VON DER LIEBE TOD Das klagende Lied Kindertotenlieder Gustav Mahler
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch Über diesen Abend → Calixto Bieito
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Mahlers jugendlicher Geniestreich → Sergio Morabito
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Ein Hoffnungsschimmer mit Fragezeichen → Lorenzo Viotti
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Der singende Knochen → Brüder Grimm
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Das klagende Lied → Ludwig Bechstein
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Märchenerzählung → Janina Klassen
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Ein seltsam Spielen → Sherry Lee
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New Dark Age → James Bridle
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Mahlers Kindertotenlieder → Mathias Hansen
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Warum Gustav Mahler keine Oper komponiert hat → Franz Willnauer
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Das klagende Lied → Gustav Mahler
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Kindertotenlieder → nach Friedrich Rückert
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Impressum
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Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunklen Empfindungen walten, an der Pforte, die in die andere Welt hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen. Gustav Mahler
VON DER LIEBE TOD DAS KLAGENDE LIED Ein Märchen für Chor, Soli, großes Orchester und Fernorchester in drei Abteilungen (1880)
KINDERTOTENLIEDER nach Texten der gleichnamigen Gedichtsammlung von Friedrich Rückert für eine Singstimme und Orchester (1901-1904)
Gustav Mahler
Besetzung DAS KLAGENDE LIED Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Knabensopran, Knabenalt; Gemischter Chor; Orchester: 3 Flöten (+ 2 Piccoloflöten), 2 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Hörner, 4 Trompeten, 3 Posaunen, 2 Basstuben, Pauken, Triangel, Becken, Tamtam, Große Trommel, 6 Harfen, Streicher Fernorchester: 3 Flöten, 4 Klarinetten, 3 Fagotte, 4 Flügelhörner, 2 Pistons, Pauken, Triangel, Becken KINDERTOTENLIEDER Singstimme; Orchester: 2 Flöten, Piccoloflöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, Pauken, Tamtam, Harfe, Celesta, Glockenspiel, Streicher Spieldauer ca. 1 Stunde 25 Minuten ohne Pause Autographe Das Autograph des Klagenden Liedes ist verschollen; eine Partiturabschrift aus dem Jahr 1880 befindet sich in The James Marshall and Marie-Louise Osborne Collection, Yale University, New Haven, Connecticut. Reinschrift der Kindertotenlieder: Pierpont Morgan Library New York Uraufführungen DAS KLAGENDE LIED Zweiteilige revidierte Fassung von 1898: 17. Februar 1901 im Großen Musikvereinssaal in Wien unter Leitung des Komponisten; Waldmärchen: 1934 in Brünn; Mischfassung aus Waldmärchen und revidierter Fassung: 1935 in Wien; Urfassung: 7. Oktober 1997 in Manchester durch das Hallé Orchestra unter Kent Nagano KINDERTOTENLIEDER 29. Jänner 1905 im Kleinen Musikvereinssaal in Wien durch das k. u. k. Hofopernorchester unter Leitung des Komponisten mit Friedrich Weidemann als Solist. → Lovis Corinth, Kain, 1917
Szenische Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 29. September 2022 2
WAS DAS KLAGENDE LIED ERZÄHLT I. Waldmärchen Eine stolze Königin macht ihre Hingabe von dem Fund einer roten Blume abhängig. Zwei Brüder begeben sich im Wald auf die Suche. Der jüngere ist bald erfolgreich. Er steckt sich die Blume an den Hut und legt sich unter eine Weide. Der ältere findet den Schlafenden und erschlägt ihn.
II. Der Spielmann Ein Spielmann findet am Fuß der Weide einen Knochen, aus dem er sich eine Flöte schnitzt. Als er sie an die Lippen setzt, singt sie ein klagendes Lied: »Um ein schönfarbig Blümelein hat mich mein Bruder erschlagen.« Der Spielmann lässt das Lied in der Welt erklingen.
III. Hochzeitsstück Im Schloss feiert man die Hochzeit der Königin mit dem vermeintlichen Entdecker der Blume. Nur der König selbst scheint keinen Anteil zu nehmen. Da tritt der Spielmann auf und lässt das Lied der Flöte erklingen. Als der König das Instrument an seine Lippen reißt, richtet es seine Anklage direkt an ihn. Die Königin sinkt zu Boden, die Hochzeitsgäste fliehen, das Schloss stürzt ein.
H A N DLU NG
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KINDERTOTENLIEDER Eltern betrauern den Tod ihrer Kinder.
1. »Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n, als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n.«
2. »Was dir nur Augen sind in diesen Tagen: in künft’gen Nächten sind es dir nur Sterne.«
3. »Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein, ist es mir, als immer kämst du mit herein.«
4. »Sie sind uns nur vorausgegangen.«
5. »In diesem Wetter, in diesem Braus, sie ruh’n wie in der Mutter Haus.«
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H A N DLU NG
THE STORY OF THE SONG OF SORROW AND ACCUSATION I. Forest legend A proud queen makes her hand in marriage conditional on finding a red flower. Two brothers set off in search of it in the forest. The younger one soon finds it. He puts the flower in his hat and lies down under a willow. The older brother finds him asleep and kills him.
II. The minstrel A minstrel finds a bone at the foot of a willow and carves a flute from it. When he puts it to his lips, it sings a song of accusation: »My brother killed me for a beautiful flower.« The minstrel plays the song everywhere.
III. The wedding In the castle they are celebrating the queen’s wedding to the man assumed to have found the flower. But the king himself seems unwilling to share in this. The minstrel enters and plays the flute’s song. When the king seizes the flute and puts it to his own lips, the flute accuses him directly. The queen sinks to the floor, the wedding guests flee, the castle falls in ruin.
SY NOPSIS
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SONGS OF THE DEATH OF CHILDREN Parents mourn for their children.
1. »The sun is rising so brightly, as if nothing bad had happened in the night.«
2. »What you see as eyes in these days you will see as stars in nights to come.«
3. »When your mother comes in at the door, it aways seems to me as if you’re coming in with her.«
4. »They’ve just gone on ahead of us.«
5. »In this bad weather, in this storm, they’re resting as if they were at home.«
→ Nächste Seiten: Florian Boesch, Daniel Jenz und Chor der Wiener Staatsoper, 2022
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Der von Lorenzo Viotti dirigierte und von Calixto Bieito inszenierte Musiktheaterabend verbindet zwei Schlüsselwerke Gustav Mahlers: die frühe Kantate des 19jährigen Das klagende Lied (1879/80) mit den späten Kindertotenliedern aus der ersten Hälfte seines letzten Lebensjahrzehnts (1901/04). Mahler betrachtete das Klagende Lied als sein eigentliches, vollgültiges »Opus 1«, in das auch eine Reihe nie realisierter Opernpläne aufging. Der Komponist schuf – auch als sein eigener Textdichter – einen weit ausgreifenden Märchenkosmos: Motive aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (S. 26) und aus Bechsteins Neuem deutschen Märchenbuch (S. 28) sind zur »Ballade vom singenden Knochen« verflochten. Die Musikwissenschafterinnen Janina Klassen (S. 34) und Sherry Lee (S. 54) untersuchen die faszinierend-abgründigen poetisch-musikalischen Strukturen des Klagenden Lieds, die sich jeder einsinnigen Deutung und Analyse entziehen. Mahler konnte sein solistisch, chorisch und instrumental großbesetztes Werk erst 1901 in einer u.a. um den ersten Satz gekürzten Fassung zur Uraufführung bringen. Im Rahmen unseres Projekts wird die vollständige einstündige Urfassung erklingen. Lorenzo Viotti äußert sich ab S. 20 zu seiner Annäherung an das Werk. Franz Willnauer beschäftigt sich mit der Frage, warum Mahler, der als Interpret und als Wiener Hofoperndirektor 1897-1907 sein Leben lang um die Oper rang, selbst keine Oper schrieb (S. 92). Auf den Zusammenbruch der auf Lüge und Mord errichteten Welt des Klagenden Lieds, der von keinem musikalischen Hoffnungsmotiv verklärt wird, folgt der Zyklus der Kindertotenlieder: Die ebenso intime wie erschütternde Klage eines Vaters bzw. eines Elternpaares um seine verlorenen Kinder. Sie ist in den ersten vier Liedern mit abgründig-bohrender kammermusikalischer Reduktion gestaltet, um sich im fünften und letzten zu sinfonisch-orchestraler Faktur aufzuschwingen. Mathias Hansen stellt ab S. 82 ihre Entstehung und musikalische Dramaturgie vor. Calixto Bieito liest aus Mahlers Partituren seine eigenen ungeschützten Fragen an einen apokalyptischen Weltlauf heraus. Dabei ist ihm James Bridles vieldiskutiertes Buch New Dark Age – Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft ein wichtiger Bezugspunkt (S. 72) Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
→ Florian Boesch, Vera-Lotte Boecker und Chor der Wiener Staatsoper, 2022
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Mahler ist seit früher Jugend Teil meines Lebens, ich empfinde ihn als Zeitgenossen. Unser Theaterabend, der das frühe »Klagende Lied« mit den späten »Kindertotenliedern« verbindet, könnte unter dem Motto stehen: »Die Zukunft ist jetzt.« Unsere Gegenwart hat der Computerwissenschafter und Künstler James Bridle als »New Dark Age« bezeichnet und gezeigt, wie sie einem digitalen Big Data-Overkill entgegen taumelt. Unser Raum überträgt
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unser Gefangensein in dieser virtuellen Welt in die Märchenwelt des »Klagenden Liedes«, die Mahler am Ende kollabieren lässt. Nach der Katastrophe erschließen die »Kindertotenlieder« einen Raum der Trauer, der Stille und der Reflexion und einen vielleicht möglichen Neubeginn. Mich bewegt bei der Arbeit die Erinnerung an die Geschichten und Märchen unserer Kindheit und die Frage, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen.
Calixto Bieito 13
Sergio Morabito
»OB ICH DAS JE ZUR AUFFÜHRUNG BRINGEN KANN, WEISS GOTT.«
Mahlers jugendlicher Geniestreich
»Ich kann Dir sagen, ich bin paff über dieses Werk, seitdem ich es wieder unter den Händen habe. Wenn ich bedenke, dass das ein 20-jähriger Mensch geschrieben, kann ich es nicht begreifen – so eigenartig und gewaltig ist es!« Jeder Hörer von Das klagende Lied wird das Erstaunen des Schöpfers teilen, das diesen ergriff, als er die unaufgeführt liegengebliebene Partitur nach 13 Jahren wieder vornahm. Gleich nach ihrer durchaus mühevollen Vollendung im November 1880 – »ein wahres Schmerzenskind, an dem ich schon über ein Jahr arbeite« – hatte der frischgebackene Absolvent des Wiener Konservatoriums alles Erdenkliche unternommen, um sein »Märchenspiel« zu lancieren: Er hatte es beim Wiener Beethovenwettbewerb eingereicht, sich um eine Aufführung beim Fest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Weimar bemüht und einen Verleger gesucht. Einerseits. Andererseits kann es ihn nicht wirklich überrascht haben, dass das Stück den Kompositionspreis nicht erhielt, ihm die Partitur aus Weimar – von Franz Liszt mit einem schmallippigen Kommentar versehen – retourniert wurde und kein Verleger bereit war, ein unnötiges Risiko einzugehen. Mahler muss klar gewesen sein, dass allein schon der gigantische Apparat, den die Partitur verlangt, von der Zunft als anmaßend, wenn nicht gar als Zeichen von Größenwahn verstanden werden würde: Neben einem Saalorchester aus Streichern, 3-fachem Holz, je 4 Hörnern und Trompeten, 3 Posaunen, 2 Basstuben, großem Schlagwerk und 6 Harfen disponiert der Komponist ein Fernorchester aus 3 Flöten, 4 Klarinetten, 3 Fagotten, 6 Hörnern, 3 Trompeten und Schlagwerk, dazu gemischten Chor, ein Gesangssolistenquartett, Knabensopran und Knabenalt. Späteren Revisionen fielen unter anderem das Fernorchester und der 1. Satz aus rein pragmatischen Gründen zum Opfer, weshalb in der Staatsoper im Wesentlichen die Urfassung erklingen wird (unter Berücksichtigung einiger weniger, bei Mahlers Neubegegnung mit eigenen Werken ja stets üblichen Retuschen). Aber diese Anmaßung betrifft nicht nur die äußeren Koordinaten und Dimensionen. Die musikalische Dramaturgie des »Märchenspiels« lässt alle gewohnten Formate hinter sich. Mahler, der sein eigener Textdichter ist, hat das in den Sammlungen der Brüder Grimm und Ludwig Bechstein tradierte Märchen vom singenden Knochen in eine dreiteilige Ballade verwandelt. Damit scheint er zunächst anzuknüpfen an ein in verschiedenen Genres der Musizier- und Konzertpraxis seiner Zeit etabliertes Format: Das Märchen vom klagenden, bzw. »begrabenen« Lied, das die Seele eines Ermordeten in Knochen-, Tier- oder Pflanzengestalt anstimmt und seinen Mörder damit entlarvt, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Reihe unterschiedlicher Fassungen überaus populär. Es wurde mehrfach als Melodram, also als Rezitation mit Klavier- oder Orchesterbegleitung, sowie als Kantate vertont. Kein Geringerer als Robert Schumann hatte 1852 die das gleiche Motiv variierenden vier Balladen Vom Pagen und der Königstochter Emanuel Geibels als großes Konzertstück für Chor, Soli und Orchester auskomponiert. Doch Mahlers »Revolte wider die bürgerliche Musik« (Adorno) katapultiert 15
SERGIO MOR A BITO
sich heraus aus allen Darstellungs- und Rezeptions-Verabredungen seiner Epoche. Anders als bei seinen Vorgängern und Zeitgenossen gibt es keine gesicherte Erzähler- und Rezipienten-Position mehr. Dem Zuhörer wird kein Bild mehr geboten, das er aus objektivem Abstand betrachten könnte. Stattdessen wird er hineingerissen in einen musikalischen Mahlstrom, der die Geschichte weniger zu erzählen als zu halluzinieren scheint. Die Musik selber ist es, die den Albtraum eines traumatischen Geschehens träumt. Sie berichtet nicht, sondern in ihr ereignet sich die Katastrophe unmittelbar. Dabei wird der Text der Ballade auf die Stimmen des aus Sopran, Alt, Tenor und Bariton gebildeten Vokalquartetts und des Chores verteilt, doch ohne dass diese sich zu Rollenträgern oder einer Erzählergestalt verfestigen würden. Es ist, als würde das gewaltige Orchester, das ihre Stimmen intermittierend nach oben spült, sie auch wieder verschlucken. Einzig das Lied des singenden Knochens ist an die beiden Kinderstimmen gebunden, wobei ihre Aufspaltung auch hier jede eindeutige Identifizierung unmöglich macht. Berlioz hatte bereits mit spektakulären Fernorchester-Effekten experimentiert, doch das Pandämonium, das Mahlers Fernorchester entfesselt, ist beispiellos. Es wird zum Teil einer Entgrenzungsstrategie, die das von den anderen Stoffbearbeitungen zum schauerlich-besinnlichen Genrebild verniedlichte Märchen zu einem Gleichnis des Weltlaufs werden lässt. Das Diktum des späten Mahler: »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen«, gilt ohne Einschränkung bereits für dieses Werk, das Mahler als gereifter Künstler als sein »Opus 1« deklarierte. Und die Welt, die Mahler im Klagenden Lied erstmals aufbaut, ist eine toxische. Seine Partitur arbeitet mit Naturklängen und -motiven der romantischen Tradition, doch anders als in der Wagner’schen Kosmogonie, wo sie einen in sich ruhenden Urzustand symbolisieren, sind sie von Anfang an verfremdet und verseucht. Die harmonische Beklemmung der Anfangstakte führt im Laufe einer »course à l’abyme«, einer 60minütigen Jagd in den Abgrund, zu frenetischen Steigerungen, um sich erst ganz am Ende schockhaft zu lösen, beim Zusammenbruch der todverfallenen, auf Kälte, Mord und Lüge errichteten Welt. Der letzte Akkord lässt die Mauern des Königsschlosses, in der die Hochzeit des Brudermörders mit der Königin stattfinden hätte sollen, in sich zusammensinken. Der Zusammensturz der Königsburg darf als Allegorie verstanden werden für die Erschütterung der vermeintlich ewigen Grundfesten der klassischromantischen Musik. Carl Dahlhaus hat den Verlust des Glaubens an die Selbstverständlichkeit der Musik des 19. Jahrhunderts, den Verlust des Glaubens an eine idealtypische Kongruenz von Form, Ausdruck und Inhalt, als Voraussetzung des Mahler’schen Komponierens benannt. Die dramatisch verspätete Anerkennung des Komponisten Mahler, dem anders als dem Dirigenten der internationale Durchbruch zeitlebens versagt blieb, hängt mit der unreflektierten Gleichsetzung des klassisch-romantischen Kanons mit Musik überhaupt zusammen. Ein Glaube, der – nach seiner Zementierung SERGIO MOR A BITO
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durch den Antimodernismus der NS-Zeit – in breiteren Hörerschichten erst mit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts erodierte. Erst jetzt konnte das als destruktiv, übersteigert oder bestenfalls als peripher Wahrgenommene auch über die nachhaltige Verankerung der Mahler’schen Musik in den Wiener Konzertprogrammen hinaus, wo sie bereits in den 20er und 30er Jahren definitiv »angekommen« war, als innovativ erkannt werden. Man war bereit, Mahlers Sinfonik als eine Terra incognita jenseits eindeutiger Fassbarkeit und Fasslichkeit zu erkunden: Mahlers sinfonische Niemandslandschaften stellen den akademischen Traditionalismus und linearen Fortschrittsglauben gleichermaßen in Frage. Ihre Klänge sind, wie es der Mahlerforscher Jens Malte Fischer formulierte, nur als Differenz zu fassen und führen in eine unbekannte Zukunft. Die Einheit des Mahler’schen Ingeniums, dem es im emphatischen Sinne immer »ums Ganze« geht und das im apokryphen »Opus 1« des Klagenden Lieds schon ganz gegenwärtig ist, hat es dem Regisseur Calixto Bieito als möglich und richtig erscheinen lassen, es mit den reifen Kindertotenliedern zu einem Musiktheaterabend zu verbinden. Als Regisseur hat Bieito stets die kreatürliche Leiblichkeit des Menschen, ihre Heimatlosigkeit, ihre Gefährdung und Gefährlichkeit, als Ausgangs- und Zielpunkt angesteuert. Es kann nicht überraschen, dass er neben seiner Opern- und Theaterarbeit auch mit szenisch-theatralen Umsetzungen ursprünglich nicht für die Bühne gedachter, oft geistlich inspirierter Werke experimentiert: Neben der Verdi’schen Messa da Requiem, Bachs Johannes-Passion oder Monteverdis Marienvesper hat vor allem auch seine Inszenierung von Brittens War Requiem Aufsehen erregt. Sein an der Seite des Dirigenten Lorenzo Viotti erarbeiteter Mahler-Abend an der Staatsoper verspricht eine bewegende Neuentdeckung Mahlers als jenes »fremden Vertrauten«, dem Jens Malte Fischer seine Biografie des Komponisten zugeeignet hat.
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M A HLERS J UGEN DLICHER GEN IE ST R EICH
Lorenzo Viotti
EIN HOFFNUNGSSCHIMMER MIT FRAGEZEICHEN
Als ich die Anfrage der Wiener Staatsoper erhielt, die musikalische Leitung jenes ungewöhnlichen und herausfordernden Projekts zu übernehmen, das nichts weniger wollte, als aus zwei unterschiedlichen Werken Gustav Mahlers, die aufs erste nicht für das Musiktheater geschaffen waren, eine Oper zu kreieren, da konnte ich nicht anders, als sofort zuzusagen. Auch wenn mir im allerersten Moment noch nicht klar war, wie diese Kombination als Einheit auf der Bühne funktionieren würde. Aber der Kreationsprozess, der bei der Erarbeitung eines neuen Werkes – und Von der Liebe Tod ist letztlich etwas komplett Neues – in Gang gesetzt wird und um so viel spannender, unmittelbarer, an Überraschungsmomenten reicher, sicher auch risikobehafteter ist, als die Neuproduktion irgendeines Klassikers des Opernrepertoires, war zu reizvoll und verführerisch, um auch nur eine Sekunde zu zögern. Schließlich sind es gerade solche künstlerischen Auseinandersetzungen, die das Theater jung halten. LOR ENZO V IOT T I
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Dass den Partituren Gustav Mahlers per se ein musiktheatraler Grundcharakter zu eigen ist, erkenne ich bei der Erarbeitung seiner Symphonien stets von Neuem. Vergessen wir nicht, dass Mahler die Idee des Gesamtkunstwerkes so intensiv zu verwirklichen dachte, wie vielleicht kein anderer: Er begnügte sich nicht, Opern bloß zu dirigieren, sondern war Komponist, Regisseur, musikalischer Bearbeiter, Intendant, Studienleiter – und wenn es sein musste sogar einspringender Kulissenschieber – in Personalunion. Was immer er erlebte, hörte, sah, empfand, floss in seine Arbeit, insbesondere in seine Musik ein. Mahlers oft zitierter Hinweis gegenüber dem Dirigenten Bruno Walter, eine ganze Landschaft »wegkomponiert« und in eine Symphonie umgewandelt zu haben, bedeutet zugleich, dass wir als Interpreten ebendiese in seinen Partiturseiten eingewobenen Bilder, Gerüche, Atmosphären, Farben für das Publikum als Gesamtkunstwerk wieder zurückübersetzen und hörbzw. erlebbar machen können und müssen. Allen Kompositionen Mahlers ist also das Potenzial für eine szenische Realisation eingeschrieben. Durchaus auch, wie in unserem Fall, in einer vom Komponisten nicht angedachten Zusammenführung von zwei separaten Werken zu einem Musiktheaterabend. Im Zuge der Auseinandersetzung mit unserer Produktion ist mir dann sehr bald bewusst geworden, auf wie bestrickende Weise das frühe Klagende Lied und die deutlich später geschriebenen Kindertotenlieder zusammenpassen, einander sogar eindrucksvoll ergänzen. Wenn das imposante, groß orchestrierte, von stürmischen Passagen durchzogene Klagende Lied mit einem letzten, an Mahlers 6. Symphonie gemahnenden gewaltigen Akkord in dreifachem forte endet, gleichsam als ob die Guillotine heruntergesaust wäre, bedarf es geradezu dieser überlangen, gespannten Stille des emotionalen Niemandslandes zwischen den beiden Stücken und der darauffolgenden einsamen Oboe, die ihre Stimme erhebt und das intime erste Kindertotenlied (»Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n!«) einleitet. Etwas Furchtbares ist geschehen, was das Scheinen der Sonne für immer verändert hat. Das Gewaltige musste einer unsagbaren Verlorenheit Platz machen. Grandios! Dass diese beiden unterschiedlichen Werke, die doch, was die Entstehungszeit betrifft, Jahrzehnte auseinanderliegen, letztlich doch so gut zusammenpassen, hat auch mit dem Reifegrad zu tun, den Mahler schon als 19jähriger im Klagenden Lied, seinem sogenannten Opus 1, erreicht hatte. Mahlers originäre Klangsprache begegnet hier dem Publikum bereits in seiner gesamten Ausprägung und Vollständigkeit. Das gesamte Material für die späteren Symphonien tritt uns in diesem Werk selbstbewusst entgegen, das ganze Spektrum seines Klangraumes inklusive den Naturthemen, aber auch der Mut zum Unschönen, zu ungewohnten Harmonieballungen, die Freude an Orchestrierungs-Experimenten und der instrumental verstandene Einsatz der Gesangsstimmen – nicht zuletzt der Knabenstimmen für das märchenhaft Überirdische der anklagend singenden Knochenflöte. Und wie musikdramaturgisch wirkungsvoll Mahler schon in diesem Stück das Fern 21
EIN HOFFN U NGS SCHIM MER MIT FR AGEZEICHEN
orchester einsetzt! Etwa im dritten Satz, dem Hochzeitsstück, in dem eine regelrechte Prater-Musik erklingt. Es ist überliefert, dass Mahler einmal mit seiner Frau Alma unweit von Wien eine Art Kirtag besucht hat. Alles klang dort disharmonisch wild durcheinander: Militärmusik, ein a cappella-Chor, hier eine Fanfare, dort ein Hupen. Als Alma sich über die so entstandene, wie sie empfand, Kakophonie beschwerte und Mahler fragte, wie er das alles aushalte, entgegnete dieser nur: »Siehst du, das ist Polyphonie.« Und ebendiese Form der Polyphonie, dieses bewusst Hysterische, wird im Hochzeitsstück angestimmt: Das Fernorchester mit den von weit her schrill klingenden Trompeten, verbindet sich mit dem Legato des eigentlichen Orchesters und dem Fugato des Chores. An einer anderen Stelle trifft zur gleichen Zeit das C-Dur des Fernorchester, das (rhythmisch anders geartete) Ces-Dur des Orchesters im Graben und der von den Kontrabässen gespielte Orgelpunkt in F aufeinander – wieder zusätzlich verdichtet durch den Chor. Der harmonische Mut Mahlers könnte zunächst einen Druckfehler vermuten lassen! Nicht zuletzt dieses unbedingte Bekenntnis zum Beschreiten musikalisch neuer Pfade imponierte uns so sehr, dass wir uns für die radikalere Urfassung des Klagenden Liebes entschieden haben und nicht für eine spätere von Mahler erstellte, zahmere Revision, in der er zahlreiche Kompromisse einging, um überhaupt aufgeführt zu werden. Die Originalfassung ist klanglich und farblich einfach stärker, wenn auch mitunter herausfordernder für uns Interpreten. So unterstreicht etwa der grelle, wahnhafte Effekt, den die Holzbläser am Beginn des 3. Satzes ertönen lassen, die Ironie, mit der die Hochzeit beschrieben wird, viel eindrücklicher als die von Blechbläsern dominierte Fassung der Revision. Ferner soll in der Urfassung der Bariton, um ein anderes Beispiel zu bringen, bei seinem ersten Einsatz im zweiten Teil, dem Spielmann, einige Töne im Falsett singen – eine wichtige Passage mit Hornbegleitung – sehr hoch für den jeweiligen Sänger. In der Revision hat Mahler diese Takte darum pragmatisch dem Tenor weitergereicht. Es sind dieselben Töne, die erklingen, aber die Farbe, die in der Bariton-Version geformt wird, ist vom Charakter her viel interessanter und gespenstischer – wir verstärken genau diesen Eindruck, diese ursprüngliche Idee Mahlers, in dem wir hier nicht nur den Bariton, sondern sogar das gesamte Solistenquartett singen lassen. Des Weiteren fehlt in der späteren Version gleich der gesamte 1. Satz, das Waldmärchen, wodurch die Geschichte um ihr wichtiges Präludium verkürzt und die Handlung nahezu unverständlich wird. Nur an einer einzigen, ursprünglich rein orchestralen Stelle haben wir im Hochzeitsstück zwei gesungene Zeile aus der Revision in die Urfassung übernommen, weil wir auf die hier versteckte Ironie des Textes, »Sieht nicht die Gäste, stolz und reich, / sieht nicht der Königin holde Schöne!« – vorgebracht von der gaffenden, stets nach Sensationen gierenden Volksmenge – nicht verzichten wollten. Weitere kleine Veränderung betreffen lediglich rein praktische Fragen, wie die Reduzierung der ursprünglich vorgeschriebenen sechs LOR ENZO V IOT T I
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Harfen aus Platzgründen auf zwei, was aber der grundsätzlichen Textur der Partitur und Mahlers Intentionen keinen Abbruch tut. Von den zeitlichen Ausmaßen her sind die Kindertotenlieder deutlich kürzer als das Klagende Lied. Sie fungieren in unserer Produktion als eine Art psychologische Coda, die von der Zeit nach der Katastrophe berichtet. Es geht um den Versuch, einen unerträglichen Verlust zu akzeptieren, zeitweise sogar zu negieren, auf jeden Fall mit ihm zurande zu kommen. Ganz besonders im vierten Lied (»Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen«), das fast wie ein wunderschönes Ungarisches Lied von Johannes Brahms daherkommt, aber immer wieder einen aufrüttelnden harmonisch instrumentalen Kontrapunkt erhält, merkt man das Bestreben, die Realität zu verleugnen. Die fast aggressiv zurechtrückende, ungeschönt erkenntnishafte Antwort ist dann der Beginn des 5. Liedes (»In diesem Wetter«). Der hier angesprochene Sturm tobt nicht nur außen, sondern auch im Innern des Verzweifelten, untermalt von einer fremdartig-unwirklichen, fast irrlichternden Atmosphäre im Orchester, die Mahler dadurch erreicht, dass er die Streicher alle con sordino, also mit Dämpfer spielen lässt. Spätestens an dieser Stelle wird die unbarmherzige Unabwendbarkeit des Todes ein letztes Mal überdeutlich. Der abschließende Wechsel nach D-Dur – Mahler schreibt »Langsam, wie ein Wiegenlied« – könnte einen aufkeimenden Hoffnungsschimmer symbolisieren, die hier erstmals eingesetzte Celesta hat tatsächlich etwas von einer Kindermusik-Box. Aber es ist natürlich kein Wiegenlied für das tote Kind, es ist ein Wiegenlied des versuchten Trostes für die Zurückgebliebenen, es neu zu probieren. Ob es klappt? Ein großes Fragezeichen.
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EIN HOFFN U NGS SCHIM MER MIT FR AGEZEICHEN
KAINS BRUDERMORD Der Mensch erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom HERRN erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem HERRN eine Gabe von den Früchten des Erdbodens dar; auch Abel brachte eine dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der HERR schaute auf Abel und seine Gabe, aber auf Kain und seine Gabe schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. Der HERR sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert an der Tür die Sünde. Sie hat Verlangen nach dir, doch du sollst über sie herrschen. Da redete Kain mit Abel, seinem Bruder. Als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der HERR sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden. So bist du jetzt verflucht, verbannt vom Erdboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Erdboden bearbeitest, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. Kain antwortete dem HERRN: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du hast mich heute vom Erdboden vertrieben und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und jeder, der mich findet, wird mich töten. Der HERR aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain tötet, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der HERR dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. So zog Kain fort, weg vom HERRN und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden. 1. Mose 4,1-16, nach der 1984 revidierten Lutherbibel
K A INS BRU DER MOR D
→ Vera-Lotte Boecker, Tanja Ariane Baumgartner und Chor der Wiener Staatsoper, 2022
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DER SINGENDE KNOCHEN Aus Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Ausgabe letzter Hand 1857
Es war einmal in einem Lande große Klage über ein Wildschwein, das den Bauern die Äcker umwühlte, das Vieh tödtete und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß. Der König versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien würde, eine große Belohnung: aber das Thier war so groß und stark, daß sich niemand in die Nähe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der König bekannt machen wer das Wildschwein einfange oder tödte solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben. Nun lebten zwei Brüder in dem Lande, Söhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis übernehmen. Der älteste, der listig und klug war, that es aus Hochmuth, der jüngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der König sagte »damit ihr desto sicherer das Thier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.« Da gieng der älteste von Abend und der jüngste von Morgen hinein. Und als der jüngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Männlein zu ihm: das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand und sprach »diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist: damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufügen.« Er dankte dem Männlein, nahm den Spieß auf die Schulter und gieng ohne Furcht weiter. Nicht lange so erblickte er das Thier, das auf ihn los rannte, er hielt ihm aber den Spieß entgegen, und in seiner blinden Wuth rannte es so gewaltig hinein, daß ihm das Herz entzwei geschnitten ward. Da nahm er das Ungetüm auf die Schulter, gieng heimwärts und wollte es dem Könige bringen. BRÜ DER GR IM M
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Als er auf der andern Seite des Waldes heraus kam, stand da am Eingang ein Haus, wo die Leute sich mit Tanz und Wein lustig machten. Sein ältester Bruder war da eingetreten und hatte gedacht das Schwein liefe ihm doch nicht fort, erst wollte er sich einen rechten Muth trinken. Als er nun den jüngsten erblickte, der mit seiner Beute beladen aus dem Wald kam, so ließ ihm sein neidisches und boshaftes Herz keine Ruhe. Er rief ihm zu »komm doch herein, lieber Bruder, ruhe dich aus und stärke dich mit einem Becher Wein.« Der jüngste, der nichts arges dahinter vermuthete, gieng hinein und erzählte ihm von dem guten Männlein, das ihm einen Spieß gegeben, womit er das Schwein getödtet hätte. Der älteste hielt ihn bis zum Abend zurück, da giengen sie zusammen fort. Als sie aber in der Dunkelheit zu der Brücke über einen Bach kamen, ließ der älteste den jüngsten vorangehen, und als er mitten über dem Wasser war, gab er ihm von hinten einen Schlag, daß er todt hinabstürzte. Er begrub ihn unter der Brücke, nahm dann das Schwein und brachte es dem König mit dem Vorgeben er hätte es getödtet; worauf er die Tochter des Königs zur Gemahlin erhielt. Als der jüngste Bruder nicht wieder kommen wollte, sagte er »das Schwein wird ihm den Leib aufgerissen haben,« und das glaubte jedermann. Weil aber vor Gott nichts verborgen bleibt, sollte auch diese schwarze That ans Licht kommen. Nach langen Jahren trieb ein Hirt einmal seine Herde über die Brücke und sah unten im Sande ein schneeweißes Knöchlein liegen und dachte das gäbe ein gutes Mundstück. Da stieg er herab, hob es auf und schnitzte ein Mundstück daraus für sein Horn. Als er zum erstenmal darauf geblasen hatte, so fieng das Knöchlein zu großer Verwunderung des Hirten von selbst an zu singen »Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein, mein Bruder hat mich erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs Töchterlein.« »Was für ein wunderliches Hörnchen,« sagte der Hirt, »das von selber singt, das muß ich dem Herrn König bringen.« Als er damit vor den König kam, fieng das Hörnchen abermals an sein Liedchen zu singen. Der König verstand es wohl, und ließ die Erde unter der Brücke aufgraben, da kam das ganze Gerippe des Erschlagenen zum Vorschein. Der böse Bruder konnte die That nicht läugnen, ward in einen Sack genäht und lebendig ersäuft, die Gebeine des Gemordeten aber wurden auf den Kirchhof in ein schönes Grab zur Ruhe gelegt.
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DER SINGEN DE K NOCHEN
Ludwig Bechstein
DAS KLAGENDE LIED Aus Neues deutsches Märchenbuch (1856)
Es war einmal ein König, der starb und hinterließ seine Frau, die Königin, und zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn. Und eines Tages stritten die beiden Königskinder miteinander, welches von ihnen beiden König werden sollte, denn der Bruder sagte: »Ich bin ein Prinz, und wenn Prinzen da sind, kommen die Prinzessinnen nicht zur Regierung«; die Tochter aber sprach dagegen: »Ich bin die erstgeborene und älteste, mir gebührt der Vorrang.« Beides, was die Kinder da sagten, sagten sie in aller Unschuld und hatten die Worte nur so aufgeschnappt von dem Hofgesinde, ohne den Sinn so recht eigentlich zu verstehen. Da sie nun über ihren Streit nicht einig wurden, so gingen sie miteinander zur Mutter und fragten diese: »Sage, liebe Mutter, welches von uns beiden wird dereinst König werden?« – Diese Frage betrübte die Mutter, denn es blickte der Keim der Herrschsucht durch dieselbe, die nicht wurzeln soll im Gemüte LU DW IG BECHST EIN
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eines Kindes, und sie antwortete: »Liebe Kinder! Seht einmal hier das schöne Blümlein recht genau an, und dann gehet in den Wald und suchet. Wer von euch beiden dieses Blümchen zuerst findet, der wird dereinst König werden.« – Die Kinder sahen sich voll Aufmerksamkeit das Blümchen an; sein Stengel war gestaltet wie ein Szepterlein, und endete in eine halbaufgeschlossene Lilie. Und die Kinder gingen ganz harmlos zusammen in den Wald, und begannen zu suchen, und wie sie so suchten, so kamen sie bald auseinander, daß eins das andere aus den Augen verlor. – Und da fand die kleine Prinzessin zuerst das Blümchen, und freute sich darüber und sah sich nach dem Bruder um, der war aber nicht da. Und da dachte das Kind: er wird wohl bald kommen, ich will hier auf ihn warten, und legte sich auf den weichen Rasen und in den kühlen Baumschatten, und es war so still im Walde, Käfer und Bienen summten bloß, und eine nahe Quelle murmelte leise, und der Himmel blickte tiefblau durch die grünen Baumwipfel herab auf den grünen Waldesrasen. Die kleine Prinzessin hatte ihr Blümchen in die Hand genommen und weil es so still und sie ein wenig müde war, so entschlummerte sie in Gottes Namen. Es dauerte nur eine kleine Weile, so kam der Bruder an die Waldstelle, wo seine Schwester schlief; er hatte aber das Blümchen, welches er suchte, nicht gefunden; und da sah er die Schwester am Boden liegen, süß schlummernd, und die hatte das Blümchen in ihrer Hand. Da stiegen in des Prinzen Seele schwarze Gedanken auf, und Schreckliches kam ihm in den Sinn. Ich muß König werden, ich! dachte er, und die Schwester soll es nicht werden! Lieber will ich sie töten, und will die Blume nehmen und damit heim gehen, und dann werde ich König. Ach, da hieß es recht: gedacht und getan. Der Prinz ermordete sein unschuldiges Schwesterlein im Schlafe und verscharrte es im Walde, und deckte Erde darauf und Rasen auf die Erde, und kein Mensch erfuhr etwas von dieser bösen Tat, denn wie der Prinz nach Hause kam, so sagte er, seine Schwester sei im Walde von ihm hinweg und ihren eigenen Weg gegangen. Wie er die Blume gefunden gehabt, habe er den Rückweg nach Hause angetreten und geglaubt, sie sei auch schon nach Hause. Und da sind viele Jahre hingegangen und die alte Königin hat fort und fort getrauert über die verlorene Tochter, die sie im ganzen Walde fruchtlos suchen ließ, und hat sich den Tod gewünscht, weil sie selbst die geliebte Tochter fortgeschickt hatte, und als ihr Sohn nun die Jahre seiner Mündigkeit erreicht hatte, so ward er König. Und nach manchem manchem Jahre kam ein Hirtenknabe in jenen Wald, der hütete dort seine Herde, und stocherte zum Zeitvertreibe und aus langer Weile mit seiner Schippe in dem Rasen herum, wie die Hirten öfter tun, die manchesmal Herzen und Namen und Kreuze in den grünen Rasen graben, und da grub er von ohngefähr ein Totenbeinlein aus von der getöteten Prinzessin, das war so rein und weiß wie Schnee. Und der Hirtenknabe machte 29
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ein paar Löchlein in das Beinlein, so wurde daraus eine kleine Flöte, und diese setzte der Hirtenknabe an seine Lippen und blies. Da quollen klagende Töne aus dem Totenbeine, ach, so unendlich traurig, und es war ordentlich, als singe in demselben eine weinende Kindesstimme, daß der Hirtenknabe selbst weinen mußte, und konnte doch nicht aufhören zu blasen. Es lautete aber das klagende Lied also: »O Hirte mein, o Hirte mein, Du flötest auf meinem Totenbein! Mein Bruder erschlug mich im Haine. Nahm aus meiner Hand Die Blum die ich fand, Und sagte, sie sei die seine. Er schlug mich im Schlaf, er schlug mich so hart – Hat ein Grab gewühlt, hat mich hier verscharrt – Mein Bruder – in jungen Tagen. Nun durch deinen Mund Soll es werden kund, Will es Gott und Menschen klagen.« Und immer war nur das eine und immer das eine Lied aus der beinernen Flöte zu bringen, und immer blies es der junge Hirte wieder, während ihm jedesmal die hellen Tränen über die Wangen herabrollten. Wenn das klagende Lied im Walde erklang, da wurden alle Vögelein stumm und traurig, hingen Köpflein und Flügel und schwiegen; auch die Käfer und Bienen summten nicht mehr, und selbst das Murmeln der plätschernden, geschwätzigen Quelle war nicht mehr zu hören – es wurde so recht, was man sagt: totenstill. Schallte das klagende Lied über eine Trift, so hingen die Tiere der Weide wehmütig die Häupter, und keines gab einen Laut; auch der Hund bellte nicht mehr und sprang nicht, wie sonst, fröhlich umher, vielmehr duckte er sich und winselte ganz leise, denn es war für alle Kreatur etwas Herzzerschneidendes in dem klagenden Liede. Aber der Hirtenknabe konnte nicht müde werden, dieses Lied zu flöten, bis einst ein Rittersmann am Hag vorüberkam, der hörte auch das Lied und fühlte, daß seine Augen tropften, und hielt, und ließ nicht nach, bis der Hirtenknabe ihm, dem Ritter, die kleine Flöte käuflich abtrat. Und nun zog der Ritter im ganzen Lande herum, und blies das Lied, und brachte mit demselben alle Welt zu Tränen. So kam dieser auch an den Hof, wo der junge König auf dem Throne saß, von dem das Lied sang und klagte, und die alte Königin Mutter lebte auch noch, und es wurde ihr Kunde gebracht von dem ritterlichen Spielmanne, der ein Lied flöte, von dessen Melodei alle Herzen erzitterten und alle Seelen mit tiefer Trauer erfüllt würden. LU DW IG BECHST EIN
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Die alte Königin aber, die stets traurig war, sprach: »Was könnte es in der Welt geben, das trauriger wäre, als meine Trauer? Ich wüßte nichts, mich wird das klagende Lied des Spielmannes nicht trauriger machen, als ich ohnehin bin. Lasset ihn immerhin kommen.« – Der ritterliche Spielmann kam und blies: »O Ritter mein, o Ritter mein, Du flötest auf meinem Totenbein! Mein Bruder erschlug mich im Haine.« Kaum hatte die alte Königin diese wenigen Worte vernommen, so schoß schon ein Tränenstrom aus ihren Augen – aber als es weiter tönte: »Nahm aus meiner Hand Die Blum, die ich fand Und sprach, sie wäre die seine« – da stieß die Königin einen gellenden Schrei aus und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Der Spielmann erschrak darüber und wollte absetzen, aber das konnte er nicht – das Lied wollte jedesmal, wenn es begonnen war, zu Ende gespielt sein – und als der letzte Ton mit tiefer Klage verzitterte, da erwachte die Königin aus ihrer Ohnmacht und rief: »Mir, mir die Flöte! Um alle meine Schätze – mir diese Flöte!« Und der ritterliche Spielmann ließ der Königin die beinerne Flöte und sagte, er begehre keine Schätze – und nahm nichts an und zog weiter. Und die Königin schloß sich ganz allein in ihre tiefsten Gemächer und blies das Lied und weinte so lange, bis sie fast keine Tränen mehr hatte. Der König aber war ein lebenslustiger froher Herr geworden, der hatte seine Freude an Sang und Klang, und feierte gern heitere Feste, und freute sich seines Lebens. Einst geschah es, daß er auch ein Fest zu feiern beschlossen hatte, und waren zahlreiche Sänger und Spielleute bestellt, und zahlreiche Gäste eingeladen worden. Der Sitte gemäß, hatte der junge König nie unterlassen, seine Mutter auch jedesmal einzuladen zu seinen Festen, aber sie hatte niemals Teil genommen, weil sie, wie sie dem Sohne dankend sagen ließ, zu viele Trauer im Herzen habe. Als aber diesesmal die Einladung wiederum an sie gelangte, da ließ sie sagen, sie werde Teil nehmen. Dies wunderte den König und befremdete ihn, und er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Da nun alle Gäste in bunter Pracht versammelt waren, und alle Sänger und Spielleute bereit, und der Hof eintrat in den herrlich geschmückten Königssaal, darin das Fest stattfand, so erregte es fast eine bange Verwunderung, die alte Königin zu sehen in langem schleppenden, schwarzen Trauergewande und im Witwenschleier – der Jubel der Instrumente, der Harfen und Pauken, Flöten und Cymbeln aber brach los, und die Chöre der Sänger begannen in 31
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erhabenen Weisen eine Hymne zum Preise des Königes. Was aber tut die alte Königin? Sie setzt sich nicht, sie steht starr, wie ein Marmorbild. Was hält sie denn für ein seltsames kleines Szepter in der Hand? Das ist ja kein Szepter, das ist ein Totenbein. Und warum hebt sie denn dies Totenbein zum Munde? Warum hält sie es so, wie Spielleute ihre Flöten halten? Horch! Ein Ton – und es verstummen alle Pauken und Harfen und Cymbeln – noch ein Ton, und jeder Sängermund wird stumm. Dort aber sitzt der König, und blickt entsetzt, von ungeheuerem Grauen durchrieselt, auf seine Mutter, und alle, alle blicken auf die alte Königin. Die alte Königin spielt ein Flötensolo. »O Mutter mein, o Mutter mein – Du flötest auf meinem Totenbein!« Da erbeben, erzittern schon alle Herzen, da bleibt schon kein Auge trocken, Hofstaat und Gäste, Sänger und Spielleute, alle weinen. »Mein Bruder erschlug mich im Haine.« – »Ha!« schreit der König, und das Szepter entsinkt seiner Hand, und er faßt mit beiden Händen nach seiner Krone. »Nahm aus meiner Hand Die Blum die ich fand, Und sagte, sie sei die seine.« Da rollte die Krone von des Königes Haupte herab, fiel auf den Marmorboden und zerschellte. Es klang als ob ein Totenschädel auf dem Marmor rasselte. »Er schlug mich im Schlaf – er schlug mich so hart – Hat ein Grab gewühlt, mich im Walde verscharrt –« Da stürzte der König selbst vom Throne herab, und fiel auf sein Angesicht und stöhnte und wimmerte. »Mein Bruder – in jungen Tagen«. Der König wand sich in Todeszuckungen und bäumte sich – und schrie: »Ende! Mutter – ende!« Aber die alte Königin konnte nicht von selbst das klagende Lied beendigen, es tönte fort:
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»Nun durch deinen Mund Soll es werden kund, Will es Gott und Menschen klagen.« Da flohen, während diese Worte entsetzlich und zermalmend, und doch gar nicht laut, vernommen wurden, alle Gäste, Spielleute, Sänger und Hofdienerschaft zu allen Türen des Saales hinaus – darüber Instrumente und Sessel viele zerbrachen, und die Kerzen löschten aus, bis auf zwei – und als das Lied zu Ende geklungen war, war niemand mehr im weiten Saale, als nur die alte Königin im Trauergewande, und ihr sterbender Sohn in seinem bunten Flitterstaate, reich besetzt mit Gold und Perlen. Und sie kniete neben dem noch immer am Boden liegenden Sohne nieder, und hielt sein Haupt in ihren Händen, und weinte heiße Tränen darauf. Da löschte langsam die eine der beiden noch brennenden Kerzen aus. Die alte Königin aber weinte und betete noch bis Mitternacht – dann verlöschte sie selbst die letzte Kerze und zerbrach die Flöte, auf daß niemand mehr das klagende Lied vernehme.
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Janina Klassen
MÄRCHENERZÄHLUNG I. Zauberflöten, Geigen und Harfen, singende Tiere, Bäume oder Knochen, deren Musik auf wundersame Weise Macht ausübt und in Schicksale eingreift, Menschen mit fantastischen Mitteln hilft, sie in Trancezustände versetzt, bizarr tanzen lässt oder geheimnisvolle, mitunter auch unheimliche Botschaften vermittelt und von verborgenen Verbrechen erzählt, gehören als wichtige musikalische Requisiten zum Inhalt zahlreicher Mythologien, Sagen und Märchen. Gustav Mahler wählte einen derartigen Märchenstoff für sein »Opus 1«, Das klagende Lied für Soli, Chor, großes Orchester und Fernorchester, das zwischen 1878 und 1880 entworfen wurde. Der Komponist zählte es als »erste[s] Werk, in dem ich mich als ›Mahler‹ gefunden habe«, wie er im Dezember 1896 dem Kritiker der Vossischen Zeitung, Max Marschalk, schrieb. Auch Natalie Bauer-Lechner gegenüber hob er hervor, dass das Klagende Lied »schon so ›Mahlerisch‹, so scharf und völlig ausgeprägt in meiner eigenen Art« wäre, auch wenn er es durchaus selbstkritisch als »noch etwas schwülstig und überladen« charakterisierte. Zu diesem Zeitpunkt war das im November 1880 abgeschlossene, dreisätzige Stück noch nicht einmal uraufgeführt, obwohl sich Mahler in mehrfachen Anläufen jahrelang intensiv darum bemüht hatte. Seine Hoffnung auf den Preis des Beethoven-Wettbewerbs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1881 scheiterte ebenso wie der Versuch, das Klagende Lied beim Musikfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins 1883 unterzubringen, den Franz Liszt abschlägig beschied. Auch beim Verlag Schott hatte Mahler kein Glück, als er sein Werk 1891 JA N INA K LAS SEN
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anbot. Erst 1899 erschien im Vertrieb des Verlags Weinberger das inzwischen auf zwei Sätze gekürzte, von manchen Klangexperimenten bereinigte und auf ein übliches Orchester zurückgestutzte Werk. Und am 17. Februar 1901 konnte der Komponist – inzwischen vom mittellosen Künstler zum einflussreichen Direktor der Wiener Hofoper aufgerückt – zweiundzwanzig Jahre nach Abschluss des ersten Entwurfs wenigstens die gekürzte, überarbeitete Fassung seines Klagenden Lieds im Großen Musikvereinssaal in Wien der musikalischen Öffentlichkeit präsentieren. Wie aktuell Mahlers Werkidee noch immer war, zeigen Schönbergs Gurre-Lieder anschaulich, die – vermutlich unabhängig von Mahlers Klagendem Lied – zwischen 1900 und 1901 komponiert wurden. Besondere Aufmerksamkeit weckt das Klagende Lied allein schon deshalb, weil Mahler die Uraufführung dieses »Schmerzenskindes« so hartnäckig verfolgte und weil er selbst das Stück so schätzte, dass er es als gültiges Frühwerk anerkannte. Außerdem bleibt das Klagende Lied im gesamten Oeuvre das einzige große Werk Mahlers, das in Wien durch den Komponisten selber aufgeführt wurde.
II. »Mein Märchenspiel« nannte Mahler das Klagende Lied in einem Brief vom November 1880 an Emil Freund, und der autographe Untertitel der Partitur lautet »Ein Märchen für Chor, Soli und großes Orchester in drei Abtheilungen«. »Märchen« definieren Jacob und Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch als eine »nachricht, die der genauen beglaubigung entbehrt« und »im gegensatz zur wahren geschichte« steht. Ihre Mischung aus Wunderglauben und Moral und ihre von realen Raum- und Zeitbedingungen losgelöste Welt üben das ganze 19. Jahrhundert hindurch und auch im 20. eine ungebrochene Faszination auf Dichter und Komponisten aus. Mahlers Intentionen kamen offenbar vor allem die als dunkel und mythischen Ursprungs empfundene Anonymität der Märchen- und Sagenstoffe mit ihren eigentümlichen Wahrheiten entgegen, wie die bekannte Äußerung zu den Anreizen schöpferischer Prozesse von 1896 zeigt: »Mein Bedürfnis, mich musikalisch-symphonisch auszusprechen, beginnt erst da, wo die dunklen Empfindungen walten, an der Pforte, die in die ›andere Welt‹ hineinführt; die Welt, in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Ort auseinanderfallen.« Die metaphysische, »andere«, fällt im Klagenden Lied mit der Zauberwelt des Märchens zusammen, in der sichtbare und unsichtbare, bewusste und unbewusste Phänomene, Realität und Fiktion ineinanderfließen. Mahler hat diese Dimension auch akustisch herausgestellt: Das Fernorchester sollte ursprünglich »außer dem Saale« positioniert sein, um von jenseits der Raumgrenzen hereinzuklingen, wie Mahler abermals Bauer-Lechner anvertraute: 35
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»Das, wusste ich, würden mir die Herren nie aufführen.« Zwar änderte der Komponist als Konzession an Veranstalter und Publikum später diese im Konzertsaal ungewöhnliche Disposition, fand dann aber, »dass es sehr zum Schaden des Werkes geschehen war«, und plante, die Korrektur rückgängig zu machen, »mögen sie’s mir spielen oder nicht!« Neben dem Eintauchen in die archaische und zugleich utopische ferne Märchenzeit dürfte für die Wahl des Stoffs das Motiv der magischen Macht der Musik und die besondere Rolle des Spielmanns im Klagenden Lied entscheidend gewesen sein. Sie entspricht in Grundzügen einem von Mahler (und zeitweise auch von Schönberg) kultivierten Selbstverständnis vom Komponisten als Medium, hinter dem einerseits noch die Vorstellung des sozusagen besinnungslos schaffenden Genies nachwirkt und andererseits sich gerade bei Mahler eine fundamentale, im 20. Jahrhundert voll aufbrechende Krise ankündigt, nämlich der Rückzug des Autors beziehungsweise seine Distanzierung von einem am Ausdruck des Subjekts orientierten Kunstverständnis. Im Klagenden Lied tritt der Musiker lediglich als Vermittler auf. Zwar produziert er selbst Musik, als klingendes Ereignis ist sie dann aber ganz überraschend, schockierend, anrührend.
III. Die unheimliche Geschichte vom singenden Knochen liegt in vielfachen Varianten vor. Zur Entwurfszeit des Klagenden Lieds war das Märchen in drei prominenten Quellen zugänglich, die Mahler gekannt haben dürfte: erstens Der singende Knochen in den Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm von 1812 beziehungsweise 1819, zweitens Das klagende Lied in Ludwig Bechsteins Neuem Deutschen Märchenbuch von 1856 und drittens Martin Greifs gleichnamige dramatische Ballade aus den 1860 veröffentlichten Gedichten, die inhaltlich Bechsteins Version folgt. Martin Greif, eigentlich Friedrich Hermann Frey (1839-1911), war als Lyriker zu Mahlers Zeit offenbar vielfach geschätzt. Es scheint, dass darüber hinaus, viertens, auch einzelne Motive aus Emmanuel Geibels 1848 in den JuniusLiedern veröffentlichten vier Balladen Vom Pagen und der Königstochter in den Text eingeflossen sind. Geibel galt als einer der bekanntesten Dichter des 19. Jahrhunderts, und er zählt noch vor Goethe zu den meistvertonten Autoren dieser Epoche. Womöglich lernte Mahler die Balladen durch die gleichnamigen Chorballaden op. 140 von Robert Schumann kennen, die damals noch zum Repertoire gehörten. Kern der Fabel ist das archaische Motiv des Mords aus Neid auf den Begünstigten, verknüpft mit einem zweiten Motiv, nämlich dem Eingreifen magischer Musik. An zentraler Stelle wird durch ein mit dem/der Ermordeten M Ä RCHEN ER ZÄ HLU NG
→ Tanja Ariane Baumgartner, 2022
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Lied und Monumentaltrieb streben in Mahler zueinander. Das Lied wird aus der Enge subjektiven Gefühlsausdrucks hinaufgehoben in die weithin leuchtende, klingende Sphäre des sinfonischen Stiles. Dieser wiederum bereichert seine nach außen drängende Kraft an der Intimität persönlichsten Empfindens. Dies erscheint paradox, und doch liegt in solcher Vereinigung der Gegensätze eine Erklärung für das seltsame, Innen- und Außenwelt umspannende, Persönlichstes und Fernstes in seinen Ausdrucksbereich einbeziehende Wesen.
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in Zusammenhang stehendes Instrument die Bluttat aufgedeckt. Als typische zeitbedingte Elemente tauchen in den genannten Versionen wechselnde Figuren hohen und niederen Standes (König, Prinzessin, Ritter, Spielmann), Wald und Schloss als Orte des Geschehens, geläufige Requisiten wie Blume (Rose, Lilie), Speer und Schwert, außerdem für den historischen und kulturellen Kontext gebräuchliche Instrumente (Flöte, Horn, Harfe) auf. Einzelne Handlungsteile, wie die Aufgabe, die es zu lösen, und den Preis, den es zu gewinnen gilt, variieren. In Grimms Märchen sind zwei Brüder die in Gut und Böse unterschiedenen Rivalen. Der jüngere tötet einen wilden Eber, um zur Belohnung die Königstochter zu freien, wird von seinem Bruder erschlagen und im Wald verscharrt. Die entscheidende Verbindung zur Musik knüpft ein Hirte, der am Tatort aus einem Knochen ein Mundstück für sein Horn fertigt, das dann von selbst zu singen beginnt. Bei Bechstein schlichtet eine Königin den Erbfolgestreit zwischen Bruder und Schwester, indem sie die beiden im Wald nach einer seltenen Blume suchen lässt. Der Bruder tötet seine mit der Blume in der Hand schlafende Schwester. Hier fungiert als Knocheninstrument eine Flöte, aus der die herzzerreißende Klage ertönt. Das unheimliche Instrument gelangt in die Hände der Königin, und beim Erklingen des klagenden Lieds stürzt der Mörder sterbend vom Thron. Greif hält sich an Bechsteins Text und präzisiert nur einige Details. Die vier Balladen Geibels stimmen mit den Märchen lediglich im Kern der Fabel (der Verbindung von Mord und Musik) überein, sie tradieren ansonsten eine andere Stoffvariante: Während einer Jagd schenkt die Königstochter dem Pagen eine »wilde« rote Rose, die er fortan am Hut trägt (Ballade 1). Für diesen Frevel tötet der König den Pagen mit dem Schwert und versenkt dessen Leiche im Meer (Ballade 2). Der »Meermann« baut aus dem Brustkorb des Getöteten eine Harfe (Ballade 3), deren unheimliche Musik bis ins Schloss vordringt, wo die Königstochter Hochzeit feiert: Das Rufen ihres Geliebten aus der Tiefe bricht ihr das Herz (Ballade 4). Mahlers Dichtung, die in einer ersten Version von 1878 zunächst Ballade vom blonden und braunen Reitersmann hieß, folgt in wesentlichen Zügen Bechsteins Märchen beziehungsweise Greifs Ballade. Darüber hinaus finden sich zahlreiche mit den übrigen Quellen übereinstimmende Zutaten, ohne dass diese zwingend nur daraus bezogen sein müssten, da sie zu gängigen Versatzstücken von Volkserzählungen gehören. In Mahlers dreiteiliger Ballade (mit neun, fünf und sieben Strophen) erinnern Vers, Rhythmus und die häufigen Wiederholungen an Bechsteins Klagelied: »O Hirte mein, o Hirte mein, / Du flötest auf meinem Totenbein!« Aufschlussreich für die Vertonung erweist sich das gewählte Strophenmuster von je vier alternierenden und zwei Paarreimzeilen, denen im zweiten und dritten Teil noch zusätzlich der Refrain »O Leide, weh, o Leide!« angehängt ist. Mit dem Stropheneinschnitt erfolgt ein Perspektivwechsel von der fortlaufenden Erzählung zur abrückenden Kommentierung, der die Einführung mehrerer 39
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Ebenen ermöglicht und von Mahler genutzt wird, um liedhaft-erzählende, dramatisch-ausbrechende oder lyrisch-reflektierende Aussagen miteinander zu kombinieren und musikalisch frei einzugreifen. Im Unterschied zu den übrigen Vorlagen entwirft Mahler keine eigenständige Literatur, sondern eine Dichtung, die sozusagen im inneren Ohr musikalisiert wurde. Gleichwohl hat die Ballade auch eine poetische Funktion, und es erscheint unnötig, ihre klappernden Verse und abgestandenen Bilder mit Hinweis auf die Vertonung zu entschuldigen. Vielmehr ist die vermeintliche Trivialität Teil des ästhetischen Programms. Den »Märchenton« trifft Mahler nicht im Zitat, sondern indem er selbst Märchenerzähler ist und dazu die gängigen, längst abgedroschenen sprachlichen Requisiten benutzt, die zwar poetisch banal, aber durch ihre lange (und noch fortwährende) kollektive Verwendung bei Märchenstoffen sozusagen sanktioniert sind. Wie sehr der Entwurf bereits als Teil der Komposition fungiert, unterstreichen die Eintragungen in der autographen Abschrift von 1879: »Chor:/Echo: ›die blume‹« und »Chor:/Echo: ›zur Ruhe‹«. Vor dem Hintergrund der Musikalisierung lassen sich auch die für Mahlers Gedicht charakteristischen Ellipsen sehen. Und nachdrücklicher noch als bei Bechstein schon angelegt, nutzt Mahler zur Steigerung der Dramatik den Wechsel des Erzähltempus ins Präsens. Außerdem bricht das Strophengerüst an entscheidenden Stellen auf.
IV. Märchen- und Sagenstoffe sind an keine bestimmte musikalische Gattung gebunden, wie allein schon die Beispiele von Mahlers Klagendem Lied, dem Klagenden Lied op. 20 von Wenzel Skop (Václav F. Scop), eine zeitgenössische Parallelvertonung des Stoffs, oder Schönbergs erwähnte Gurre-Lieder erkennen lassen. Als bevorzugte literarische Form finden sich (neben Prosaerzählungen und Librettoeinschüben) vor allem die in Versen erzählenden und oft Volksdichtungen nachempfundenen Balladen. Hier hat der Zusammenhang von Dichtung und Musik bereits Tradition: Sowohl Schiller als auch Goethe waren bestrebt, ihre Balladen möglichst »mit Melodie« zu veröffentlichen. Balladen bilden auch die Vorlagen für die meisten in Musik gefassten Märchen, die als Solo- und Chorlieder oder musikalisch-literarische Mischformen wie Deklamation oder Melodram konzipiert sind. Die Attraktion melodramatischer Darbietungen von Märchen- und Sagenstoffen hält bis weit ins 20. Jahrhundert an. Im Zentrum steht dabei das musikalisch untermalte Gedicht. An diese melodramatische Tradition von Märchenvertonungen knüpft Schönberg im dritten Teil der Gurre-Lieder an. Durch Fixierung von Rhythmus und Tonhöhenverlauf ist die Sprechstimme nicht nur mit ihren lautlichen Qualitäten, sondern auch thematisch in den musikalischen Prozess eingebunden. JA N INA K LAS SEN
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In Schönbergs Stück vereinigen sich mit den solistischen Dialogen und Erzählungen in den ersten beiden Teilen und am Anfang des dritten Teils sowie in dem melodramatischen Schluss verschiedene musikalische Traditionen von Märchenvertonungen des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu Schönberg verzichtet Mahler im Klagenden Lied auf melodramatische Elemente. Stattdessen folgt er eindeutiger dem Vorbild der von Schumann um 1850 neu konzipierten Gattung der Chorballade (deren Einflüsse im Übrigen auch noch in den ersten beiden Teilen von Schönbergs Gurre-Liedern nachwirken). Schumanns Chorballade ist von der ästhetischen Idee einer nicht religiös bestimmten großen Chormusik für den Konzertsaal inspiriert. Schumann schwebt ein den religiösen Stoffen vergleichbares (und sie damit ersetzendes) Sujet und ein entsprechend erhabenes musikalisch-poetisches Konzept vor, in dem die Vorzüge bühnenhafter szenischer Wirkung mit der musikalischen Subtilität einer bis dahin dem Sololied vorbehaltenen Lyrik sich gegenseitig durchdringen. Neben der auf Solisten, Chor und Orchester erweiterten Besetzung separiert Schumann im Pagen und der Königstochter op. 140 die epischen, dramatischen und lyrischen Elemente aus Geibels Gedichten, die er – ähnlich wie später Mahler – ungeniert nach seinen musikalischen Bedürfnissen verändert, umstellt, ausdünnt oder mit eigenen Versen anreichert (ohne in die ›alten‹ Formen Rezitativ, Arie und Chor zurückzufallen). Schumann führt eine erzählende Stimme als konstante Ebene ein, verteilt die Dialoge auf unterschiedliche Rollen, unterstreicht die lyrischen Momente der Vorlage und dichtet illustrierende Passagen hinzu. Wie detailliert Mahler sich über die stofflichen Reminiszenzen hinaus auch mit der Musik Schumanns auseinandergesetzt hat, kann hier nicht verfolgt werden. Ohne Zweifel bildet aber der von Schumann entworfene kompositorische Standard der neuen Gattung Chorballade die Grundlage, auf der Mahler sein musikalisches Konzept entfaltet.
V. Radikaler als Schönberg in den Gurre-Liedern treibt Mahler die von Schumann begonnene Separierung einzelner Schichten voran, und zwar nicht allein in Bezug auf die literarische Inszenierung, sondern auf mehreren Ebenen der Komposition. Trotz des großen Aufgebots von sechs Solisten (Bariton, Tenor, Alt, Sopran und zwei Knabenstimmen), Solo- und gemischtem Chor, das für eine ganze Oper reichen würde, werden die Stimmen im Klagenden Lied nicht mit fest identifizierbaren Rollen verknüpft. Vielmehr wechseln Einsatz und Kombination von Stimmen beziehungsweise Stimmgruppen unvorhersehbar und auch unabhängig davon, ob der Text erzählt, kommentiert oder dramatisiert. Hier liegen offensichtlich keine textdramaturgischen, sondern 41
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hauptsächlich musikalisch-klangliche Erwägungen zugrunde. Diese ständige Variierung betrifft indessen nicht allein Rollen und Stimmen, sondern auch Themen und Motive, die Harmonik und auch die Strophenform selbst. Mahlers Verfahren entpuppt sich allerdings erst nach und nach, wenn der Hörer, ohne es überhaupt richtig zu merken, den sicheren Faden verliert. Anfangs werden nämlich im ersten Teil die Vokalstimmen als erzählende Soli und kommentierender Chor exponiert, eine Rollenverteilung, die schon von der zweiten Strophe an aufweicht und bald gar nicht mehr zu erkennen ist. Zwar bildet das Strophengerüst, ausgehend von der Chorballade, im Hintergrund immer noch die formale Basis, es bietet für den Hörer aber keine zuverlässige Orientierung, da die Strophen weder einheitliche Liedthemen noch erkennbare Perioden aufweisen und auch harmonisch nicht in sich geschlossen sind. Dazu kommt die Mehrschichtigkeit der Klänge selber, in denen sich Tonarten überlagern oder dissonierende Liegestimmen und Orgelpunkte alles in ein diffuses Licht rücken. Die größten Kontraste finden sich oft sogar innerhalb der Strophen. Mahler hat seine Verse wie Prosa vertont, sie auf verschiedene Weise auseinandergezogen oder überlagert, in Gruppen zusammengefasst oder isoliert, oft in kontrastreiche Abschnitte geteilt und durch orchestrale Einschübe erweitert. Dabei kann nicht immer sicher entschieden werden, was als »Zwischen-« oder »Nachspiel« oder bereits als »Einleitung« zur neuen Strophe gelten soll. Im Waldmärchen erscheint die Strophenstruktur besonders in dem Moment ausgeblendet, in dem im Gedicht der dramatische Höhepunkt – das Finden der Blume und der Mord – angesteuert wird, nämlich von der fünften Strophe an. Hier wird nicht mehr erzählt, sondern die Atmosphäre des Tatorts musikalisch evoziert, an welche die erste Strophe des zweiten Teils dann, den Zeitsprung überbrückend, anknüpfen wird. So wie die einzelnen Stimmen behalten auch die Themen und Motive keine fixierten Rollen bei. Auch hier lässt sich eine Loslösung der Themen und Motive aus ihrem ursprünglichen Ort beziehungsweise ihrer Funktion beobachten. Zwar gibt es ein liedhaftes »Hauptthema« (Notenbeispiel 1), das allerdings meist in den instrumentalen Stimmen und nur ansatzweise in den Gesangspartien selber auftaucht. Mahler führt das Thema vom Kopfmotiv aus (Terzschritt und Punktierung) stän-
Notenbeispiel 1
dig anders weiter. Seine »Hauptthemen«-Funktion und die Zusammenhang stiftende Bedeutung werden zunehmend überlagert von einem instrumentalen Anhang (eine absteigende Mollskala), der zunächst nur den Schlussversen JA N INA K LAS SEN
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nachklingt, dann aber immer stärkeres Eigengewicht erhält und zu einer Art musikalischem Refrain wird (Beispiel 2). Auf diese Weise existieren mehrere »refrainartige« Motive: die Melodie der Abgesangsverse (Beispiel 3), die ihrerseits im Verlauf des Stücks unabhängig von dieser Kopplung erklingt, der instrumentale Anhang sowie die beiden Motive des im zweiten und dritten Teil neu hinzugedichteten literarischen Refrains »O Leide, weh o Leide!« (Beispiel 4 a und b). Obwohl Mahler den instrumentalen Anhang auch mit Text unterlegt, bewahrt dieser »Refrain« eine textunabhängige Funktion im Sinne eines Wiedererkennungsmotivs. Neben Refrains und »Hauptthema« tritt der marschartige Rhythmus als stets wiederkehrendes Element auf. Auch in der Ballade überwiegen die Ver-
Notenbeispiel 2
Notenbeispiel 3
Notenbeispiel 4 a
Notenbeispiel 4 b
ben »gehen« und »[dahin]ziehen«, selbst bei jenen Stellen, wo die Bewegung stillsteht, wie am Tatort: »Dort ist’s so lind und voll Duft / als gieng ein Weinen durch die Luft.« Dieser Topos des Wanderns entspringt dem Märchen, gleichzeitig gehört er zu einer der bevorzugten musikalischen Gesten Mah 43
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lers, auch über das Klagende Lied hinaus. So sinnfällig der Rhythmus an das Gehen/Marschieren gekoppelt ist, so auffällig ist sein vom Text unabhängiges Auftreten. Der Einsatz von Motiven oder Signalen als wiedererkennbare Markierungspunkte dürfte von Wagners Musik inspiriert sein. Jedoch lassen sich Mahlers Themen im Klagenden Lied sehr viel weniger eindeutig als etwa die Motive im Ring mit bestimmten semantischen Gehalten aufladen. Im Unterschied zur Leitmotivtechnik erschließt sich hier die mögliche Bedeutung oft erst zu einem späteren Zeitpunkt, sofern sie ihnen im Verlauf des Stücks nicht überhaupt erst zuwächst. In diesem Zusammenhang erscheint es bemerkenswert, dass auch Klangflächen eine derartige Funktion bekommen können, wie die im Vorspiel des Waldmärchens dominierende »Natursphäre«. Mit traditionellen musikalischen Topoi (Hörnerklänge, Quartenmotivik) wird zu Beginn des Stücks eine Art »Waldszene« evoziert. »Langsam und träumerisch« lautet die Spielanweisung. Indessen ist der bedeutungsgeladene romantische Ort von Beginn an mit einem sehr leisen, unruhigen, flächigen Flirren behaftet, in dem die Quartund Sekundpendel der Hörner und Klarinetten gleichsam statisch hängen (fis/D und f/Des). In dem Moment, in dem sich die Motivfragmente zu einer gefestigteren Figuration zu konstituieren scheinen, bricht die sich aufbauende Spannung unvermittelt ab. »Wie im Anfang« lautet Mahlers Anweisung, obwohl zu den flirrenden Streichern nun etwas Neues hinzukommt: der Marschrhythmus in Pauken und Bässen sowie ostinate Triolenfiguren. Die Anfangsmotive erscheinen in ähnlichen Umrissen, doch variiert (Oboen statt Klarinetten; Terz- statt Quartpendel). Und aus der Klangfläche heben sich jetzt einzelne Holzbläser zu einer frei konzertierenden Gruppe heraus, deren Anklänge an Vogelstimmen in der parallelen Situation im Vorspiel des zweiten Teils von Mahlers Anweisung »Wie Gezwitscher« bekräftigt wird. Dabei reichen wenige Mittel, um diese Assoziation herzustellen, wie die Verlagerung der Aktivität in die Holzbläser und eine Anreicherung mit Trillern, kurz aufblitzende Tonkurven in den Flöten und Harfenarpeggien (Beispiel 5). Ausgerechnet diese »Natursphäre« wird am dramatischen Höhepunkt des Waldmärchens heraufbeschworen. Der entsetzte Aufschrei des SopranSolos »O weh, wen er dort schlafend fand / Die Blume am Hut am grünen Band!« verhallt wie ungehört. Stattdessen entwirft Mahler nun eine ausgesprochene Antiklimax, die sich in der Häufung lauter »schöner Stellen«, nämlich sinnlich-schwelgender Adagiopassagen, artikuliert. So folgt in der siebten Strophe anstelle der Schilderung des Mordes die Interpolation einer Idylle (Sopran-Solo »Du wonnigliche Nachtigall«), in der Waldmusik und Vogelgezwitscher die Atmosphäre beherrschen. Die dort hineingeflochtene schmelzende Adagio-Variante des liedhaften »Hauptthemas« unterstreicht den süßen Effekt zusätzlich. Und er wird noch einmal verstärkt in der achten Strophe, in der ein »Zwischenspiel« vor dem sechsten Vers die nun mit sechs Harfen instrumentierte Waldsphäre in Ges-Dur/b-moll ausbreitet, in der das JA N INA K LAS SEN
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Notenbeispiel 5
»Hauptthema« als ferne Hornmelodie schwebt (Alt-Solo »Der Junge lächelt wie im Traum«). Wald, Blumen, Vogelgezwitscher, säuselnde Geigen, Hörnerund Harfenklänge, die ganze Naturidylle, der romantische locus amoenus, hat seine Unschuld verloren und steht hier für Blut und Mord. Wie wenig im Klagenden Lied – trotz des Märchenambientes – einer volkstümlichen Verklärung nachgehangen wird, zeigt auch die Differenz zwischen dem Volksliedzitat im Text, »Im Wald auf der grünen Haide, / da steht eine alte Weide«, das als Abgesang den ersten Teil beschließt und seiner Musikalisierung. Mit Jägerchor-Melodien im herkömmlichen Sinne hat das gedrungene, sich in engen Viertongruppen hochschiebende, bedrohliche Gebilde in fis-moll nichts gemein. Dass diese verstörende Funktion »schöner Stellen« ihre Wirkung nicht verfehlte, zeigt die von Bauer-Lechner festgehaltene Reaktion nach der Uraufführung: »Die Stimmung des verzauberten Waldes umwob uns gleich mit allem Grauen und allen Schauern.« Ein Zug zur Isolierung beziehungsweise Entindividualisierung findet sich bereits im Märchen angelegt, wo die einzelnen Figuren lediglich Typen (Königin, Ritter, Spielmann), aber keine Charaktere darstellen, sondern situationsbedingt auftauchen, wie sie für die Fabel gebraucht werden und ohne Weiteres wieder verschwinden. Die klagende Stimme selbst ist körperlos und tritt als personifiziertes Lied im Märchen immateriell auf (sofern man den Knochen nicht als Repräsentanz sehen will). Zwar knüpft Mahler an Bechstein an, der sie »weinende Kinderstimme« nennt, und konzipiert die magische Musik für Knabenstimmen, die auch tatsächlich (fast) nur diese Passagen zu singen haben. Dabei teilt er aber die einen Umfang vom kleinen a bis zum dreigestrichenen c fordernde Gesangspartie in zwei Stimmen auf (Sopran und Alt) und lässt sie beim letzten Einsatz den sich anschließenden kommentierenden Refrain »O Leide, weh o Leide« selbst zweistimmig singen. »Von Ferne« soll die klagende Stimme kommen, deren Auftritt mit der Rückung von Hörnerklängen in F-Dur nach Harfenarpeggien in es-moll in 45
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eine geheimnisvoll abgedunkelte Beleuchtung getaucht ist. Isolierte melodische Liedelemente wie Quart- und Quintschritte reihen sich in jeweils neuer Taktsetzung aneinander. Damit entsteht ein harmonisch offenes prosodisches Gebilde, dessen Fremdartigkeit gerade durch die Mischung archaischer melodischer und ausgesprochen moderner metrischer Elemente bewirkt wird (Beispiel 6).
Notenbeispiel 6
Auf eine Soloflöte als akustischer Fingerzeig wird hier verzichtet. Stattdessen tritt eine ganze Holzbläsergruppe auf, deren ineinandergeschobene Liegetöne und Sekundschlenker an den Schattenspiegel des Vogelgezwitschers erinnern und en passant auch die Knabenstimme stützen. Die aus dem Jenseits herüberklingende Musik, das zentrale Ereignis des ganzen Stücks, wird großartig inszeniert. Bevor die klagende Stimme überhaupt erklingt, hat Mahler den Ausnahmezustand musikalisch längst hergestellt, am beeindruckendsten nach dem begonnenen Abgesang des Chor Tenors in der zweiten Strophe, dessen dringliche (und nutzlose) Warnung »O Spielmann, lieber Spielmann mein! / O ließest du das Flöten sein« verstummt. Die märchenhafte Zauberwelt bricht unvermittelt auf und artikuliert sich für den Hörer gespenstisch: Mit der musikalischen Gleichzeitigkeit fernliegender Ereignisse komponiert Mahler hier eine Aufhebung sukzessiver (Erzähl-) Abläufe, schafft also genau jenen Zustand, den er später bei der Skizzierung seiner Ästhetik metaphysisch als »Welt« gefasst hat, »in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Raum auseinanderfallen«. Während Pendelfiguren in Ges-Dur in die Waldsphäre lenken und mit dem Vogelgezwitscher die Vergangenheit, nämlich Tatort und -zeit (und damit der Kern des ersten Teils) musikalisch vergegenwärtigt werden, erklingen im Fernorchester gleichzeitig die Hochzeitsfanfaren aus dem dritten Teil, also »Zukunftsmusik«. Und als dritte Ebene, als Jetztzeit des Spielmanns, ist die Umgebungsmusik »wie fernes Glockengeläute« einbezogen. Die atemberaubende Wirkung dieser Klanginszenierung mit der Schichtung konträrer Musiken liegt nicht zuletzt an der akustisch-räumlichen Dimension. Innerhalb des Saalorchesters soll das im Schlagzeug artifiziell hergestellte Glockenläuten im pianissimo deutlich abgerückt erklingen, während das Fernorchester außerhalb des Saales spielt. Mahler verstärkt den räumlichen Effekt noch zusätzlich durch die tonale Differenz von einem Halbton zwischen den getrennten Klangquellen. M Ä RCHEN ER ZÄ HLU NG
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Theodor W. Adorno
Was bei Beethoven noch als Spaß sich vermummt: daß die Vögel am Ende der Szene am Bach wie mechanische Spielzeuge leiern; die unfreiwillige Komik der Ursymbole aus Wagners Ring wird zum Apriori all dessen, was in Mahlers Musik Natur heißt. 47
Auf diese Weise verwischen sich (im Idealfall) die Konturen zwischen dem Fernorchester in C- und dem Saalorchester in Ces-Dur über dem Orgelpunkt F und fördern die Illusion von Weite.
VI. In Schumanns Chorballaden wirkt vor allem der volkstümliche, als kraftvoll und künstlerisch unverbraucht geltende und durch jahrhundertelange Tradierung sozusagen von allen Schlacken bereinigte Stoff (so jedenfalls die Vorstellung seiner Zeit), der sogar einen religiösen ersetzen kann und den Komponisten zur ästhetischen Erneuerung musikalischer Gattungen herausfordert. Dagegen erscheint im Klagenden Lied fünfundzwanzig Jahre später die Märchenwelt ambivalent, eine längst unwiederbringlich verlorene, schöne Idylle, die gleichwohl von Grausamkeit durchsetzt ist. Hier dürfte nicht der Stoff allein (trotz seiner großen Anziehungskraft), sondern vielmehr der Akt des Erzählens selbst eine entscheidende ästhetische Anregung aus dem Märchen gewesen sein. Mahler begann seinen Weg als Künstler in einer musikhistorischen Situation, in der die Verbindlichkeit logischer Strukturen längst ins Wanken geraten, emphatisches Formempfinden stückweise zerbröselt war und am Ende auch die Vorstellung von Musik als Ausdruck eines kompositorischen Subjekts nicht mehr widerspruchslos funktionierte. Weder ein Komponieren in der auf sich selbst bezogenen, von der Realität losgelösten Sphäre absoluter Musik, noch eine dem literarischen Naturalismus entsprechende Ankopplung an Gebrauchsmusik konnten als künstlerische Alternativen zufriedenstellen. Der Rückgriff auf die außer-literarische/außersinfonische Zeit, auf Traditionen kollektiven Gestaltens, kann ein Stück weit als Negation, als Position radikaler Verweigerung gesehen werden, aus der heraus dann tatsächlich innovative Impulse bezogen wurden, ohne die bestehenden Gegensätze zu versöhnen oder den Fortschritt durch den Entwurf eines neuen musikalischen Systems zu »sichern«, wie es später Schönbergs Absicht war. Dazu gehört bei Mahler die Arbeit mit verschiedenen musikalischen Ebenen, präfixiertem und neuem Material unterschiedlichen Niveaus (das der Künstler völlig selbst herstellt), mit musikalischen Schnitten und Wechseln zur Überwindung herkömmlicher Formen (die kulturellen Kodes klassisch-romantischer Musik), mit Separierung, Schichtung und Konstruktion einer aufgehobenen Zeit, die am Ende weit über Erzähltechniken des Märchens hinausgeht, und schließlich mit einer Unvorhersehbarkeit, welche die Hörer zur absoluten Aufmerksamkeit zwingt. Das alles sind Komponenten, die sich in Mahlers Sinfonien als Extreme noch verschärfen werden – kein schlechter Start also für ein »Opus 1«.
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→ Daniel Jenz und Chor der Wiener Staatsoper, 2022
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Am anderen Morgen stiegen sie aus der Schlucht heraus und machten sich wieder auf den Weg. Aus einem Stück Rohr an der Straße hatte er dem Jungen eine Flöte geschnitzt, die er nun aus seiner Jackentasche zog und ihm gab. Der Junge nahm sie wortlos entgegen. Nach einer Weile fiel er zurück, und wieder etwas später konnte der Mann ihn spielen hören. Eine formlose Musik für das kommende
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Zeitalter. Oder vielleicht die letzte Musik auf der Erde, beschworen aus der Asche ihres Untergangs. Der Mann drehte sich um und betrachtete ihn. Er war völlig in sein Spiel vertieft. Er kam ihm vor wie ein trauriger, einsamer Wechselbalg, der die Ankunft eines Wanderschauspiels in Grafschaft und Dorf ankündigt und noch nicht weiß, dass hinter ihm alle Schauspieler von Wölfen verschleppt worden sind. Corman McCarthy → Die Straße 51
N EW DA R K AGE
Sherry Lee
EIN SELTSAM SPIELEN
Erzählung, Performance und die unmögliche Stimme im Klagenden Lied
Hybridität, Mündlichkeit und Schriftlichkeit
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Der Text des Klagenden Lieds ist Mahlers eigene poetische Auslegung eines verbreiteten Volksmärchens, das in vielen Versionen und aus zahlreichen Quellen bekannt ist. Nach dem Aarne-Thompson-Index wurde es klassifiziert als ATU 780–Typ Der singende Knochen (benannt nach der Version der Brüder Grimm von 1819). Diesem Typ eines Legendenmärchens kommt besondere Aufmerksamkeit der Volkskundler zu, weil die Musik darin eine außergewöhnliche Rolle spielt. Dem Sprachwissenschaftler und Märchenforscher Joseph Nagy zufolge ist das musikalische Element – auch wenn Brudermord und Vergeltung für die Handlung zentral sind – das herausragendste Element der Geschichte. Nicht nur die Musik an sich, sondern auch ein bemerkenswertes Musikinstrument, der singende Knochen selbst, steht im Fokus von Nagys Interesse – und die »radikalen Veränderungen«, denen das Opfer der Geschichte unterworfen ist: Seine sterblichen Überreste werden zum Instrument und Interpreten zugleich. »Musik, wie sie in Erzählungen nach dem Typ Der singende Knochen zum Einsatz kommt«, erweist sich »als nicht klassifizierbares Phänomen, eine Conditio sine qua non der menschlichen Gesellschaft, welche die Grenzen zwischen Kultur und Natur, Leben und Tod, Belebtem und Unbelebtem auf paradoxe Weise überschreitet.« Doch der Gesang kann aufgrund seiner herausragenden Stellung innerhalb der Erzählung auch noch andere Grenzen verwischen. Für Lee Haring etwa ist der Erzähltypus ATU 780 geprägt von Hybridität, die sich in den Rollen zeigt, welche Musik darin spielt. Haring zufolge sind hybride Volksmärchen »Erzählungen, die die Grenzen von Sprache und Zeichensystemen überschreiten«. Der Typus Der singende Knochen ist auf mehreren Ebenen exemplarisch für diese Grenzüberschreitung. Die erste Ebene bildet die Hybridität der Gattungen – wie bei allen Volksmärchen, die Rätsel enthalten oder die Entstehung eines Liedes zum Thema haben. Das enthaltene musikalische Element lässt einen »Dialog der Gattungen« entstehen, in dem das eine Genre die Miniatur des anderen bildet: Das Lied erzählt im Grunde nochmals die Geschichte, in der es vorkommt. Wesentlich dabei ist, so Haring, dass das Lied selbst »nicht der übrigen Geschichte untergeordnet [ist]; es bildet ihren eigentlichen Höhepunkt«. Der Theoriebegriff der Hybridisierung in der Volksdichtung umfasst nicht nur die inhaltliche und die strukturelle Ebene der Erzählung, sondern auch die Art ihrer Darstellung. In der europäischen Tradition, wo die mündliche Überlieferung von Volksmärchen die Norm darstellt, gilt das Einschalten von Gesang beim Erzählen der Geschichte als hybride Darstellungspraktik, als »Wechsel des Kanals zwischen Sprache und Gesang« (Haring). Das theatrale Potenzial, das das Ausloten unterschiedlicher Darstellungsformen im Erzählakt birgt, ist integraler Bestandteil dieses Erzähltypus. ATU 780 behält diese
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Mischung der Erzählkanäle auch in den literarischen Versionen bei: »Da der Erzählkanal den Kontakt zwischen Darsteller und Publikum steuert«, so Haring, »ist das Verschriftlichen einer mündlichen Erzählung an sich schon ein weiterer Akt der Hybridisierung der Kanäle, ob es sich nun um eine wörtliche Transkription, eine Be- oder Überarbeitung der mündlichen Form handelt, um eine literarische Kreation auf Basis einer mündlichen Überlieferung oder ein literarisches Märchen auf Basis von anderer Literatur.« Für den Volkskundler Donald Ward bilden die typischen Elemente der Hybridität der Kanäle das zentralste Kennzeichen des Musikmärchens. Wards Interesse für ATU 780 gründet vor allem in der Tatsache, dass dieser Erzähltyp den Übergang von mündlicher zu literarischer Überlieferung beispielhaft darstellt und dass in diesen Übergängen Spuren einer eindeutig mündlichen Erzähltradition erhalten bleiben, Spuren, die überdauert haben und hier in Form des musikalischen Zwischenspiels – dem Lied der Knochenflöte im Mittelpunkt der Geschichte – und in seinem Anstimmen durch den Erzähler präsent sind. »Zwischen dem gedruckten Wort und der mündlichen Tradition gibt es eine massive natürliche Schwelle«, schreibt Ward, »doch eine Schwelle, die – besonders in Zeiten von Bedrohungen – durchaus überschritten werden kann und wird.« Die Frage nach mündlichen und schriftlichen Quellen betrifft sowohl Mahlers eigene Quellen für das Volksmärchen, das er 1878 in eine MärchenKantate goss, als auch die Spuren, die diese Quellen im entstandenen Werk hinterlassen haben. Verfügbare schriftliche Versionen im Deutschen, die im Detail deutliche Ähnlichkeiten mit Mahlers Wiedergabe aufweisen, sind nicht nur das Märchen Der singende Knochen der Brüder Grimm, sondern auch Ludwig Bechsteins Märchen Das klagende Lied (veröffentlicht 1856) – beide werden in der wissenschaftlichen Literatur zu Mahlers Kantate stets genannt. Vermutlich wurden diese von Mahler genutzt. Es ist jedoch auch möglich, dass Mahler die Geschichte zunächst aus mündlicher Quelle und nicht durch einen publizierten Text kennenlernte. Henry-Louis de La Grange hält fest, dass Mahler genau dieses Märchen wiederholt von »Nanni« hörte, dem Kindermädchen der Nachbarfamilie Fischer, von der sein Vater das Haus in Iglau kaufte. Die Hörerfahrung einer Geschichte unterscheidet sich deutlich von der Leseerfahrung derselben Geschichte – auf eine Weise, die in einer späteren Nacherzählung stark durchklingen kann. Es gibt keinen Grund, die Anekdote über Mahlers Kontakt mit dem Stoff in seiner Kindheit anzuzweifeln. Sicher ist, dass verschiedene mündliche Versionen der Geschichte vom singenden Knochen in Teilen Europas bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überlebten. So bekam Nicole Marzac 1964 eine polnische Version des Erzähltyps mündlich von Irene Cieślak übermittelt. Deren Darstellung umfasste nicht nur die reine Erzählung, sondern auch das wiederholte Singen des gespenstischen Liedes, das auf der Knochenflöte des Hirten ertönt. Cieślak erklärte, sie habe die Geschichte als Kind von SHER RY LEE
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ihrem Großvater kennengelernt – auch er, geboren 1874, hatte das Märchen einschließlich des Liedes als Kind gehört. Im Gegensatz zum Grimm-Märchen, für das ebenfalls eine mündliche Quelle angenommen wird, hält Marzacs Wiedergabe sowohl den von Irene Cieślak übermittelten Text als auch die Melodie zu den gesungenen Versen fest. Donald Ward sieht darin einen Beweis für das getrennte Bestehen und Fortbestehen mündlicher und schriftlicher Versionen ein und derselben Erzählung (oder Erzähltypen). Ward nennt Beispiele für Erzählfassungen mit Liedern als fixem Bestandteil, deren Verse dezidiert gesungen wurden – darunter die Verse des verwirrten Gretchen im Kerker aus Goethes um 1773 entstandenen Urfaust. Als die Brüder Grimm rund 40 Jahre später den Singenden Knochen veröffentlichten, gab Goethe an, die Geschichte und die gesungenen Verse darin aus seiner Kindheit zu erinnern. »Die Grimms dagegen«, stellt Ward fest, »bestehen darauf, wenn die Rede auf Verse in ihren Märchen kommt, dass diese stets rezitiert und nie gesungen werden. Heute […] wissen wir, dass diese Einschätzung falsch war; die Tatsache, dass die Verse gesungen werden, war wesentlicher Bestandteil der Erzähltradition.« Das Vorhandensein einer gesungenen Passage ordnet den Typ ATU 780 eindeutig jenseits der schriftlichen Kultur ein. Die Lieder innerhalb der Erzählung bilden »einen deutlich sichtbaren oralen Erzählstrang, der klar abgegrenzt ist von der Lese- und Schreibpraxis«. Auch wenn das Märchen sowohl in schriftlichen als auch in mündlichen Fassungen überlebt hat, können nur letztere die wirkmächtige Besonderheit gesungener Elemente erhalten. Ward meint dazu: »Die Lieder mit ihren einprägsamen Melodien kommen im gedruckten Märchen nicht vor […] Ihr einprägsamer Effekt könnte schriftlich nie eingefangen werden. Ganz offensichtlich weisen diese Verse auf das Feld des Mündlichen hin, das dem Eindringen literarischer Einflüsse widersteht.« Für Ward besteht die herausragende Eigenschaft des Märchens wiederum in dem außerordentlich wirkmächtigen Element der musikalischen Darstellung. In ihr überschneiden sich Erzählung und dramatisches Ausagieren. Die Unmittelbarkeit, sogar Gegenwart des Liedes in gesungener Form bleibt als besondere Qualität der mündlichen Erzählung vorbehalten.
Erzählung, Zeitlichkeit und Stimme Mahler entschied sich also für eine Erzählform, die die wirkmächtigen und manchmal verstörenden Effekte erklingender Musik sowohl thematisiert als auch integriert – Effekte, die auch seine späteren Werke durchziehen. Das klagende Lied verdoppelt diese Wirkung, indem es von ihr erzählt und sie zugleich herstellt. Man könnte sogar von einem Versuch sprechen, die Spuren der Verschriftlichung und der Komposition durch das Klangereignis auszulöschen. Im Zentrum des Werkes steht die schreckenerregende Idee 57
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eines unkörperlichen Gesangs, eines unbelebten Objekts, das in menschlicher Sprache singt, einer Stimme aus dem Grab, die die Grenzen des Todes überwindet, um die Lebenden aufzurütteln. Dreimal erklingt bei Mahler die unheimliche Stimme; ihr letzter Auftritt verstört nicht nur, sondern zerstört auch, indem sie durch ihr bloßes Erklingen ein Gebäude zum Einsturz bringt. Über die narrative Ebene hinaus hat die performative Dimension des Märchens die Strukturen von Mahlers Erzählweise geprägt. Im Gegensatz zu literarischen Versionen von ATU 780 erhöht Mahlers Text die Wahrnehmung des Gegenwärtigen und schreibt der Stimme eine Rolle zu, die als Annäherung eher an die Wirkung der (mündlichen) Darstellung als der (schriftlichen) Erzählung verstanden werden kann. Besonders interessant an Mahlers dichterischer Version des Märchens ist die Unbeständigkeit von Sprecher und Tempus, sie zeigt sich in häufigen Wechseln zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsform, unerklärlichen zeitlichen Verschiebungen und Erzählsprüngen. Alle Märchen zeigen typische Schwankungen in Erzählzeit und erzählter Zeit, indem sie einzelne Ereignissequenzen ausdehnen und andere summarisch zusammenfassen. Sowohl Der singende Knochen der Brüder Grimm als auch Bechsteins Das klagende Lied enthalten einen solchen Zeitsprung. Die Zeit zwischen dem Augenblick, als der jüngere Bruder erschlagen wird, und jenem, in dem der Knochen entdeckt wird, wird in einen typischen Märchen-Satz gefasst: »Nach langen Jahren«, heißt es in der Grimm-Version. Bei Bechstein gibt es zwei solcher Sätze: »Und da sind viele Jahre hingegangen« zwischen dem jugendlichen Verbrechen des Bruders und seiner Thronbesteigung als erwachsener Mann; und »nach manchem, manchem Jahre« erst wird der schicksalhafte Knochen gefunden. In Mahlers Text hingegen gibt es keinen Hinweis auf vergehende Wochen, Monate oder gar Jahre, während derer die Leiche des getöteten Bruders im Wald verwest. Der Spielmann schnitzt sein geheimnisvolles Instrument, reist hierhin und dorthin und präsentiert dessen unheimliche Macht und gelangt doch genau zu jenem Zeitpunkt zum Schloss, als die Hochzeit des Brudermörders mit der stolzen, lieblichen Königin stattfindet. Wenn die Geschehnisse im Waldmärchen – das Suchen und Finden der Blume – wie angekündigt zum Hochzeitsstück führen, wie passen dann die Ereignisse im mittleren Teil – das Schnitzen der Flöte und ihr wundersames Klagelied in Der Spielmann – in dieses Zeitschema? Fast noch auffälliger ist eine weitere Auslassung: Der eigentliche Mordakt wird nicht an der Stelle erzählt, an der er stattfindet. Im Text ist die Rede davon, dass sich der ältere Bruder nähert, bösartig lacht, das Schwert aus glänzendem Stahl zieht; dann aber wendet sich der Text dem unschuldigen jüngeren Bruder zu, der unter der Weide liegt und lächelt »wie im Traum«. Die Tat selbst wird nur angedeutet. Der Text scheint das Geschehen zu umkreisen, ohne eigentlich davon zu sprechen; in Furcht und Schrecken wendet er sich ab. Diese Auslassung bewirkt eine Verdrängung, die nach Freud zur Folge hat, dass das Verdrängte zurückkehrt. Das unerzählt gebliebene Trauma des SHER RY LEE
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Brudermords tritt im Verlauf des Stückes immer wieder an die Oberfläche, es wird manifest als wiederkehrender Erzählakt in Form der zahlreichen Auftritte der Knochenflöte, deren letzter verheerend ist. Der Effekt der Wiederholung erzeugt so eine dramatische Vervielfachung des Ereignisses, das Trauma wird wieder und wieder durchlebt. Im Augenblick der Tat jedoch ist es, als ob das Aufblitzen des gezogenen Schwerts ein Ereignis ankündigt, das der Text nicht mitansehen kann. Er weicht aus und wendet sich stattdessen den taunassen Blumen, den Rufen der Vögel und dem Raunen des Windes zu, wie um die Zeit durch Anrufung der zeitlosen Qualitäten der Natur anzuhalten. Die genretypische Hybridität des Volksmärchens wird manifest in diesem plötzlichen Abgleiten vom Epischen hin zum Lyrischen. Es wäre ohne weiteres möglich, die Geschichte überzeugend in der Vergangenheitsform wiederzugeben, so wie es bei Grimm und Bechstein geschieht. Mahlers Fassung verzichtet auf die Schutzwirkung des Vergangenen, das Gewalt und Schrecken auf sicherer Distanz hält, zugunsten solcher Momente der Unmittelbarkeit, die das Kontinuum der erzählten Zeit durchbrechen. Es ist, als wollte der Text an solchen Stellen die Gegenwärtigkeit einer mündlichen Erzählung imitieren, quasi als Nachhall eines direkten, persönlichen Erzählerlebnisses. Über das gesamte Gedicht hinweg verläuft diese Kollision des Narrativen und Zeitlichen. Wir beginnen in der klaren Vergangenheitsform einer erzählten Geschichte, doch als der Spielmann zum Schloss gelangt, ist die Geschichte gleichsam bei sich selbst angekommen. Der gesamte dritte Teil wird in der Gegenwart erzählt, mit Ausnahme einer Zeile im Flötenlied des Spielmanns sowie deren Wiederholung, als der König die Flöte ansetzt. Und so schließen wir in der Unmittelbarkeit des dramatischen Präsens, im Bann der schrecklichen Ereignisse, die sich durch Stimme und Klang offenbaren. Häufig zeigen diese zeitlichen Verschiebungen im Text einen Wechsel der Erzählstimme an. Ein grammatikalischer Wechsel wie jener von der Vergangenheits- zur Gegenwartsform suggeriert, dass die Erzählung in einer anderen Zeit oder von einem anderen Ort ihren Ausgang nimmt, also auch von einem anderen erzählenden Subjekt. Darin zeigen sich Spuren des performativen Erzählakts im Text. Die wechselnde Erzählposition macht deutlich, dass die narrative Präsenz nicht einheitlich, sondern vielfältig ist. Tatsächlich wird die Vielzahl der Stimmen in Mahlers Text fast von Anfang an deutlich. Die Eröffnungsstrophe des ersten der drei Teile, Waldmärchen, beginnt mit einer Erzählung in der Mitvergangenheit: »Es war eine stolze Königin«. Diese wechselt zu einem dramatischen Ausruf in direkter Anrede, die einen Gegensatz zu der Distanz der dritten Person Mitvergangenheit bildet und durch die Trauer, die mitschwingt, einen tragischen Ausgang vorwegzunehmen scheint: »O weh, du wonnigliches Weib!«
EIN SELTSA M SPIELEN
Durch diesen Schwenk des Textes von der Erzählung des Vergangenen hin zu einem angstvollen Blick in die Zukunft verändert sich auch die Positionierung der Aussage. Die Strophe endet mit einem anderen Modus, nämlich der unerwarteten Frage: »Wem blühet wohl dein süßer Leib?« Denn wenn die Geschichte in der Vergangenheit spielt und somit bereits abgeschlossen ist, sollte der Erzähler ihren Ausgang kennen; doch hier spricht die erzählende Instanz ganz so, als wüsste sie es nicht. Der Verlauf der Erzählung behält dieses Schwanken zwischen distanzierter Erzählstimme, plötzlichen Momenten der Betroffenheit mit dramatischer Anrede der Charaktere und fragenden Äußerungen einer Stimme aus der Mitte des Geschehens bei. Roland Barthes bedient sich in »fading der Stimmen« – einem Kapitel seines Buches S/Z – einer musikalischen Metapher, um die Funktionsweise von Texten mit multiplen Stimmen zu erklären: »Dann ist die beste Art, sich das klassische Plurale vorzustellen, auf den Text zu hören wie auf einen schimmernden Austausch multipler Stimmen, die auf verschiedenen Wellen liegen und zuweilen von einem plötzlichen fading erfasst werden, deren Durchlöcherung es dem Aussagen erlaubt, ohne Ankündigung von einem Punkt zum andern zu wandern: durch diese tonale Instabilität hindurch stellt sich das Schreiben her (im modernen Text geht sie bis zur Atonalität) […].« Mahlers Text weist mehrere solcher »Durchlöcherungen« auf, wo Stimmen verblassen oder sich plötzlich verlagern. Die Passage rund um den unausgesprochenen Brudermord in Waldmärchen ist ein solches Beispiel. Die Haupterzählstimme in Mitvergangenheit, die über den Großteil dieses Teils hinweg vorherrschend war, wird von einer anderen Stimme verdrängt, die emotional mitten im Geschehen ist. Dies überschreitet den eigentlichen Erzählrahmen des Stückes: Die unbeteiligte Stimme von außen wendet sich an Elemente innerhalb der Geschichte, indem sie etwa die Vögel des Waldes anfleht, den schlafenden Bruder mit ihrem Gesang zu wecken. Bezeichnenderweise entwickelt der Text genau an dieser Stelle auch ein Klangbewusstsein und beschreibt die Stimmen der Vögel und die raunende Stimme des Windes. Barthes weist jedoch auch auf Aussagen hin, deren Absender nicht identifizierbar erscheint: Die Stimme scheint dann plötzlich abwesend. Waldmärchen endet mit einer solchen nicht identifizierbaren Aussage. Auf die Aporie der ausgelassenen Erwähnung des Mordes folgt eine Aussage, die im Text grammatikalisch durch Anführungszeichen gekennzeichnet ist. Sie lautet schlicht: »Im Wald, auf der grünen Heide, da steht eine alte Weide.« Peter Franklin betont, dass diese Zeile »wie der zitierte Beginn einer anderen Geschichte« (oder vielmehr eines anderen Liedes) anmutet. Dennoch ist es eine Aussage, die nicht verortet ist. Oder, um mit Barthes zu sprechen: »Wer spricht? […] Unmöglich kann hier der Art des Aussagen ein Ursprung […] beigemessen werden.« – »Doch kann es in diesem klassischen Text, auch wenn er ständig von der Aneignung des Sprechens besessen ist, zu einem Verlust der Stimme kommen, als würde sie in einem Loch des Diskurses verschwinden.« SHER RY LEE
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Es überrascht, dass Barthes’ musikalische Metapher und sein Suggerieren eines »Hörens« auf den Text, auf Stimme und Wellen so unmittelbar die Akustik beschwören. Es ist, als würde das »fading der Stimmen«, das er beschreibt, einen Bruch in dem Text erzeugen, durch den Stimme hörbar wird; um Barthes’ Ausdruck zu verwenden: »der Text spricht« – oder wird sogar darstellend. In Mahlers Komposition ist der drastischste Bruch jener, der der Stimme des Toten Gehör verschafft.
Stimmverlagerung, Klangbrüche, radikale Performance Das klagende Lied ist sowohl in textlicher als auch in musikalischer Hinsicht ein vielstimmiges Werk. Im musikalischen Arrangement werden alle textlichen Verweise auf die Stimme und ihre Präsenz durch den Klang manifest. Die musikalisch-stimmliche Struktur des Stückes unterstreicht, spiegelt aber nicht immer unmittelbar die Vielstimmigkeit des Textes. Zum Teil ist es gerade die fehlende direkte Kongruenz zwischen Stimmen im Text und musikalischen Stimmen, die uns bei der Aufführung des Werkes Pluralität und sogar Instabilität erfahren lässt. Die eigentlichen Singstimmen etablieren keine stabilen Charaktere, sie funktionieren auch nicht in einem fixierten Gefüge zwischen erzählendem Solo und begleitendem oder kommentierendem Chor. Vielmehr sind sie alle Erzählstimmen, deren Rolle sich aber wandelt und die immer wieder unterschiedliche Erzählebenen einnehmen. Im Hörerlebnis einer Aufführung dominiert der Eindruck eines ständigen Wandels der Stimmen. Im lärmenden Hochzeitsstücks schließlich – man mag es komplex oder auch chaotisch nennen – scheinen die ruhigeren Momente des Waldmärchen und auch des Spielmann lange vorbei. Im Gegenteil, eine Woge von Ensemble- und Solostimmen droht uns zu überwältigen, kombiniert mit einer Instrumentierung, die einer akustischen Zertrümmerung gleichkommt. Es sei darauf hingewiesen, dass bei allem Fokus auf der menschlichen Stimme das Orchester eine gleichberechtigte Rolle spielt. Es stellt, der unerklärt bleibenden erzählerischen Lücke zwischen Waldmärchen und Spielmann entsprechend, auf geheimnisvolle Weise Distanz her zur erzählten Zeit des traumatischen Todes unter der Weide. In jenem Abschnitt gegen Ende des Waldmärchens, wo die Erzählstimme Abstand vom Bericht über den Mord nimmt und stattdessen die umgebende Natur rund um den jüngeren Bruder beschreibt, der lächelt »wie im Traum«, verstärkt das strukturelle Gefüge der Orchestermusik den Eindruck der Aufhebung von Zeit. Gehaltene Noten, Harfen-Arpeggios in unüblichen Arrangements, sanfte Tremolos und wellenförmige Akkordmuster bei den Streichern, all das bremst buchstäblich das Vorwärtsdrängen der Handlung. Lange, ausgestellte Triller in der Piccolo-Partie sind eine konventionelle Form, Vogelgezwitscher darzustellen, sie spiegeln ähnliche Muster von Querflöte und Piccolo in der Begleitung der 63
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vorangehenden Bitte an Nachtigall und Rotkehlchen, den schlafenden jungen Mann mit ihrem Gesang zu wecken. Sowohl Singstimmen als auch Orchester transportieren diese Beschwörung der zeitlosen Natur, um den Erzählfluss anzuhalten, der den Moment unmittelbar vor dem Mord erreicht hat. Adorno könnte solch einen Moment gemeint haben, wenn er sagt: »Mahlers Musik […] wacht über den Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten.« Die Vielzahl der Stimmen beklagt den Mord wie auch ihr eigenes Unvermögen, ihn trotz ihrer Warnrufe zu verhindern. Ein Gegenstück zur radikalen Auflösung der Zeit durch das Orchester im Waldmärchen findet sich im Hochzeitsstück, wo der Eintritt des Fernorchesters einen dramatischen räumlichen Bruch darstellt. Seine klangliche Verräumlichung trägt entscheidend zum theatralen Charakter des letzten Teils bei. Das – in der Literatur vielbesprochene – Fernorchester stellt den ersten Einsatz von akusmatischer Musik (die hörbar, deren Quelle aber nicht sichtbar ist) bei Mahler dar. In dem Moment, in dem das plötzliche akusmatische Ereignis die Raumverhältnisse des Stückes aufbricht, bricht es auch mit der Zeitstruktur der Erzählung, indem das dramatische Element Einzug hält. Ganz so, als hätte die überschwängliche Beschreibung der Hochzeitsfeier durch den Chor einen Riss im Erzählgeschehen eröffnet, durch den der Klang des Orchesters an unsere Ohren dringt, der es uns präsentiert und ihm gleichzeitig Präsenz verleiht. Mit dieser paradoxen Unmittelbarkeit auf Distanz spiegelt das Orchester die Wirkung des Liedes der Knochenflöte, die es mit seinem Lärm nicht übertönen kann. Die Tempowechsel und räumlichen Verschiebungen in der Orchestermusik sind also Abbild und Vervielfachung der kaleidoskopischen Stimmen, die abwechselnd die Ereignisse der Handlung erzählen, miterleben und ausagieren. Eine Stimme ragt jedoch heraus. Mahler legte ursprünglich fest, dass das Lied der Knochenflöte von zwei Knaben gesungen werden sollte, deren Timbre sich von denen der anderen Singstimmen deutlich abgehoben hätte. Später willigte er ein, die Knaben durch Sängerinnen zu ersetzen – ein Zugeständnis an die Aufführungspraxis. Wenn die kompliziertere Variante der Knabenstimme tatsächlich realisiert wird – wie in einigen Aufführungen in jüngerer Zeit –, so erzielt das nicht nur eine dramatische, sondern geradezu elektrisierende Wirkung. Nicht nur entspricht eine kindliche Stimme dramaturgisch der Rolle des unschuldigen jüngeren Bruders; die »Reinheit« dieses Stimmtyps fügt sich auch ideal zu den reinen, schwingenden Tönen der Flöte. Die Knabenstimmen markieren zudem den Schnittpunkt zwischen dem Objekt der Knochenflöte im Erzähltext und der Klangqualität ihrer Präsenz in der Aufführung. Diese Stimme hat ihren ersten Auftritt unmittelbar nach einer vorwegnehmend-gedämpften Passage des Chors, unterbrochen von einem einzelnen, ahnenden Ruf: »Das wird ein seltsam Spielen sein!« Auffällig ist, dass hier nach wie vor von Spielen und nicht von Singen die SHER RY LEE
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Rede ist. Solisten und Chor wechseln damit von allwissenden Erzählern zu besorgten Beobachtern und Zuhörern. Der Vers »O Wunder, was nun da begann / welch’ seltsam traurig Singen! / Es klingt so traurig und doch so schön, / wer’s hört, der möchte weinen geh’n!« steht im Gegensatz zur vorangehenden Passage in Mitvergangenheit, er wird in der Gegenwart erzählt und überschreitet wirkungsvoll die Kluft zwischen der Erzählung über den Spielmann, der den Knochen findet, und dessen unheimlicher Darbietung. Wie um sein Grenzgängertum zu betonen, signalisiert das Lied der Knochenflöte seine eigene zeitliche Loslösung vom Geschehen durch eine Reihe rhythmischer Verschiebungen. Seine schockierende Wirkung wird durch die Warnung des Solotenors vor einem »seltsam traurig Singen« kaum gemildert. Im Gegenteil: Die Knochenstimme ist ein giftiger Rest, ein Beispiel dafür, was Mladen Dolar »das Objekt Stimme« nennt – ein Überbleibsel, das nicht auf die Bedeutung seiner Worte reduziert werden kann. Als »Schnittpunkt zwischen An- und Abwesenheit« füllt die Stimme eine Leerstelle zwischen Sprache und Körper; doch hier gibt es keinen Körper, nur dessen sterbliche Überreste. Obwohl scheinbar unmöglich, hat die materielle Flötenstimme den Tod des Körpers überlebt. Doch wenn dieses Objekt Stimme »wirklich ermordet« wurde, fragt Dolar, »warum taucht sie dann wieder auf? Weiß sie nicht, dass sie tot ist?« In der Tat weiß die Flötenstimme um ihren Tod, doch sie erklingt trotzdem, und dieses Bewusstsein ist einer der verstörendsten Aspekte (siehe Beispiel 1):
»Ach, Spielmann, lieber Spielmann mein! / Das muss ich dir nun klagen« In der Aufführung ist schon zu Beginn des Liedes klar, dass wir hier nicht dem Bericht einer zitierenden Stimme von außen lauschen, sondern der zitierten Stimme selbst. Diese durchbricht die Grenzen der Vergangenheitsform und konfrontiert uns mit der Unmittelbarkeit ihres Klangs. Ihre »Gespensterhaftigkeit«, der Donald Ward zu Recht attestierte, sie könne »niemals im Geschriebenen eingefangen werden«, wird in der Aufführung frei. Paradoxerweise entkommt die Stimme der Knochenflöte den Beschränkungen des Erzählten gerade dadurch, dass sie ihre tragische Geschichte erzählt, und wird in der direkten Präsenz des Dramatischen lebendig.
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Die Nähe seiner Musik zum Genre des Dramas fiel bereits zu Mahlers Zeit auf, vor allem mit Bezug auf ein weiteres seiner Werke, in dem Musik auf volkstümliche Überlieferung trifft: In den Liedern aus Des Knaben Wunderhorn sah der Kritiker Julius Korngold, wie Jon Finson festgehalten hat, »Hinweise darauf, dass [ihr] Eklektizismus eine Vermischung der Genres bedingt«. Korngolds »Wahrnehmen opernhafter Elemente in Mahlers Arrangement des Wunderhorns« wird dort zum Thema, wo er diskutiert, ob ein anspruchsvolles Orchesterarrangement für einen einfachen Stoff aus der Volksdichtung angemessen sei. Dies hänge von den Texten der Volksdichtung ab, stellt Korngold fest; und seine Beschreibung der Texte aus Des Knaben Wunderhorn als »reich an epischen und dramatischen Zügen«, das den Liedern das Potenzial verleiht, sich »zur Szene zu erweitern«, deutet seiner Meinung nach auf die Möglichkeit eines dramatisch-orchestralen Settings hin. Die Idee, dass bestimmte Charakteristika von Texten der Volksdichtung eine musikalische Umsetzung nicht nur rechtfertigen, sondern sogar verlangen, trifft auf Das klagende Lied ganz besonders zu, eben weil hier die musikalische Umsetzung die Hybridität in vielfältigen Bezügen zu anderen Genres widerspiegelt. Die »radikale Hybridität«, die Julian Johnson dem Werk zuschreibt, äußert sich ihm zufolge in der Nähe zu Kantate, Oratorium, Tondichtung und Symphonie, aber auch zur Oper. Die Häufigkeit, mit der dieser Opern dirigierende, aber keine Opern verfassende Komponist mit dem Opernhaften in Verbindung gebracht wird, ist auffällig. Auch Carolyn Abbate legt in ihrer Monografie Unsung Voices Mahlers zweite Symphonie auf narrative und opernhafte Elemente fest: das akustische Einbrechen einer »übernatürlichen« Präsenz und ein disruptives Klangbewusstsein. Abbate erforscht in ihrem späteren Buch In Search of Opera das Motiv des entkörperlichten Klangs und die Idee eines machtvollen Liedes, das weiterlebt, indem es von einem toten Körperteil gesungen wird. Und tatsächlich sind die Harfen-Arpeggios, die jedes Mal dem Lied der Knochenflöte, der flehenden Stimme des Toten vorangehen, im Klagenden Lied zentrale Signale dafür, was Johnson »die orphische Fähigkeit, eine Anwesenheit zu beschwören« nennt. Adorno muss etwas Ähnliches im Sinn gehabt haben, als er – etwas kryptisch – schrieb: »Mahlers Musik ist wie Eurydike aus dem Totenreich entführt.« Ein wesentlicher Unterschied zum Orpheus-Thema ist, dass im Klagenden Lied kein singender Kopf oder Mund Ursprung von Musik und Sprache ist. Als er lebendig war, hat auch der Knochen des jüngeren Bruders nie gesungen oder gesprochen. Erst jetzt, von einem Musiker an die Lippen gesetzt, erklingt er, doch der Atem dieses Musikers vermittelt nicht den Klang eines Instruments, sondern eine Stimme, allerdings nicht seine eigene – eine andere Stimme ohne natürlichen Ursprung.
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Die unmögliche Stimme Mahlers Text berichtet, wie der Spielmann »in die Weit’« zieht und die Flöte »überall erklingen« lässt. Doch dann stellt er auch eine verstörende Frage, die wieder, gleichsam von außen, durch Anführungszeichen markiert ist: »Was soll denn euch mein Singen?« An wen richtet sich diese Frage? Aber auch: Wer äußert sie? Ist es der Spielmann, der sich an die Menschen wendet, die er auf seinen Reisen besucht, und der sein eigenes Flötenspiel mit dem Singen der Flöte vermischt? Oder ist es die unmögliche Stimme selbst, die von uns, dem Publikum, wissen will, was wir von ihrer Performance halten? In diesem Fall wäre die Stimme plötzlich auf unheimliche Weise ihrer selbst bewusst. Nach dieser Frage gelangen wir zum letzten Vers des zweiten Teils, Der Spielmann, der jedoch nicht zu Ende geht, ohne im Orchester die Frage nachklingen zu lassen: »Was soll denn euch mein Singen?« Wie durch die Wiederholungen ermutigt, wird das anklagende Lied der Knochenflöte im letzten Teil des Werkes noch genauer ausgearbeitet. Johnson behauptet, es sei »jedes Mal durch die gleiche Musik charakterisiert«, was zum Teil stimmt. Diese Gleichheit trifft jedoch nur auf die erste Phrase des Liedes zu; danach verändert sie sich, und zum Ende hin ist sie weit entfernt von jenen einfachen gesungenen Versen, die laut Ward charakteristisch für mündliche Volksmärchen mit gesungenen Zwischenspielen sind, »mit der bezaubernden Schlichtheit von Kinderliedern und dem unwiderstechlichen Rhythmus magischer Gesänge«. Wir dürfen uns den singenden Knochen nicht als simples Aufnahme- oder Abspielgerät vorstellen, denn was er wiedergibt, ist nicht immer gleich, sondern verändert sich ständig. Gerade diese Veränderlichkeit des Liedes schließt den Graben zwischen Erzählung und Darstellung, indem es vermehrt den Eindruck erweckt, dass es nicht erzählt wird, sondern direkt zu hören ist. Dieses Verfahren der Veränderung bei Mahler steht in deutlichem Kontrast zu Nicole Marzacs persönlicher Beobachtung, dass die wiederholte mündliche Darstellung der Erzählungen vom Typ ATU 780 und der in ihnen enthaltenen Lieder unveränderlich sei, nicht nur identisch im Erzählinhalt, sondern auch in den Details der Erzählweise: »Da ich kein Aufnahmegerät verwenden durfte, beschloss ich, Irenes Geschichte wörtlich aufzuschreiben. Diese Methode erwies sich schließlich als Glücksfall. Da ich alles ausschreiben musste, musste ich Irene immer wieder bitten, Satzteile zu wiederholen. Schnell stellte ich fest, dass sie, egal an welcher Stelle ich sie unterbrach, exakt die gleichen Wörter wiederholte, die sie gerade gesprochen hatte, selbst die Intonation war die gleiche. Nachdem ich das gesamte Märchen niedergeschrieben hatte, bat ich sie also am folgenden Tag, es erneut zu erzählen. Sie tat es, ohne auch nur ein Wort zu ändern.« In diesem bemerkenswerten Fall wird der »Text« der mündlichen Darstellung bis in Details festgeschrieben, die ein geschriebener Text als solcher 67
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niemals wiedergeben könnte; die mündliche Version wird hier mit all ihren Nuancen wieder und wieder weitergegeben, mit einer Genauigkeit, die sich dem geschriebenen Wort entzieht. Marzacs Bericht zufolge hat Irene Cieślaks Erzählen des Märchens die gleiche beängstigende Qualität wie das Lied der Knochenflöte selbst: Sie, die Darstellerin, wird wie der tote Knochen zu einem festen Medium, das die Geschichte wie von anderswo übermittelt. Die Stimme in Mahlers Stück verhält sich anders: Es ist die Stimme eines Toten, die singt, als wäre sie lebendig. Es scheint, als würde das Lied der Knochenflöte beim Hören immer neu komponiert, und aus dieser Möglichkeit erhebt sich ein neues Gespenst: Der tote Knochen erwacht nicht nur als Darsteller zum Leben, sondern auch als Komponist. – Mahler erzählte, dass er während der Komposition des Stückes unter Trugbildern litt: Er sah sich selbst, wie er verzweifelt versuchte, durch die Wand seines eigenen Zimmers zu gehen. In dieser bekannten, fantastischen Geschichte eines geisterhaften komponierenden Doppelgängers, beschworen durch die Musik, wie sie uns Natalie Bauer-Lechner berichtet, klingen auf verstörende Weise die Vorstellungen durch, die das unheimliche Spiel im Klagenden Lied erzeugt. Jedes Mal erklingt das anklagende Lied wieder anders und erzeugt den Eindruck, den die Vorführung das Werk als (unmögliches) Klang-Objekt direkt hervorbringt. Und als sei das nicht genug, wird dieser Effekt innerhalb des Stückes verdoppelt. Indem das Lied inmitten des Klangchaos der Hochzeitsfeierlichkeiten erklingt, misst sich die Flötenstimme mit der ersten von vielen Beschwörungen der Musik aus der Ferne bei Mahler. Hier ist das festlich lärmende Fernorchester gut hörbar, doch räumlich vom eigentlichen Orchester abgesetzt – sodass kein Zweifel bleibt, dass wir, das Konzertpublikum, keiner Erzählung lauschen, sondern dem Spiel der Knochenflöte selbst. Indessen gestaltet sich das letzte Spiel der geisterhaften Flöte zunehmend ausgeziert, virtuos, und schließt mit einer Phrase, die die Worte verzerrt wie eine Koloratur in der Oper. Damit entfernt es sich von der reinen Bedeutung und wird zum reinen Klang, wird zu einer Objekt-Stimme, die auch die letzte Spur von Menschlichkeit, die sie im Tod bewahrt haben mag, nahezu aufgibt (siehe Beispiel 2):
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»Ach Bruder, lieber Bruder mein, / du hast mich ja erschlagen! / Nun bläst du auf meinem Totenbein, / dess’ muss ich ewig klagen! / Was hast du mein junges Leben / dem Tode hingegeben?« Die Klangkunst der Flötenstimme bewegt sich vom Stimmlichen immer mehr zum Instrumentalen – wird immer mehr zu einer eigentlichen Flötenmelodie – und droht so erneut die Grenze zwischen Lied und Instrumentalmusik zu überschreiten: Sie bewegt sich gefährlich nah an diesem Rand. Wie um die Nähe von Stimme zum Instrument, von menschlicher Äußerung zur technischen Klangerzeugung zu betonen, begleitet Mahler jede Ausführung des gespenstischen Liedes mit kontrapunktischen Solophrasen der Bläser – Englischhorn, Oboe und auch Melodien der Flöte, die zwar ähnlich, aber nicht identisch sind mit jener der Knochenflöten-Stimme. Diese Instrumentalmelodien sind nicht zu verwechseln mit einem akustischem Widerhall jener Stimme. Vielmehr könnten sie zu der Frage führen, ob es schließlich doch dieser Instrumentalklang ist, der von der Knochenflöte ausgeht, während jene unmögliche Stimme aus einem immer noch unerkennbaren Drüben kommt. Mit diesem konzeptuellen Ausweg ins Reich des Akusmatischen schwebt die Stimme unentschieden zwischen Distanz – als könnte sie aus dem theatralen Raum erklingen, den das Fernorchester hier aufreißt – und Gegenwart, geerdet und gleichzeitig verschoben durch die Instrumentalstimmen, die ihr folgen und sich an sie anschmiegen. In den schriftlichen Aufzeichnungen dieses Märchens von Bechstein und den Brüdern Grimm beschränkt sich die Existenz des Liedes der Knochenflöte, also die Lebensdauer ihres Auftritts, auf den Zweck der Vergeltung. Nach dem finalen Zusammenbruch enden beide Märchen damit, dass das Lied der Flöte nie wieder erklingt. In der Grimm-Version stirbt der mörderische Bruder durch Ertrinken, der Knochen wird begraben und ruht in Frieden; bei Bechstein wird die Flöte zerbrochen, sodass sie nicht mehr gespielt werden kann. Anders bei Mahler. Selbst nach dem Einsturz der Schlossmauern liegt der Knochen des Toten, mit seiner beklemmend lebendigen Stimme, noch in den Ruinen und artikuliert den finalen Klageruf »Ach Leide!« Der vermeint 69
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lichen Vergänglichkeit von Klang zum Trotz lässt diese vorführende Stimme sich nicht vom formalen Ende der Erzählung oder der Musik zum Schweigen bringen. Sie droht solcherlei Beschränkungen zu durchbrechen und ewig zu erklingen: »Dess’ muss ich ewig klagen!« Und tatsächlich schwingt sie mit in Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen und in der Ersten Symphonie, die beide Das klagende Lied zitieren; aber auch in den Fernorchestern der Zweiten, Dritten und Sechsten Symphonie; in der Holzbläser-Passage mit dem Vermerk »kreischend« in Revelge und der Siebenten Symphonie; in der gespenstischen »Totenfidel« Freund Heins in der Vierten Symphonie und im Marsch der Soldatengebeine in Revelge; im Weltschmerz, der im Urlicht aufwallt; auf ergreifende Weise in all den Instrumentalstellen der Vierten und Siebenten Symphonie sowie der Kindertotenlieder, die Mahler als »klagend« kennzeichnet; in der »himmlischen« Musik von Das himmlische Leben, die wie »nicht von dieser Welt« klingt; in den Schlittenglöckchen, Kuhglocken, Peitschenhieben und Hammerschlägen; in den Durchbrüchen, Höhepunkten und Einstürzen von extremer Lautstärke; und an all den vielen Stellen in Mahlers Werk, an denen die verstörende und potenziell gewaltsame Wirkung eines Klangereignisses widerhallt.
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Cormac McCarthy → Die Straße
Er schlief wenig, und er schlief schlecht. Er träumte, sie gingen durch einen blühenden Wald, wo Vögel vor ihnen herflogen und der Himmel von schmerzhaftem Blau war, aber er lernte, sich aus solchen Sirenenwelten herauszureißen. Und lag dort im Dunkeln, während in seinem Mund der unheimliche Nachgeschmack eines Pfirsichs aus einem Phantomobstgarten schwand. Er sagte, die richtigen Träume für einen Mann in Gefahr seien Träume von Gefahr, und alles andere sei die Lockung der Trägheit und des Todes.
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James Bridle
NEW DARK AGE
Hochfrequenzhandel Der Hochfrequenzhandel an den Börsen entwickelte sich als Reaktion auf zwei eng miteinander verwandte Zwänge, die im Grunde Folge einer einzigen technischen Veränderung waren. Diese Zwänge waren Latenz und Sichtbarkeit. Als die Börsen in den 1980er und 1990er Jahren dereguliert und digitalisiert wurden – an der Londoner Börse nannte man das den »großen Knall« –, wurde es möglich, dort immer schneller und über immer größere Entfernungen Handel zu treiben. Das hatte eine Reihe sonderbarer Auswirkungen. Waren Gewinne lange Zeit dadurch gemacht worden, dass man sich als Erster den Preisunterschied auf verschiedenen Märkten zunutze machte – so sorgte Paul Reuter bekanntlich dafür, dass aus Amerika kommende Schiffe vor der irischen Küste Kanister über Bord warfen, die Nachrichten enthielten, deren Inhalt dann noch vor Ankunft der Schiffe nach London telegrafiert werden JA ME S BR IDLE
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konnte –, hyperbeschleunigt die digitale Kommunikation diesen Prozess. Finanzinformationen sind heute mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs; doch die Lichtgeschwindigkeit ist an verschiedenen Orten unterschiedlich. Sie unterscheidet sich in Glasfaser und Luft, und sie stößt auf Hindernisse, weil Glasfaserkabel gebündelt werden, komplexe Vermittlungsstellen passieren, natürliche Hindernisse umgehen und unter den Meeren verlaufen. Die größten Gewinne gehen an diejenigen mit der geringsten Latenz: der kürzesten Reisezeit zwischen zwei Punkten. Und an diesem Punkt kommen private Glasfaserleitungen und Mikrowellensender ins Spiel. In den Jahren 2009/10 gab ein Unternehmen 300 Millionen US-Dollar aus, um eine private Glasfaserleitung zwischen der Chicago Mercantile Exchange und Carteret, New Jersey, der Heimat der NASDAQ-Börse, zu verlegen. Straßen wurden gesperrt, Gräben ausgehoben, man bohrte sich durch Berge und tat all das im Geheimen, damit kein Wettbewerber von dem Plan Wind bekam. Indem Spread Networks die physische Entfernung zwischen den beiden Orten verkürzte, verringerte es die Zeit, die eine Botschaft benötigt, um von einem Rechenzentrum zum anderen zu gelangen, von 17 Millisekunden auf 13 Millisekunden – was zu einer Ersparnis von rund 75 Millionen US-Dollar je Millisekunde führte. 2012 eröffnete eine weitere Firma, nämlich McKay Brothers, eine zweite speziell dafür vorgesehene Verbindung zwischen New York und Chicago. Dieses Mal nutzte sie Mikrowellen, die schneller durch die Luft unterwegs sind als Licht durch Glasfaser. Einer ihrer Partner behauptete, dass »eine einzige Millisekunde Vorsprung für eine im Hochfrequenzhandel tätige Firma zusätzliche 100 Millionen US-Dollar pro Jahr bedeutet«. Die Verbindung von McKay erbrachte vier Millisekunden – ein enormer Vorteil gegenüber allen Wettbewerbern, von denen viele noch einen weiteren Nebeneffekt des »Urknalls« nutzten: Sichtbarkeit. Digitalisierung bedeutete, dass die Handelsabläufe innerhalb von Börsen als auch zwischen Börsenplätzen immer schneller vonstattengehen konnten. Da der eigentliche Handel nunmehr in den Händen von Maschinen lag, wurde es möglich, fast sofort auf jede Kursveränderung oder jedes neue Angebot zu reagieren. Doch um reagieren zu können, musste man einerseits verstehen, was vor sich ging, und sich zweitens einen Platz am Tisch erkaufen können. Auf diese Weise machte die Digitalisierung, wie bei allem anderen, die Märkte einerseits undurchsichtiger für Uneingeweihte und radikal sichtbar für die, die sich auskennen. In diesem Fall waren Letztere diejenigen, die über die nötigen finanziellen Mittel und die Expertise verfügten, um mit den Informationsflüssen in Lichtgeschwindigkeit mitzuhalten: die privaten Banken und Hedgefonds, die Hochfrequenzhändler beschäftigen. Algorithmen, die von ehemaligen Physik-Doktoranden entwickelt wurden, um Millisekundenvorteile beim Zugang zu nutzen, kamen auf den Markt, und die Händler gaben ihnen Namen wie Ninja, Sniper und The Knife. Diese Algorithmen waren in der Lage, bei jedem Handel 73
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Cent-Bruchteile zu erkämpfen, und sie konnten das an einem Tag millionenfach tun. Von innerhalb des Getümmels der Märkte betrachtet, war selten klar, wer diese Algorithmen tatsächlich betrieb; und das ist heute nicht viel anders, denn wichtigste Taktik ist die Geheimhaltung: die Absichten und die Herkunft verschleiern, während man sich einen Großteil des gesamten Handelswerts sichert. Ergebnis war ein Wettrüsten: Wer die schnellste Software entwickeln, die Latenzzeit der Verbindung zu den Börsen verringern und das eigentliche Ziel am besten verheimlichen konnte, machte Kasse. In der Einleitung zu Flashboys, seinem 2014 erschienenen Buch, das Einblicke in den Hochfrequenzhandel gibt, schrieb der Finanzjournalist Michael Lewis: »Wir halten uns gern an das alte Bild des Aktienmarkts, weil es so tröstlich ist, weil wir uns kein konkretes Bild von dem neuen Aktienmarkt machen können.« Diese Welt hängt am Nanobereich: in den Lichtblitzen in Glasfaserkabeln und den rasenden Bits auf Halbleiterlaufwerken, von denen sich die meisten von uns gar keine rechte Vorstellung machen können. Aus diesem neuen Markt monetären Gewinn zu ziehen heißt, mit beinahe Lichtgeschwindigkeit Handel zu treiben, Unterschiede im Nanosekundenbereich zu nutzen bei der Geschwindigkeit, mit der Informationen um den Globus sausen. Lewis beschreibt höchst detailliert eine Welt, in welcher der Markt zu einem Klassensystem geworden ist – zu einem Tummelplatz für diejenigen, die über die gewaltigen Ressourcen verfügen, um Zugang zu haben, beinahe unsichtbar für diejenigen, die nicht diese Mittel haben.
Überwachung Globale Massenüberwachung beruht auf politischer Geheimhaltung und technologischer Undurchsichtigkeit, und beide Dinge bestärken sich gegenseitig. Zwar haben Regierungen das eigene Volk schon immer genauso ausspioniert wie ihre Feinde, doch ihre Fähigkeit, jeden Moment des Lebens zu belauschen, hat sich durch Netzwerke und Rechenleistung radikal vergrößert – durch die Ausbreitung der Computerisierung in die vier Wände jedes Hauses und entlang jeder Straße, auf unsere Arbeitsplätze und in unsere Taschen. Technische Möglichkeit gebiert politische Notwendigkeit, denn kein Politiker will sich vorwerfen lassen, nach irgendeiner Gräueltat oder Enthüllung nicht genug getan zu haben. Überwachung geschieht, weil sie möglich ist, nicht, weil sie effektiv ist; und weil sie, wie andere Formen der Automatisierung, die Last der Verantwortung und der Schuld auf die Maschine überträgt. Sammeln wir einfach alles, und lassen wir’s die Maschinen sortieren. In seiner Aussage vor einem Ausschuss des britischen Parlaments bekräftigte ein Whistleblower der NSA, William Binney, dass die massenhafte Sammlung von Daten durch die Geheimdienste »zu 99 Prozent nutzlos« gewesen sei. Als Grund dafür nannte er, dass die schiere Menge an gesammelter JA ME S BR IDLE
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H. P. Lovecraft → »Cthulhus Ruf« (1926)
Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, dass wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.
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Information die Analysten überfordert und es unmöglich gemacht habe, die relevanten Daten herauszufischen, um spezifischen Bedrohungen zu begegnen. Diese Warnung war zuvor schon vielfach zu hören gewesen, doch Konsequenzen gab es keine – im Gegenteil hat sich die Situation noch verschärft. Nach dem versuchten Bombenanschlag auf einen Flug von Amsterdam nach Detroit am Weihnachtstag 2009 räumte sogar Präsident Obama ein, dass zu viele Geheimdienstinformationen das Problem waren: »Das Versagen bestand nicht darin, Informationen zu sammeln, sondern die Informationen, über die wir bereits verfügten, zusammenzuführen und zu verstehen«, bekannte er. Ein hochrangiger französischer Terrorbekämpfer meinte dazu: »Sobald wir den Neid und den Schrecken ob der Breite und Tiefe der amerikanischen Geheimdienstbefugnisse überwunden haben, werden wir uns wahrhaft glücklich schätzen, die unglaubliche Menge an Informationen, die dadurch generiert wird, nicht verarbeiten zu müssen.« Die computergetriebenen Exzesse der Massenüberwachung lassen sich heute auch beim amerikanischen Drohnenprogramm beobachten, das seit Jahren mit Problemen der Analyse und Interpretation zu kämpfen hat. Denn nicht nur die Zahl der Drohnen steigt und ihre Flugzeiten nehmen zu, gleichzeitig verbessern sich auch die Auflösung und Brennweite der Kameras, mit denen sie ausgerüstet sind, was unsere Fähigkeit, sie zu überwachen, exponentiell übersteigt. Schon 2010 warnte einer der ranghöchsten Kommandeure der US-Luftwaffe davor, man werde vielleicht »schon bald in Sensoren schwimmen und in Daten ersaufen«. Mehr Information bedeutet selbst für die fortschrittlichsten informationsverarbeitenden Organisationen nicht automatisch mehr Verständnis. Vielmehr verwirrt und verbirgt sie vieles und wird zu einem Ansporn für noch mehr Komplexität: ein Wettrüsten, das dem Problem der Wettervorhersage ähnelt, bei dem die Computerisierung verzweifelt versucht, schneller zu sein als die Zeit. Genauso wie die Verfügbarkeit ungeheuer großer Rechenleistung die globale Überwachung vorantreibt, so bestimmt ihre Logik inzwischen, wie wir auf sie und auf andere existenzielle Bedrohungen unseres kognitiven und physischen Wohlergehens reagieren. Die Forderung nach irgendeinem Beweisstück, das es uns ermöglicht, irgendeine Hypothese mit hundertprozentiger Sicherheit zu bestätigen, setzt unsere Fähigkeit außer Kraft, in der Gegenwart zu handeln. Konsens – wie etwa die breite wissenschaftliche Übereinstimmung, was die Dringlichkeit der Klimakrise angeht – wird angesichts des kleinsten Quantums Ungewissheit missachtet. Das Beharren auf irgendeiner stets unzureichenden Bestätigung erzeugt die tiefe Fremdheit des gegenwärtigen Moments: Jeder weiß, was vor sich geht, und niemand kann etwas dagegen tun. Wenn wir auf die Computerlogik der Überwachung setzen, um daraus Wahrheit über die Welt abzuleiten, bringt uns das in eine fundamental prekäre und paradoxe Position. Computergestützte Erkenntnis erfordert Überwachung, weil sie ihre Wahrheit nur aus den Daten gewinnen kann, über die sie unJA ME S BR IDLE
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mittelbar verfügt. Alles Erkennen wiederum wird auf das reduziert, was mittels Computer erkennbar ist, weshalb alle Erkenntnis zu einer Form von Überwachung wird. Die Computerlogik leugnet somit unsere Fähigkeit, die Situation zu denken und angesichts fehlender Gewissheit rational zu handeln. Sie ist zudem rein reaktiv, sie erlaubt ein Handeln erst, wenn ausreichend Belege gesammelt wurden, und verbietet Handeln in der Gegenwart, wo es am nötigsten wäre. Der Vorgang der Überwachung und unsere Komplizenschaft dabei gehören zu den grundlegendsten Merkmalen des New Dark Age, weil es auf einer Art blindem Sehen beharrt: Alles ist erleuchtet, aber nichts ist zu sehen. Wir sind inzwischen davon überzeugt, Licht auf eine Sache zu werfen sei das Gleiche wie diese Sache zu denken und damit Handlungsmacht darüber zu haben. Doch das Licht der Computerisierung macht uns genauso leicht machtlos – entweder durch Überfrachtung mit Information oder durch ein falsches Gefühl der Sicherheit. Es ist eine Lüge, die uns durch die verführerische Macht des Computerdenkens verkauft wurde. In Joseph Hellers Roman Catch 22 sind die Piloten des 256. Geschwaders der US-Luftwaffe in einer unmöglichen Lage gefangen. Der Zweite Weltkrieg befindet sich auf dem Höhepunkt, und am Himmel über Italien toben heftige Luftkämpfe. Jedes Mal, wenn sie ins Cockpit klettern, laufen sie Gefahr, abgeschossen zu werden, und es ist eindeutig verrückt, noch weitere dieser gefährlichen Einsätze zu fliegen; die vernünftige Entscheidung wäre es, das Fliegen zu verweigern. Doch um von diesen Flugeinsätzen entbunden zu werden, müssten sie sich für verrückt erklären, womit man sie aber für vernünftig erklären müsste, weil sie versuchen, dem allem zu entgehen. Der Pilot »wäre verrückt, wenn er noch weitere Einsätze flöge, und bei Verstand, wenn er das ablehnte, doch wenn er bei Verstand war, musste er eben fliegen. Flog er diese Einsätze, so war er verrückt, und brauchte nicht zu fliegen; weigerte er sich aber zu fliegen, so musste er für geistig gesund gelten und war daher verpflichtet, zu fliegen.« Catch 22 steht beispielhaft für das Dilemma rationaler Akteure, die in den Machenschaften riesiger, irrationaler Systeme gefangen sind. Innerhalb solcher Systeme führen selbst rationale Reaktionen zu irrationalen Ergebnissen. Der Einzelne ist sich der Irrationalität bewusst, verliert jedoch jegliche Fähigkeit, im eigenen Interesse zu handeln. In der Verfilmung von Catch 22 äußert Air Force Captain John Yossarián, gespielt von Alan Arkin, den unvergesslichen Satz: »Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.« Yossariáns Diktum gewinnt neues Leben in den heutigen paranoiden Verschwörungsthrillern, die ihren Ursprung in technologischen Fortschritten und Massenüberwachung haben. Eines der ersten Symptome klinischer Paranoia ist die Überzeugung, jemand beobachte einen; aber diese Überzeugung ist heute durchaus vernünftig. Jede E-Mail, die wir verschicken; jede Textnachricht, die wir schreiben; jeder Telefonanruf, den wir tätigen; jede Reise, die wir unternehmen; jeder Schritt, jeder Atem 77
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zug, jeder Traum, jede Äußerung ist Ziel riesiger sammelwütiger Systeme automatisierter Intelligenz, der Sortieralgorithmen sozialer Netzwerke und Spamfabriken und des schlaflosen Blicks unserer eigenen Smartphones und vernetzten Geräte. Wer also ist heute paranoid?
Die Grauzone Grauzonen-Krieg zeichnet sich durch unkonventionelle Taktiken aus, zu denen Cyberattacken, Propaganda und politische Kriegsführung, wirtschaftlicher Zwang und Sabotage sowie die Unterstützung bewaffneter Stellvertreterkämpfer gehören, und all das wird in einen Schleier aus Desinformation und Täuschung gehüllt. Russlands Einsatz »grüner Männchen« bei der Invasion in der Ostukraine und auf der Krim, Chinas Expansion im Südchinesischen Meer sowie der Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien in Syrien verweisen allesamt auf eine Entwicklung der Kriegsführung, die durch Ambivalenz und Ungewissheit gekennzeichnet ist. Niemand weiß so genau, wer gegen wen kämpft; alles lässt sich dementieren. So wie das US-Militär zu den fortschrittlichsten Planern für die Realitäten des Klimawandels gehört, so stehen die Militärstrategen in Westpoint und an der russischen Militärakademie des Generalstabs an vorderster Front, wenn es darum geht, die nebulösen Wirklichkeiten des New Dark Age zu erkennen. Was aber, wenn wir uns dazu entschließen, uns die Grauzone selbst zu eigen zu machen? Irgendwo zwischen den Dschihadisten und den Militärstrategen, zwischen Krieg und Frieden, zwischen Schwarz und Weiß befindet sich die Grauzone, in der die meisten von uns heute leben. Die Grauzone beschreibt am besten eine Landschaft, die überflutet ist mit nicht belegbaren Fakten und belegbaren Fälschungen, die gleichwohl, zombiegleich, durch Gespräche geistern, für sich werbend und überzeugend. Die Grauzone ist das schlüpfrige, beinahe unbegreifliche Terrain, auf dem wir uns heute infolge unserer enorm ausgeweiteten technologischen Instrumente zur Erkenntnisgewinnung befinden. Es handelt sich um eine Welt begrenzter Erkennbarkeit und existenzieller Zweifel, die Extremisten und Verschwörungstheoretiker gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzt. In dieser Welt sind wir gezwungen, das begrenzte Maß an empirischer Berechnung und die mageren Gewinne aus überwältigenden Informationsströmen zu akzeptieren. Die Grauzone lässt sich nicht besiegen. Sie lässt sich nicht trockenlegen oder überschwemmen – sie fließt bereits über. Die Verschwörungstheorie ist das beherrschende Narrativ und die lingua franca unserer Zeit: Richtig interpretiert, erklärt sie tatsächlich alles. In der Grauzone sind die Kondensstreifen sowohl Chemtrails als auch frühe Warnhinweise auf die globale Erwärmung: Sie können beides gleichzeitig sein. In der Grauzone vermengen sich die Abgase aus Industrieschornsteinen mit den freien Molekülen der oberen JA ME S BR IDLE
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Atmosphäre und beseelen das Natürliche und Unnatürliche in Brown’schen Bewegungen ungewisser Provenienz. Die Fasern, die sich durch die Haut von Morgellons-Kranken bohren, sind Spurenelemente von Glasfaserkabeln und die elektromagnetischen Vibrationen von Mobilfunkmasten, die Finanzdaten in Hochfrequenz übermitteln. In der Grauzone bricht sich die untergehende Sonne im Dunst von Schwebstoffteilchen, und die Erde ist tatsächlich aus dem Lot: Wir sind allerdings bereit, das jetzt zuzugeben. Sollten wir uns dazu entschließen, bewusst in der Grauzone zu leben, so gibt uns das die Möglichkeit, aus den unzähligen Erklärungen auszuwählen, die unsere begrenzte Kognition wie eine Maske über die vibrierenden Halbwahrheiten der Welt legt. Das ist eine bessere Annäherung an die Wirklichkeit, als das jede rigide binäre Verschlüsselung je für sich erhoffen kann – die Erkenntnis, dass all unsere Befürchtungen Annäherungen und gerade deshalb umso eindringlicher sind. Die Grauzone erlaubt uns, unseren Frieden mit ansonsten unversöhnlichen, widerstreitenden Weltbildern zu machen, die uns davon abhalten, in der Gegenwart sinnvoll zu handeln.
→ Seite 80: Florian Boesch, 2022 Seite 81: Jonathan Mertl und Johannes Pietsch, 2022
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N EW DA R K AGE
Mathias Hansen
VERWANDLUNG VON ERFAHRUNG IN KÜNSTLERISCHEN AUSDRUCK
Mahlers ›Kindertotenlieder‹
Die Kindertotenlieder reihen sich ein in die ebenso bedeutende wie weitläufige Tradition des deutschsprachigen Liedes, insbesondere des Liedzyklus; eine Tradition, die mit Beethovens An die ferne Geliebte begonnen, mit Schuberts Schöner Müllerin und Winterreise ihren ersten Höhepunkt erreicht, mit den Zyklen von Robert Schumann (Dichterliebe, Frauenliebe und -leben) und Hugo Wolf (Italienisches und Spanisches Liederbuch) ihre anspruchsvolle Weiterführung gefunden hat und von Arnold Schönberg (15 Gedichte aus dem ›Buch der hängenden Gärten‹) oder Paul Hindemith (Das Marienleben) bis ins 20. Jahrhundert hinein fortgesetzt worden ist. Für eine zyklische Bindung zwischen den Mahler-Liedern spricht die geschlossene inhaltliche Thematik, welche die einzelnen Stücke in Varianten oder Facetten aufnehmen: Leid und Trauer über den frühen Tod nahestehender Menschen. Außerdem weist die Tonartenfolge der Lieder eine Art Bogenform auf: Das anfängliche d-Moll wird, nachdem zwei Lieder in c-Moll und eines in Es-Dur erklungen sind, vom Schlussstück wieder aufgegriffen und in die codahafte Dur-Variante gewendet. Gleichwohl gibt es einige Merkmale, die Mahlers Lieder von dieser Tradition abheben: etwa die balladisch-erzählende Darstellungsweise, welche zwar auf ein lyrisches ›Ich‹ bezogen ist, zu ihm jedoch auch immer wieder durch Objektivierung der dargestellten Sachverhalte Distanz hält. Oder die Verwendung eines Instrumentariums, das anstelle des Klaviers als begleitendem ›Partner-lch‹ eine Skala von kammermusikalischer bis symphonisch-orchestraler Klanglichkeit entfaltet. Es wurden immer wieder – und zwar ausgehend von entsprechenden Äußerungen Alma Mahlers – biografische Aspekte als Anlass für die Komposition geltend gemacht: Mahlers verstörende Jugenderlebnisse mit der grassierenden Kindersterblichkeit, der auch sein Lieblingsbruder Ernst im Alter von 13 Jahren zum Opfer fiel; dann vor allem die ins Mystisch-Spekulative führende Konstruktion eines Zusammenhangs mit dem erschütternden Tod von Mahlers ältester Tochter Maria Anna im Jahre 1907, den er – getrieben von unheildrohenden Zukunftsahnungen – künstlerisch gewissermaßen vorausnehmend betrauert habe. Es empfiehlt sich, zumal dem Letzteren keine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken – so sehr solche und weitere bedrückende Erfahrungen Mahlers Lebensgang begleiteten und, wie eben im Fall des Todes seiner Tochter, einschneidend veränderten. Denn auch wenn sie in die Sphäre kompositorischer Erfindung und Gestaltung vordrangen, so wurden sie hier allemal in künstlerischen Ausdruck verwandelt, der sich notwendigerweise, als Verallgemeinerung des Ausdrucks im Werk, von der Selbstdarstellung – und sei dieser auch bewusst angesteuert, also ›programmatisch‹ – ablöst.
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Nr. 1: »Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n« Wenn man sich die Verflechtung von Kontinuität und Verwandlung in Mahlers Kompositionen bewusst machen möchte, so gelingt dies in anschaulicher Weise z.B. dadurch, die Bemerkung in einem Brief an Bruno Walter, der zufolge seine Neunte Symphonie »am ehesten der 4. an die Seite zu stellen« sei, mit dem Anfang des ersten Kindertotenliedes in Verbindung zu bringen: Die geradezu archaisch wirkende Strenge der kontrapunktischen Stimmenführung findet sich in ähnlicher Weise in den beiden vor und nach den Liedern entstandenen Symphonien. Doch sie fehlt auch keinesfalls den frühen Symphonien und Liedern, nur erscheint das kontrapunktische Denken hier noch nicht so offen, verbindet es sich noch gewissermaßen unbekümmerter mit homophoner (Klang-)Flächigkeit des Tonsatzes. Andererseits bleibt wohl festzustellen, dass Mahler dieses sein kontrapunktisches Denken nirgendwo anders so konsequent, so kompromisslos bis zu klanglicher Kahlheit zum Ausdruck gebracht hat wie zumindest in den ersten drei Kindertotenliedern – wobei bedacht bleiben muss, dass diese Kahlheit, ähnlich wie beim späten Beethoven, keinen Mangel an bzw. Verzicht auf Klang, sondern eine eigene, neue Klangqualität darstellt, die über ein beachtliches Zukunftspotenzial verfügen sollte. Zum Sinnbild des Unglücks, das mit den Kindern geschehen ist, wird der Gegensatz von Sonne/Licht und Nacht/Tod, der musikalisch vermittelt wird. Anders als in den traditionellen Topoi verbindet sich gleich zu Beginn die Zeile »Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n« nicht mit einer aufsteigenden melodischen Linie in Dur, sondern mit einer absteigenden in Moll. Geradezu ambivalent verhält sich die Musik zur Fortsetzung »als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n«: Es erfolgt eine Rückung von Moll nach Dur, die allerdings durch weitere ansteigende Halbtonschritte aufwärts in einen chromatischen Gang, also in eine Figur ›schmerzlichen‹ Ausdrucks, verwandelt wird – und die in eine abschließende Dur-Wendung mündet, mithin die Chromatik wieder entkräftet und einen gegensätzlichen Ausdrucksbereich berührt. Das, was sich in dieser Durwendung andeutet, wird in den Schlussstrophen auch ausgesprochen: Der Nacht und dem »Lämplein, das verlosch«, folgt ein »ew’ges Licht«, ein »Freudenlicht der Welt«. Hier allerdings endet die Musik nicht im öffnenden Dur, sondern mit einer Mollvariante, die durch Abwärtsbewegung eine verlöschend-schließende, durch den Zielton f als Terz des Schlussakkords d-Moll zugleich eine schwebend-offene Geste vollführt.
Nr. 2: »Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen« Eröffnet wird das Lied von einem Motiv in den Celli, das sich über die gesamte Struktur des Tonsatzes ausbreitet und außerdem die Herausbildung strophischer und gegen-strophischer Gebilde bewirkt: V ERWA N DLU NG VON ER FA HRU NG IN K Ü NST LER ISCHEN AUSDRUCK
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Gustav Mahler, erinnert von Guido Adler
Ich habe mich in die Lage versetzt, mir wäre ein Kind gestorben; als ich dann wirklich eine Tochter verloren hatte, hätte ich die Lieder nicht mehr schreiben können.
Dieses Fünfton-Motiv wird sogleich ›entwickelt‹, und zwar zu einer nach oben versetzten, gleichsam diminuierten Variante des Motivs, woraus sich insgesamt zunächst nichts anderes als eine harmonische Mollskala ergibt – welche die Takt 5 einsetzende Singstimme mit dem Tonvorrat des Eröffnungsmotivs in derselben Richtung fortführt und damit den Spitzenton (es”) der ganzen melodischen Passage erreicht. Die Lapidarität der melodischen Entfaltung steht nun in merklichem Kontrast zur harmonischen Komplexität, die einiges Irritierende bereithält: Der Tonsatz des in c-Moll stehenden Liedes bewegt sich nämlich zunächst in der g-Moll-Region, die allerdings erst mit der Motiv-Variante Takt 3/4 kadenzartig bestätigt wird. Im ersten Anlauf Takt 1/2 treibt es die melodische Bewegung über den Konsonanzton d’ der Tonika hinaus zum leicht neapolitanisch gefärbten es’, das durch die oktaversetzte Wiederholung in der Motiv-Variante der Singstimme Takt 6 über einer Dissonanz von As-Dur und Grundton g erklingt und in dieser Dissonanz gewissermaßen nun einen c-Moll-gefärbten Charakter annimmt. Auch die Fortsetzung hält die eigentliche Tonika auf Distanz, weicht Takt 8 einer sich durchaus anbietenden Wendung zum Dominant-Sept-Akkord von c-Moll zugunsten einer Stärkung der g-Moll-Region aus, um am Ende der Passage (T. 10 ff.) in die Dominanten (B bzw. Des) der Es-Dur- und Ges-DurRegionen vorzudringen. Die Lösung dieses kleinen harmonischen Labyrinths erfolgt über einen chromatischen Gang der Violinen und Celli Takt 14 nach C-Dur, womit eine neuerliche, nun rein diatonische Variante des ursprünglichen Motivs anhebt. Freilich bleibt die Diatonik nur kurzzeitig ungetrübt. Nach wenigen Takten schalten sich weitere chromatisch akzentuierte Varianten ein, welche die ›Lösung‹ wiederum mit Fragezeichen versehen. Der Anstoß zu solch labyrinthischer harmonischer Folge geht vielleicht vom Text aus: Die Lichtstrahlen der »Augen«, die dem lyrischen Subjekt Nähe und Bleiben zu versprechen schienen, enthüllen sich in Wahrheit als der Abglanz von Sternen, die in kosmische Ferne entweichen: Wir möchten nah dir bleiben gerne, / doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen.« In der zweiten Strophe findet dieses Spiel von Anziehung und Abstoßung der harmonischen Ebenen eine recht geradlinige Fortsetzung, vor allem wohl deshalb, weil das gesamte Gedicht mit seinen sprachlich-poetischen Mitteln darin vorangeht. Es ergibt sich eine Art Gegenstrophe, da deren Beginn – unter Einbeziehung einer Umkehrungsvariante des Eröffnungsmotivs – eine Klärung des harmonischen Zieles cMoll herbeizuführen scheint. Doch die melodische Absenkung g—f—es über M AT HI AS H A NSEN
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der Dominante G-Dur entweicht in den Trugschluss As-Dur, von dem aus immer entfernter liegende Regionen berührt werden. Auf das Stichwort ›Entfernung‹ weist auch der reprisenhafte Beginn der dritten Strophe, der nicht nur die ursprüngliche Moll-Skala, sondern auch die unter ihr gebildeten Klänge chromatisiert und dergestalt die Verbindungswege zwischen den einzelnen ›fremden‹ Akkorden drastisch verkürzt. Und wiederum werden auch die nachfolgenden diatonischen Auflösungen des Satzes von chromatischen Varianten des Eröffnungsmotivs verunsichert und in stets andere harmonische Bahnen geleitet. Die Coda erscheint denn auch wie eine Zusammenfassung des harmonischen ›Problems‹, das dem Lied das musikalische Gepräge gibt. Das Fünfton-Motiv schickt sich an, aus der vorausgehenden C-Dur-Region in ein abschließendes c-Moll überzuleiten. Doch die klare melodische Linie der Moll-Skala es’— es” wird ›untersetzt‹ durch die einigermaßen abwegigen Akkorde Des7 (T. 70) und As7 (T. 72), welche die am Ende ertönende Terz es—c als Relikt der Tonika und mithin recht verloren erscheinen lassen. Dieser Gang der harmonischen Entfaltung aber entspräche durchaus dem, was die mehr oder weniger verschlüsselten Text-Bilder anschaulich machen. Mahler nimmt diese weit über eine lediglich illustrierende Ausdeutung hinweg zum Anlass, um Flexibilitäten des instrumentalen Satzes zu erkunden. Am deutlichsten wird dies ab der dritten Strophe, deren erwähnter Reprisencharakter vor allem darin zum Ausdruck kommt, dass vordem textierte melodische Gebilde bis hin zu geschlossenen Phrasen nunmehr rein instrumental-solistisch wiederkehren. So etwa in den Takten 49 ff., in denen die Hornstimme die Gesangsstimme der Takte 9/10 aufgreift. Gleiches geschieht in der Oboenstimme der Takte 58 ff., die sich auf die Vokalpassage Takt 26 ff. bezieht und somit in ›Klang-Rede‹ verwandelt, was zuvor als Gesang vorgetragen worden ist.
Nr. 3: »Wenn dein Mütterlein« Der neuralgische Punkt des Liedes, sein ›Ernstfall‹ liegt jeweils in der zweiten Hälfte der beiden Strophen. Zunächst erweckt der klar gegliederte Ablauf in der instrumentalen Einleitung wie in der Verschränkung von Instrumental- und Gesangsstimme den Eindruck stärkerer Geschlossenheit im Sinne eines einfachen Strophenliedes. Geschlossenheit ergibt sich sowohl aus den sequenzierenden Verknüpfungen von Melodieabschnitten innerhalb der Gesangslinie wie aus der sie überlagernden polyphonen Verflechtung der Instrumentalstimmen. Außerdem bewegt sich der Tonsatz in relativ eng aufeinander bezogenen Harmoniebereichen. Die Ruhe und Ausgeglichenheit der klanglichen Situation entspricht unmittelbar der textlichen Aussage, die das vertraute Bild der ins Haus tretenden Mutter hervorruft. Doch sogleich 87
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bricht Beunruhigung auf, denn es fehlt an ihrer Seite das »lieb’ Gesichtchen« des »Töchterlein« – die musikalische Bewegung schlägt mit einem Mal um und die strophenliedhafte Beherrschtheit des Gesangs weicht einer ausbruchartigen Steigerung, welche Dynamik, Klangcharakter und nicht zuletzt auch die Harmonik erfasst, die nun gewissermaßen zu einem weiten Bogen ausholt, ehe sie wieder zur Grundtonart (c-Moll) zurückkehrt. Die zweite Strophe hebt wieder an, als ob nichts geschehen wäre und der gerade erfolgte Ausbruch nur eine augenblickliche Täuschung gewesen sei. Umso wirkungsvoller zeigt sich deshalb der neuerliche Ausbruch, den nun nicht mehr nur ein visueller Eindruck auslöst, sondern die Erinnerung an das leidvolle Geschehen in seiner ganzen Schwere und Unabänderlichkeit. Notiert Mahler für die neuralgische Stelle in der ersten Strophe »steigernd, nicht eilen« (T. 24 f.), so heißt es in der zweiten »Mit ausbrechendem Schmerz« (T. 55 f.). Der schneidende Ton, mit dem dieser Schmerz zum Ausdruck gebracht wird, entsteht einerseits durch chromatische Stimmführung, vor allem aber durch einen wahrlich eindrucksvollen Kontrast zwischen den Instrumentalstimmen und der Gesangsstimme. Denn nur sie steigert sich ins forte, während die Instrumente zwar crescendieren, aber in der Lautstärke nicht über ein piano hinausgehen. Durch den anhaltend leisen Begleitklang erhält die Gesangsstimme eine durchdringende Schärfe – sie erwächst aus der Intensität, die sich inmitten der gepresst wirkenden Zurückhaltung des klanglichen Umfeldes bildet. Die Gewalt dieses Ausbruchs lässt dann auch keine weitere Rückkehr zu beruhigtem Strophengesang mehr zu – es folgt nur noch eine verknappt, geradezu angehängt wirkende instrumentale Coda, die noch einmal das Eingangsmotiv in Erinnerung ruft.
Nr. 4: »Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen« Das vorangegangene Lied ist mit einem offenen Schluss auf der Dominante G-Dur zu c-Moll verklungen. Der auftaktige Beginn des folgenden mit dem Quintton b der neuen Grundtonart Es-Dur wirkt wie der Wechsel zur Tonikaparallele, erscheint also wie eine Betonung des besonderen Zusammenhangs zwischen den beiden Liedern. In der Tat bezieht sich das vierte Lied auf den »ausbrechenden Schmerz« des dritten mit einer umfassenden Geste des Trostes: Die Kinder seien nur ausgegangen, und der Schmerz darüber, dass sie nicht mehr nach Hause gelangen werden, wird gemildert oder gar verdrängt durch die Erkenntnis, dass sie uns ja nur vorausgegangen seien ... Musikalisch fasst Mahler dies in eine geschlossene Stimmung voller Wärme und Mitgefühl, wobei der Wechsel in der letzten Strophe nach Moll gerade mit dem Bewusstmachen des Umstands verbunden ist, dass die Kinder uns nur vorausgegangen sind – die musikalische Bewegung wird durch geschmeidige Achtelfiguren im Klarinettenpaar noch beweglicher, gelöster, ja, heller und V ERWA N DLU NG VON ER FA HRU NG IN K Ü NST LER ISCHEN AUSDRUCK
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Theodor W. Adorno
Mütterlich fährt Mahlers Musik denen, welchen sie sich zuwendet, über die Haare. So verschränken sich in den Kindertotenliedern Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über den Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. »Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen«, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslos Liebe den Tod fasst einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden.
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freundlicher, woran sich eine nach Dur zurückkehrende Modulation nahtlos anschließen kann. Sie enthält zudem eine »steigernd[e]« Ausklangswendung, doch deren in die Höhe sich schraubende Bewegung hat – im Unterschied zum ausbrechenden Höhepunkt im vorausgegangenen Lied – nichts Klagendes mehr an sich, sondern ist eine Preisung des »schönen Tages« als Metapher des Trostes durch Erlösung. Das Lied hat, bühnendramatisch gehört, gewissermaßen eine retardierende Funktion, und zwar nicht nur gegenüber dem dritten Lied, auf dessen Leidausbruch es mit der Geste von Trost und Mitleid antwortet, sondern ebenso in Beziehung auf das finaleartige Schlussstück. Das retardierende Moment besteht dabei weniger darin, dass etwas zu Erwartendes aufgehalten, eine im Fluss befindliche Bewegung gestaut wird und danach sich um so gewaltsamer Bahn bricht. Der entscheidende Punkt liegt eher darin, dass das vorletzte Lied mit seiner klangvoll ausgreifenden Versöhnungsstimmung einen ebensolchen Abschluss markieren könnte – und diese Erwartung durch das Folgende, das sich in jeder Hinsicht als das Hauptereignis des ganzen Werkes enthüllt, vollständig ausgelöscht wird.
Nr. 5: »In diesem Wetter, in diesem Braus« Neben der formalen Ausdehnung fällt insbesondere die stark erweiterte instrumentale Besetzung auf (hinzu kommen Piccoloflöte, Kontrafagott, zwei weitere Hörner, Tamtam und Celesta), deren symphonisch-orchestrale Wirkung im klaren Gegensatz zum durchwegs kammermusikalischen Ton der übrigen Lieder steht. Außerdem verbindet sich dieses Symphonische in verblüffend unauffälliger, aber dennoch durchgreifender Weise mit der zugrunde liegenden Strophenstruktur, beginnend mit einer relativ ausgedehnten Introduktion, die mit ihrer unzweideutig opernmäßig-ouvertürenhaften Impulsivität zu allem zuvor Erklungenen sogleich Distanz schafft. Allein die Besetzung erweckt den Eindruck, dass dieses Lied das einzige Orchesterlied des Zyklus ist, der im Übrigen aus Liedern mit Kammerorchesterbegleitung besteht. Umso stärker tritt die bereits erwähnte retardierende Rolle des vorangegangenen Liedes hervor: Auf dessen gefühlvolle, nachgebende Atmosphäre folgt der schroffe Einbruch einer dramatischen Szenerie, der allen erlösenden Trost vergessen macht und das pure Leid, die schonungslose Katastrophe Klang werden lässt. Das beginnt mit der Grundtonart d-Moll, die einen scharfen Kontrast zum weich verhallten Es-Dur bildet, zugleich an das erste Lied anknüpft und somit einen Bogen schlägt, der nicht zuletzt die dazwischen liegenden Lieder als bloße Stationen und im Falle des vierten Liedes als menschlich verständlichen, aber nicht der Wirklichkeit entsprechenden Wunschtraum enthüllt. Auf die beherrschende Funktion des Schlussliedes weist nicht nur sein Umfang hin, der nach klassisch-romantischem Verständnis innerhalb des Zyklus als disproportioniert empfunden M AT HI AS H A NSEN
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werden könnte – nicht so sehr durch die bloße Dauer, die zumindest die Lieder 1 bis 3 nur um Weniges überflügelt, sondern durch klangliche und dynamische Kompaktheit, die unmittelbar den Vergleich mit einem Symphoniesatz nahelegt. Diesen Eindruck nähren auch die relativ umfangreichen instrumentalen Einleitungstakte, die an eine Art nachgereichter Ouvertüre denken lassen, in der eine Reihe ›leitmotivischer‹ Elemente vorweggenommen werden. So etwa der melodische Anstieg innerhalb der Oktave d’—d” in der Oboe (T. 3-5), an den sich absteigende chromatische Wendungen als weiteres ›Leitmaterial‹ anschließen; dann die heftig aufbegehrenden, scharf akzentuierten, Chromatik und weiten Intervallsprung verbindenden Figuren von Oboe und ersten Violinen (Takt 9-11). Dergestalt mutet die eigentliche erste (Vokal-)Strophe (T. 18 ff.) bereits wie eine nahtlose Fortsetzung an. Da nun die folgenden drei Strophen das motivisch-thematische Grundmaterial unablässig verändern, sich also – und nicht anders und nicht weniger stringent als bereits die instrumentale Eröffnungsstrophe – als relativ geschlossene Varianten dieses Materials zu erkennen geben, wäre es kaum abwegig, diese Eröffnungsstrophe ohne Vorbehalt als gleichrangige erste Strophe wahrzunehmen. Zumal dann auch in den vokalen Strophen – und zwar sogleich in der ersten! – immer wieder stimmführende instrumentale Partien auftauchen, unüberhörbar in jenem Sinne, den Mahler im zweiten Lied (allerdings nur im vom Komponisten selbst angefertigten Klavierauszug) mit der Anweisung »den Gesang fortsetzend« angezeigt hat. Die Gleichrangigkeit der Instrumentalstrophe unterstreicht schließlich noch die reprisenhafte Wirkung, welche durch den verstärkten Einsatz des Orchesterapparats zu Beginn der vierten Strophe erzielt wird – und worin sich zugleich die Tatsache bemerkbar macht, dass der Variantenbildung in der Strophenfolge ein sonatensatzartiges, mithin ganz und gar instrumentales Formverständnis zugrunde liegt. Die Singstimme wird dabei, ähnlich wie in Revelge, zum Instrument, das in die Klangfluten der Orchesterstimmen eintaucht und die Trennung von singendem Solisten und klingendem Begleitapparat endgültig aufhebt. Die an- und abschließende, in ›lichtes‹ Dur verwandelte Coda der »leise bis zum Schluss« und »langsam, wie ein Wiegenlied« zu gestaltenden fünften Strophe gibt denn auch nur noch ein gewissermaßen in sich kreisendes Klangbild, aus dem sich die Singstimme nahezu unmerklich ausblendet bzw. ihre melodische Linie ein letztes Mal auf die Instrumente überträgt (erstes Horn, T. 125, dann Celli, T. 129), auf dass diese (»gänzlich verklingend«) im Unhörbaren verhallen.
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Franz Willnauer
WARUM GUSTAV MAHLER KEINE OPER KOMPONIERT HAT Warum Gustav Mahler, »ein wahrhaft dramatischer Mensch«, wie Bruno Walter befand, keine Opern komponiert hat, beschäftigt die Nachwelt seit eh und je. Mit der Erklärung, als Dirigent habe er so intensiv und unablässig mit Oper zu tun gehabt, dass er in den drei Ferienmonaten, die ihm zum Komponieren blieben, von der ganzen Gattung verschont bleiben wollte, kommt man freilich nicht weit, wie schon vor einem halben Jahrhundert der Musikschriftsteller und exzellente Mahler-Kenner Wolf Rosenberg feststellte: »Mit Biografischem lässt sich selten künstlerisches Tun, respektive NichtTun begreifen.« Selbst der Mahler-Biograf Henry-Louis de La Grange findet in seinem vierbändigen Monumentalwerk keine schlüssige Begründung für Mahlers Abstinenz zum Opernkomponieren aus seinen Lebensumständen. Auch an mangelnden Stoffen kann es nicht gelegen haben. »Bücher ›fresse‹ ich immer mehr und mehr«, schreibt der 35-Jährige an einen Freund, doch unter der Lektüre, die ihn lebenslang beschäftigt hat, finden sich erstaunlicherweise weder Theaterstücke oder Romane, die als Opernstoff getaugt hätten, noch gar richtige Libretti. Dabei hätte ihm der persönliche Umgang mit dramatischen Dichtern wie Hermann Bahr, Gerhart Hauptmann oder seinem Freund Siegfried Lipiner durchaus Anregung und Gelegenheit geboten, eines ihrer Theaterstücke zu vertonen. Die klassische Literatur, die er seit Schulzeiten kannte, reizte ihn ebenso wenig wie die berühmten Zeitgenossen Ibsen, Tschechow oder Maeterlinck. Lediglich einmal, gegen Ende seines kurzen Lebens, griff er nach einem klassischen Drama – dann aber gleich nach dem höchsten: nach Goethes Faust, dessen Schlussszene des zweiten Teils er als zweiten Satz seiner achten Symphonie in Musik setzte. FR A NZ W ILLNAU ER
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Daran, dass Mahler keine Opern schrieb, ist nach Meinung maßgeblicher Mahler-Forscher vor allem Richard Wagner schuld. Ihm als Musikdramatiker nachzueifern und ihn zu überbieten, stand außerhalb jeder Denkmöglichkeit Mahlers. Das bloße »Vertonen« der Dialoge in einer Bühnenhandlung dagegen kam, der Expertenmeinung nach, für den Wagner-Verehrer Mahler nach Tristan und Ring des Nibelungen erst recht nicht mehr infrage; sie sprechen sogar von einer »Einflussangst des ehrgeizigen Wagnerianers«. Wagners Musikdramen hatten in Mahlers Augen die Symbiose von Ton und Wort zu einer Perfektion geführt, die nicht gesteigert werden konnte, sondern nur »beantwortet« – mit seinen eigenen Symphonien, in denen der Musikwissenschafter Tobias Janz sogar zahlreiche »opernhafte Situationen« ausgemacht hat. In der Tat hat sich Mahler, nach drei Versuchen des knapp Zwanzigjährigen, von denen er zwei – Herzog Ernst von Schwaben und Die Argonauten – vernichtet hat und der dritte – eine Rübezahl-Oper – verloren gegangen ist, nur ein einziges Mal mit der Komposition einer »richtigen« Oper im klassischen Sinn beschäftigt: indem er die unvollendet hinterlassene, nur in Skizzen vorhandene komische Oper Die drei Pintos von Carl Maria von Weber ergänzt, bearbeitet und aufführungsreif gemacht hat. Danach gibt es – mit der einzigen Ausnahme der Goethe-Vertonung – keine schöpferische Auseinandersetzung des Komponisten Mahler mit dem Operngenre mehr. Und dennoch ist Mahler, wenn auch in einem ganz anderen Sinn, ein »Opernkomponist« gewesen: in vielen seiner Lieder und in der Musik der tragischen Helden seiner Symphonien. Dazu nochmals Tobias Janz: »Mahlers Musik entfaltet sich, wenn sie auch niemals die Möglichkeiten realer szenischer Darstellung nutzt, immer wieder in Form imaginärer Szenerien, in bühnenartig-räumlichen Arrangements oder in der Form dramatischer, tragischer Handlungsstrukturen, die es rechtfertigen, von ausgeprägt opernhaften Qualitäten zu sprechen.« Dies gilt im Besonderen für manche Lieder aus der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, von denen Mahler zeitlebens insgesamt 24 vertont hat, unter denen die geradezu als Bühnenhandlung interpretierten Der Schildwache Nachtlied, Revelge oder Das irdische Leben herausragen. Aber auch in den konfliktreichen Durchführungen seiner Symphoniesätze, in den Ausbrüchen und Abstürzen der Motive und Klänge seiner dritten, fünften und neunten Symphonie offenbart sich der geheime Musikdramatiker Mahler. Vollends die beiden Werke, welche die Wiener Staatsoper auf die Bühne zu bringen unternimmt – die ursprünglich sogar als Oper geplante Chorkantate Das klagende Lied und der Zyklus der fünf Kindertotenlieder auf Gedichte von Friedrich Rückert – weisen in Aufbau, Dramaturgie, »Handlung«, Stimmung und Tonfall eine so starke Affinität zu einem Bühnengeschehen auf, dass dieser kühne Versuch, der sicherlich nicht unumstritten bleiben wird, vollauf gerechtfertigt erscheint.
WA RUM GUSTAV M A HLER K EIN E OPER KOMPON IERT H AT
Gustav Mahler
DAS KLAGENDE LIED 1. Waldmärchen Es war eine stolze Königin, gar lieblich ohne Maßen, kein Ritter stand noch ihrem Sinn, sie wollt’ sie alle hassen. O weh, du wonnigliches Weib! Wem blühet wohl dein süßer Leib?
Der And’re zieht im wilden Hang, umsonst durchsucht er die Heide. Und als der Abend herniedersank, da kommt er zur grünen Weide. O weh, wen er dort schlafend fand, die Blume am Hut, am grünen Band!
Im Wald eine rote Blume stand, ach, so schön wie die Königinne, welch’ Rittersmann die Blume fand, der konnt’ die Frau gewinnen. O weh, du stolze Königin! Wann bricht er wohl, dein stolzer Sinn?
Du wonnigliche Nachtigall und Rotkehlchen hinter der Hecken, wollt ihr mit eurem süßen Schall den armen Ritter erwecken! Du rote Blume hinter’m Hut, du blinkst und glänzest ja wie Blut!
Zwei Brüder zogen zum Walde hin, sie wollten die Blume suchen, der Eine hold und von mildem Sinn, der And’re konnte nur fluchen! O Ritter, schlimmer Ritter mein, O ließest du das Fluchen sein!
Ein Auge blickt in wilder Freud’, dess’ Schein hat nicht gelogen, ein Schwert von Stahl glänzt ihm zur Seit’, das hat er nun gezogen. Der Alte lacht unter’m Weidenbaum, der Junge lächelt wie im Traum.
Als sie nun zogen eine Weil’, da kamen sie zum Scheiden. Das war ein Suchen nun in Eil’, im Wald und auf der Heiden! Ihr Brüder mein, im schnellen Lauf, wer findet wohl die Blume? Der Junge zieht durch Wald und Heid’, er braucht nicht lang zu gehen: Bald sieht er von ferne bei der Weid’ die rote Blume steh’n. Die hat er auf den Hut gesteckt, und dann zur Ruhe sich hingestreckt.
Ihr Blumen, was seid ihr vom Tau so schwer? Mir scheint, das sind gar Tränen! Ihr Winde, was weht ihr so traurig daher, was will euer Raunen und Wähnen? Im Wald, auf der grünen Heide, da steht eine alte Weide.
GUSTAV M A HLER
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2. Der Spielmann
3. Hochzeitsstück
Beim Weidenbaum im kühlen Tann, da flattern die Eulen und Raben, da liegt ein blonder Rittersmann unter Blättern und Blüten begraben. Dort ist’s so lind und voll von Duft, als ging ein Weinen durch die Luft. O Leide, weh! O Leide!
Vom hohen Felsen erglänzt das Schloss, die Pauken erschallen und Zinken erschall’n. Dort sitzt der mutigen Ritter Tross, die Frau’n mit goldenen Ketten. Was will wohl der jubelnde fröhliche Schall? Was leuchtet und glänzet im Königssaal? O Freude, heiah! Freude!
Ein Spielmann zog einst des Weges vorbei, da sah er ein Knöchlein blitzen. Er hob es auf, es war nicht schwer, wollt’ sich eine Flöte d’raus schnitzen! O Spielmann, lieber Spielmann mein! O ließest du das Flöten sein. O Leide, weh! O Leide! Der Spielmann setzt die Flöte an und lässt sie laut erklingen. O Wunder, was nun da begann, welch’ seltsam traurig Singen! Es klingt so traurig und doch so schön, wer’s hört, der möchte weinen geh’n. O Leide, Leide, weh! »Ach, Spielmann, lieber Spielmann mein! Das muss ich dir nun klagen. Um ein schönfarbig Blümelein hat mich mein Bruder erschlagen! Im Walde bleicht mein junger Leib, mein Bruder freit ein wonnig Weib!« Der Spielmann ziehet in die Weit’, lässt’s überall erklingen. Ach weh, ach weh, ihr lieben Leut’, was soll denn euch mein Singen!? Hinauf muss ich zu des Königs Saal, hinauf zu des Königs holdem Gemahl! Was soll den euch mein Klagen. O Leide, weh, o Leide!
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Und weißt du’s nicht, warum die Freud’? Hei, dass ich dir’s sagen kann! Die Königin hält Hochzeit heut’ mit dem braunen Rittersmann! Seht hin, die stolze Königin! Heut’ bricht er doch, ihr stolzer Sinn! O Freude, heiah! Freude! Was ist der König so bleich und stumm? Was geht ihm wohl im Kopfe herum, hört nicht des Jubels Töne? Sieht nicht die Gäste stolz und reich, sieht nicht der Königin holde Schöne! Ein Spielmann tritt zur Türe herein! Was mag’s wohl mit dem Spielmann sein? O Leide, weh! O Leide, weh! »Ach, Spielmann, lieber Spielmann mein! Das muss ich dir nun klagen: Um ein schönfarbig Blümelein hat mich mein Bruder erschlagen! Im Walde bleicht mein junger Leib, mein Bruder freit ein wonnig Weib! O Leide, weh! O Leide!« Auf springt der König von seinem Thron und blickt auf die Hochzeitsrund’. Er nimmt die Flöte in frevelndem Hohn und setzt sie selbst an den Mund. O Schrecken, was nun da erklang! Hört ihr die Märe, wüst und bang?
DAS K LAGEN DE LIED
»Ach Bruder, lieber Bruder mein, du hast mich ja erschlagen! Nun bläst du auf meinem Totenbein, dess’ muss ich ewig klagen! Was hast du mein junges Leben dem Tode schon gegeben?« O Leide, weh! O Leide!
Am Boden liegt des Königs Gemahl, die Pauken verstummen und Zinken. Mit Schrecken die Ritter und Frauen flieh’n, die alten Mauern sinken. Die Lichter verloschen im Königssaal! Was ist wohl mit dem Hochzeitsmahl? Ach Leide!
KINDERTOTENLIEDER nach Texten der gleichnamigen Gedichtsammlung von Friedrich Rückert
1. Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n, als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n! Das Unglück geschah nur mir allein! Die Sonne, sie scheinet allgemein! Du musst nicht die Nacht in dir verschränken, musst sie ins ew’ge Licht versenken! Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt! Heil sei dem Freudenlicht der Welt!
2. Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen Nun seh’ ich wohl, warum so dunkle Flammen ihr sprühtet mir in manchem Augenblicke. O Augen! O Augen! Gleichsam, um voll in einem Blicke zu drängen eure ganze Macht zusammen. Doch ahnt’ ich nicht, weil Nebel mich umschwammen, gewoben vom verblendenden Geschicke, dass sich der Strahl bereits zur Heimkehr schicke, dorthin, von wannen alle Strahlen stammen. Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen: Wir möchten nah dir bleiben gerne, doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen. Sieh’ uns nur an, denn bald sind wir dir ferne! Was dir nur Augen sind in diesen Tagen: In künft’gen Nächten sind es dir nur Sterne.
FR IEDR ICH RÜCK ERT
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3. Wenn dein Mütterlein
5. In diesem Wetter
Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein, und den Kopf ich drehe, ihr entgegen sehe, fällt auf ihr Gesicht erst der Blick mir nicht, sondern auf die Stelle, näher nach der Schwelle, dort, wo würde dein lieb’ Gesichtchen sein, wenn du freudenhelle trätest mit herein, wie sonst, mein Töchterlein!
In diesem Wetter, in diesem Braus, nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus, man hat sie getragen hinaus. Ich durfte nichts dazu sagen. In diesem Wetter, in diesem Saus, nie hätt’ ich gelassen die Kinder hinaus, ich fürchtete sie erkranken; das sind nun eitle Gedanken.
Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein, mit der Kerze Schimmer, ist es mir, als immer kämst du mit herein, huschtest hinterdrein, als wie sonst ins Zimmer! O du, des Vaters Zelle, ach, zu schnell erlosch’ner Freudenschein! 4. Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen! Bald werden sie wieder nach Hause gelangen! Der Tag ist schön! O, sei nicht bang! Sie machen nur einen weiten Gang.
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In diesem Wetter, in diesem Graus, hätt’ ich gelassen die Kinder hinaus, ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen. In diesem Wetter, in diesem Graus, nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus, man hat sie hinaus getragen, ich durfte nichts dazu sagen! In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus, sie ruh’n als wie in der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket, sie ruh’n wie in der Mutter Haus.
Jawohl, sie sind nur ausgegangen Und werden jetzt nach Hause gelangen! O, sei nicht bang, der Tag ist schön! Sie machen nur den Gang zu jenen Höh’n! Sie sind uns nur vorausgegangen und werden nicht wieder nach Hause verlangen! Wir holen sie ein auf jenen Höh’n im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!
K IN DERTOT EN LIEDER
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Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring
Impressum Gustav Mahler VON DER LIEBE TOD Spielzeit 2022/23 (Premiere der Produktion: 29. September 2022) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Die Texte von Sergio Morabito (Über dieses Programmbuch —»Ob ich das je zur Aufführung bringen kann, weiß Gott.« Mahlers jugendlicher Geniestreich), Lorenzo Viotti (Ein Hoffnungsschimmer mit Fragezeichen) und Franz Willnauer (Warum Mahler keine Oper schrieb) sind Originalbeiträge. Janina Klassen, Märchenerzählung. Anmerkungen zum ›Klagenden Lied‹ (gekürzt), aus: Musikkonzepte 106, München 1999, S. 8-32— Sherry Lee, »Ein seltsam Spielen«: Narrative, Performance and Impossible Voice in Mahler’s ›Das klagende Lied‹; erschienen in: 19th Century Music, vol. 35, no. 1, University of California 2011, S. 72-89, in Auszügen ins Deutsche übersetzt für dieses Programmbuch von Andrew Smith und Sergio Morabito —Mathias Hansen, Kindertotenlieder (gekürzt), aus: Bernd Sponheuer/Wolfram Steinbeck (Hrsg.), MahlerHandbuch, S. 209-216 (c) 2010, J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH Stuttgart; Abdruck mit Genehmigung von SNCS —James Bridle, New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft, aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, München 2019, daraus S. 126-129; 132; 215-216; 219-220; 249-250; dort S. 20 auch das Lovecraft-Zitat
Zitate von Cormac McCarthy aus: Die Straße, Deutsch von Nikolaus Stingl, Hamburg 2008 —Zitate von Theodor W. Adorno aus: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: Die musikalischen Monographien, Frankfurt 1986 — Zitat von Paul Bekker aus: Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921 — Mahler-Zitate nach: Natalie Bauer-Lechner, Erinnerungen an Gustav Mahler. Tagebuchaufzeichnungen, hrsg. von Johann Killian, Leipzig 1923, und Guido Adler, Gustav Mahler, Wien 1916 BILDNACHWEISE Lovis Corint, Kain (1917), Kunstmuseum Düsseldorf, Reproduktion www.zeno.org. Alle Szenenbilder fotografierte Michael Pöhn während der Klavier- und Orchesterhauptproben sowie der Generalprobe zu Von der Liebe Tod am 23., 24. und 26. September 2022 in der Wiener Staatsoper. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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