriff der Erlösung im Zusammenhang, der die Überwindung der Klassengesellschaft in theologischen Termini beschreibt: »Der Messias«, so Benjamin, »kommt ja nicht nur als der Erlöser, er kommt als der Überwinder des Antichrist«. Die »messianische Kraft« ist dabei aber das Gegenteil eines bloßen Zukunftsversprechens: Es handelt sich dabei vielmehr um die Verbindungslinie zwischen der Gegenwart und jener Vergangenheit, die erst der »erlösten Menschheit« »vollends zufällt«. Der

Schachautomat operiert damit in einer Welt, deren Antagonismus ohne theologisches Verständnis nicht aufzulösen ist und die damit ohne solches auch in ihrer Geschichtlichkeit nicht begreifbar wäre.

BECKETTS PARTIEN Samuel Beckett war als begeisterter Schachspieler bekannt. Dass ihm die Schach-Analogie für Fin de partie wichtig war, ist überliefert: Die Beckett-Biographin Deidre Bair zitiert mündliche Berichte von Freunden, denen Beckett von seinem neuen Stück berichtet habe. Gegen deren Übersetzung des Titels als »End of the game« habe Beckett sich entschieden verwehrt: »Es heißt Endgame – Endspiel, wie beim Schach.« In Deidre Bairs Beckett-Biographie findet sich auch eine kleine Sammlung von Schach-Analogien zu Becketts Stück, die auf teils abenteuerliche Wege, teils aber auch zu einigen gewissermaßen atmosphärischen Erkenntnissen führen, die Fin de partie in ein Licht stellen, das dem Werk gut zu Gesicht steht. Deidre Bair bringt dabei Marcel Duch­amp ins Spiel. Leben und Werk des französischen Konzeptkünstlers und Erfinders des Readymades sind in vielfältiger Weise vom Schachspiel durchzogen: So spielen Duchamp und Man Ray in René Clairs Film Entr’acte (1924) Schach auf dem Dach des Théâtre des Champs-Elysees; Duchamps Werk Chess Score (1965) besteht aus der Aufzeichnung der Züge seiner Partie gegen Savielly Tartakower; die Performance Reunion schließlich (1968) bestand in einer Schachpartie, die Duchamp gegen John Cage spielte und bei der die Züge mithilfe von Sensoren im

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Schachbrett Tonfolgen auslösten. Die Grenzen zwischen Duchamps Kunst und seinem Schachspiel können als fließend bezeichnet werden. Als Spieler nahm er mit der französischen Nationalmannschaft an einer inoffiziellen und vier offiziellen Schacholympiaden teil. Gemeinsam mit Vitali Halberstadt verfasste er außerdem ein Fachbuch: L’Opposition et les cases conjuguées sont réconciliées (Opposition und Schwesterfelder sind versöhnt, 1932), eine Abhandlung über Bauernendspiele. Und hier stellt sich der Zusammenhang zu Samuel Beckett und Fin de partie her. Dieser fügt sich aus Hörensagen, Berichten anonymer Stichwortgeber und Kombinatorik, aber auch aus Teilen von Duchamps Buch und Becketts Stück. Deidre Bair schreibt: »Beckett hatte Duchamp ursprünglich im Haus von Mary Reynolds [seiner Lebensgefährtin, Anm.] kennengelernt und war ihm während der dreißiger Jahre immer wieder begegnet. Wie Duchamp frequentierte Beckett die Cafés, in denen sich die besten Schachspieler trafen. Außerdem verfolgte er die Schachkolumne, die Duchamp gelegentlich für die Pariser Tageszeitung Ce Soir schrieb.« Eine noch etwas engere Verbindung berichtet der Biograph James Knowlson: Im Sommer 1940 hätten Beckett und seine spätere Frau Suzanne Déchevaux-Dumesnil viel Zeit mit Duchamp und Mary Reynolds in Arcachon an der Atlantikküste verbracht, wo Beckett auch ausgedehnte Schachpartien mit dem ihm deutlich überlegenen Duchamp gespielt hätte. Ob Beckett auch L’Opposition et les cases conjuguées sont réconciliées studiert hat, ist schwer festzustellen. Es handelt sich um ein Fachbuch, das vor allem aus schematischen Darstellungen einer bestimmten Form des Endspiels

und deren Erläuterung besteht. Die Variationen dieser speziellen Situation, mit der sich Halberstadt und Duchamp beschäftigen, sind im Zusammenhang mit Fin de partie aber tatsächlich interessant: In Grundzügen entspricht sie jener, die uns im Stück begegnet.

UNVERSÖHNT AUF SCHWESTERFELDERN Das Bauernendspiel ist, seinem Namen entsprechend, jene Variante des Endspiels, in dem außer den Königen nur noch Bauern im Spiel sind. Die Opposition ist die Gegenüberstellung der Könige, und bei den Schwesterfeldern (cases conjuguées) handelt es sich um Felder mit reziprokem Zugzwang: Zieht ein König auf das eine Feld, muss der andere auf das andere ziehen, um nicht zu verlieren. Die Entdeckung der Regel der Reziprozität in den Zügen wird von verschiedenen Autoren Duchamp und Halberstadt zugeschrieben. HenriPierre Roché, der mit Duchamp befreundete Schriftsteller, gerät bei seiner Beschreibung der Situation in literarische Verzückung über ihre Dramatik: »Gegen Ende des Spiels kommt eine Phase, wo auf dem Brett fast nichts mehr steht und wo das Spiel von dem Umstand abhängt, dass der König ein bestimmtes Feld gegenüber und in einem bestimmten Abstand vom gegnerischen König einnehmen oder nicht einnehmen kann. Nur selten hat der König die Wahl zwischen zwei Zügen; er kann so tun, als hätte er jedes Interesse daran verloren, das Spiel zu gewinnen. Dann kann der andere König, ist auch er ein wahrer Souverän, seinerseits den Eindruck erwecken, womöglich noch weniger interessiert zu sein, und so fort. So können die beiden Monarchen

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also unbekümmert Zug für Zug einsam übers Brett Walzer tanzen, so als wären sie alles andere als in einen tödlichen Kampf verstrickt. Allerdings gibt es für jeden Schritt, den sie unternehmen, bestimmte Regeln, und der kleinste Fehler hat augenblicklich tödliche Folgen. Es gilt, den anderen zu diesem Fehler zu provozieren und selbst die ganze Zeit einen kühlen Kopf zu behalten. Das sind die Regeln, die Duchamp ans Licht gebracht hat (die freien und die verbotenen Felder), alles, um die hochmütige Lustpartie der Könige zu verstärken und auszudehnen.« Liest sich das wie eine Beschreibung von Fin de partie? Vielleicht mit Ausnahme des Begriffs »Lustpartie«. Auch ist nicht leicht zu entscheiden, wie die Konstellation zu denken wäre. Sind Clov und Hamm zwei Könige? Oder ist Hamm ein König, Clov ein Bauer, und den beiden sitzt noch jemand anderes gegenüber? Was würde das für Nell und Nagg bedeuten? Die Erklärung, die Beckett nach der Aufzeichnung des Dramaturgen Michael Haerdter im Rahmen der Proben zur Berliner Inszenierung 1967 gegeben hat, beantwortet diese Frage nicht endgültig, bringt aber das entscheidende Detail in den Blick. Beckett, so Haerdter, habe Hamm folgendermaßen skizziert: »Er ist der König in dieser von

Anfang an verlorenen Schachpartie. Er weiß von Anfang an, dass er lauter sinnlose Züge macht. Dass er etwa mit dem Bootshaken nicht vorankommt. Nun macht er zuletzt noch ein paar sinnlose Züge, wie sie nur ein schlechter Spieler macht, ein guter hätte längst aufgegeben. Er versucht nur, das unvermeidliche Ende hinauszuschieben. Jede seiner Gesten ist einer der letzten, sinnlosen Züge, die das Ende aufschieben. Er ist ein schlechter Spieler.« Das Prinzip der Wiederholung, das Beckett gerade in Fin de partie so wichtig war, und das György Kurtág für seine Beckett-Oper in so bemerkens­ werter Weise in Musik setzt, ist eben kein lustbares Königsspiel mit dem Ziel, den Gegner in einem unaufmerksamen Moment zu erwischen. Es ist noch nicht einmal die Illusion dieses Zieles. Beckett hat Fin de partie nicht zufällig als »elliptisch« bezeichnet. Hier schließt sich kein Kreis, sondern die Schleife des uneinsichtigen, hoffnungslosen Spielers setzt sich möglicherweise unendlich fort. Anders als Walter Benjamins messianischer Materialismus hat Samuel Beckett keinen »Meister des Schachspiels« im Unter- oder Hintergrund verborgen. Sein Spiel bleibt in der Unmöglichkeit verfangen, die Pattsituation einzugestehen: Unerlöst.

Folgende Seiten: CHARLES WORKMAN als NAGG PHILIPPE SLY als HAMM




SAMUEL BECKETT

SCHLUSS JETZT All das Vorhergehende vergessen. Zuviel auf einmal ist zuviel. Das lässt der Feder Zeit zum Notieren. Ich sehe sie nicht, aber ich höre sie da hinter mir. Solche Stille. Wenn die Feder anhält, mache ich weiter. Manchmal sträubt sie sich. Wenn sie sich sträubt, mache ich weiter. Zuviel Stille ist zuviel. Oder es ist meine manchmal zu schwache Stimme. Jene, die aus mir hervordringt. Soviel über die Art und Weise. Ich tat alles, was er wünschte. Ich wünschte es auch. Für ihn. Jedesmal, wenn er etwas wünschte, wünschte ich es auch. Für ihn. Er brauchte nur zu sagen was. Wenn er nichts wünschte, wünschte ich auch nichts. So lebte ich nicht ohne Wünsche. Wenn er etwas für mich gewünscht hätte, hätte ich es auch gewünscht. Glück zum Beispiel. Oder Ruhm. Ich hatte nur die Wünsche, die er äußerte. Aber er musste sie wohl alle äußern. All seine Wünsche und Bedürfnisse. Wenn er schwieg, musste er wohl so sein wie ich. Wenn er mir sagte, ich solle ihn am Penis lecken, stürzte ich mich darauf. Ich bezog Befriedigung daher. Wir mussten wohl die gleichen Befriedigungen haben. Die gleichen Bedürfnisse und die gleichen Befriedigungen. Eines Tages sagte er mir, ich solle ihn lassen. Eben dieses Verbum gebrauchte er. Er musste es wohl nicht mehr lange machen. Ich weiß nicht, ob

er damit meinte, ich solle ihn verlassen oder nur einen Moment beiseitegehen. Ich habe mir die Frage nie gestellt. Ich habe mir immer nur seine Fragen gestellt. Wie dem auch sei, ich machte mich davon, ohne mich umzudrehen. Außer Reichweite seiner Stimme war ich außer seinem Leben. Das war es vielleicht, was er wünschte. Es gibt Fragen, die man sieht, ohne sie sich zu stellen. Er musste es wohl nicht mehr lange machen. Ich hingegen musste es noch lange machen. Ich gehörte einer ganz anderen Generation an. Es hat nicht lange gedauert. Nun, da ich in die Nacht dringe, habe ich so etwas wie Lichtschimmer im Schädel. Unfruchtbare Erde, aber nicht ganz. Mit drei oder vier Leben hätte ich es zu etwas bringen können. Ich musste etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als er mich bei der Hand fasste. Ich war kaum der Kindheit entwachsen. Aber es dauerte nicht lange, bis ich ihr ganz entwuchs. Es war die Linke. Zur Rechten sein war ihm ein Greuel. Wir schritten also Seite an Seite, Hand in Hand voran. Ein paar Handschuhe genügte uns. Die freien oder äußeren Hände hingen nackt da. Er litt keine fremde Haut an seiner Haut. Die Schleimhäute sind etwas anderes. Es kam nichtsdestoweniger vor, dass er sich den Handschuh auszog. Dann hatte ich das Gleiche zu tun. Wir legten so etwa hundert Meter zurück, verbun-

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den durch unsere nackten Extremitäten. Selten mehr. Das genügte ihm. Wenn man mir die Frage stellte, würde ich sagen, dass ungleiche Hände sich kaum zur Intimität eignen. Meine fand nie ihren Platz in seiner. Manchmal ließen sie einander los. Der Druck wurde schwächer und jede für sich fiel hinab. Oft dauerte es lange Minuten, bevor sie sich wieder erfassten. Bevor seine meine wieder erfasste. Es waren ziemlich enganliegende Baumwollhandschuhe. Anstatt die Formen abzurunden, ließen sie sie schärfer hervortreten, indem sie sie vereinfachten. Meiner war natürlich jahrelang zu schlaff. Aber es dauerte nicht lange, bis ich ihn ganz ausfüllte. Er fand, dass ich Wassermann-Hände hätte. Der Wassermann ist ein Haus des Himmels. Alles habe ich von ihm. Ich werde es nicht jedesmal bei Erwähnung dieses oder jenes bisschen Wissens wiederholen. Die Kunst zu Kombinieren ist nicht meine Schuld. Es ist ein Fluch des Himmels. Im Übrigen würde ich für unschuldig plädieren. Unsere Begegnung. Obwohl er schon sehr krumm war, machte er auf mich den Eindruck eines Riesen. Sein Rumpf war schließlich waagerecht. Um diese Anomalie auszugleichen, spreizte er die Beine und beugte die Knie. Seine immer platter werdenden Füße drehten sich nach außen. Sein Horizont beschränkte sich auf den Boden, auf den er trat. Ein winziger, sich bewegender Teppich aus Rasen und zertretenen Blumen. Er gab mir die Hand wie ein großer, müder Affe, den Ellbogen so hoch wie möglich hebend. Ich brauchte mich nur aufzurichten, um ihn um dreieinhalb Kopflängen zu überragen. Eines Tages blieb er stehen und erklärte mir, nach Worten suchend, die Anatomie sei ein Ganzes.

Anfangs sprach er immer im Gehen. Wie mir nun scheint. Dann bald im Gehen, bald stehend. Schließlich nur noch stehend. Außerdem immer leiser. Damit er nicht das Gleiche zweimal hinterein­ ander zu sagen brauchte, musste ich mich tief vorbeugen. Er blieb stehen und wartete darauf, dass ich meine Haltung einnähme. Sobald er aus dem Augenwinkel meinen Kopf neben seinem erblickte, gab er sein Gemurmel von sich. Neun von zehn Malen betraf es mich nicht. Aber er wollte, dass alles gehört wurde, sogar die Ausrufe und Gebetsbrocken, die er dem blumigen Boden entgegenschleuderte. Er blieb also stehen und wartete bis mein Kopf erschien, bevor er mir sagte, ich solle ihn lassen. Ich zog flink meine Hand zurück und machte mich davon, ohne mich umzudrehen. Zwei Schritte, und er verlor mich für immer. Wir hatten uns gespalten, wenn es das war, was er wünschte. Er redete selten über Geodäsie. Aber wir haben mehrmals das Äquivalent des irdischen Äquators zurücklegen müssen. Im Tempo von durchschnittlich fünf Kilometern pro Tag und Nacht. Wir nahmen unsere Zuflucht zur Arithmetik. Wieviel Kopfrechnungen wir tief gekrümmt Hand in Hand gemacht haben. So erhoben wir ganze ternäre Zahlen zur dritten Potenz. Bisweilen in strömendem Regen. Sich schlecht und recht nach und nach in sein Gedächtnis prägend, häuften die Kubikzahlen sich an. Im Hinblick auf die umgekehrte Operation in einem späteren Stadium. Wenn die Zeit ihr Werk vollbracht hätte. Wenn man mir in gebührender Form die Frage stellte, würde ich sagen, Ja, in der Tat, das Ende dieses langen Spaziergangs war mein Leben. Sagen wir die etwa elftausend letzten Kilometer. Von

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dem Tage an, da er mir gegenüber zum ersten Mal ein Wort über seine Gebrechlichkeit erwähnte, indem er sagte, dass sie seiner Ansicht nach ihren Gipfel erreicht habe. Die Zukunft gab ihm recht. Jedenfalls jene, aus der wir gemeinsam Vergangenheit machen sollten. Ich sehe die Blumen zu meinen Füßen, und es sind die anderen, die ich sehe. Jene, auf die wir im Gleichschritt traten. Es sind übrigens die gleichen. Entgegen der Annahme, zu der ich lange geneigt hatte, war er nicht blind. Nur faul. Eines Tages blieb er stehen und beschrieb mir, nach Worten suchend, seine Sehkraft. Er schloss, indem er sagte, dass sie seiner Ansicht nach nicht noch mehr nachlassen würde. Ich weiß nicht, in welchem Maße er sich Illusionen hingab. Ich habe mir die Frage nie gestellt. Wenn ich mich vorbeugte, um die Mitteilung zu empfangen, sah ich flüchtig, wie er mit rosig-blauem, augenscheinlich beeindrucktem Blick nach mir schielte. Er blieb manchmal stehen, ohne etwas zu sagen. Sei es, weil er schließlich nichts zu sagen hatte, sei es, weil er, obwohl er etwas zu sagen hatte, sich schließlich entschloss, es nicht zu sagen. Ich beugte mich wie gewöhnlich vor, damit er nichts zu wiederholen brauchte, und wir verharrten so. Tief gekrümmt mit einander berührenden Köpfen. Stumm, Hand in Hand. Derweil rings um uns herum immer mehr Minuten vergingen. Früher oder später riss sein Fuß sich von den Blumen los und wir gingen weiter. Um womöglich nach wenigen Schritten wieder stehenzubleiben. Damit er endlich sagte, was er auf dem Herzen hatte, oder sich von Neuem entschlösse, es nicht zu sagen. Andere markante Vorgänge tauchen im Gedächtnis auf. Unverzügliche, unPHILIPPE SLY als HAMM GEORG NIGL als CLOV

unterbrochene Mit­teilung mit unverzüglichem Wiederauf­­b ruch. Das Gleiche mit verzögertem Wiederaufbruch. Verzögerte, ununterbrochene Mitteilung mit unverzüglichem Wiederaufbruch. Das Gleiche mit verzögertem Wiederaufbruch. Unverzügliche, unterbrochene Mitteilung mit unverzüglichem Wiederaufbruch. Das Gleiche mit verzögertem Wiederaufbruch. Unterbrochene, verzögerte Mitteilung mit unverzüglichem Wiederaufbruch. Das Gleiche mit verzögertem Wiederaufbruch. Damals also werde ich gelebt haben, damals oder nie. Zehn Jahre, gelinde gesagt. Seit dem Tage, da er mit dem Rücken seiner linken Hand lange über sein ruiniertes Kreuz fuhr und seine Prognose verkündete. Bis zum Tage meiner vermutlichen Ungnade. Ich sehe die Stelle wieder, einen Schritt vor dem Gipfel. Zwei Schritte weiter geradeaus, und ich lief schon den anderen Abhang hinab. Zurückblickend hätte ich ihn nicht mehr gesehen. Er kletterte gern und ich demnach auch. Er verlangte nach den steilsten Hängen. Sein menschlicher Körper zerfiel in zwei gleiche Segmente. Dies dank der Beugung der Knie, die das zweite verkürzte. Bei einer Steigung von fünfzig Prozent streifte sein Kopf den Boden. Ich weiß nicht, welchem Umstand er diese Neigung verdankte. Der Liebe zur Erde und zu den tausend Düften und Farben der Blumen. Oder ganz einfach Imperativen anatomischer Art. Er hat die Frage nie aufgeworfen. Einmal oben angelangt, musste man leider wieder hinab. Um sich von Zeit zu Zeit des Himmels erfreuen zu können, bediente er sich eines kleinen, runden Spiegels. Nachdem er ihn behaucht und dann an seiner Wade blankgerieben hatte,

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suchte er darin die Sternbilder. Ich hab’s! rief er, von der Leier oder vom Schwan sprechend. Und oft fügte er hinzu, dass dem Himmel nichts fehle. Wir waren jedoch nicht im Gebirge. Ich ahnte dann und wann am Horizont ein Meer, dessen Niveau mir höher als unseres zu sein schien. Sollte es der Grund irgendeines weiten, verdunsteten oder nach unten abgeflossenen Sees sein? Ich habe mir die Frage nie gestellt. All diese Kenntnisse habe ich von ihm. Ich kombiniere sie nur auf meine Weise. Mit vier oder fünf Leben wie jenem hätte ich eine Spur hinterlassen können. Trotzdem ragten recht häufig solche etwa hundert Meter hohe Kuppen empor. Ich blickte ungern auf und entdeckte die nächste oft am Horizont. Oder statt uns von jener, die wir gerade hinabgestiegen waren, zu entfernen, stiegen wir sie von Neuem hinauf. Ich spreche von unserem letzten Jahrzehnt zwischen den beiden erwähnten Ereignissen. Es überdeckt die vorhergehenden, die ihm haben gleichen müssen wie ein Ei dem anderen. Wenn ich es recht überlege, ist meine Bildung jenen versunkenen Jahren zuzuschreiben. Denn ich erinnere mich nicht, während der Jahre, an die ich mich erinnere, irgend etwas gelernt zu haben. Mit dieser Überlegung beruhige ich mich, wenn all mein Wissen mir die Sprache verschlägt. Ich habe meine Ungnade ganz nahe bei einem Gipfel situiert. Aber nein, es war in der Ebene, in tiefer Stille. Mich umdrehend, hätte ich ihn an der gleichen Stelle erblickt, wo ich ihn verlassen hatte. Die kleinste Kleinigkeit hätte mich mein Missverständnis verstehen lassen, wenn es ein Missverständnis gegeben hätte. In den folgenden Jahren schloss ich die Möglichkeit, ihn wieder-

zufinden, nicht aus. Eben da, wo ich ihn verlassen hatte, wenn nicht woanders. Oder ihn nach mir rufen zu hören. Wobei ich mir jedoch sagte, dass er es nicht mehr lange machen würde. Aber ich rechnete nicht zu fest damit. Denn ich hob den Blick kaum von den Blumen. Und er hatte keine Stimme mehr. Und als ob das nicht genügte, hörte ich nicht auf, mir immer wieder zu sagen, dass er es nicht mehr lange machen würde. So dass es nicht lange dauerte, bis ich überhaupt nicht mehr damit rechnete. Ich weiß nicht mehr, wie das Wetter jetzt ist. Aber zeit meines Lebens war es ewig mild. Als sei die Erde im Frühling eingeschlafen. Ich spreche von unserer Hemisphäre. Schwere, lotrechte, kurze Niederschläge trafen uns unversehens. Ohne merkliche Trübung des Himmels. Ich hätte die Stille des Windes nicht bemerkt, wenn er nicht davon gesprochen hätte. Des Windes, der nicht mehr da war. Der Stürme, denen er getrotzt hatte. Freilich gab es da nichts zum Fortwehen. Selbst die Blumen hatten keine Stengel und klebten wie Seerosen am Boden. Keine Rede mehr davon, dass sie im Knopfloch prangten. Wir zählten die Tage nicht. Wenn ich zehn Jahre zusammenbekomme, dann dank unserem Schrittzähler. Endstrecke geteilt durch durchschnittliche Tagesstrecke. Anzahl der Tage. Teilen. Eine gewisse Zahl am Vorabend des Tages mit seinem Kreuz. Eine gewisse andere am Vorabend meiner Ungnade. Tagesdurchschnitt immer bis auf den laufenden Tag errechnet. Abziehen. Teilen. Die Nacht. Lang wie der Tag in diesem endlosen Äquinoktium. Sie bricht herein, und wir machen weiter. Wir brechen vor Tagesanbruch wieder auf. Ruhestellung. Doppelt gekrümmt, ineinander verkeilt. Zweiter Knick an

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den Knien. Ich an der Innenseite. Wie ein Mann drehten wir uns herum, wenn er den Wunsch äußerte. Ich fühle ihn nachts an mir, in seiner ganzen verdrehten Länge. Es ging nicht so sehr darum zu schlafen als sich auszustrecken. Denn wir gingen in einem Halbschlaf. Mit der oberen Hand hielt er mich und berührte mich, wo er wollte. Bis zu einem gewissen Punkt. Die andere war mit meinem Haar verflochten. Er sprach ganz leise von Dingen, die es für ihn nicht mehr gab und für mich nicht hatte geben können. Vom Wind in den oberirdischen Stengeln. Vom Schatten und Obdach der Wälder. Er war nicht redselig. Im Durchschnitt hundert Worte auf Tag und Nacht verteilt. Kaum mehr als eine Million insgesamt. Viele Wiederholungen. Ausrufe. Mit denen der Stoff kaum zu streifen war. Was weiß ich vom Schick-

sal des Menschen? Ich bin über die Radieschen besser auf dem Laufenden. Die hatte er geliebt. Wenn ich eines davon sähe, würde ich ohne Zögern seinen Namen nennen. Wir lebten von Blumen. Soviel über den Unterhalt. Er blieb stehen und packte, ohne sich bücken zu müssen, eine Handvoll Blütenblätter. Dann ging er kauend weiter. Sie übten im Großen und Ganzen eine beruhigende Wirkung aus. Wir waren im Großen und Ganzen ruhig. In zunehmendem Maße. Alles war es. Diese Idee der Ruhe habe ich von ihm. Ohne ihn hätte ich sie nicht gehabt. Ich mache mich nun daran, alles auszuwischen, außer den Blumen. Keine Regengüsse mehr. Keine Kuppen mehr. Nur wir zwei, wie wir uns durch die Blumen schleppen. Schluss jetzt, meine alten Brüste fühlen seine alte Hand.

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IMPRESSUM GYÖRGY KURTÁG SAMUEL BECKETT:

FIN DE PARTIE SCÈNES ET MONOLOGUES SPIELZEIT 2024/25 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO & NIKOLAUS STENITZER Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz IRENE NEUBERT Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE / ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung – Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch – Singen ist Vermitteln – Nikolaus Stenitzer in Konversation mit György Kurtág – Simone Young: Der feine Klang der Ideen – Wir gehen herum, als hätte es eine Bedeutung. Nikolaus Stenitzer im Gespräch mit Herbert Fritsch – Thomas Macho: Wartend, erschöpft und resilient – Nikolaus Stenitzer: Die Unmöglichkeit eines Unentschieden. ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Alan Schneider & Samuel Beckett: Briefe, aus: Samuel Beckett: Wünsch dir nicht, dass ich mich ändere, Briefe 1957– 1965, übersetzt und eingerichtet von Chris Hirte © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2016 bzw. No author better served. The correspondence of Samuel Beckett & Alan Schneider © Harvard University Press 2000 (Briefe Schneider: Deutsche Übersetzung Nikolaus Stenitzer) – Roland Moser: Schritte. Enden. In Zusammenarbeit mit dem Autor gekürzte und von diesem mit einem neuen Schluss versehene Fassung des Aufsatzes mit demselben Titel aus: MusikKonzepte Sonderband XI/2020, György Kurtág, Hg. von Ulrich Tadday © edition text + kritik München 2020 – Samuel Beckett: Roundelay in: Collected Poems © Faber and Faber London 2013. Deutsche Übertragung für dieses Programmbuch von Erika Tophoven – Bálint András Varga: György Kurtág : Lebenslauf. Aktualisierung des gleichnamigen Beitrags aus: Bálint András Varga (Hg.): György Kurtág. Drei Gespräche mit Bálint András Varga und LigetiHommagen © Wolke Verlag Hofheim 2010 – Marie Luise Kaschnitz: Hamm, Auszug aus: Dies.: Lucky, in: Dies.: Zwischen immer und Nie. Gestalten und Themen der Dichtung © Insel Verlag Frankfurt am Main 1971 – Samuel Beckett: Zwei Texte um nichts und Schluss jetzt, aus: Ders.: Stücke. Kleine Prosa. Auswahl in einem Band © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970 BILDNACHWEISE Coverbild: Eckart Hahn, The Hole, 2018, Acryl auf Leinwand, 120 x 100 cm © Bildrecht, Wien 2024 / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin / Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (S. 8/9, S. 22, S. 28/29, S. 34/35, S. 39, S. 44/45, S. 56, S. 64/65, S. 84/85, S. 88) – Sofia Vargaiová / Wiener Staatsoper GmbH (S. 4/5., S. 15, S. 61, S. 70/71, S. 77) Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.



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