Programmheft »Madame Butterfly«

Page 1

MADAMA BUTTERFLY Giacomo Puccini


INHALT

Die Handlung Synopsis in English Über dieses Programmbuch Von Farben, Fragen und Nuancen →Philippe Jordan Der ganze Minghella →Matt Wolf Er hat die Musik gehört, die er schreiben würde → David Belasco Die Stimme eines Schmetterlings → Ann-Christine Mecke Die Geisha → Yoko Kawaguchi Ich wurde gelyncht → Giacomo Puccini Madama Butterfly an der Wiener Staatsoper → Oliver Láng Jenseits des Orientalismus → Domingos de Mascarenhas Japan ist eine Erfindung → Oscar Wilde Die Masken der Madame Butterfly → Sergio Morabito Ehe auf Zeit → Samuel Boyer

4 6 8 12 16 20 23 42 54 60 66 84 86 93


Süße Nacht! Wieviele Sterne! Nie habe ich sie schöner gesehen! Aus jedem Funken zittert und leuchtet der Glanz eines Auges. Dolce notte! Quante stelle! Non le vidi mai più belle! Trema, brilla ogni favilla col baglior d’una pupilla.


MADAMA BUTTERFLY → Tragedia giapponese Musik Giacomo Puccini Text Giuseppe Giacosa & Luigi Illica

Nach dem Schauspiel Madame Butterfly von David Belasco (1900), das auf der gleichnamigen Erzählung von John Luther Long (1898) basiert. Orchesterbesetzung 3 Flöten (inkl. Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Bassposaune, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Schlagwerk, Vogelpfeife, Viola d’amore Spieldauer ca. 2 ½ Stunden Autographe Verlagsarchiv Ricordi, Mailand Uraufführung 1. Fassung 17. Februar 1904 Mailand (zwei Akte) 2. Fassung 28. Mai 1904 Brescia (zwei Akte, drei Teile) 3. Fassung 10. Juli 1905 London (zwei Akte, drei Teile) 4. Fassung 28. Dezember 1906 Paris (drei Akte, französischsprachig) Erstaufführung an der Wiener Hofoper 31. Oktober 1907




DIE HANDLUNG I. Akt Auf einem Hügel mit Blick auf Nagasaki besichtigt der amerikanische Marineleutnant Benjamin Franklin Pinkerton ein Haus samt Dienerschaft, das der Heiratsvermittler Goro für ihn organisiert hat. Hier wird er mit seiner zukünftigen Ehefrau Cio-Cio-San, genannt »Butterfly«, die Flitterwochen verbringen. Der Vertrag über Haus und Ehefrau läuft 999 Jahre, ist aber für den Amerikaner monatlich kündbar. Der erste Hochzeitsgast ist der amerikanische Konsul Sharpless. Pinkerton schwärmt ihm gegenüber von seiner unverbindlichen Heirat; Sharpless hingegen hat Cio-Cio-Sans Stimme bei ihrem Besuch am Vortag im Konsulat aufhorchen lassen: Er warnt seinen Landsmann davor, diese Frau unglücklich zu machen. Pinkerton stößt mit ihm auf den Tag an, an dem er mit einer amerikanischen Frau »eine echte Ehe« eingehen wird. Butterfly erreicht mit ihren Freundinnen das Haus. Im Gespräch mit Sharpless und Pinkerton erzählt sie, dass ihre ehemals reich Familie nach dem Tod des Vaters verarmt sei, sodass sie als Geisha arbeiten musste. Währenddessen sind Butterflys Verwandte eingetroffen und beurteilen hinter vorgehaltener Hand den Bräutigam. Butterfly zeigt Pinkerton ihre mitgebrachten persönlichen Dinge, darunter ist auch ein Gegenstand, über den sie ungerne spricht: der Dolch, mit dem ihr Vater sich auf Befehl des Kaisers das Leben genommen hat. Sie erzählt Pinkerton, dass sie heimlich seine Religion angenommen habe, um sein Leben ganz teilen zu können. Der kaiserliche Kommissar legt in Anwesenheit eines Standesbeamten den Ehevertrag vor, die Brautleute unterschreiben, und damit ist die Ehe geschlossen; die offiziellen Gäste verlassen das Fest. Pinkerton, der die »angemietete« Verwandtschaft Butterflys als lästig empfindet, will die Familienfeier schnell hinter sich bringen, als der Onkel Butterflys, ein buddhistischer Priester, hereinstürmt. Er verflucht Butterfly für ihren Religionswechsel, worauf ihre ganze Familie sie verstößt. Pinkerton wirft die Gäste hinaus und bleibt mit seiner weinenden Frau allein. Voll Vorfreude auf die Hochzeitsnacht tröstet er sein »Spielzeug«. Pinkertons Worte überzeugen Butterfly davon, dass er ihr den Verlust ihrer Familie ersetzen wird. Sie verbringen ihre erste gemeinsame Nacht.

II. Akt, 1. Teil Die Abreise Pinkertons aus Japan liegt drei Jahre zurück. Sein und Cio-CioSans Kind, ein blonder, blauäugige Junge, wurde nach seiner Abreise geboren. Cio-Cio-San, das Kind und die Dienerin Suzuki leben zwar immer DIE HANDLUNG

4


noch im Haus auf dem Hügel, denn die monatlichen Mietzahlungen lässt Pinkerton vom Konsul tätigen, aber das Geld für ihre Lebenshaltungskosten ist nahezu aufgebraucht. Suzuki zweifelt daran, dass Pinkerton zurückkehren wird, doch Cio-Cio-San malt sich und ihr den Tag seiner Ankunft in leuchtenden Farben aus. Konsul Sharpless sucht Butterfly auf. Er will ihr einen sie betreffenden Brief Pinkertons vorlesen. Sie werden von Goro gestört, der seit Pinkertons Abreise regelmäßig versucht, Cio-Cio-San an einen neuen Ehemann zu vermitteln, was sie konsequent ablehnt. Fürst Yamadori, der hartnäckigste der neuen Heiratskandidaten, macht ihr erneut seine Aufwartung. Cio-Cio-San besteht im Vertrauen auf das verbindliche amerikanische Eherecht weiterhin auf der Anrede »Madama B. F. Pinkerton« und fertigt ihn demonstrativ ab. Sharpless’ Lektüre des Briefes unterbricht Cio-Cio-San immer wieder durch Ausdrücke ihres Entzückens, sodass der Hauptteil des Briefes ungelesen bleibt. Angesichts ihrer Blindheit dem Offensichtlichen gegenüber fragt Sharpless sie voll Ungeduld, was sie täte, sollte Pinkerton nie mehr zurückkehren. Zwei Möglichkeiten blieben ihr, sagt Cio-Cio-San: den Dienst als Geisha wieder aufzunehmen oder zu sterben. Als Sharpless sie überreden will, die Hand Yamadoris nicht auszuschlagen, präsentiert Cio-Cio-San ihm triumphierend das Kind, das sie als Garantie für die Rückkehr Pinkertons betrachtet. Sharpless verspricht, Pinkerton über die Existenz des Kindes zu informieren. Kaum ist er gegangen, als ein Kanonenschuss die Ankunft eines amerikanischen Kriegsschiffes im Hafen ankündigt: Das Schiff Pinkertons! Cio-Cio-San triumphiert euphorisch, weist Suzuki an, sämtliche Blumen des Gartens zu pflücken, und dekoriert damit das Haus. Sich selbst schmückt sie mit ihrem Hochzeitskleid, dann wartet sie mit Suzuki und dem Kind auf Pinkerton. Es wird Nacht.

I. Akt, 2. Teil Am Morgen ist Pinkerton immer noch nicht eingetroffen. Erst als Cio-CioSan sich mit dem Kind zurückzieht, um sich auszuruhen, schleicht Sharpless mit ihm ins Haus und bittet Suzuki um Hilfe: Sie soll Cio-Cio-San überzeugen, das Kind an Pinkerton und dessen mitgereiste, im Garten wartende amerikanische Ehefrau Kate zu übergeben. Pinkerton wird von seinen Schuldgefühlen überwältigt und entzieht sich einer Konfrontation, während Kate sich der Unterstützung Suzukis versichert. Suzuki und Sharpless machen Cio-CioSan in wenigen Worten klar, dass Pinkerton nicht um ihretwillen zurückgekehrt ist, sondern um das Kind abzuholen. Cio-Cio-San erklärt, ihren Sohn nur an Pinkerton persönlich zu übergeben. Allein gelassen, bereitet sie ihre Selbsttötung mit dem Dolch ihres Vaters vor. Dem von Suzuki zu ihr geschickten Kind verbindet sie die Augen, bevor sie sich ersticht. Pinkerton findet sie sterbend. 5

DIE HANDLUNG


SYNOPSIS Act I On a hill overlooking Nagasaki, Lieutenant Benjamin Franklin Pinkerton of the U.S. Navy views a house with servants, which Goro, the broker, has organised for him. It is here that he will spend his honeymoon with his future wife Cio-Cio-San, known as »Butterfly«. The contract for house and wife runs for a period of 999 years but can be terminated by the American on any given month. The first wedding guest to arrive is the American consul, Sharpless. Pinkerton gushes to him about his noncommittal marriage; Sharpless, on the other hand, had overheard Cio-Cio-San’s lovely voice when she had visited the consulate the day before: He cautions his compatriot not to break her heart. Pinkerton toasts the day he will enter into »a real marriage« with an American wife. Butterfly arrives at the house with her friends. In conversation with Sharpless and Pinkerton, she explains that her once rich family had fallen into poverty, and she has had to earn her living as a geisha. Butterfly’s relatives have arrived in the meantime, judging the groom whispering amongst themselves. Butterfly shows Pinkerton her few possessions, including an object she is reluctant to talk about: the dagger with which her father took his own life at the Emperorʼs command. She tells Pinkerton that she secretly embraced his religion so she can fully share his life. The Imperial Commissioner reads the marriage agreement in the presence of a registrar, and the bride and groom sign, concluding the marriage; the official guests leave the party. Pinkerton, who sees Butterfly’s »rented« relatives as a nuisance, wants to get the family celebration over with, when Butterfly’s uncle, a Buddhist priest, storms in. He curses Butterfly for rejecting her ancestral religion, whereupon her relatives disown her. Pinkerton orders the guests away and is left alone with his weeping wife. Eagerly awaiting his wedding night, he tries to comfort his »toy«. His words are convincing, and she believes that he will take the place of her lost family. They spend their first night together.

Act II, Part 1 Three years have passed since Pinkerton left Japan. His and Cio-Cio-San’s child, a blond, blue-eyed boy, was born after his departure. Cio-Cio-San, the child and and the servant Suzuki still live in the house on the hill, while Pinkerton has the consul pay the monthly rent. Yet the money for their cost of living is running out. Suzuki doubts that Pinkerton will return, but Cio-Cio-San pictures the day of his arrival. SYNOPSIS

6


Consul Sharpless visits Butterfly. He wants to read her a letter from Pinkerton that concerns her. They are interrupted by Goro, who has tried to find a new husband for Cio-Cio-San since Pinkerton’s departure. She keeps insisting that she is not interested. Prince Yamadori, the most persistent of the new suitors, pays her a courtesy visit once again. Cio-Cio-San, trusting in the binding American marriage laws, continues to insist that she be addressed as »Madama B. F. Pinkerton« and brushes aside his offer. Cio-Cio-San’s expressions of delight interfere with Sharpless’ efforts to read the letter, so that the main content is never read. Failing to see the obvious, Sharpless impatiently asks her what she would do if Pinkerton never returned. She has two options, says Cio-Cio-San: become a geisha again – or die. When Sharpless tries to persuade her to reconsider Yamadori’s proposal, Cio-Cio-San triumphantly presents the child she considers to be a guarantee for Pinkerton’s return. She describes the unhappy fate that would await the boy if she had to work as a geisha again. Sharpless promises to tell Pinkerton of the child. No sooner is he gone than a cannon shot is heard in the harbour announcing the arrival of an American naval ship: it is Pinkerton’s ship! Overjoyed, Cio-Cio-San instructs Suzuki to pick all the flowers in the garden and decorates the house. She adorns herself with her wedding dress, then keeps watch for Pinkerton with Suzuki and the child. Night falls.

Act II, Part 2 Morning comes and Pinkerton has still not arrived. Only when Cio-Cio-San withdraws with the child to get some rest does Sharpless sneak into the house with Pinkerton to ask Suzuki for help: She must convince Cio-Cio-San to hand over the child to Pinkerton and his American wife, Kate, who is waiting in the garden. Pinkerton is overcome with guilt and runs to avoid confrontation, while Kate assures herself of Suzuki’s support. Suzuki and Sharpless make it clear to Cio-Cio-San that Pinkerton has not returned for her sake, but to take the child. Cio-Cio-San agrees to hand over her son to Pinkerton if he himself comes to collect him. Left alone, she prepares to perform suicide using her father’s dagger. She blindfolds the child Suzuki has sent her before she stabs herself. Pinkerton finds her dying.

7

SYNOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Madama Butterfly erzählt von einem doppelten Missverständnis: Die japanische Geisha Cio-Cio-San erträumt sich von ihrem amerikanischen Ehemann eine gemeinsame Zukunft in den USA, der amerikanische Leutnant Pinkerton verschafft sich an seinem Stationierungsort eine staatlich legitimierte Affäre. Die Oper beruht auf verschiedenen literarischen Vorlagen, die in der Bearbeitung des Stoffes jeweils eigene Schwerpunkte setzen, so wie es auch Puccinis Librettisten schließlich machten: Ausschnitte aus allen literarischen Fassungen, die die unterschiedlichen Perspektiven deutlich machen, finden Sie an verschiedenen Stellen in diesem Programmbuch. Nach dem Misserfolg der Mailänder Uraufführung 1904 wurde die Oper mehrfach umgearbeitet, eine verbindliche Endfassung gab es bis zum Tod Puccinis nicht. Das Ergebnis ist ein an Widersprüchen reiches Kunstwerk, das unsere Vorstellungen nicht nur über Japan, sondern auch über sich selbst immer wieder in Frage stellt. Grundlegende Gedanken zur heutigen Aufführung finden Sie in den Texten des Premierendirigenten Philippe Jordan (→ S. 12) sowie in dem Porträt des verstorbenen Anthony Minghella (→ S. 16), der die Inszenierung gemeinsam mit der Regisseurin Carolyn Choa erarbeitet hatte. Die Interpretation, die Sie heute erleben können, steht in einem geschichtlichen Zusammenhang mit vielen vorhergehenden. Oliver Láng zeichnet ab S. 60 die Wiener Aufführungsgeschichte nach. Wie in Madama Butterfly Fremdheit und Nähe in ein schillerndes Wechselverhältnis eintreten, untersucht Ann-Christine Mecke (→ S. 23). Yoko Kawaguchi skizziert ab S. 42 das Phänomen der Geisha in Japans Geschichte und Gegenwart. Domingos de Mascarenhas analysiert, wie sich während der mehrjährigen Umarbeitungszeit der westliche Blick auf Japan wandelte und dieser Wandel auch die Dramaturgie der Oper veränderte (→ S. 66). Madama Butterfly ist die Geschichte eines doppelten Missverständnisses, aber am Ende ist nur eine tot: die fremde, käufliche Frau. Ist Cio-Cio-San das wehrlose Opfer eines rücksichtslosen Täters? Dass eine solche Sichtweise entscheidenden Aspekten der Oper und ihrer vielgesichtigen Titelfigur nicht gerecht wird, zeigt Sergio Morabito (→ S. 86). 8





Philippe Jordan

VON FARBEN, FRAGEN UND NUANCEN

Gedanken zu einem vielschichtigen Meisterwerk


Madama Butterfly ist von der Tonsprache her viel eher ein impressionistisches als ein veristisches Werk. Wenn das allzu Konkrete ausgespart wird, man darauf verzichtet jedes Schirmchen, jede Teetasse, jede Gottesfigur, ganz grundsätzlich jeglichen Exotismus buchstäblich naturalistisch auszuarbeiten, verwandelt sich die Partitur in etwas wunderbar Schwebendes, wird alles zur Farbe. Und dann wird der französische Einfluss evident. Schon an seiner Manon Lescaut, dann noch mehr an La Bohème lässt sich in Ansätzen ablesen, wie sehr sich Puccini nicht zuletzt von einem Claude Debussy inspirieren ließ. Hier in Madama Butterfly ist schließlich die direkte Verwandtschaft etwa zu Pelléas et Mélisande – ganz besonders in so manchen Akkordfolgen im 2. Teil des 2. Aktes – augenfällig. Puccini war aber ganz grundsätzlich sein Leben lang an allen internationalen musikalischen Entwicklungen interessiert und dementsprechend stets auf dem Laufenden. So darf er ohne Zweifel als Wagner-Verehrer bezeichnet werden, der vor allem in puncto Instrumentation viel von diesem gelernt hat. Auch die entfernte Ähnlichkeit des Butterfly-Beginns und der Ouvertüre von Smetanas Verkaufter Braut kommt sicher nicht von Ungefähr und Janáčeks auf der Sprachmelodie des Tschechischen basierende Kompositionsweise war ihm ebenfalls nicht fremd. Puccini war dafür übrigens Angriffen von konservativen Verfechtern der nationalen Operntradition ausgesetzt, wie etwa in einem Pamphlet von Fausto Torrefranca aus dem Jahr 1912, das den diffamierend gemeinten Titel trug: Puccini und die internationale Oper. In seinem Bestreben, neue musikalische Wege zu gehen, den eigenen kompositorischen Wortschatz zu bereichern, waren für Puccini zudem außereuropäische, nicht zuletzt orientalisch anmutende, fernöstliche Einflüsse von großer inspirierender Kraft, insbesondere wenn es darum ging, ein entsprechendes Lokalkolorit zu entwerfen – wie eben in der Butterfly; das gilt für ihn nicht weniger als für viele seiner zeitgenössischen Kollegen – man denke etwa an Ravels Shéhérazade oder Mahlers Lied von der Erde. Puccinis intensive Beschäftigung mit den ostasiatischen Kulturen im Vorfeld der Kompositionsarbeit sind bekannt. Dass er allerdings neben eindeutig japanischen – man denke an das Erklingen der japanische Nationalhymne beim Erscheinen des kaiserlichen Kommissars – oder japanisch anmutenden Melodien und dem perfekten Nachempfinden des japanischen Sprachduktus (zum Beispiel gleich beim ersten Einsatz Suzukis »Sorride vostro onore?«) auch chinesische Melodik hat einfließen lassen (etwa Butterflys »Io seguo il mio destino« im 1. Akt), sei ihm verziehen: Puccini ging es um das Atmosphärische, um das Kreieren eines exotischen Ausdrucks. Um das Schildern eines bestimmten Milieus. Madama Butterfly ist also ein typisches Beispiel eines Genrestückes. Vergleichbar mit den dramaturgisch ähnlich gestalteten Vorgänger- und Schwesteropern La Bohème und Tosca: In allen drei Werken wird das Publikum schon mit den ersten Takten in die Geistes- und Lebenssphäre der Handelnden hineingezogen und, bevor die eigentliche Titelfigur auftritt ein musikalisches 13

PHILIPPE JORDAN


Ambiente definiert. So soll das Goro zugeordnete Eingangs-Fugato am Beginn der Butterfly in der Melodik die Geschäftigkeit des japanischen Heiratsvermittlers, die Nähe der rastlosen Hafenstadt Nagasaki, das Fremdartige vermitteln, in der Art der Verarbeitung des Themas hingegen das Okzidentale aufzeigen. Es geht hier um den Kontrast West-Ost und in dem Fugato werden diese disparaten Elemente nebeneinander gestellt und zusammengebracht. Besonders augen- respektive ohrenfällig ist dieser Kultur-Konflikt natürlich auch bei Pinkertons und Sharpless’ »America for ever«, diesem Zitat einer ursprünglich englischen, später in amerikanischen Militärkreisen populären Melodie (die erst mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Butterfly-Uraufführung zur Musik der amerikanischen Nationalhymne erhoben wurde), mit dem das programmatisch Unangepasste der Amerikaner im japanischen Gastland versinnbildlicht wird. La Bohème, Tosca, Madama Butterfly – diese drei nacheinander entstandenen Opern, gewissermaßen Puccinis »trilogia popolare«, können rückblickend gesehen übrigens durchaus als erster Trittico des Komponisten verstanden werden: Das Lyrische, das Dramatische und das Exotische ergänzen sich hier antithetisch, wie später bei Il tabarro, Suor Angelica und Gianni Schicchi das Tragische, das Lyrische und das Komische. Aber noch viel mehr als innerhalb des späteren, von Vornherein als Trias konzipierten Dreigespanns, ist von der Bohème zur Butterfly (dem ersten Puccini-Opus des 20. Jahrhunderts!) eine deutliche kompositorische Entwicklung zu erkennen. Für Puccini war die Opernbühne das grundeigentliche Metier. Er dachte und fühlte bis in seine letzte Faser im Bezugsrahmen des (Musik)theaters. Jeder Ton, jede Fermate, jede Pause, jede Phrase, jede Farbe hat demnach ihre exakte Position und Funktion im Zusammenspiel zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Interpreten und Publikum. Entsprechend experimentierfreudig baute er von Stück zu Stück seine jeweils gewonnenen Erfahrungen immer weiter aus. So ist etwa das Zwischenspiel zu Beginn des 2. Teils des 2. Aktes der Butterfly etwas völlig Neues in seinem Œuvre. Zwar finden sich auch in der Manon und in der Tosca sinfonisch gestaltete Intermezzi, die aber bescheidener dimensionierte atmosphärische Episoden darstellen, und nicht mit der Psychologie der Hauptfigur so unmittelbar verknüpft sind wie hier. In ihrer elementaren dramaturgischen Bedeutungshaftigkeit ist diese rein instrumentale musikalische Abbildung der Tragik des sinnlosen Hoffens der Titelfigur mit nichts in Puccinis davorliegendem Werk zu vergleichen. Auch der Schluss der Oper, dieser den Verzweiflungsschrei Pinkertons symbolisierende unaufgelöste h-Moll-Akkord, muss als Suche nach neuen theatralen Ausdrucksmöglichkeiten verstanden werden. Viele, die Madama Butterfly gut kennen, haben sich an dieses Ende gewöhnt, aber all jene, die das Werk zum ersten Mal hören, dürften vielleicht überrascht sein. PHILIPPE JORDAN

14


Und die Wiederverwendung ein und derselben Melodie (zunächst sogar in derselben Tonart) beim Vorlesen des Pinkerton-Briefes durch Sharpless im 2. Akt und etwas später während des sogenannten Summ-Chores fällt ebenfalls in diese Kategorie des Experimentierens. Hier arbeitet Puccini mit dem Unterbewusstsein des Hörers: Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer die Melodie zum ersten Mal hören, achten sie im Allgemeinen eher auf den Inhalt des Briefes, nehmen die Melodie aber unbewusst wahr. Wenn diese dann an der zweiten Stelle wiederkehrt und im eigentlichen Fokus der Aufmerksamkeit steht, wird sie schon als bekannt eingestuft und zugleich eine inhaltliche Verbindung geschaffen. In beiden Fällen geht es um die gespannte Hoffnung der Butterfly: Einmal erwartet sie eine (positive) briefliche Nachricht Pinkertons, das andere Mal seine lang ersehnte Wiederkunft. Eine aufregende, überaus gelungene musikalische Klammer, die Puccini hier geschaffen hat! Wie sehr Puccini darüber hinaus ein Meister der Nuancierungskunst war, sieht man exemplarisch bei Gegenüberstellung des Duetts Mimì / Rodolfo am Ende des 1. Aktes der Bohème und des Duetts Cio-Cio-San / Pinkerton am Ende des 1. Aktes der Butterfly. In beiden Fällen die große liebende Zweisamkeit, doch jene der Bohème wirkt reiner, echter, die der Butterfly hingegen bewusst fast zu schön, um wahr zu sein. Diese Frühlingsnacht im fernen Japan hat etwas Hypnotisierendes, Soghaftes. Aber sie wird von Projektionen der beiden Akteure getragen, die unterschiedliche Wunschvorstellungen verfolgen. Pinkerton ist sicher kein Bösewicht, jung, im Moment von dieser zerbrechlich scheinenden Frau fasziniert, aber sein »Vieni, vieni« ist sehr stark von biologischem Verlangen gefärbt, für sie bedeutet diese Nacht aber viel mehr. Sie ist nichts weniger, als die Erfüllung ihrer Träume. Puccini gelang es, eben diese Gegensätzlichkeiten einzufangen und in diesem Liebesduett zu transportieren. Es heißt, dass ein Meisterwerk unter anderem an der Unerschöpflichkeit seiner möglichen Interpretationen als solches zu erkennen ist; auch daran, dass manche Fragen, die man als ausübender Künstler an die Partitur, aber auch an die Aufführungstradition stellt, regelmäßig wiederkehren und von Mal zu Mal sowie abhängig von der Konstellation der Beteiligten immer neu beantwortet werden müssen; dass andere Fragen erst nach langjähriger Beschäftigung unerwartet auftreten, um zusätzliche Ebenen, Details und Perspektiven aufzutun; und dass es oft sehr schwer fällt, eine eindeutige Lieblingsstelle auszumachen, weil sich von Aufführung zu Aufführung, von Lebenserfahrung zu Lebenserfahrung immer neue Passagen in den Vordergrund spielen. Für Madama Butterfly treffen all diese Aspekte zu einhundert Prozent zu.

15

Von Farben, Fragen und Nuancen


Matt Wolf

DER GANZE MINGHELLA

Seinen Namen verbindet man mit hochkarätigen Filmen wie Der talentierte Mr. Ripley, aber Zeit seines Lebens liebte er auch die Oper. Matt Wolf proträtierte den 2008 verstorbenen Regisseur kurz vor der New Yorker Premiere seiner Butterfly 2006.


Anthony Minghella weiß, dass sein Debüt als Opernregisseur für manchen überraschend kam. Weithin bekannt ist der 52-Jährige vor allem als Oscarprämierter Regisseur des Films Der englische Patient, der später auch bei den amerikanischen Blockbustern Der talentierte Mr. Ripley oder Unterwegs nach Cold Mountain Regie führte. Bevor er sich der Filmindustrie zuwandte, war Minghella allerdings in verschiedenen Kreativbereichen tätig. »Musik war immer schon die große Leidenschaft bei meiner Arbeit«, meint der Regisseur, für den nie wirklich zur Debatte stand, ob er Oper inszenieren würde, sondern lediglich, wann. »Ich würde mich nicht als großen Musiker bezeichnen, aber ich kann Noten lesen und verstehe sie.« Nun leitet er die Madama Butterfly für die Metropolitan Opera (Met). Wir treffen uns an einem besonders verregneten Maimorgen in der zweckentfremdeten Kapelle, die der Produktionsfirma Minghellas und seines US-amerikanischen Regiekollegen Sydney Pollack (Tootsie) Mirage Enterprises in Großbritannien als Sitz dient. An den Wänden hängen großformatige – und umwerfende! – Fotos von Jude Law, Kristin Scott Thomas und Nicole Kidman, um nur drei der bekanntesten Schauspielerinnen und Schauspieler zu nennen, mit denen Minghella für die große Leinwand zusammenarbeitete. Im Focus stehen heute allerdings die von ihm inszenierten Theateraufführungen, in die sich seine Butterfly einreiht. Das Met-Publikum bekommt eine neu ausgearbeitete Version der Butterfly-Produktion zu sehen, die Minghella letzten Herbst für die English National Opera (ENO) auf die Bühne brachte, wo sie im Frühling erneut zu sehen war. Diese englischsprachige Version, die für ausverkaufte Vorstellungen sorgte und sogar mit einem Olivier Award ausgezeichnet wurde, erinnert an die Theaterwurzeln des Cineasten Anthony Minghella. »Ich hatte mir vorgenommen, meine Beziehung zum Theater wiederaufzufrischen. Ich wurde schon öfter angefragt, Opern zu inszenieren, aber es kam entweder etwas dazwischen oder ich war ein bisschen furchtsam, zurück ans Theater zu gehen«, so Minghella, der der Theaterwelt den Rücken kehrte, nachdem er Regie bei dem Londoner Low-Budget-Film Wie verrückt und aus tiefstem Herzen (1991) geführt hatte. Dieser Film markierte den Beginn seiner Kinokarriere. Aber sogar die Idee zu diesem Film mit seinen sanften, geisterhaften Betrachtungen über Liebe und Verlust gewann Minghella durch das Bild zweier Duopartner einer Bach-Sonate. Minghellas angeborene Liebe zur Musik – er wuchs auf der Isle of Wight in einem italienischen Einwandererhaushalt mit Di Stefano- und Caruso-Platten auf – kam während seiner Studienzeit an der Universität Hull besonders zum Vorschein, als er dort Bühnenmusik und sogar ein Musical mit dem interessanten Titel Morbius the Stripper (auf Deutsch etwa »Der Stripper Morbius«) komponierte. Sie zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben, vom Titel eines seiner frühen Theaterstücke (Whale Music [auf Deutsch etwa »Walmusik«] von 1981) über die Verwendung des Finales des 2. Akts von Tschaikowskis Eugen 17

MATT WOLF


Onegin in einer entscheidenden Szene des Films Der talentierte Mr. Ripley bis hin zu Minghellas Angewohnheit, während des Schreibprozesses Klavier zu spielen. Minghella schrieb sogar ein Theaterstück, A Little Like Drowning (auf Deutsch etwa »Ein bisschen wie Ertrinken«), bei dem John Dove im Jahr 1984 Regie führte, und das, wie er mit einem Lächeln erzählt, »durchdrungen war von Puccinis Musik« – passenderweise, denn sein Großvater, um den es in dem Theaterstück geht, war ein großer Opernliebhaber. Der Londoner Theaterregisseur und Produzent Michael Attenborough bezeugt die Folgerichtigkeit von Minghellas Laufbahn: »Anthony fühlt sich auf der großen Leinwand wohl, bringt dabei aber eine sehr persönliche Note ein: Die meisten Filmregisseure beschäftigen sich erst am Ende mit der Musik, aber Anthony fängt prinzipiell damit an. Ehrlich gesagt«, setzt Attenborough fort, »war ich überrascht, als Anthony in die Filmindustrie ging; aber Oper erschien mir logisch, nachdem ich ihn als Filmregisseur erlebt habe. Er fühlt sich in nicht naturalistischen Kulissen pudelwohl.« Wären die Oper und Minghella ein frisch verlobtes Paar, dann würde sich die Frage nach dem Wo, Wann und Wie der Hochzeitsfeier stellen. Die Antwort darauf liegt in der 21jährige Ehe mit der in Hongkong geborenen Carolyn Choa, einer ehemaligen Tänzerin, die im Rahmen der Butterfly-Inszenierung als Choreografin und Regiemitarbeiterin fungierte. Laut ihrem Ehemann war sie es, die so gut wie alles für die Wiederaufführung der ENO-Produktion im Frühling organisierte. Choa tanzte in Andrei Serbans TurandotInszenierung, nachdem Max, der Sohn des Paares – mittlerweile ein Schauspieler, der in Syriana an der Seite George Clooneys spielte – vor zwanzig Jahren zur Welt gekommen war. In dieser Hinsicht erschien Puccini im Allgemeinen und Butterfly im Besonderen eine gute Wahl, da sich in der Oper Osten und Westen begegnen – auch wenn diese Verbindung in narrativer Hinsicht bei weitem weniger glücklich verläuft als die im Minghella-Haushalt stattfindende Vermischung anglo-italienischer und hongkong-chinesischer Wurzeln. In Minghellas Butterfly ist nicht nur sein kinematographischer Kunstsinn wiederzufinden – verschiedene Bilder scheinen eine Weitwinkelansicht des Geschehens einzunehmen –, die Inszenierung besticht auch durch ihren sehr besonderen, suggestiven Einsatz von Raum und Licht. Für seine Inszenierung nutzt Minghella ein minimalistisches Bühnenbild von Michael Levine, das von einem geneigten Spiegel, der sich horizontal und vertikal über die gesamte hintere Bühne erstreckt, dominiert wird. Bei all ihrer Schönheit (inklusive der bezaubernden Kostüme der chinesischen Kostümbildnerin Han Feng) knausert die Inszenierung nicht mit dem Pathos von Cio-Cio-San, Puccinis verarmter 15-jähriger Kindsbraut. Sie spielt aber auch mit japanischen Theatertechniken. So verwendet sie etwa Bunraku-Stabpuppen, insbesondere um Butterflys und Pinkertons dreijähriges Kind zum Leben zu MATT WOLF

18


erwecken. Diese Stabpuppen wurden von der Figurentheatergruppe Blind Summit Theatre hergestellt und werden von ihren Mitgliedern auch geführt. »Erstens«, erklärt Minghella, »kann ein Kind auf der Bühne nicht authentisch sein. Es kann keine Spannung herstellen – es kann nur choreographiert werden. Plácido Domingo saß vor einigen Abenden im Publikum und erzählte, dass ihn das Problem der Besetzung dieser Kinderrolle nie losgelassen und er unsere Lösung als geradezu befreiend empfunden habe, weil sie den Erwartungen wirklich gerecht werde.« Eine hölzerne Figur als Rorschachtest? »Genauso ist es.« Einzelne Mitwirkende waren zunächst überrascht von vielen Momenten der Stille in dieser Inszenierung; so bereits zu Beginn des Abends, wenn die szenische Aktion schon beginnt, aber noch keine Musik zu hören ist. Minghella bezeichnet in diesem Zusammenhang etwa den Regisseur Peter Brook und den Dramatiker Samuel Beckett als Inspirationsquellen, beides Meister des Minimalismus. Erst vor Kurzem schrieb Minghella ein von Beckett inspiriertes Hörspiel für die BBC mit dem Titel Eyes Down Looking [auf Deutsch etwa »Hinunterblickende Augen«]. »In gewisser Weise waren für dieses Projekt Peter Brook und sein einflussreiches Theatermanifest Der leere Raum meine Antriebskräfte. Wir halten gar nichts in Händen und dann versuchen wir, auf elementare Art Bilder und Welten und suggestive Momente zu schaffen, die einzig und allein dazu dienen, unsere Interpretation des Dramas zu beleuchten. Vielleicht irren wir uns, aber wir glauben, dass es so am besten funktioniert – indem wir alle Theatermittel offenlegen.« Auf der Bühne sind japanische Laternen, ein Blumenvorhang und Shojis, elegante japanische Raumteiler, zu sehen. Doch bei aller Faszination, die das Bühnenbild ausübt, verliert man die penelopeartige Figur im Zentrum dieser Oper nie aus den Augen: eine junge Frau aus Nagasaki, die ihr Leben lang auf einen Amerikaner wartet, der – wie Minghella es formuliert – »als erstes sagt: ›Ja, ich werde bald eine Japanerin heiraten, aber es ist keine echte Ehe. Stoß mit mir auf den Moment an, indem ich eine amerikanische Ehe eingehen werde.‹ Das sagt Pinkerton kurz vor Butterflys erstem Auftritt in der Oper, ehe wir sie überhaupt gesehen haben.« Wünschen nach einer stärkeren politischen Lesart verweigert sich Minghella: »Ich denke nicht, dass Puccini beabsichtigte, eine anti-imperialistische Oper zu schreiben. Er wusste nicht, dass das angebrochene Jahrhundert mit Korea und Vietnam, Irak und Iran weitergehen würde. Wenn man sich all die anderen Opern, sein Gesamtwerk ansieht, wird klar, dass er sich für die Natur des Menschen interessierte.«

19

Der ganze Minghella


ER HAT DIE MUSIK GEHÖRT, DIE ER SCHREIBEN WÜRDE → David Belasco über die Londoner Premiere seines Schauspiels Madame Butterfly am 28. April 1900

Manchmal denke ich, dass die Anerkennung des englischen Publikums, das – vom leisen Weinen einiger Frauen abgesehen – in absoluter Stille verharrte und dann wieder und wieder nach mir rief und darauf bestand, dass ich auf die Bühne komme, die beglückendste war, die ich erfahren habe. Der Komponist Giacomo Puccini war an diesem Abend im Zuschauerraum. Nach dem Fallen des Vorhangs kam er hinter die Bühne, umarmte mich begeistert und flehte mich an, Madame Butterfly als Opernlibretto benutzen zu dürfen. Ich stimmte sofort zu und sagte ihm, dass er mit dem Stück machen könne, was immer er wolle, und jeder ihm zusagende Vertrag möglich wäre – denn du kannst unmöglich mit einem impulsiven Italiener geschäftlich verhandeln, der Tränen in den Augen und beide Arme um deinen Hals geschlungen hat! Ich habe nie angenommen, dass er Madame Butterfly damals wirklich gesehen hat: Er hat die Musik gehört, die er schreiben würde. DAVID BELASCO




Ann-Christine Mecke

DIE STIMME EINES SCHMETTER­ LINGS

Exotismus & Puccinis Musik für Madama Butterfly


Eine Frau zwischen zwei Kulturen Es war überflüssig, auf solche Ideen von ihr einzugehen, die dem fruchtbaren Hirn von Pinkerton entsprungen waren. Mit Sicherheit hatte er sein Eheleben mit ihr genossen, aber aus anderem Grund als sie. Der Konsul fand, man konnte sehen, wie ausgesprochen amüsant es gewesen war. Es war auch genau Pinkertons Stil, dieses zierliche, lebhafte, eifrige, formlose Material zu nehmen und es nach seinen schamlos skurrilen Vorstellungen zu formen. → JOHN LUTHER LONG, MADAME BUTTERFLY

In John Luther Longs Novelle Madame Butterfly hinterlässt Leutnant Pinkerton nach seiner Abreise eine deformierte Frau: In ihrem Bemühen, ihrem amerikanischen Mann zu gefallen, hat Cho-Cho-San Teile seines Verhaltens übernommen, ohne sie wirklich zu verstehen. Sie macht alberne Scherze im unpassendsten Moment, wiederholt seltsame Ansichten, die von Pinkerton irgendwann einmal sarkastisch geäußert wurden, und wechselt unvermittelt von japanischer Höflichkeit zu Pinkertons lässiger Unverschämtheit. Sowohl der amerikanische Konsul Sharpless als auch der japanische Heiratsvermittler Goro schwanken zwischen Mitleid, Amüsement und Erschrecken, wenn sie mit Cho-Cho-San interagieren – ähnlich wohl die Gefühle der meisten Leserinnen und Leser. Auch wenn Long seine Protagonistin überleben lässt, lässt er keinen Zweifel daran, dass Pinkerton sie zu einem Wesen geformt hat, das weder in der japanischen noch in der amerikanischen Gesellschaft zuhause sein kann. Literarisches Zeichen für diese Verlorenheit zwischen den Kulturen ist die Sprache Cho-Cho-Sans: ein von falsch ausgesprochenen Yankee-Floskeln durchsetztes, fehlerhaftes Englisch. In dem auf Longs Vorlage basierenden Theaterstück von David Belasco ging viel von der Charakterisierung Pinkertons verloren, weil die Handlung des Einakters erst lange nach dessen Abreise einsetzt. Das Publikum erlebt nicht, wie der verantwortungslose Leutnant sein »formloses Material« modelliert, und es gibt nur wenige Hinweise darauf, wie das seltsame Verhalten der Hauptfigur zustande kommt. Auch verzichtete Belasco auf den ironischen Unterton der Geschichte und gab ihr ein tragisches Ende. Im Butterfly-Schauspiel nimmt die japanische Kultur eine dominante Rolle ein: Cho-Cho-San lebt in einem gänzlich japanisch ausgestatteten Haus, lediglich ein von Pinkerton zurückgelassenes Tabakgefäß ist mit einer amerikanischen Papierfahne geschmückt. Wenn sich der Vorhang öffnet, opfert Cho-Cho-San Blüten und Reis an einem buddhistischen Hausaltar. Ihre Beteuerungen, in einem »’merican House« zu leben, wirken in Anbetracht einer solchen Szenerie absurd. Das gebrochene Englisch der Hauptfigur behielt Belasco bei. Während ANN-CHRISTINE MECKE

24


die Hauptfigur in der Novelle offensichtlich in keine der beiden Kulturen mehr gehört, steht in Belascos Stück die Absurdität ihres Wunsches, als Amerikanerin betrachtet zu werden, im Vordergrund. Als Giacomo Puccini sich entschloss, gemeinsam mit seinen Librettisten Luigi Illica und Giuseppe Giacosa eine Oper aus dieser Vorlage (zunächst nur das Theaterstück, später wurde auch die Novelle hinzugezogen) zu machen, stand er vor der Aufgabe, eine musikalische Entsprechung nicht nur für den Handlungsort, sondern auch für die Kultur und Individualität der Hauptfigur zu erfinden.

Puccini 1912 auf seiner Yacht »Cio-Cio-San« →

Puccinis Suche nach japanischen Klängen Lieber Gigi [Illica], nun bin ich nach Japan eingeschifft und werde mein Bestes tun, es zu erreichen, aber ein paar Noten populärer Musik hätten mich mehr interessiert als Veröffentlichungen über Sitten und Trachten! Ich habe so etwas gesucht und gefunden, aber es ist wenig und dürftig. Grüße G. Puccini TORRE DEL LAGO, 10. JÄNNER 1902

Japanische Musik war in Italien um 1900 nicht leicht verfügbar. Da Puccini mit den erhältlichen Noten nicht zufrieden war, kontaktierte er den belgischen Musikwissenschaftler Gaston Knosp, der sich zu dieser Zeit in Vietnam aufhielt und mit Informationen über japanische Musik aushelfen konnte. Außerdem traf sich Puccini im September 1902 mit Oyama Hisako, der Frau 25

Die Stimme eines Schmetter­lings


des japanischen Botschafters in Italien. Sie sang ihm Melodien vor, die er notierte. Außerdem beriet sie den Komponisten hinsichtlich einiger sprachlicher Fehler im Libretto, was jedoch folgenlos blieb. Oyama Hisako bemühte sich auch, ihm Aufnahmen mit japanischer Musik zu verschaffen, diese erreichten den Komponisten jedoch zu spät für seine Arbeit. Als weitere Inspirationsquelle dienten Aufführungen der Theatergruppe um Sada Yacco, die Puccini im Frühjahr 1902 in Mailand erleben konnte. Sie vermittelten Puccini nicht nur einen Eindruck von auf Originalinstrumenten gespielter Musik, sondern auch von japanischem Tanz und Theater. Nach Ansicht des Musikwissenschaftlers Arthur Groos hatte letzteres den größten Einfluss auf Madama Butterfly, allerdings aufgrund eines Missverständnisses: Die Gruppe präsentierte stark gekürzte Versionen bekannter Kabuki-Stücke und berücksichtigte dabei die Rezeptionsbedingungen des europäischen Publikums, das weder Japanisch verstand noch mit den mimischen und gestischen Zeichen dieser Theaterform vertraut war. Entsprechend wurde in den Aufführungen wenig gesprochen; die Handlung konzentrierte sich auf Kämpfe, Tänze und rituelle Selbstmorde, wobei letztere beim europäischen Publikum besonderes Interesse hervorriefen. Dies hatte zur Folge, dass ein verzerrter Eindruck vom japanischen Theater entstand. Viele europäische Besucher hielten es für grob und primitiv und gingen davon aus, dass im japanischen Theater alle Konflikte sehr schnell zu einem tödlichen Ende geführt werden. Als Puccini von seinem Besuch bei Sada Yaccos Truppe zurückkehrte, war er überzeugt davon, die geplante Oper drastisch kürzen und schneller zum rituellen Selbstmord der Hauptfigur kommen zu müssen. Er setzte gegen den Protest seiner Librettisten durch, auf den geplanten dritten Akt im amerikanischen Konsulat zu verzichten. An seinen Verleger Giulio Ricordi schrieb er am 16. November 1902: »Das mit dem Konsulat war ein großer Fehler. Das Drama muss ohne Unterbrechung, gedrängt, wirkungsvoll, entsetzlich einem Ende zulaufen.« Trotz anfänglicher Schwierigkeiten konnte Puccini viele japanische Melodien zusammentragen und in seiner Partitur verwenden. Es handelt sich um Volkslieder und ähnliche populäre Melodien, darunter auch die japanische Nationalhymne »Kimi Ga Yo«. Sie erklingt beim Auftritt des japanischen »Imperialkomissars«. In Europa noch bekannter war wohl das Lied »Miya Sama« (»Verehrter Prinz«), denn es war 1885 in der sarkastischen Operette Der Mikado von Gilbert und Sullivan populär geworden. Puccini nutzte es für den Auftritt des Prinzen Yamadori, der ebenfalls nicht frei von komödiantischen Elementen ist. Zusätzlich zu den gesammelten japanischen Motiven komponierte Puccini eigene Melodien und Motive im Stil der japanischen Elemente. Der Ursprung der einzelnen Melodien war lange ein musikwissenschaftlicher Forschungsgegenstand, und erst 2012 konnten die letzten Rätsel gelüftet werden. Eine große Überraschung war der Ursprung des Motivs, das mit dem ANN-CHRISTINE MECKE

26


Seppuku (dem rituellen Selbstmord) von Cio-Cio-Sans Vater verknüpft ist und das mehrfach in der Oper mit patriarchaler Macht in Zusammenhang gebracht wird. Bisher hatte man angenommen, dass Puccini hier ein unbekanntes japanisches Lied variiert hatte, aber Anthony Sheppard fand heraus, dass der Komponist diese und eine weitere Melodie durch eine mechanische Spieluhr kennengelernt hatte. Es handelt sich um ein chinesisches Lied.

Musikalischer Exotismus Der Terminus »Exotismus« beschreibt eine auf die Schauseite des musikalischen Satzes reduzierte Adaption außereuropäischer Musik, wobei die Imperfektion des Vorhabens den eigentlichen Wesenszug des Exotismus darstellt → THOMAS BETZWIESER

Dass man sich so viel Mühe mit der Musik eines fremden Kulturkreises gab wie Puccini mit der japanischen Musik, war eine relativ neue Entwicklung. Über mehrere Jahrhunderte hatte sich die westliche Kunstmusik zwar gelegentlich »exotischer« Elemente bedient, um einen allgemein »fremden« Klangeindruck in die eigene Musik einzubauen, ganz gleich, ob die verwendeten Melodien, Instrumente oder Harmonien in der dargestellten Kultur wirklich eine Rolle spielten: »Grundsätzlich konnte jeder ungewöhnliche, ›pittoreske‹, ›barbarische‹, oder ›primitive‹ Klangeffekt dazu herhalten, einer Partitur ›exotisches‹ Kolorit zu verleihen«, fasst es Michael Stegemann für das Lexikon Die Musik in Geschichte und Gegenwart zusammen. »Türkische Musik« galt dabei lange als das Paradigma des Exotischen, wobei mit »Türken« prinzipiell alle Bewohner des Osmanischen Reiches gemeint sein konnten. Dank langer Etablierung in der westlichen Musik lassen sich die Kennzeichen des »Alla turca«-Stils recht klar beschreiben: Zu ihm gehören Unisonopassagen, Tonrepetitionen, rhythmische Ostinati sowie ein dominierender Schlagzeugapparat mit bestimmten Instrumenten, die zur Imitation der Janitscharenkapelle heranzogen wurden. Dieser Stil hatte wenig mit tatsächlicher türkischer Musik zu tun und viel mit dem Eindruck, den türkische Musik auf westliche Hörerinnen und Hörer machte, sowie mit dem »wilden« Verhalten, das man Türken zuschrieb. Solche zunehmend konventionalisierten musikalischen Zeichen dienten in der Oper dazu, einen Handlungsort oder eine Figur als »fremd« zu markieren. Andere Schauplätze wie China, Südamerika oder Indien spielten eine marginale Rolle, wobei auch diese wenig spezifisch durch exotistische Standards wie z. B. Unisonopassagen oder große Tonsprünge charakterisiert wurden. 27

Die Stimme eines Schmetter­lings


Erst allmählich etablierte sich im 19. Jahrhundert ein Interesse, das Fremde hinsichtlich einzelner Nationalitäten zu differenzieren, eine musikalische »Couleur locale« zu erfinden. Mit der Pariser Weltausstellung 1889 änderte sich das Verhältnis zu außereuropäischer Musik dann grundlegend. Musik aus weit entfernten Regionen, insbesondere aus den französischen ostasiatischen Kolonien war bei der Weltausstellung erstmals für Europäer zu erleben, und viele Komponisten fanden sich inspiriert, ähnliche Klänge, Harmonien oder Melodien in ihre eigenen Werke aufzunehmen. In dieser Art des musikalischen Exotismus waren die Elemente außereuropäischer Musik nur noch am Rande als Zeichen für die Fremdheit einer Figur, einer Landschaft oder einer Situation interessant. Vielmehr dienten sie als Inspiration für die Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel. Leere Quinten, Ganztonleitern und Pentatonik waren wichtige Elemente, die vor allem im musikalischen Impressionismus ausgelotet wurden. In die gleiche Zeit fällt ein wachsendes Interesse für Japan in Westeuropa und Amerika. Nach der erzwungenen Öffnung des Landes für den internationalen Handel ab 1854 begannen sich nicht nur viele Japanerinnen und Japaner für europäische und amerikanische Kultur, Mode und Kunst zu interessieren, sondern auch in Europa erwuchs ein enormes Interesse an japanischen Kunstgegenständen. Insbesondere europäische Künstlerinnen und Künstler ließen sich von japanischer Malerei und Holzschnittkunst inspirieren. Im Zuge des Japonismus wurde Japan auch in Opern als Spielort und kulturelles Phänomen thematisiert, etwa in Camille Saint-Saëns’ La Princesse jaune (1872), Pietro Mascagnis Iris (1889), Messagers Madame Chrysanthème (1893), sowie Gilbert und Sullivans bereits erwähnte Operette The Mikado (1885). Puccini und seine Librettisten waren also keineswegs Pioniere, als sie sich ab 1901 an die Opernbearbeitung von Madama Butterfly machten. Allerdings bereitete die japanische Musik dem europäischen Publikum weit mehr Probleme als die bildende Kunst. So schrieb der österreichische Fotograf Raimund von Stillfried, der lange in Japan lebte und dessen Portraits von Japanerinnen und Japanern die europäische Wahrnehmung des Landes geprägt haben: »Obwohl nun die japanische Musik nicht schön ist nach unseren Begriffen, so fanden wir doch stets, so oft wir verurteilt waren, z.B. einen japanischen Tanz anzuhören, einiges Analoge mit einem Wiener Walzer, beides geht nämlich in die Füße – das eine zum Tanzen – das andere zum Detail aus Davonlaufen.« Entsprechend zögerlich ging die Rezeption japanischer Mu- Ein einem Holzsik durch europäische Komponisten vonstatten, oft beschränkten sich japa- schnitt von nische Elemente auf wenige Melodiezitate oder den Einsatz von Pentatonik Utagawa Kokunimasa vom Strandleben und Ganztonleitern. Ōiso von Mascagni, mit dem Puccini ein inniges Konkurrenzverhältnis verband, in 1893 zeigt das instrumentierte Iris mit japanischen Instrumenten wie einer japanischen Interesse der Laute (Shamisen) und japanischem Schlagwerk. Auch Puccini orientierte Japanerinnen an europäischer sich teilweise an japanischem Instrumentarium, beispielsweise setzt er ein Bademode. → DIE STIMME EINES SCHMETTERLINGS

28



japanisches Glockenspiel für die Trauungszeremonie ein. Auch Glocken und Tamtam verwendet er in der Absicht, japanische Klänge zu evozieren, ferner könnte man manche Pizzicato-Passagen als Versuch verstehen, die Zupfinstrumente Koto ( japanische Zither) und Shamisen anzudeuten. Obwohl Puccini schon bei seiner ersten Begegnung mit Belascos Theaterstück gesagt hatte, dieses Werk enthalte »das wahre Japan und nicht Iris«, gebrauchte er japanische Musik eher als Rohstoff für sein Kunstwerk, nicht zur Herstellung von »Authentizität« im heutigen Sinne. Selbst die Plausibilität der japanischen Elemente war keine entscheidende Kategorie für ihn, wie sich daran zeigt, dass die sprachliche Kritik der Botschafterfrau am Libretto keine Konsequenzen hatte. Im Libretto finden sich mehrere Verballhornungen und Missverständnisse, das markanteste in dem Fluch »Kami sarundasico«, der im Japanischen gar keinen Sinn ergibt – und das vermutlich gemeinte »Sarutahiko Ōkami« ist kein buddhistischer Fluch, sondern ein shintoistischer Gottesname.

Georges Bigot: Japanische Straßensängerinnen mit Shamisen (1886) ←

ANN-CHRISTINE MECKE

30


Wie Puccini die japanische Kultur zeichnet Musikalischer Exotismus ist der Prozess, in oder durch die Musik (sei sie ›exotisch‹ klingend oder nicht) einen Ort, Menschen oder ein soziales Milieu heraufzubeschwören, die nicht nur fiktiv sind und die sich im Hinblick auf die Einstellungen, Gewohnheiten und Sitten grundlegend vom »Heimatland« oder der »Heimatkultur« unterscheiden. → RALPH P. LOCKE

Puccinis Gebrauch musikalischer Exotismen – also von japanisch konnotierten Instrumenten, Tonfolgen und Harmonien – ist vielfach untersucht und kommentiert worden. Der amerikanische Musikwissenschaftler Ralph P. Locke hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Darstellung »exotischer Kultur« durch Musik nicht unabhängig vom Kontext der Oper betrachtet, also allein auf den Klang reduziert werden kann. So ist beispielsweise die Musik, mit der sich Butterfly und ihre Freundinnen vor ihrem ersten Auftritt ankündigen, nicht im engeren Sinne exotistisch. Und doch wird Butterfly hier als zartes, geradezu schwebendes Wesen, eng verbunden mit ihren Freundinnen und mit der Natur ihres Heimatlandes charakterisiert. Erst im Kontext der Handlung (Goro kündigt die Ankunft eines »weiblichen Schwarms« an, die Frauen erscheinen mit bunten Schirmen) und des Textes (»Über das Meer und die Erde weht ein freudiger Frühlingswind«) wird daraus eine Charakterisierung japanischer Weiblichkeit, die den Spitznahmen »Schmetterling« für die Hauptfigur ebenso zu rechtfertigen scheint wie Pinkertons Beschreibung seiner Braut als »leicht wie zartes geblasenes Glas, wie die Figur auf einem Wandschirm« – übrigens exotistische Standard-Sprachbilder. »Praktisch alle asiatische Weiblichkeit wird hier auf eine Vision von Lieblichkeit reduziert, als wäre sie zum Vergnügen des westlichen Gaffers eingefroren worden«, fasst Locke die Szene zusammen. Während die musikalisch dargestellte Verletzlichkeit und Schönheit der Hauptfigur hier für Sympathie und Mitleid mit ihr sorgt (schließlich hat Pinkerton kurz zuvor angekündigt, diesem zarten Schmetterling notfalls »die Flügel zu brechen«), versetzt uns Puccini in die Situation von Pinkerton, wenn die übrigen Gäste erscheinen: Sie reden so schnell durcheinander, dass man den Inhalt des Gesagten kaum noch verfolgen kann. Außerdem wiederholen sie musikalische Motive scheinbar mechanisch, sodass sie sich zu starken Dissonanzen auftürmen. Damit erleben wir die Verwandtschaft ebenso wie Pinkerton als eine anstrengende, unverständlich daherredende Masse. Einen ganz anderen Aspekt europäischer Vorstellungen von japanischer Kultur verkörpert der Auftritt von »Onkel Bonze«, also eines buddhistischen Priesters aus der Familie, nach der Hochzeitszeremonie. Dieser kündigt sich 31

Die Stimme eines Schmetter­lings


zunächst akustisch »mit seltsamen Schreien« an und soll laut Regieanweisung auch »seltsam« aussehen. Abgesehen von Schlägen des Tamtams ist auch diese Szene frei von musikalischen Exotismen, und doch wird der Onkel als extrem fremd dargestellt. Und noch etwas geschieht in dieser Szene: Blitzschnell ordnen sich die eben noch durcheinander redenden anderen Verwandten dem Urteil des Onkels unter, stimmen in die rituelle Verstoßung ein, schreien nun ebenfalls »Hou!« und verlassen das Fest. Sie erscheinen damit als archaisch agierende, fremde Gesellschaft, ganz ohne exotistische Akkorde oder Tonfolgen. Dass Pinkerton die Familie gleich darauf als CioCio-Sans »tribù« (Stamm) bezeichnet, erscheint da nur folgerichtig – genauso wurde sie in der Oper charakterisiert.

Auch Pinkerton ist ein Fremder Pinkerton ist eine Witzfigur – eine grausame Mischung aus nationalem Chauvinismus und ausbeuterischer Sexualität. → SUSAN MCCLARY

Bei einem kritischen Blick auf exotistische Tendenzen in Madama Butterfly sollte man nicht vergessen, dass auch Leutnant Pinkerton für Puccini und sein zunächst italienisches Publikum zu einer fremden Kultur gehörte. Ebenso wie der japanische Beamte mit der japanischem Hymne vorgestellt wird, ertönt bei Erwähnung der Vereinigten Staaten »The Star-Spangled Banner« heute die amerikanische Nationalhymne und zur Entstehungszeit der Oper bereits offizielle Hymne der US Navy, selbstverständlich nach Art einer Blaskapelle instrumentiert. Puccini reizte ausdrücklich die Darstellung der zwei fremden Welten Japan und Amerika, nicht zuletzt war deswegen auch ein Akt geplant, der in der amerikanischen Botschaft spielt. Während der Arbeit schrieb Puccini an Ricordi, er bemühe sich, »Herrn F. B. [sic] Pinkerton so amerikanisch singen zu lassen wie möglich«. Im Text seiner ersten Arie »Dovunque al mondo« setzt Pinkerton die Eroberung fremder Länder mit der Eroberung von Frauen gleich. Offenherzig bezeichnet er es als Lebensziel für den »Yankee«, sich zu amüsieren, Geschäfte zu machen und »eine Blume jeder Gegend« zu pflücken, um diese Aussage dann umstandslos in die erste Person zu überführen. Puccini hat diese Arie im heiteren Dreiertakt in seinen Notizen als »Boston waltz« bezeichnet, was einerseits Pinkertons Vergnügungssucht unterstreicht, andererseits Puccinis Absicht, im weitesten Sinne »landestypische« Musik zu verwenden. Dass Pinkerton seine eigene Auftrittsarie für die lässige Frage unterbricht, welches von zwei typisch amerikanischen Getränken er seinem Gast servieren ANN-CHRISTINE MECKE

32


Gōntei (Utagawa) Sadahide: Schiffe im Hafen von Yokohama (1862) →

lassen soll, hat auch einen komischen Aspekt – Pinkerton scheint sich nicht nur in Japan, sondern auch in der Gattung Oper nicht recht benehmen zu können. Auch seine Verführungskünste sind alles andere als subtil: Viermal unterbricht er seine Frau im Duett mit einem ungeduldigen »vieni!« (»komm!«), während sie den Sternenhimmel betrachtet. Gleichzeitig zwingt er sie mit musikalischen Mitteln dazu, auf einer höheren Tonstufe weiterzusingen und sich so in die Ekstase eines Liebesduetts zu versetzen. Die Musikwissenschaftlerin Susan McClary kommt zu dem Schluss: »Puccini entwirft Leutnant Pinkerton als unmissverständlichen Flegel. Darüber hinaus berichten die anderen Figuren, dass er ein Flegel ist, und schließlich gesteht er seine Flegelhaftigkeit selbst. Er greift auf die schamlosten Ausdrücke von amerikanischem Patriotismus zurück und hüllt sich sogar selbst in ›The Star-Spangled Banner‹, um seine imperialistische Ausbeutung der Japaner im Allgemeinen und Cio-Cio-Sans im Besonderen zu rechtfertigen.« Wir sollten nicht dem Irrtum erliegen, Puccini und seine Mitstreiter hätten Pinkerton aus zeittypischen Gründen grundsätzlich anders bewertet. Dass ausgerechnet der Tenor im 1. Akt derart rüpelhaft auftritt, sahen die Librettisten von Anfang an kritisch und drängten darauf, ihm im 3. Akt ein größeres Gewicht zu geben, als Belasco es in seinem Schauspiel getan hatte. Illica schrieb an 1901 an Ricordi: »Betrachten Sie zur Untermauerung meiner Aussage die Angelegenheit des Tenors! Wehe! Vergessen wir’s! Pinkerton ist unsympathisch!« In einem späteren Konflikt kurz vor der Uraufführung, als der Librettist Giacosa enttäuscht war, dass Puccini einige von ihm für Pinkerton 33

Die Stimme eines Schmetter­lings


geschriebene Zeilen nicht vertont hatte, bezeichnete Ricordi Pinkerton als einen »amerikanischen Drückeberger: Er ist nervös, fürchtet Butterfly, die Begegnung mit seiner Frau … und zieht sich zurück.« Ein vollständig unsympathischer Tenor, der sich ohne Abtrittssarie verdrückt, widersprach den Konventionen der italienischen Oper aber doch zu sehr, und in den Umarbeitungen nach der unglücklichen Uraufführung bekam Pinkerton seine reumütige, aber weiterhin egozentrische Arie »Addio, fiorito asil«.

Eine Komödie der gescheiterten Assimilation? Die Anfangsszenen des 2. Akts, in denen Butterfly mehrfach in Verlegenheit gebracht wird, lassen den Wunsch der Heldin nach einer Zukunft als Mrs. B. F. Pinkerton wenig aussichtsreich erscheinen. Dennoch bilden diese kleinen Szenen auch den Rahmen für Cio-Cio-Sans Kampf, dem Gefängnis des Orientalismus zu entkommen. → ARTHUR GROOS

Wie zeichnet die Oper nun die verlassene Cio-Cio-San im 2. Akt, deren Charakterisierung sowohl in der zugrundeliegenden Novelle als auch in Belascos Einakter den größten Raum einnimmt? Die Schauspielvorlage enthält zahlreiche irritierende bis komische Momente, die zeigen, wie wenig Cio-Cio-San die amerikanische Kultur gemeistert hat. Viele davon bleiben im Opernlibretto erhalten – Arthur Groos bezeichnet diesen Aspekt des Librettos als eine »Komödie der gescheiterten Assimilation«. So äußert Cio-Cio-San zu Beginn des 2. Akts, dass »der amerikanische Gott« sicher mächtig wäre, aber vielleicht nicht wisse, wo sie wohne, und ihr daher nicht helfen könne. Auch Situationskomik hat Illica im Libretto vorgesehen: Unmittelbar nachdem sie den Konsul in ihrem »amerikanischen Haus« begrüßt hat, fällt dieser »auf groteske Weise« auf ein japanisches Sitzkissen. Cio-Cio-San lässt ihre Dienerin eine Pfeife für den Gast vorbereiten und nimmt erstmal selbst einen Zug – worauf der Konsul die Pfeife ablehnt. Außerdem zeichnet das Libretto Cio-Cio-San als naiv oder sogar infantil: Sie scheint außerstande, abstrakte Ausdrücke wie »Ornithologie« zu begreifen oder auch nur nachzusprechen. Und sie scheint Phantasie und Realität nicht auseinanderhalten zu können, so stark gerät sie in den Bann ihrer Vorstellungen. Ihre Reaktionen sind sprunghaft, »wild« schwankt sie zwischen kindlicher Freude, Trauer und Wut. Zum Teil bestätigt Puccinis Musik diese Elemente. So erklingt betont »japanische« Musik, wenn Cio-Cio-San gerade versucht, sich selbst als Amerikanerin zu präsentieren. Zweimal wird sie in der Oper als Madama ANN-CHRISTINE MECKE

34


Butterfly angesprochen, beide Male korrigiert sie die Anrede zu »Madama Franklin Pinkerton«, wobei ihre Korrekturen von der japanischen Melodie »O-Edo Nishinbashi« (»Die Brücke Nishinbashi in Edo«) begleitet wird, als wollte die Musik ihre Verwurzelung in Japan zum Ausdruck bringen. Während der kurzen Pfeifenszene erklingt das bereits erwähnte, als japanische Musik in Europa wohletablierte »Miya Sama«. Von besonderer Bedeutung für die Charakterisierung Cio-Cio-Sans ist aber ihre Stimme. Schon bei der ersten, zufälligen Begegnung ist Sharpless vom »Geheimnis ihrer Stimme« fasziniert und erkennt darin ernsthafte Liebe. Und auch wir, das Publikum, bekommen über Butterflys Stimme Kontakt zu ihrem Innenleben, das in seiner Komplexität weit über das hinausgeht, was ein traditionell exotistisches Frauenbild ihr zugestehen würde. Es ist Sharpless, der in seiner kurzen Diskussion mit Pinkerton universelle menschliche Gefühle hervorhebt und damit den Leutnant zurechtweist, der seine Braut mit einem Insekt vergleicht. Ihre Stimme ermöglicht es Sharpless, sich unabhängig von allen kulturellen Unterschieden in die Unbekannte hineinzuversetzen – nicht ohne Grund berichtet er, sie nur gehört, aber nicht gesehen zu haben. Allein, dass sie sich in großen Arien ausdrücken darf, erhebt sie über die »kleine Frau Schmetterling«, als die sie auch heute noch in manchen Opernführern bezeichnet wird. Allerdings dauert es eine Weile, bis Puccini ihr diese Möglichkeit gibt: Während sich Pinkerton im 1. Akt mit einer Arie einführen darf, wird Cio-Cio-San zunächst als Solostimme in einem Frauen-Ensemble eingeführt, anschließend beantwortet sie Fragen und Aufforderungen der europäischen Männer. Erst später, im Gespräch mit Pinkerton, verrät sie etwas mehr von sich. Schließlich »kulminiert Butterflys Versuch, eine westliche Identität zu konstruieren, in ihrer ersten Annäherung an eine Arie im westlichen Stil«, wie es Arthur Groos ausdrückt. In »Io seguo il mio destino« berichtet Cio-Cio-San von ihrer Konversion zum christlichen Glauben. Auf dem Höhepunkt »Amore mio« hält sie laut Regieanweisung inne, »als hätte sie Angst, von den Verwandten gehört zu werden«. In diesem Moment bricht im Orchester das (ursprünglich chinesische) Motiv hervor, das zuerst bei der Erwähnung des Schicksals ihres Vaters erklang. Auf diese Weise bringt die Musik erneut den Konflikt zwischen der von Cio-Cio-San gewünschten Identität als Amerikanerin und ihrer »Ursprungskultur« zum Ausdruck. Gleichzeitig lässt Puccini uns eindrucksvoll mitfühlen, welches Risiko Cio-Cio-San mit diesem Schritt auf sich genommen hat. Noch viel stärker wird die Identifikation der Musik mit der Protagonistin in ihrer großen Arie »Un bel dì« im zweiten Akt. Zunächst aber sollten wir uns erinnern, dass Cio-Cio-San als Geisha ausgebildet wurde und entsprechend gelernt hat, Männer mit Schauspiel und Konversation zu unterhalten. In vielen Situationen besteht zumindest die Möglichkeit, Cio-Cio-Sans Verhalten als Teil einer sorgfältig gestalteten Inszenierung zu betrachten. Insbesondere das betont »kindliche« Verhalten aus dem 1. Akt, die »Kinder 35

Die Stimme eines Schmetter­lings


stimme«, mit der sie singen soll, das Ratespiel um ihr Alter sowie der Kommentar »Ich bin schon alt« könnten aus ihrem erlernten Geisha-Repertoire stammen. Im 2. Akt spielt Cio-Cio-San gleich drei Szenen, die explizit als solche gerahmt sind: Neben »Un bel dì« handelt es sich um eine Szene vor dem amerikanischen Scheidungsrichter, die sie für Sharpless, Yamadori und Goro inszeniert, sowie um den Monolog über ihre Zukunft als singende und tanzende Bettlerin in den Straßen von Nagasaki, den sie formal an ihren Sohn richtet, der tatsächlich aber für Sharpless bestimmt ist. Über diese explizit als gespielt markierten Szenen hinaus gibt es noch weitere Situationen, in denen Cio-Cio-San zumindest auch als Schauspielerin zu agieren scheint: In ihrer Verhandlung mit Yamadori und schließlich auch ihr Suizid, den sie so einrichtet, dass Pinkerton sie sterbend oder tot finden muss. Die Unsicherheit darüber, in welchem Ausmaß Cio-Cio-Sans Äußerungen von ihr im Hinblick auf ihre Wirkung auf die zuhörenden Figuren kalkuliert sind, schwebt über dem ganzen Stück, in dem die Protagonistin nur für einen kurzen Moment unmittelbar vor ihrer Selbsttötung allein auf der Bühne ist. Auch »Un bel dì« ist kein Selbstgespräch: Cio-Cio-San macht ihre Zukunftsvision für ihre Dienerin Suzuki lebendig, die nicht mehr an Pinkertons Rückkehr glaubt. Mit dem Befehl »Hör zu!« beginnt Cio-Cio-San, mit »Dies alles wird passieren, das verspreche ich dir« beendet sie ihre kleine Theaterszene, und es ist durchaus denkbar, dass diese Szene ein regelmäßig zur Stärkung der Wartemoral durchgeführtes Ritual zwischen den Frauen ist. Die Arie ist gänzlich parallel zu Pinkertons »Dovunque al mondo« aufgebaut: Auch diese Arie ist die erste im Akt, sie steht in der gleichen Tonart und im gleichen Takt, und beide Arien schildern die Fahrt eines Schiffs. Der Text von Cio-Cio-Sans großer Solonummer verweist erneut auf ihren sprunghaften, infantilen Charakter: Ebenso wie in den Vorlagen verliert sie sich distanzlos in ihrer Vorstellung, imaginiert ein kindliches Versteckspiel – allerdings nur »zum Teil aus Spaß und zum Teil, um beim ersten Wiedersehen nicht zu sterben«. Diesen – weder in der Novelle noch im Schauspiel vorhandenen – Teilsatz deutet Puccini zu einem dramatischen Höhepunkt aus, sodass die emotionale Musik die kokette Bemerkung zu einer tatsächlichen Möglichkeit werden lässt. Während John Luther Long, der Autor der Novelle, Cho-Cho-Sans Phantasie aus der Distanz beobachtet, und auch David Belasco eine komische Szene daraus macht, wie sie mit ihrer Dienerin die Ankunft ihres Mannes imaginiert, führt Puccini die Zuhörerinnen und Zuhörer hinein in die Phantasie der Protagonistin: Unbestimmt wie ein diesiger Blick aufs Meer beginnt die Musik in den leise gespielten hohen Streichern und Bläsern und in der Harfe. Erst mit den Worten »e poi la nave appare« (»und dann erscheint das Schiff«) bekommt die Musik ein solides Fundament. Der Salutschuss des Kriegsschiffes ist ebenso in der Musik zu hören wie die Erinnerung an Pinkertons VerANN-CHRISTINE MECKE

36


sprechen, im nächsten Frühling zurückzukehren. Es ist also nahezu unmöglich, der Phantasie Cio-Cio-Sans distanziert-amüsiert zu folgen, sie beim Hören nicht nachzuempfinden. Damit schließt Puccini den scheinbar unüberwindbaren Zwischenraum »zwischen den Kulturen«, in den die Protagonistinnen der Vorlagen geraten sind. Typische musikalische Exotismen wie Pentatonik, Unisono-Passagen lassen sich zwar finden, sind aber in die harmonisch erweiterte Tonsprache Puccinis integriert. Cio-Cio-San spricht keine andere Sprache als andere weibliche Heldinnen Puccinis. Ihre Gefühle und Vorstellungen sind uns nicht fremder als die von Floria Tosca, Manon Lescaut oder Schwester Angelica.

Kusakabe Kimbei: Japanerin beim Schminken (um 1885) →

37

Die Stimme eines Schmetter­lings


DIE VORGE­STELLTE RÜCKKEHR → John Luther Long, Madame Butterfly »Also, hör zu: Wir werd’n kukken mit Fernglas bis Siff kommt 1. Dann tun wir Kirschpluten uberall hin, und wenn Nacht, wir hängen ja mindestens tausend Laternen auf – ja mindestens tausend! Dann wir warten. Wenn wir ihn sehen den Hukel raufkomm’, so, so, so«, sie hob ihren Kimono an und stiefelte in männlicher Weise durch die Wohnung, »dann! Wir verstecken hinter Shōji 2, wo gibt Löcker für kukken.« Sie suchte mit dem Blick nach ihnen. »Oh, alle ssurepariert! Aber«, sie stieß ihren Finger wild durch das Papier, »wir maken snell welche, aha, haha! So!« Sie machte ein weiteres für das Dienstmädchen. Beide stellten ihre nächste Anwandlung mit den Augen an den Löchern dar. »Dann wir liegen still wie Mäuse und lassen denken, wir weg. Oder vielleicht besser lassen klein’ Nachricht: ›Sind weg für immer. Sayonara, Butterfly‹? Nein, das zu lanke fur ihn. Er wird bose bei erste Wort und sagt Saken über Teufel und Hölle und andere laute Sprache. Dann gute Moment, bevor er wird zu bose, schnell raus und an sein Hals, aha!« Auch dies wurde anschaulich dargestellt. Aber ach, das Dienstmädchen war zu realistisch. »Sagmal! Nicht du springen an sein Hals, nur ich.« Cho-Cho-San machte eine verzückte Pause. Aber das Dienstmädchen wollte keine. Sie hatte schon erlebt, wie sie sich in solch göttlicher Albernheit ergangen hatten – wie zwei leichtsinnige Kinder – aber noch nie mit so viel dramatischer Verheißung. »Oh, und was er sagt dann«, bettelte sie mit stürmischem Interesse, »und was er macken?« Der Beifall des Dienstmädchens verschaffte Madame Butterfly neue Energie. »Ahhhh!«, seufzte sie. »Er nicht saken was, nur kussen, oh, ja wohl drei, sieben, zehn, tausendmal! Und umarmen zweitausend Mal, ja mindestens – das mackt er. Bis wir sagen aufhoren, aha, ha, ha! Sonst konnte uns toten! Das schlecht, sterben von kussen.« 1

2

John Luther Long lässt Cho-Cho-San in einem von grammatikalischen und Aussprachefehlern durchsetztem Englisch sprechen, in dem der amerikanische Slang Pinkertons deutlich erkennbar ist. Diese Redeweise mit ihren zahlreichen Konnotationen kann in der deutschen Übersetzung nur unzureichend angedeutet werden. Butterfly spricht auch mit ihrer Dienerin und mit ihrem Kind Englisch. Dieses Verhalten wird bei Long damit erklärt, dass Pinkerton ihr verboten hat, im Haus japanisch zu sprechen. Papierbespannter Wandschirm / Raumteiler

38


→ Giuseppe Giacosa und Luigi Illica, Madama Butterfly

CIO-CIO-SAN

Eines schönen Tages sehen wir einen Rauchfaden am fernsten Horizont aufsteigen. Dann erscheint das weiße Schiff, fährt in den Hafen ein, donnert seinen Salut. Siehst du? Er ist gekommen! Ich gehe nicht hinunter, ihm entgegen. Ich nicht. Ich stelle mich dorthin, an den Rand des Hügels und warte, warte lange Zeit, und es macht mir nichts aus, das lange Warten. Aus dem Gedränge der Stadt ist ein Mann, ein kleiner Punkt herausgetreten und schlägt den Weg zum Hügel ein. Wer wird es sein? Wer wird es sein? Und was wird er sagen, wenn er ankommt? Was wird er sagen? Er wird »Butterfly« rufen von Weitem. Ohne Antwort zu geben bleibe ich versteckt, zum Teil aus Spaß und zum Teil, um beim ersten Wiedersehen nicht zu sterben, und sehr in Sorge wird er rufen: »Kleines Ehefrauchen, Duft der Verbene« – die Namen, die er mir bei seiner Ankunft gab. zu Suzuki

All dies wird passieren, das verspreche ich dir. Behalte du deine Angst, ich erwarte ihn in festem Glauben. 39




Yoko Kawaguchi

DIE GEISHA

und ihre Wahr­nehmung in der westlichen Kultur


Als Japanerin, die in den 1960ern und 70er Jahren in Nordamerika aufwuchs, hat es mich immer sehr irritiert, dass die Geisha das offenbar wichtigste Bild war, das mit Japan und japanischer Kultur verbunden wurde. Diese trippelnde, lächelnde Personifikation weiblicher Unterordnung machte mich wütend. Ich war genervt von der Hartnäckigkeit eines so anachronistischen Japanbilds. Darüber hinaus hasste ich die Unterstellung, dass die Japaner die wahre Natur des Geishaberufs verschleierten. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass die Geisha mir als Maßstab für exotischen Zauber entgegengehalten wurde, den ich nie erfüllen konnte. Aber was wusste ich damals schon über echte japanische Geishas? Ich reagierte auf ein westliches Konstrukt – ein westliches Bild von fernöstlicher Weiblichkeit, das auf mehr oder weniger präzisen Berichten aus japanischen Vergnügungsvierteln beruhte, in denen Geishas wohnten, und auf westlichen Anschauungen über die Japaner, ihre Kultur und ihre Frauen allgemein, so wie sie von Generationen von Japanbesuchern mitgebracht worden waren. Der Aufstieg der Geisha zur Weltberühmtheit war nicht so gradlinig, wie man heute vermuten könnte. Während der jahrhundertelangen Isolation Japans von der ersten Hälfte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wusste man lediglich, dass zum Sozialsystem des Landes eine Klasse von lizensierten Prostituierten gehörte, die in offiziell genehmigten Bordellvierteln lebten. Berichte über solche Frauen erschienen in den wenigen Darstellungen, die während dieser Zeit im Westen veröffentlicht wurden, hauptsächlich von Angestellten der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Verenigde Oostindische Compagnie, VOC), die damals neben wenigen chinesischen Händlern die einzigen Ausländer in Japan waren. Die VOC unterhielt einen Handelsposten auf Dejima (Dishema), einer kleinen, künstlich angelegten, fächerförmigen Insel vor der Küste der Hafenstadt Nagasaki, während die Chinesen ein eigenes ummauertes Gebiet auf dem nahegelegenen Festland hatten. Ausländer mussten in ihrem jeweiligen Handelsposten bleiben und durften ihn nur unter bestimmten Auflagen verlassen. Weil es ihnen auch untersagt war, ihre eigenen Frauen mit nach Japan zu bringen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als um eine professionelle Kurtisane zu bitten, wenn sie den Wunsch nach weiblicher Gesellschaft hatten. Diese wurde dann aus dem offiziellen Bordellviertel der Stadt zu ihnen geschickt. Viele Berichte von Angestellten der VOC über ihr Leben auf Dejima stellen die Organisation, die für stetige Versorgung der Handelsposten mit Frauen sorgte, sehr unverblümt dar. Als Japan in der Mitte des 19. Jahrhunderts den neugebauten Hafen von Yokohama für den internationalen Seeverkehr öffnete, versuchten die japanischen Behörden, in der Stadt ein System der geregelten Prostitution zu errichten, ähnlich dem in Nagasaki lange etablierten. Es gab aber einige Unterschiede: Zum Beispiel war es den Ausländern in Nagasaki früher verboten, die Bordellviertel selbst zu besuchen, sie mussten auf die Frauen warten, die zu ihnen gebracht wurden. In Yokohama wurden sie jetzt hingegen 43

YOKO KAWAGUCHI


in das brandneue Bordellviertel gelockt, innerhalb dessen Grenzen sie ihre aufgestaute Energie loswerden konnten. Sex war nicht das einzige Vergnügen, das im Bordellviertel angeboten wurde. Die Kunden konnten essen und trinken und dabei die Unterhaltung von professionellen Musikerinnen und Tänzerinnen genießen. Diese weiblichen Unterhaltungskünstlerinnen, als Geisha oder Geiko bezeichnet, waren eine relativ neue Ergänzung der Bordellviertel Japans. Erst in den 1730er Jahren, als die Glanzzeit der gut ausgebildeten, hochkultivierten (und äußerst kostspieligen) Tayū-Klasse der Kurtisanen zu Ende ging, tauchten erstmals Geishas auf. Ihre Rolle bestand darin, Bordellkunden zu unterhalten, während sie auf die Kurtisane warteten, mit der sie einen Termin hatten. Es gab auch männliche Unterhaltungskünstler, die wartende Kunden gleichfalls mit Scherzen, Liedern und Tänzen unterhielten; tatsächlich wurde der Ausdruck »Geisha« ursprünglich für beide Geschlechter verwendet und entwickelte sich dann allmählich zu einer Bezeichnung speziell für weibliche Künstlerinnen (auch wenn in weiten Teilen von Japan der Name »Geiko« vorherrschend blieb), während die Männer »otoko geisha« (männliche Geisha), hōkan oder taikomochi genannt wurden. YOKO KAWAGUCHI

44


Blick auf Nagasaki um 1836, Seidenmalerei aus der Werkstatt von Kawahara Keiga: vorgelagert die halbrunde, künstliche Insel Dejima, auf der sich der holländische Handelsposten befand. Auf der rechteckigen künstlichen Insel dahinter befanden sich Lagehäuser der chinesischen Händler. ←

45

Für die hauptsächlich männlichen Bewohner der neuen Ausländerquartiere, die nun in den wenigen japanischen Hafenstädten aus dem Boden schossen, waren Frauen ein zentrales Bedürfnis, insbesondere Frauen, die bereit waren, mit Männern aus dem Westen zu schlafen. Die Hauptsorge vieler Neuankömmlinge bestand schlicht darin, wie sie solche Frauen erkennen und sich eine Geliebte organisieren konnten. Die Befehlshaber und Militärärzte der in Japan stationierten westlichen Truppen – ganz zu schweigen von christlichen Missionaren – machten sich eher Sorgen über die moralischen Folgen solcher Kontakte und über die körperliche Gesundheit ihrer Landsleute, denn ein Ausbruch von Geschlechtskrankheiten war eine Bedrohung. In dieser Hinsicht unterschied sich die Sorge der westlichen Ausländer über den Umgang der japanischen Behörden mit Prostitution nicht wesentlich von den Sorgen der Behörden in europäischen und nordamerikanischen Städten über den Umgang mit der weitverbreiteten Prostitution vor ihrer Haustür. Prostitution und ihre Wirkung auf die moralische und körperliche Gesundheit von Männern, insbesondere jungen Männern, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein drängendes, viel diskutiertes Thema in vielen westlichen Ländern. Was allerdings umstritten unter den westlichen Kommentatoren war, war die Art, in der die japanischen Behörden das Problem angingen: durch Regulation ebenso auf der Angebotsseite (durch die Einrichtung offiziell genehmigter, überwachter Bordellviertel in den Städten) als auch auf der Nachfrageseite (indem die Kunden ausschließlich zu diesen Vierteln geleitet wurden). Viele westliche Beobachter – wenig erstaunlich: in erster Linie Kirchenleute und Missionare – widersprachen dieser Praxis aus moralischen Gründen. Sie klagten, es sei schädlich für das moralische Wohlergehen der Männer (ob einheimisch oder ausländisch), dass die Behörden, die die öffentliche Moral verbessern und Vorbildfunktionen einnehmen sollten, Prostitution in irgendeiner Form billigten. Andere Teile der westlichen Community kritisierten die regulierte Prostitution hingegen aus einem anderen Blickwinkel: als einen Angriff auf ihre persönliche Freiheit, als dreisten Versuch der japanischen Behörden, ihr Handeln einzuschränken. Jedenfalls scheiterte letztlich der offizielle japanische Plan, die Menge und die Art von Kontakten zwischen Ausländern und einheimischen Frauen zu kontrollieren, nicht zuletzt weil sich herausstellte, dass eine erhebliche Anzahl von jungen Frauen zwar nicht an der legalen Prostitution teilnahm, aber bereit war, ein Verhältnis mit einem ausländischen Mann einzugehen, überwiegend um finanzieller Vorteile für sich selbst oder für ihre Familien willen. Diese Frauen wurden innerhalb der Ausländergemeinschaft oft als »Mousmee« bezeichnet, was vom japanischen Wort »musume« stammt und »Tochter« oder allgemein »junge Frau« bedeutet. Zahleiche einheimische Vermittler tauchten auf, die als Kuppler zwischen interessierten Beteiligten agieren wollten. Die japanischen Behörden akzeptierten diese Geschäfte Die Geisha


schließlich, so wie sie andere Regelverstöße über Jahrhunderte ebenfalls Holländer und stillschweigend gebilligt hatten, wie eigentlich illegale Vergnügungsviertel japanische Kurtisane (Holzin vielen japanischen Städten. schnitt von ChoEisho, um Die offensichtliche Fülle williger Kandidatinnen trug zur westlichen De- kosai 1800). Links und batte über die Sittlichkeit von Japanerinnen bei. Wenn westliche Besucher rechts der Figu»Sprechblajungen japanischen Frauen begegneten, hatten sie oft Schwierigkeiten, ihr ren sen«-Text: Dem Auftreten, ihre Gesten und ihr Verhalten insgesamt zu interpretieren. Weil Holländer sind Gelegenheitsbesuchern nur selten gestattet wurde, Frauen aus den oberen unverständliche, ausländisch Klassen zu treffen, begegneten sie ausschließlich Frauen, die im Gastgewer- klingende Silben den Mund be arbeiteten, wie wir heute sagen würden. Dazu gehörten Geishas, Teehaus- in gelegt, während kellnerinnen und Dienerinnen in Gaststätten und Hotels. Viele westliche die Kurtisane »Er ist so Besucher waren überrascht, wie viel Sittsamkeit diese Frauen bewahren sagt: lang und dick. konnten, obwohl sie berufsbedingt eine offene, eifrige Freundlichkeit kulti- Ich hoffe, es nicht eng.« vieren mussten. Waren die meisten dieser Mädchen also wahrhaft züchtig wird → und tugendhaft? Oder gehörte Heuchelei zum normalen Verhalten japanischer Frauen? Westliche Beobachter betrachteten andere japanische Bräuche, wie zum Beispiel das Baden in Badehäusern, als Beleg für die sexuelle Sittenlosigkeit der Japaner. Gleichzeitig gelangte das Wort »Mousmee« (in verschiedenen Schreibvarianten) mit einer Konnotation von sexueller Freizügigkeit in die englische und französische Sprache. Während das Wort im Englischen nicht mehr gebraucht wird, erhielt sich der Ausdruck »Mousmé« im Französischen mit der Bedeutung »Freundin« oder »Geliebte«. Inzwischen erfasste eine Begeisterung für japanische Dinge Europa und Nordamerika, nachdem immer mehr japanische Kunst und japanisches Handwerk aus dem fernen Osten importiert worden waren. Das Interesse an japanischer Kunst hatte bei einer Schar von Künstlern und Sammlern in London und Paris der später 1850er und 60er Jahre begonnen, aber als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Aufstieg der Warenhäuser den Massenkonsum ankurbelte wurden Waren aus Japan und im Westen hergestellte Artikel im sogenannten japanischen Stil für einen wachsenden Teil der Bevölkerung zunehmend erschwinglich. Das steigende Interesse an Japan trug zur Popularisierung des Geisha-Bildes bei. In Künstlerkreisen diskutierten Kenner japanischer Kunst wie Edmond de Goncourt, wie die Bordellviertel Japans in Holzschnitten der großen Ukiyo-e-Künstler dargestellt wurden. Aber wahrscheinlich hat kein einzelnes Kunstwerk eine größere Rolle bei der Verbreitung des Geisha-Bildes im Westen geführt wie die Operette The Geisha, die im Frühjahr 1896 am Daly’s Theatre in London herauskam und danach in ganz Europa in Übersetzungen gespielt wurde. Produzent des Stücks war der Theatermanager George Edwardes, der zuvor für den Impressario Richard D’Oyly Carte gearbeitet hatte, unter anderem während der Zeit der frühen Savoy Operas von Gilbert und Sullivan, zu denen auch der Mikado zählte. Edwardes wusste, wie er die Mode des Japonismus zu seinem Vorteil YOKO KAWAGUCHI

46


nutzen konnte. Mit The Geisha, der geschickten Verbindung eines etwas schlüpfrigen Themas mit einem harmlosen Theaterspektakel, gelang es ihm, riesige Zuschauermengen anzulocken. In Japan selbst verdrängte 1868 eine neue Kaiserherrschaft das TokugawaShogunat und beendete damit die rund 250jährige Herrschaft dieser Regierungsform über das Land. Viele Sozialreformen wurden durchgeführt, darunter auch Veränderungen der Prostitutionsgesetze. Eine Folge dieser Veränderungen war das Verschwinden der höherklassigen Kurtisanen und die Zunahme der Bedeutung der Geisha. Der Bedarf nach teuer und exklusiver Unterhaltung wurde nun von hochglanzpolierten, gut ausgebildeten Geishas gedeckt, während viele andere mit geringerem gesellschaftlichem Ansehen weniger gut betuchte Kunden bedienten. Gleichzeitig wurde die Geisha, von der man wusste, dass die meisten wie Prostituierte durch Abhängigkeit zu ihrer Beschäftigung genötigt wurden, außerhalb Japans zunehmend als Repräsentantin der machtlosen Opfer des japanischen Systems der legalisierten Prostitution wahrgenommen. 47

Die Geisha


48


Utagawa Hiroshige II: Ausländerviertel in Yokohama (1861) ← Tsukioka Yoshitoshi: Blick in ein Bordell in Tokyo (1870) ↓

49


Aber zur Ausbildung der Geisha gehörte auch, dass sie liebenswürdig zu Männern war. So konnte sie einerseits als Opfer eines grausamen Systems gesellschaftlicher Unterdrückung angesehen werden (ein System, das ihrer Familie erlaubte, ihre Freiheit bei einem Geisha-Unternehmen gegen Geld einzutauschen) und andererseits als Inbegriff idealer Weiblichkeit: eine selbstlose Tochter oder Schwester, die bereit war, sich für das Wohl ihrer verarmten Familie zu opfern, und gleichzeitig eine Frau, die speziell darauf ausgerichtet war, Männern zu gefallen. In dieser Hinsicht wurde die Geisha im Westen weniger als eine außergewöhnliche Art japanischer Frau angesehen, sondern als typisch oder sogar exemplarisch, wenngleich ihre Duldsamkeit schon strenger geprüft worden war als die vieler ihrer Landsfrauen. Der bedeutende Japanologe Basil Hall Chamberlain berichtet in der zweiten Auflage seines Kompendiums Things Japanese (1891), dass ein »wohlbekannter Autor« von Büchern über Japan ihn in einem Brief gefragt habe, ob die Unterdrückung von Frauen in der japanischen Gesellschaft insgesamt eine schlechte Sache sein könnte, wenn sie zu solch sanften, zuvorkommenden und anspruchslosen Exemplaren dieses Geschlechts führe, so ganz anders als die »diamantharten« amerikanischen Frauen, die »prächtigen, berechnenden, scharfsinnigen abendländischen Circen unserer künstlicheren Gesellschaft«.

Darstellerinnen der Operette Die Geisha im Carltheater Wien 1897 ←

YOKO KAWAGUCHI

50


In den vergangenen 150 Jahren wurde die Geisha im Westen in unterschiedlichem Licht gesehen. Zahlreiche widersprüchliche Charakteristika wurden ihr zugeschrieben: Sittsamkeit, sexuelle Zügellosigkeit, Affektiertheit, Aufrichtigkeit, Fügsamkeit, Unterwürfigkeit, Willensschwäche, Selbstlosigkeit, Mut und ebenso kindisches wie mütterliches Verhalten. Sie wurde als Musterbeispiel für den Frauentyp hochgehalten, der die Familie über ihre eigenen Bedürfnisse stellt und als den Prototyp einer narzisstischen StarUnterhalterin. Inzwischen schaffte das Kokkai (die gesetzgebende japanische Nationalversammlung) die alte Praxis ab, Frauen und Mädchen zur Arbeit in Bordellen und Geisha-Häusern zu verpflichten, indem es 1956 das AntiProstitutionsgesetz verabschiedete, das die Unterstützung von Prostitution verbietet. Erlaubte Prostitutionszonen – die neueste und letzte Metamorphose der Bordellviertel der alten Zeit – verschwanden 1958 aus japanischen Städten. Mit der schnellen Verwestlichung des Geschmacks in den 1960ern schwand auch der Bedarf an die durch Geishas angebotene Unterhaltung dahin. Nur der exklusivste Bereich des Geisha-Geschäfts hat überlebt und bedient einen kleinen Kreis von Anhängern. Geisha ist heute gewählter Beruf und nichts, zu dem Frauen durch Armut gezwungen werden wie früher. Dennoch bleibt es ein Beruf, in dem die Fähigkeit einer Frau verkauft wird, freundlich und gefällig anderen (das heißt: Männern) gegenüber zu sein, anstatt das eigenständige Denken und die Durchsetzungskraft zu fördern. Das Thema der Geisha führt immer wieder zu Diskussionen über die Streitfrage, wie Frauen sich im Verhältnis zu Männern positionieren sollten. Die Geisha ist nur eines von mehreren Bildern, die in der Vergangenheit im Westen benutzt wurden, um Vorstellungen von verschiedenen Aspekten des japanischen Nationalcharakters zu vermitteln. Der Samurai beispielsweise war hilfreich, um daran zu erinnern, dass die Japaner auch einen aggressiven und kriegerischen Zug haben. Mit Japans Aufstieg zu einer ernstzunehmenden Regionalmacht in Ostasien im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts – eine, mit der Großbritannien 1902 eine Allianz zur Eindämmung von Russlands Aktivitäten als sinnvoll einschätzte – wurde Japan nicht mehr ausschließlich als schwaches, feminisiertes Wesen porträtiert.

51

Die Geisha


GELD → Pierre Loti, Madame Chrysanthème [Kurz vor seiner Abreise begibt sich der Erzähler noch einmal in das Haus, in dem er mit Chrysanthème gelebt hat.] Ich steige die Treppe auf Zehenspitzen hoch – und halte an, als ich Gesang oben aus meinem Zimmer höre. Das ist Chrysanthèmes Stimme, und das Lied ist fröhlich! Ich bin verwirrt, ernüchtert und bereue beinahe, dass ich mir die Mühe gemacht habe, herzukommen. Ein Geräusch ist zu hören, das ich mir nicht erklären kann: Dschinn! Dschinn! Ein sehr reines, silbriges Klirren, wie wenn man Münzen kräftig auf den Boden wirft. Ich weiß, dass dieses schwingende Haus alle Geräusche verstärkt, in der Mittagsruhe ebenso wie in der Nacht, aber egal, ich will wissen, was meine Mousmé 1 macht. Spielt sie das Wurfscheibenspiel 2, das Froschspiel 3, oder »Kopf oder Zahl« ? Nichts davon! Ich glaube es erraten zu haben und steige die Treppe nun noch vorsichtiger hinauf, auf allen vieren und mit indianischen Vorsichtsmaßahmen, um mir das letzte Vergnügen zu verschaffen, sie zu überraschen. Sie hat mich nicht kommen hören. In unserem großen weißen Zimmer, das leer und ausgefegt ist, in dem man die helle Sonne, den warmen Wind und die gelben Blätter der Gärten wahrnehmen kann, sitzt sie mit dem Rücken zur Tür. Sie ist straßenfertig angezogen und bereit, zu ihrer Mutter zu gehen, den rosa Sonnenschirm an ihrer Seite. Auf dem Boden sind all die schönen Piaster verteilt, die ich ihr verabredungsgemäß gestern Abend geschenkt habe. Mit der Geschicklichkeit eines alten Geldwechslers tastet sie sie ab, dreht sie, wirft sie auf den Boden und schlägt sie neben ihrem Ohr mit einem kleinen Hammer an – und dabei singt sie ein zwitscherndes Lied, das sie sicher improvisiert, während sie ihrer Tätigkeit nachgeht. Also, die letzte Szene meiner Ehe ist noch japanischer als ich sie mir hätte vorstellen können! Ich möchte lachen. Wie naiv war ich, als ich mich von ein paar gelungenen Worten von ihr einnehmen ließ, die sie gestern neben mir hergehend gesagt hatte – ein netter kleiner Satz, der durch die Stille um zwei Uhr nachts und den Zauber der Nacht verschönert worden war. Ach nein, weder für Yves noch für mich ist jemals ein Gefühl in diesem kleinen Gehirn, diesem kleinen Herz entstanden. Als ich sie lange genug angesehen habe, rufe ich: »Hey! Chrysanthème!« Sie dreht sich verwirrt um und bekommt rote Ohren, weil sie bei ihrer Arbeit gesehen wurde. Ihre Verwirrung ist jedoch falsch, denn ich bin sogar froh. Die Angst, sie traurig zu verlassen, hatte mir fast ein wenig Schmerz verursacht, und es gefällt mir viel besser, wenn diese Ehe so endet, wie sie begonnen hat: als Scherz. 52


→ David Belasco, Madame Butterfly: A Tragedy of Japan PINKERTON

lauscht dem Lied, das von oben kommt Sie beobachtet das Schiff. Er bemerkt den mit einem Wandschirm abgeteilten Teil des Raums. Mein Zimmer … wie früher … mein Stuhl. hebt die Puppe vom Boden auf, die das Kind hat fallen lassen Armes Kind! Armer kleiner Teufel! Sharpless, ich hatte gedacht, mit Überschreiten der Schwelle liegen die paar Tränen und Seufzer und das höfliche Bedauern hinter mir. Einen Moment lang wollte ich zurückkehren, aber ich sagte mir: »Mach das nicht, sie ist schon dabei, die Goldstücke zum Klingen zu bringen, um sie auf Echtheit zu überprüfen.« Sie kennen ja diese Art von japanischen Mädchen. […] Sharpless, Gottseidank kann ich eine Sache tun: Geld. Er zieht einen Umschlag mit Geld heraus.

SHARPLESS

Was hat Ihre Frau gesagt, Pinkerton?

PINKERTON

Nun, es war ziemlich hart für sie, nach erst vier Monaten Ehe. Sharpless, meine Kate ist ein Engel, sie hat angeboten, das Kind zu adoptieren. Ich musste ihr versprechen, mit Butterfly zu reden.

BUTTERFLY

von oben rufend Suzuki?

SHARPLESS

Sie kommt. Pinkerton versteckt sich instinktiv hinter dem Wandschirm.

BUTTERFLY

mit dem schlafenden Kind auf dem Rücken die Treppe herunterkommend Suzuki? Komm für Bebby. küsst das Kind Schön klein Auken, gekommen aus blau Himmel, aber ganz zu.

PINKERTON

beiseite zu Sharpless, die Augen fest auf Mutter und Kind gerichtet Ich kann das nicht ertragen. Ich gehe. Geben Sie ihr das Geld.

← 1 ← 2 ← 3

53

Mousmé: von japanisch »Musume« = Tochter / junge Frau: Bezeichnung von in Japan lebenden Ausländern für Geliebte u.ä., vgl. dazu auch den Artikel von Yoko Kawaguchi Jeu de palets: Französisches Geschicklichkeitsspiel, bei dem kleine Metallscheiben auf ein Ziel geworfen werden. Jeu du crapaud / Jeu de la grenouille: Französisches Geschicklichkeitsspiel, bei dem Metallscheiben in Löcher verschiedener Größe geworfen werden.


Mit traurigem, aber unerschüttertem Gemüt teile ich dir mit, dass ich gelyncht wurde! Diese Kannibalen hörten sich keine einzige Note an. Welch eine schreckliche hasstrunkene Orgie des Wahnsinns! Aber meine Butterfly bleibt, was sie ist: die gefühlteste, ausdrucksvollste Oper, die ich je geschrieben habe. → Giacomo Puccini nach dem Uraufführungsfiasko an Camillo Bondi, 18. Februar 1904



DIE DURCHWACHTE NACHT

Es war eine Sensation, wie in David Belascos Schauspiel 1900 das Vergehen einer Nacht im Zeitraffer auf die Bühne gebracht wurde: 14 Minuten lang lösten sich verschiedene Lichteffekte ab, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Das Autorenteam der Oper übernahm diese Situation, nun unterstützt durch musikalische Mittel.


→ David Belasco, Madame Butterfly: A Tragedy of Japan Madame Butterfly hebt das Kind hoch, gibt ihm eine Puppe und tupft etwas Rouge auf seine Wangen. Auch auf ihre eigenen Wangen fügt sie noch etwas Rouge hinzu.

57

BUTTERFLY

Nun ssau nach Papa! Sie gibt dem Kind die Flagge in die Hand, hebt es zum Fenster hoch und macht drei Löcher in den Shōji, eines ganz unten für das Kind. Als die drei durch den Shōji schauen, geben sie genau das Bild ab, das sie zuvor beschrieben hat. Während der Wache bricht die Nacht herein. Suzuki entzündet die Bodenlichter, die Sterne kommen heraus, die Dämmerung bricht an, die Bodenlichter verlöschen eins nach dem anderen, die Vögel beginnen zu singen, und als es Tag wird, sieht man Suzuki und das Kind auf dem Boden schlafen, aber Madame Butterfly ist wach und hält mit blassem und angespanntem Gesicht weiter Ausschau. Sie streckt ihre Hand nach Suzuki aus und weckt sie.

SUZUKI

kommt auf die Beine, überrascht im Raum umhersehend Er nicht kommen?

BUTTERFLY

Nein.

SUZUKI

mitleidig Oh!

BUTTERFLY

mit gebieterischer Geste Nicht ›Oh‹! Er kommen … Bring frisse Blumen. Sie sammelt die Laternen ein, während Suzuki frische Blumen hereinbringt. Madame Butterfly zerreißt die Rosen und wirft die Blätter in Pinkertons Zimmer. Dann zeigt sie auf den oberen Teil des Hauses. Nun ich ssaue von klein Aussichtsplatz. Sie nimmt das Kind hoch, dem die Puppe aus der Hand fällt. Bestes Fruhstuck der Welt muss fertig sein, wenn er kommt. Sie verlässt das Zimmer und Suzuki bereitet das Frühstück vor. Die Bühne ist leer. Sehr leise ist das Lied »I call her the Belle of Japan« zu hören, das Pinkerton Cho-Cho-San beigebracht hat. Madame Butterfly singt, damit sie nicht weinen muss. Pause. Jemand klopft an der Tür.


→ Giuseppe Giacosa und Luigi Illica, Madama Butterfly BUTTERFLY

mit kindlicher Grazie gibt sie Suzuki den Wink, den Shōji zu schließen In den Shōji machen wir drei kleine Löcher zum Durchschauen, und wir bleiben still wie Mäuschen und warten. Suzuki schließt den Shōji im Hintergrund, während es immer dunkler wird. Butterfly führt das Kind zum Shōji, in den sie drei Löcher macht: ein hohes für sich, ein etwas niedrigeres für Suzuki und ein drittes, noch niedrigeres für das Kind, das sie auf ein Kissen sitzen lässt und anweist, aufmerksam durch das für es vorbereitete Loch zu schauen. Nachdem sie die beiden Lampen in die Nähe des Shōji gebracht hat, hockt sich auch Suzuki hin und späht ebenfalls hinaus. Butterfly stellt sich vor das höchste Loch und späht hindurch, wobei sie unbeweglich bleibt, starr wie eine Statue. Das Kind, das sich zwischen seiner Mutter und Suzuki befindet, schaut neugierig hinaus. [Fernchor, gesummt] Es ist Nacht, Mondstrahlen beleuchten den Shōji von draußen. Das Kind schläft ein und kippt nach hinten, sodass es ausgestreckt auf dem Kissen liegt; auch Suzui schläft, bleibt aber in der Hocke. Nur Butterfly bleibt immer aufrecht und bewegungslos. Der Vorhang fällt langsam. Der Vorhang hebt sich. Butterfly späht noch immer unbeweglich nach draußen. Das Kind schläft auf dem Kissen ausgestreckt, auch Suzuki schläft, in sich zusammengesunken.

MATROSEN

von der Bucht, sehr weit entfernt Ohé! Ohé! Lärm von Ketten, Ankern und Seemanövern. Vogelgezwitscher aus dem Garten. [Glocken von der Bühne] Die Morgendämmerung beginnt. Der Morgen dämmert rötlich. Sonnenaufgang. Draußen scheint die Sonne.

58


SUZUKI

fährt aus dem Schlaf hoch Die Sonne scheint schon! Sie erhebt sich und klopft Butterfly auf die Schulter Cio-Cio-San …

BUTTERFLY

schüttelt sich und sagt vertrauensvoll Er wird kommen, er wird kommen, du wirst sehen. Sie sieht das schlafende Kind, nimmt es auf den Arm und geht in Richtung des linken Zimmers.

SUZUKI

Gehen Sie hinauf und ruhen sich aus, Sie sind erschöpft. Wenn er kommt, werde ich Sie rufen.

BUTTERFLY

das Treppchen hinaufgehend Schlaf, mein Liebling, schlaf an meinem Herzen. Du bist bei Gott und ich bei meinen Schmerzen. Für dich leuchten die Strahlen der goldenen Sterne: Schlaf, mein Kind! Sie geht in das linke Zimmer

SUZUKI

traurig den Kopf schüttelnd Arme Butterfly.

BUTTERFLY

von fern Schlaf, mein Liebling, schlaf an meinem Herzen. Sie kniet vor der Buddha-Statue nieder. Jemand klopft leise an die Eingangstür.

59


Oliver Láng

MADAMA BUTTERFLY AN DER WIENER STAATSOPER


Hans Ludwig Fischer: Stadtsilhouette von Wien mit Stephansdom, blühendem Zweig und Schmetterlingen. Bild in Form eines aufgespannten Fächers (um 1900) ←

Man schreibt 1910. Erstmals erscheint die deutsche Übersetzung der Butterfly-Novelle von John Luther Long, die junge Wiener Schriftstellerin Marianne Trebisch-Stein hat sie sorgsam aus dem Englischen übertragen. In ihrem Vorwort schwärmt sie nicht nur von den »farbenprächtigen, lebendigen Bildern« der Vorlage, der Leser bekommt auch noch einmal das westlich-konventionelle Bild Japans vorgesetzt: »Familie bedeutet dort viel mehr als hier«, erfährt man unter anderem, oder: »Japanerinnen weinen sehr selten.« Und für besonders Interessierte findet sich am Ende des Buches ein Glossar mit kurzen Erklärungen zur japanischen Kultur, von Musume bis Fusuma. Doch ist inzwischen die Wahrnehmung Japans auch in Wien, verstärkt durch den stark rezipierten russisch-japanischen Krieg, geschärft und durchaus mehrschichtig: Frönen die einen, etwa bei Volksfesten à la Japan, noch dem konventionellen Bild, wehren sich andere entschieden gegen eine klischierte Darstellung des Landes. So empört sich die liberale Wiener Zeitung Zeit über allzu verkitschte Abbildungen: »Die Japaner, die wirklichen, nicht die Bühnenjapaner, ärgern sich über dieses Theaterjapan, das für ganz Europa, mit Ausnahme von wenigen Kennern, das einzig echte Japan ist. Wie kommt es, muss man sich fragen, dass das OperettenJapan so ganz und gar im europäischen Bewusstsein das wirkliche Japan verdrängt hat?« Das Interesse an der Übersetzung der Novelle hält sich 1910 jedoch in Grenzen, Butterfly, das ist bereits Puccini, und diese Butterfly ist auch in Wien seit längerem bekannt. Ab 1900 kursieren Hinweise in Zeitungen, die langsam konkreter werdend eine entsprechende Oper des Komponisten ankündigen, ab 1902 weiß man in Wien um den genauen Inhalt des Werks Bescheid. Aufmerksam wird die Uraufführung im Februar 1904 in Mailand verfolgt, ausführlich schreibt man über den Premieren-Misserfolg. »Puccini hat sich musikalisch wiederholt«, heißt es in der Neuen Freien Presse, »die Motive seiner Madama Butterfly finden sich samt und sonders in seinen früheren Opern, und nicht mit Unrecht rief daher am Abend der Aufführung eine Stimme aus einer Loge: ›Das ist ein musikalischer Betrug!‹« Dennoch: Man berichtet weiter über das Werk, kommentiert die Entwicklungen und internationalen Aufführungen. Gut zwei Jahre später: Es ist Gustav Mahler, nebenbei kein erklärter Puccini-Freund, der Anfang 1907 versucht, die Rechte der deutschen Erstaufführung für die Wiener Hofoper zu gewinnen. Doch diese hat sich schon Berlin gesichert und es dauert bis zum Herbst des Jahres, bis der Verlag Ricordi eine Aufführungs-Erlaubnis sowie eine offizielle Übersetzung der Oper übermittelt. Die österreichische Zensur erhebt keine Einwände, und Mahler, bei der Premiere abwesend, lädt den Komponisten sogar zu den Schlussproben ein. Minutiös wird in den Wiener Zeitungen berichtet: Über die Ankunft Puccinis in Wien, über sein Eintreffen im Hotel, über seine Besuche in der Hofoper, über die Vorbereitungen.

61

OLIVER LÁNG


Dann die Premiere: Erfolgreich, bejubelt, wenngleich man in den Rezensionen auch einigen Unwillen der Kritiker spürt. Julius Korngold etwa zieht als Resümee seiner ausführlichen Rezension in der Neuen Freien Presse, dass Madama Butterfly weniger ein immerwährendes Meisterwerk, denn eine »längere Ehe auf Zeit« darstellt. Wobei das noch recht zahm ist, liest man in anderen Tageszeitungen doch, dass Puccini nur ein »Halbblutdramatiker« sei, dass er sich der »billigsten Art« bediene, Stimmung zu erzeugen; man spricht von »larmoyanter Gefühlsseligkeit« und »seltsamen Schrillauten«, aber auch von einer »raffinierten Musik« und »packenden Arien«: Lob und Tadel zu gleichen Teilen. Der damaligen Rezensions-Praxis entsprechend wird die Oper inklusive Handlung ausführlich durchdekliniert, der musikalischen Interpretation weniger Raum eingeräumt; und das, obwohl die Sopranistin Selma Kurz, nicht nur künstlerisch untadelig, sondern auch ein Liebling der Salons, die Titelpartie übernommen hat. Mit großer Geste durchspielt sie die Rolle, ans Pathetische reichend – was ihr, bei allem Lob, auch vorgeworfen wird: Denn wo bliebe das Spielerische, das Graziöse? Die weitere Erstaufführungs-Besetzung offenbart, ganz nebenbei, die Repertoirebreite von Sängerinnen und Sängern dieser Zeit: Der Tenor Hermann Maikl gestaltete den Pinkerton: Er deckte zu dieser Zeit an der Hofoper die großen Mozart-Rollen, das italienische Fach von Verdi bis Puccini, aber auch Richard Wagner ab; der erste Wiener Sharpless wurde von Friedrich Weidemann gesungen, der im zeitlichen Umfeld in Wien auch als Wotan, Hans Sachs, Don Giovanni, Ford, Marcello und Wolfram auf der Bühne stand. Sie alle heimsen gute Kritiken ein, wie auch das Bühnenbild von Alfred Roller (unter Mitarbeit von Anton Brioschi) über jeden Zweifel erhaben scheint. Es ist ein »Ausstattungsstück des Repertoires«, das liest man schon vor der Premiere, »alle Poesie japanischer Blumen und Nippes tut sich auf«. In Pastellfarben schimmert der erste Akt, links das Haus Pinkertons, im Hintergrund abgrenzende blaue Berg-Silhouetten. Der zweite Akt zeigt das parallel zur Rampe ausgerichtete Zimmer mit klar gezogenen Linien, überall fein ziselierter Naturalismus und der Versuch, das »Japanische« möglichst realistisch einzufangen. Das Florale bestimmt diese Ästhetik: »Es seien vor allem die riesigen Stämme der Kirschbäume erwähnt, deren Kronen, über und über mit Blüten bedeckt, mehr als vier Meter emporragen und die allein schon ein sehenswertes Kunstprodukt darstellen. Dazu kommt noch die Fülle von japanischen Lilien, Georgien, Pelargonien und vielen anderen Blumen, die […] aufs naturgetreuste gearbeitet und in verschwenderischer Pracht ausgeführt, einen wirkungsvollen Rahmen für das bewegte Leben auf der Bühne bilden«, so ein zeitgenössischer Bericht. Erhalten sind nicht nur die Bühnenentwürfe Rollers, sondern auch detaillierte Zeichnungen der Requisiten: Vasen, Lampions, Geschirr. Auch die Kostüme von Heinrich Lefler spiegeln ein lupenreines Klein-Japan, von den OLIVER LÁNG

62


Alfred Roller: Bühnenbildentwurf zu »Madama Butterfly« (1907) →

hölzernen Sandalen, den Getos, bis hin zu in allen Farben prunkenden Kimonos. Nur selten wird übrigens August Stoll erwähnt, der die Inszenierung dieser Erstaufführung besorgte. Francesco Spetrino, der Dirigent fürs italienische Fach an der Hofoper, leitet den ersten Abend und führt damit Generationen von klingenden Namen an: Später wird Bruno Walter oftmals die Oper dirigieren, aber auch Franz Schalk, Clemens Krauss, Josef Krips und Rudolf Moralt, in der zweiten Jahrhunderthälfte dann Dimitri Mitropoulos, Herbert von Karajan, Armin Jordan, Georges Prêtre, Giuseppe Patanè, Marcello Viotti oder Fabio Luisi. Im Fahrwasser der 1907er-Premiere liest man aber auch geradezu kolonialistische Verachtung: »Japanischer Import bedeutet für die abendländische Kunst bei der Nachahmungssucht unserer Musiker, Maler und Dichter eine Art von gelber Gefahr. Die Ausländerei, dieser deutsche Erbfehler, verleitet zur Ueberschätzung des Fremden und zur Nichtachtung des Heimischen. Ohne unbescheiden zu sein, getrauen wir uns zu sagen, daß die Japaner, so hoch entwickelt ihre Techniken sind, noch immer mehr von uns lernen können, als wir von ihnen. Sie sind klug genug, das selbst einzusehen.« – Und das schreibt leider ein bekannter und sonst verdienter Kulturpublizist namens Max Kalbeck. Was auch immer in den Rezensionen zur Wiener Erstaufführung steht: Die Oper schlägt beim Publikum nicht nur ein, sondern wird sofort zum zugkräftigen Repertoirestück. Die 50. Butterfly-Vorstellung ist bereits im Mai 1909 erreicht, die 100. im Jahr 1913. Dennoch kommt es ab 1915 zu einer Spielpause, die erst mit der Wiederaufnahme 1920 – die szenische Einstudierung 63

Madama Butterfly an der Wiener Staatsoper


nahm Erich von Wymetal vor – beendet wird. Von da an gibt es kein Jahr, in dem die Oper nicht erklingt; nach der Zerstörung des Hauses im Zweiten Weltkrieg spielt man bereits im Juni 1945 im Ausweichquartier Volksoper, wieder steht Wymetal für die Wiederaufnahme am Regiepult, insgesamt 31mal erklingt die Oper alleine im Jahr 1945, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen wird die Oper fortan in jedem Jahr gegeben. 1957 geht die – erst – zweite Premiere von Madama Butterfly an der Staatsoper über die Bühne. Sie findet inmitten der allgemein grassierenden Karajan-Direktions-Begeisterung statt, einer Direktion, die Opern in Originalsprache spielt (eine Neuigkeit in Wien!) und eine Internationalisierung des Sängerpersonals vorantreibt. Diese Hinwendung zu »Welt-Namen« lässt sich auch bei dieser Premiere ablesen: Mit Giuseppe Zampieri als Pinkerton und Rolando Panerai als Sharpless stehen genau jene Künstler auf der Staatsopernbühne, die mit Karajan beim berühmten Lucia di Lammermoor-Gastspiel der Scala im Jahr zuvor ihr Staatsopern-Hausdebüt gegeben hatten. Wohingegen Sena Jurinac in der Titelpartie die Position des Ensembles verteidigt – und von der Wiener Kritik in den Himmel gehoben wird. Wie auch überhaupt das Musikalische zum bestimmenden Element des Abends wird. Etliche der Rezensenten holen zu einer – aus heutiger Sicht unerwarteten – Ehrenrettung für Puccini aus und heben ihn als wesentlichen Musikdramatiker hervor, unterstreichen aber auch, dass gerade ein Dirigent wie Dimitri Mitropoulos eine ganz neue, wahrhafte Sicht auf das Werk ermöglicht. Die Inszenierung von Josef Gielen hingegen wird mit dem Schlagwort konventionell belegt. Dass man mit Tsugouharu Foujita einen führenden bildenden Künstler ins Boot geholt hat, stößt auf erstaunlich wenig Widerhall. Mehr noch: Am Realismus des Bühnenbildes reibt sich so manch einer: »Es wird einem rein alles gezeigt, und weil’s von einem Japaner gezeigt wird, wird’s wohl genau stimmen. Aber Authentizität bedeutet nicht Schönheit, und das Theater ist kein Museum. Ein Bühnenbildner namens Sepp Hintermoser hätte das nie so milieugetreu und genau ›hingekriegt‹ (was gar nicht wichtig ist), aber vielleicht stimmungs- und poesiereicher, geschmacksvoller. Was schon viel wert gewesen wäre.« (Herbert Schneiber, Kurier). Was am Premierenabend aber weder Direktion, noch Leading-Team oder Sängerinnen und Sänger ahnen können: Die Produktion wird über viele Jahrzehnte die Wiener Sicht auf das Werk bestimmen, rund 400mal in mehr als sechs Jahrzehnten steht diese Butterfly am Staatsopern-Spielplan. Erst im September 2020, als Eröffnungspremiere des neu angetretenen Direktors Bogdan Roščić, wird mit der Arbeit von Anthony Minghella und Carolyn Choa eine andere Sicht auf das Werk vorgestellt. Dass der neue Musikdirektor Philippe Jordan die Premierenserie leitet, unterstreicht die Bedeutung dieses besonderen Abends.

OLIVER LÁNG

64



Domingos de Mascarenhas

JENSEITS DES ORIENTAL­ISMUS

Japans internationaler Aufstieg & die Überarbeitungen von Madama Butterfly


Madama Butterfly kann als Archetyp dessen gelten, was Ralph Locke als »orientalistische Oper« bezeichnete. Gleichwohl entstand sie zu einer Zeit, in der eine Reihe politischer Ereignisse zu einer Neuausrichtung jenes Weltbilds führte, das diesem Begriff zugrunde liegt. Nach dem Uraufführungsdebakel an der Mailänder Scala am 17. Februar 1904, welches in etwa mit dem Beginn des Russisch-Japanischen Krieges zusammenfiel, unterzog Puccini seine Oper einem fast drei Jahre – bis zum Dezember 1906 – währenden Überarbeitungsprozess, der unter anderem den Druck sieben verschiedener Klavierauszugfassungen erforderlich machte. Diese Zeit war von wachsender internationaler Besorgnis geprägt, da Japan viele rassistische Stereotype kämpferisch (im wahrsten Sinne des Wortes) in Frage stellte und mit ihnen die Rangfolge der Weltmächte, die auf diesen Vorurteilen gründete. Die Länder reagierten darauf, indem sie ein bislang verborgenes Bild Japans hervorkehrten, dessen Widersprüchlichkeit sich einer Eingrenzung durch das binäre Konstrukt des Orientalismus entzog. Dieses ambivalente Japan, das zugleich zivilisiert und barbarisch, fortschrittlich und traditionell, modern und exotisch, weder zur Gänze ›uns‹ noch zur Gänze ›ihnen‹ zugehörig war, bedrohte letztlich die Überlegenheit der westlichen Welt, indem es deren zivilisatorische Grundannahme einer moralischen Überlegenheit anfocht, in die das konventionelle orientalistische Narrativ eingebettet war. Mein Essay möchte nachweisen, wie Puccinis Überarbeitungen von Madama Butterfly den turbulenten Ereignissen auf der weltpolitischen Bühne und der durch sie hervorgebrachten neuen Wahrnehmung Japans Rechnung trugen.

Japan in der Welt um die Jahrhundertwende Die anfängliche Einordnung Japans in den Orientalismus als dem »institutionellen Rahmen für den Umgang mit dem Orient« (Edward W. Said, Orientalismus, 1978) ist unbestreitbar. Die Teilnahme Japans an mehreren Weltausstellungen und Messen in Europa und Amerika hatte für gesteigerte Neugier gesorgt. In Europa ist der Aufstieg des Japonismus und der allgemeine Einfluss Japans auf die bildenden und dekorativen Künste ein umfassend dokumentiertes Phänomen, das sich am Werk von Manet, Degas, Monet, van Gogh, Gauguin und vielen anderen Künstlern beobachten lässt. Zu diesem Kontext zählt auch die christliche Missionstätigkeit in Japan und die Verbreitung europäischer Reise- und Abenteuererzählungen aus exotischen Weltgegenden, zu denen Japan zählte. Unter den in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veröffentlichten, vielgelesenen Romanen, die sich mit Japan auseinandersetzen, finden sich die beiden direkten Quellen von Puccinis und Luigi Illicas Madama Butterfly: Pierre Lotis Madame Chrysanthème (1888) und John Luther Longs Madame Butterfly (1898). 67

DOMINGOS DE MASCARENHAS


Japan stellte diese Einordnung jedoch in Frage, als es durch ein intensives Modernisierungsprogramm eine politische, wirtschaftliche und militärische Gleichstellung mit den modernsten Nationen der Welt zu erreichen suchte: ein Bestreben, das in circa drei Jahrzehnten den ersten, im positiven wie negativen Sinne »modernen« Staat Asiens erschaffen sollte. Die mehr oder minder wohlwollenden und herablassenden orientalistischen Sichtweisen Japans wandelten sich in Besorgnis und Feindseligkeit, die in rhetorischen und ikonographischen Variationen einer »gelben Gefahr« zum Ausdruck kamen. Der Sieg Japans im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg 1895 sandte drohende Signale an andere Mächte und veranlasste Frankreich, das Deutsche Reich und Russland dazu, in der Triple Entente gemeinsam und unmittelbar gegen Japans Expansionsbestrebungen zu intervenieren. Ein Ergebnis war die Federlithografie »Völker Europas, wahret Eure heiligsten Güter!« von Hermann Knackfuß, welche Kaiser Wilhelm II. im Herbst 1895 an Zar Nikolaus II. sandte und anschließend zur Vervielfältigung freigab. »Völker Europas« wurde in Europa und den USA vielfach reproduziert, war dort weitverbreitet und hing sogar an Bord deutscher Schiffe in den Passagierkabinen (siehe Abb.).

Hermann Knackfuß (nach einem Entwurf von Kaiser Wilhelm II.): Völker Europas, wahret Eure heiligsten Güter (1895) ←

DOMINGOS DE MASCARENHAS

68


Ab diesem Zeitpunkt überstürzten sich die Ereignisse: Die »ungleichen Verträge« liefen allmählich aus und Japan kooperierte mit den europäischen Mächten und den USA bei Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands im Jahr 1900; zwei Jahre später wurde die Anglo-Japanische Allianz geschlossen und 1905 kam es zum Sieg über Russland. Die Verlängerung der AngloJapanischen Allianz im Sommer dieses Jahres verdeutlicht die neue strategische Bedeutung, die Japan in der Politik der Großmächte gewonnen hatte. Der englische Dichter, Befürworter einer militärischen Intervention und Polemiker Thomas Crosland fasste 1904 die allgemeine Stimmung gegenüber Japan wie folgt zusammen: »Unser tödlichster Feind im Fernen Osten ist nicht Russland, sondern Japan, da dieses Land sich offen und erklärtermaßen zum Ziel gesetzt hat, das England des Orients zu sein. Wir benötigen kein England im Orient.« (Die Wahrheit über Japan, 1904). Der Russisch-Japanische Krieg wurde zum Wendepunkt in der Wahrnehmung Japans. Ab diesem Zeitpunkt eskalierte die antijapanische Stimmung. In Europa forcierte das wilhelminische Deutschland das Bild Japans als einer Bedrohung der Vormachtstellung der westlichen Welt, während Frankreich über die möglichen Folgen der Niederlage Russlands sinnierte. Die politische Neuordnung Europas bis 1907, wenngleich vorrangig mit der zunehmenden Besorgnis vor dem erstarkenden Deutschen Reich befasst, beantwortete den Aufstieg Japans mit einer Kontrollstrategie statt mit Angeboten einer echten Zusammenarbeit oder wechselseitiger Verpflichtung. Japan beteiligte sich ab Ende August 1914 am Ersten Weltkrieg gegen das Deutsche Reich, die von den Japanern vorgeschlagene Einfügung einer Klausel über die Gleichstellung der Rassen in den Vertrag der Liga der Nationen wurde allerdings mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Vor diesem Hintergrund erfolgten die Planung, Komposition und anschließenden Überarbeitungen von Madama Butterfly. Vom Sommer 1900, als Puccini zum ersten Mal die Aufführung der Dramatisierung von Longs Novelle durch David Belasco in London sah, bis zum Dezember 1906 verlief dieser Prozess parallel zu den erheblichen Wahrnehmungsänderungen und Einstellungswechseln gegenüber Japan und umfasste auch den kritischen Zeitraum des Russisch-Japanischen Kriegs und seiner Nachwehen. Der allgemeine orientalistische Kontext prägte zweifelsohne die kulturelle und künstlerische Vorgeschichte von Madama Butterfly, darunter auch die literarischen Quellen der Oper. Während er auf die italienische Übersetzung des Dramas von Belasco wartete, stützte Illica seine Arbeit für Puccini zunächst auf Madame Chrysanthème von Pierre Loti, eine Novelle, die, ebenso wie Longs Kurzgeschichte, ein populäres Beispiel dieser Art von Literatur darstellt und nach ihrer Erstausgabe im Jahr 1888 unzählige Nachdrucke erlebte. Nichts in den schriftlichen Zeugnissen Puccinis oder bei seiner Suche nach japanischen Materialien deutet darauf hin, dass er in dieser Phase Japan bzw. die Japaner auf andere Weise wahrnahm als Loti, Long oder Illica. 69

JENSEITS DES ORIENTALISMUS


Diese Situation änderte sich mit dem Ausbruch von Feindseligkeiten in Ostasien in der zweiten Februarwoche 1904, neun Tage vor der Uraufführung an der Scala. Die europäische Presse berichtete kontinuierlich von zunehmenden Spannungen zwischen Japan und Russland. Diese Nachrichten erreichten Puccini bei den Proben in Mailand und der Vorbereitung zum ersten Klavierauszug. Allgemein könnte man sagen: Hatte die Kompositionsphase in einem orientalistischen Kontext stattgefunden, standen die Überarbeitungen der Oper unter dem Vorzeichen von Realpolitik und der sich verändernden Haltung gegenüber Japan infolge des Russisch-Japanischen Krieges. In der Praxis spiegelt sich dies in Puccinis beständiger Reduzierung der orientalistischen Züge der Oper einerseits sowie andererseits im Aufbau eines kraftvolleren Japan-Bildes, vor allem durch die Charakterisierung Butterflys. Langsam, aber unerbittlich verlagert Puccini die Verantwortung für die Tragödie vom imperialistischen Pinkerton auf Butterfly und das neue Japan. Die durch die Französisch-Russische Allianz (1892) und die Anglo-Japanische Allianz (1902) festgelegten Achsen bestimmten den internationalen Kontext des Russisch-Japanischen Kriegs sowie Beschaffenheit und Umfang der europäischen Beteiligung. Für einen Moment bestand tatsächlich die Angst einer Ausdehnung des Konflikts, da die Anglo-Japanische Allianz beide Seiten verpflichtete, der anderen zu Hilfe zu kommen, sollte diese von mindestens zwei Drittmächten militärisch angegriffen werden. Solange Russland gegen Japan alleine Krieg führte, bedeutete dies keine große Gefahr. Sobald allerdings Frankreich den in seinem Innern zunehmend lauter werdenden Rufen folgen und seinen russischen Alliierten im Osten militärisch unterstützen würde, konnte Großbritannien in Erfüllung seiner Verpflichtungen in einen bewaffneten Konflikt mit den zwei großen europäischen Mächten hineingezogen werden. Deutschland, das sich aus allem heraushielt, würde in der Rolle des lachenden Dritten profitieren, wenn die größten Gegner seiner Hegemoniepläne sich gegenseitig aufrieben. Wie bereits erwähnt, verfolgte Deutschland in dieser Zeit eine antijapanische »gelbe Gefahr«-Politik, die sich zumindest bis auf die Intervention der Triple Entente des Jahres 1895 zurückverfolgen lässt. In Frankreich trug die von der breiten Masse gelesene Zeitung Le Figaro, offenbar in Verbindung mit einer Reihe anderer Periodika, zur ersten Welle einer prorussischen öffentlichen Meinung bei, welche die Amtsträger in Whitehall beunruhigte. Nicht nur ergriffen zahlreiche Journalisten Partei für die russische Seite (wobei sie ihre Texte mit rassistischen Bemerkungen und Anspielungen würzten) und erinnerten an die französischen Pflichten der Französisch-Russischen Allianz, sondern die Zeitung half auch dabei, eine breite Unterstützung der russischen Seite zu organisieren: Am 13. Februar – fünf Tage vor der verunglückten Mailänder Uraufführung – wurde ein Spendenkonto für verwundete Russen bei der Russisch-Chinesischen Bank eröffnet. DOMINGOS DE MASCARENHAS

70


Innerhalb weniger Tage unterstützte ein Großteil der Pariser Presse die Initiative und veröffentlichte Spendenaufrufe, wobei die Eingangslisten in Le Figaro veröffentlicht wurden. Die Spenden kamen aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, auch eine Reihe von Banken und andere Finanz-, Handels- und Industrie-Unternehmen beteiligten sich. Unter den prominenten privaten Spendern finden sich Edmond Rostand (25 Franken), Sarah Bernhardt und Camille Saint-Saëns ( jeweils 100 Franken), Gustave Eiffel (500 Franken) und – für unsere Untersuchung von größter Bedeutung – »Albert Carré et les artistes de l’Opéra-Comique« (zwei Spenden, die sich insgesamt auf 435 Franken beliefen). Darüber hinaus organisierte Sarah Bernhard in ihrem Theater eine Aufführung von Verdis Rigoletto, deren Einnahmen an der Theaterkasse zur Gänze der russischen Sache zugutekamen. Die Aufführung fand am 14. April 1904 mit Caruso in der Rolle des Herzogs statt und spielte die beachtliche Summe von 74.435 Franken ein. Laut einem in Le Figaro veröffentlichten Bericht befanden sich die Musikverleger Durand und Ricordi (Puccinis Verleger), der Komponist Jules Massenet sowie die Sopranistin Adelina Patti im Publikum. Das Orchester spielte vor Beginn der eigentlichen Aufführung die russische Nationalhymne, gefolgt von der Marseillaise. Als sich im Mai 1904 abzeichnete, dass es keine Pläne für eine Intervention des französischen Militärs in den Russisch-Japanischen Krieg gab, scheint die Erregung der Presse in Bezug auf den Konflikt abgeebbt zu sein. Im April hatte Frankreich das Abkommen der Entente Cordiale mit Großbritannien geschlossen, was eine Intervention des französischen Militärs im Ostasienkonflikt noch unwahrscheinlicher machte. Die »diplomatische Revolution«, deren erster Schritt sie war, nahm bald an Fahrt auf. Japan und Großbritannien (und zu einem geringeren Maß Italien) rückten durch eine Reihe von zwischen 1904 und 1907 und insbesondere nach dem Ende des Russisch-Japanischen Krieges ausgehandelten Allianzen, Verträgen und Beilegungen der kolonialen Streitigkeiten näher an Frankreich und Russland heran. Wenngleich die »diplomatische Revolution« primär einen Ausgleich der durch Deutschland verfolgten hegemonialen Ambitionen zum Ziel hatte, stand Japan bei Gesprächen ganz oben auf der Tagesordnung, und die angenommenen Gefahren eines Aufstiegs Japans beeinflussten weiterhin die politischen Entscheidungen. Die europäischen Mächte mit kolonialen Interessen in Ostasien waren angesichts der veränderten Machtverhältnisse in der Region nach dem Sieg Japans 1905 offenkundig besorgt. Als Großbritannien die Verlängerung der Anglo-Japanischen Allianz ankündigte, verwies das Land gegenüber Frankreich und Russland darauf, dass die neue Allianz auch ein Mittel sei, Japan von aggressiven Handlungen im Fernen Osten abzuhalten. 1907 überdachten Frankreich und Russland ihre Politik und gingen gesonderte bilaterale Verträge mit Japan ein, mit denen sie versuchten, ihre kolonialen Besitztümer und Interessen in Ostasien vor der empfundenen japanischen Bedrohung zu schützen. 71

JENSEITS DES ORIENTALISMUS




Italiens geringe Interessen in Ostasien (die um ein kleines, zum Scheitern verurteiltes koloniales Abenteuer in China von 1898 bis 1908 zentriert waren) führten nicht zu einer Distanzierung. Es sandte ein kleines Truppenkontingent während des Boxeraufstands nach China und reagierte auf den Beginn des Russisch-Japanischen Kriegs, indem es seine drei Schiffe in der Region durch modernere ersetzte. Italien hatte sich spätestens seit dem Ravvicinamento von 1900 / 02 (in Zuge dessen es eine franko-italienische Allianz schloss) de facto nach den Mächten der Triple Entente ausgerichtet und behielt diese Linie bei. Italiens Außenpolitik zwischen 1904 und 1907 deutet darauf hin, dass es – abgesehen von der äußerst dringenden deutschen Frage – mit den Mitgliedern der Triple Entente die Sorge über die japanische Konkurrenz sowie das Interesse teilte, dieser Macht Einhalt zu gebieten. Wie die Historikerin Naoko Shimazu ( Japan, Race and Equality, 1998) anmerkt, war »der offensichtliche Erfolg Japans im Russisch-Japanischen Krieg nicht ohne Probleme, da Japan in den Augen der westlichen Großmächte als reale Bedrohung wahrgenommen wurde«. Auch Italien gehörte natürlich zu diesen westlichen Mächten. Es ist unwahrscheinlich, dass Puccini diese Entwicklungen nicht bewusst waren, da sie Italien in einem nicht zu vernachlässigenden Ausmaß betrafen und er sich zudem mit einem japanischen Sujet auseinandersetzte. Bei seinen Reisen während der Überarbeitungsphase (nach London, Buenos Aires, Budapest, Wien und Paris) wurde er mit einer Vielzahl außenpolitischer Bedenken hinsichtlich Japans konfrontiert. Einige unten dargestellte Belege deuten darauf hin, dass Puccini mit den in Frankreich vorherrschenden Ansichten zu Japan so vertraut geworden war, dass diese einen direkten Einfluss auf seine Überarbeitung hatten.

Eine Neudeutung des Revisionsprozesses Zur Entstehung von La Bohème merkten die Musikwissenschaftler Arthur Groos und Roger Parker an, dass Puccini »in Bezug auf die Formulierungen geradezu fanatisch war. Das Libretto […] war eine zentrale – vielleicht sogar die zentrale – Schaffensphase.« (Cambridge Opera Handbook, 1986) Dies galt auch für Madama Butterfly und insbesondere für ihre Überarbeitungen: Viele Veränderungen scheinen zunächst vorwiegend das Libretto betroffen zu haben. Beinahe alle Streichungen (die den größeren Teil der Überarbeitungen ausmachen) dienen dem Zweck, beleidigende Bemerkungen über Japaner sowie sie betreffende komische Szenen zu entfernen. Außerdem wurden die Formulierungen zweier entscheidender Momente für Butterfly – ihre Arien »Ieri sono salita« [»Gestern stieg ich«, 1. Akt] und »Che tua madre« [»Dass deine Mutter«, 2. Akt] – ebenso wie die Szene Kate / Butterfly im letzten Akt modifiziert, ohne dass die Musik wesentlich verändert wurde, während Pinkerton eine neue Arie erhielt. In all diesen Fällen kam der Überarbeitung DOMINGOS DE MASCARENHAS

74


des Librettos die zentrale Rolle zu. Dass Puccini den Text, nicht aber die Musik änderte, scheint auf eine gewisse Gleichgültigkeit für die Beziehung zwischen Text und Musik hinzudeuten, aber zumindest im Fall von »Che tua madre« scheint Puccini festgestellt zu haben, dass die gleiche Musik sehr effektvoll mit den unterschiedlichen Formulierungen interagiert, die in den verschiedenen Überarbeitungsstadien verwendet wurden, dass er sich also der Fülle möglicher Interpretationen bewusst war, die aus dem Wechselspiel von Text und Musik resultieren. Die Änderungen veranschaulichen Puccinis Geschick, durch die Behandlung seines musikalischen Materials dramatische Wirkungen zu erzielen. Dieter Schickling hat darauf hingewiesen, dass wir die Überarbeitungen von Madama Butterfly als »Work in Progress« betrachten müssen, das sich von Aufführung zu Aufführung verändert und von den gedruckten Klavierauszügen nur unvollkommen dokumentiert wird.« (Puccini’s ›Work in Progress‹. The So-Called Versions of ›Madama Butterfly‹, 1998) Dieser Begriff einer kompositorischen Fluidität und damit einhergehender Experimentierfreudigkeit (die mit den dokumentierten Arbeitsverfahren des Komponisten übereinstimmt) im Gegensatz zur konventionellen Vorstellung eines abgeschlossenen, einheitlichen Werks, erlaubt meine Annahme, den Komponisten als offen auch gegenüber sich verändernden politischen Kontexten und Haltungen zu betrachten. Zudem erfahren wir von Schickling, dass die ehemals Albert Carrés Vorschlägen zugeschriebenen Überarbeitungen von Puccini eigenständig erwogen und durchgeführt wurden, noch bevor sich die beiden Männer im Juli 1906 trafen, was auch die Schnelligkeit erklärt, mit der sie sich auf diese Änderungen einigen konnten. In diesem Zeitraum stimmte Puccinis Wahrnehmung Japans vermutlich mit der oben dargestellten öffentlichen Meinung in Frankreich überein, die von Carré mitgetragen wurde, wie seine Spenden für den Fonds für verwundete Russen belegen. Ein offensichtliches Ergebnis des Überarbeitungsprozesses war, dass mit den Kürzungen der Massenszene im 1. Akt und der Hinzufügung von Pinkertons Arie »Addio, fiorito asil« [»Leb wohl, blumengeschmückte Zuflucht«] die »östlichen« und »westlichen« Anteile gleichmäßiger ausbalanciert wurden. Damit verbunden war aber noch ein weiterer Effekt: Die Verantwortung für die Tragödie wurde von Pinkerton und seiner imperialistischen Attitüde (welche mit den literarischen Quellen der Oper übereinstimmt) auf Butterfly verlagert, als der Verkörperung eines sich modernisierenden Japans, das hartnäckig auf seiner Gleichstellung mit den fortgeschrittenen Nationen besteht. In der Tat wurde das Motiv der Sturheit im Zuge der Überarbeitungen maßgeblich verstärkt. Butterflys Arie im 2. Akt »Che tua madre« veranschaulicht dies. Der ursprüngliche Text dieser Arie, in welcher sie die Zukunft ihres Sohnes am japanischen Kaiserhof imaginiert, passt gut in Arthur Groos’ »Kindfrau-Modell«, das »auf dem Stereotyp einer angenommenen Einfältigkeit beruht, die 75

JENSEITS DES ORIENTALISMUS


nicht-westlichen Mentalitäten und insbesondere Frauen zugewiesen wird« (Cio-Cio-San and Sadayakko, 1990). Die Musik, bei der in der Revision nur die Gesangslinie geringfügig (wenngleich bedeutungsvoll) geändert wurde, stützt diese Interpretation, besonders jene beinahe naive Tonmalerei der Passage »E passerà una fila di guerrieri coll’Imperator« [»Und eine Reihe von Kriegern wird mit dem Kaiser vorbeiziehen«], deren von Becken und Basstrommel grundierter Marschrhythmus im Staccato das Vorbeiziehen der kaiserlichen Eskorte andeutet und wenige Takte später bei »e sosta a riguardar« [»… und hält an um zu betrachten«] anhält. In den letzten Takten der Arie erklingt dasselbe melodische Material, aber nun als Decrescendo in Holzbläser-Legato und gedämpftem Streicherklang, wie eine sich auflösende Vision. Durch die widerspruchslose Integration musikalischer und verbaler Mittel wird Butterfly hier (wie auch in anderen Momenten der Oper) als jemand dargestellt, der kaum mehr intellektuelle Reife besitzt als ein Kind im Alter ihres Sohnes. Die Worte hingegen, die gegen Ende des Jahres 1906 eingeführt wurden, können nicht jene eines Kindes sein. Sie zwingen uns, Butterfly als eine reife Person zu betrachten, die eine komplexe Situation dominieren und steuern kann, indem sie mit einer Person redet, während vermutlich jedes ihrer Worte an eine andere Person gerichtet ist, und damit rechnet, dass die selben Wörter von jedem ihrer beiden Zuhörer unterschiedlich verstanden werden. Den ursprünglichen Text hätte Sharpless als kindliche Fantasie Butterflys belächeln können. Bei dem geänderten Text ist dies kaum mehr möglich. Die Schlüsselwörter erscheinen am Ende der Arie, das durch die Rückkehr zur Grundtonart als neuer musikalischer Formabschnitt markiert ist: Ah! No! Questo mai! Questo mestier che al disonore porta! Morta! Mai più danzar! Piuttosto la mia vita vo’ troncar!

Ach nein! Das nie mehr! Dieses Gewerbe, das zu Unehre führt! Sterben! Nie mehr tanzen! Lieber will ich mein Leben beenden!

Das (starrköpfige) Beharren auf der absoluten Negation ist offensichtlich. Indem zwei Noten aus Butterflys Phrase in das hohe Register verschoben wurden, steigerte Puccini auch den Nachdruck zweier wichtiger Wörter (oben kursiv hervorgehoben). Diese strikte Verweigerung ist jedoch zweigleisig. Einerseits macht Butterfly dem Konsul klar, dass sie nicht zu ihrem früheren Beruf zurückkehren wird, was der üblichen Lesart der Passage entspricht. Andererseits und in ihrer Rolle als Mutter vermittelt Butterfly ihrem Sohn ihre und Japans neue Haltung, damit er sich als Erwachsener nicht wie sein Vater verhalten wird. Butterfly versichert somit, dass sie sich ebenso wie das neu erstehende Japan nicht mehr anpassen und in eine unterwürfige Position zurückkehren wird (»questo mestier che al disonore porta«), wie nach DOMINGOS DE MASCARENHAS

76


orientalistischen Standards gefordert. Das männliche Geschlecht des Kindes (Imperialismus wird mit Männlichkeit identifiziert) und der Umstand, dass ständig seine westlichen Züge, blauen Augen und blonden Locken betont werden, erlauben diese erweiterte Deutung der prostitutions- und tanzbezogenen Metaphern. Indem Puccini sich gegen eine Änderung der Musik (abgesehen von den erwähnten kleinen Änderungen in der Gesangslinie) entschied, während er die Worte und die dramatische Situation drastisch veränderte, schuf er ein wichtiges dramatisches Element, das zum widersprüchlichen Gesamtbild des »Japanischen« beitrug. Wenngleich ihr verbaler Protest Butterfly enger mit dem Westen identifiziert, verorten sie die einfachen statischen Harmonien (häufig einfache Oktaven) und das modale melodische Material unter Führung der Holzbläser weiterhin im Orient. Diese musikalischen Elemente, die mit dem ursprünglichen Text zur Charakterisierung Butterflys als weiblich und orientalisch übereinstimmten, laufen nun der Essenz der neuen Formulierungen zuwider: Butterfly wird als widersprüchliches Wesen dargestellt, das sich auf einem Gebiet gefährlicher Unvorhersagbarkeit bewegt. Diese Interpretation wird von einer Anzahl weiterer Überarbeitungen gestützt, die zu Beginn des Prozesses unter dem Eindruck der Uraufführung und des Höhepunktes des Russisch-Japanischen Kriegs vorgenommen wurden. In den ersten fünf Monaten des Jahres 1904 strich Puccini die Trinkszene von Butterflys Onkel Yakusidé im 1. Akt, überarbeitete den Text von Butterflys Arie »Ieri son salita«, fügte Pinkertons Arie »Addio, fiorito asil« hinzu (wobei er das Terzett und den Dialog davor veränderte) und nahm Streichungen in der Suizidszene vor. All dies verstärkte, gemeinsam mit späteren Überarbeitungen, das Bild Japans und des Japanischen als mehrdeutig und widersprüchlich. Die Streichung der Trinkszene war die erste einer Reihe von Auslassungen, die Puccini in der Massenszene des 1. Aktes vornahm. Hierdurch wurde das Gewicht der orientalistischen Klischees bei Zeichnung der Japaner verringert, deren Verhalten mit Voranschreiten der Revisionen zunehmend geordneter und disziplinierter erscheint. Die Streichung dieser komischen Szene könnte zudem dem Umstand geschuldet sein, dass zu einer Zeit, als die Japaner eine ganz offensichtlich stärkere Macht in Schach hielten und darauf drängten, in der Weltpolitik ernst genommen zu werden, Puccini die Japaner nicht länger als geeignetes Objekt von Gelächter empfand. Auch wenn die Japaner zweifellos auch in der verbleibenden Musik noch lächerlich gemacht werden, bewegte sich Puccini von einer rein orientalistischen Sicht zu einer Betonung der realistischen Bedenken in Bezug auf das moderne Japan. Diesem Vorgehen entspricht auch die Änderung des Textes in »Ieri son salita« im 1. Akt. Hier wurde ein direkter Bezug auf die arrangierte Ehe als Finanzgeschäft (»Per me spendeste cento en, ma vivrò con molta economia« 77

JENSEITS DES ORIENTALISMUS




[»Sie gaben 100 Yen für mich aus, aber ich werde sehr sparsam leben«]) durch einen Hinweis Butterflys auf ihre religiöse Konversion ersetzt (»Nella stessa chiesetta« [»In derselben kleinen Kirche«]). Einerseits wird hier ein eklatantes Element einer Vergegenständlichung des »Anderen« entfernt, das ein wesentliches Element des Orientalismus darstellt (was umso entscheidender ist, da es Butterfly selbst zugewiesen war), andererseits wird die moderne Komponente in der Charakterisierung von Butterfly betont, die ihre (und im weiteren Sinne Japans) Ambiguität verstärkt. Eine Analyse der Finalszenen (von Butterflys Wiegenlied bis zum Schluss), welche die von Puccini vorgenommenen Änderungen an der Partitur bis zum Mai 1904 berücksichtigt, zeichnet die sich im Laufe einiger Monate wandelnde Sichtweise Japans durch den Komponisten nach. In diesem Zeitraum veränderte Puccini den zweiten Teil des 2. Aktes an zwei markanten Stellen: (1.) wurde nach dem Wiegenlied und vor Pinkertons Abgang das Terzett um einen Halbton nach unten gesetzt, erhielt Pinkerton eine neue Arie und wurde der Dialog zwischen diesen beiden Nummern vollständig umgeschrieben; und (2.) wurden mehrere Streichungen in der Suizidszene vorgenommen. Ursprünglich besaß der Abschnitt vom Wiegenlied bis zu Pinkertons Abgang folgende Struktur: WIEGENLIED (Butterfly; G-Dur) Auftritt von Pinkerton und Sharpless; Kate im Garten TERZETT (Suzuki, Pinkerton, Sharpless; G-Dur) »M’avete visto piangere« [»Sie haben mich weinen gesehen«] Abgang Pinkerton Diese einfache Sequenz bestätigt die ursprünglich orientalistische Konzeption der Oper. In einem orientalistischen Entwurf ist es notwendig, dass der männliche Held oder die Weltordnung, die er vertritt, weiterhin die imperialistische Mission verfolgen und die unterworfene und verlassene (häufig tote) Frau vergessen darf, wie dies in paradigmatischen Werken wie L’Africaine oder Lakmé der Fall ist. Pinkertons letzte Worte in dieser Szene lauten entsprechend: »Sono stordito! Addio – mi passerà.« [»Ich bin fassungslos! Leben Sie wohl – ich werde es überstehen.«] Seine abschließende Tirade in versi sciolti über einer bewegten, stark modulierenden Begleitung, mit ihrer diskontinuierlichen Gesangslinie, die zweimal vergeblich zu einer überzeugende Cantabile-Passage anzusetzen versucht (»M’avete visto piangere« und »pace non posso renderle« [»Sie habe mich weinen gesehen« und »Friede kann ich ihr nicht geben«]), deutet auf echte Verwirrung und Reue hin, die sein überstürzter Abgang am Ende zu bestätigen scheint. Dass diese freilich von kurzer Dauer sein werden, machen seine letzten Worte klar. Pinkertons Geldgeschenk und Kates Ersuchen, Butterflys Hand schütteln zu dürfen DOMINGOS DE MASCARENHAS

80


(»E la mano, … la man … me la dareste?«) im weiteren Verlauf des Aktes weisen darauf hin, dass sich für diese Figuren die ganze Angelegenheit weitgehend auf einen Geschäftsabschluss mit dem Kind als Verkaufsgegenstand reduziert hat. Nachdem der Deal abgeschlossen ist, besteht kein Grund zur Annahme, dass das amerikanische Paar oder ihr Freund Sharpless schwerwiegende Erinnerungen zurückbehalten werden. Bis Mai 1904 wurde diese Szene umfassend überarbeitet. Viele Interpreten deuten die Überarbeitung als Unterstreichung von Pinkertons Reue, was irgendwie das Gesamtbild dieser Figur aufbessere. Julian Smith, der diese Ansicht teilt, verbucht die Überarbeitung daher als »Fehler«. Ich schlage eine andere Auslegung vor. WIEGENLIED (Butterfly; G-Dur) Auftritt Pinkerton und Sharpless; Kate im Garten TERZETT (Suzuki; Pinkerton, Sharpless; Ges-Dur) »Datele voi« → »Vel dissi?« [»Trösten Sie sie« → »Sagte ich es Ihnen nicht?«] (Sharpless; F-Dur) → »Sì, tutto in un istante« [»Ja, in einem einzigen Augenblick«] ARIE »Addio, fiorito asil« [»Leb wohl, blumengeschmückte Zuflucht«] (Des-Dur) Abgang Pinkerton Die Transposition des Terzetts hat erhebliche und hörbare Folgen für die dramatische Entwicklung. Da die Urfassung für das Terzett die gleiche Tonart wie für das Wiegenlied verwandte, markierte der Auftritt der anderen Figuren keine dramatische Wendung. Erst durch die Transposition nach Ges erschließt das Terzett eine neue tonale Umgebung für die nach dem Wiegenlied einsetzende Finalsequenz. Wenn wir das Terzett und die Arie als in enharmonischem Verhältnis zueinanderstehend betrachten, bewegt sich die Oper in einfacher Tonartenfolge nach B-Moll, in welcher Tonart die Oper schließt. Dieses neue tonale Drama wird vom Terzett eröffnet, schreitet dann über das Ersuchen der Übergabe des Kindes logisch bis zum Suizid, wobei dieses Ergebnis nicht nur die frühere orientalistische Tendenz aufhebt, sondern auch ein politisches Statement des von Butterfly verkörperten neuen Japan impliziert. Ihr Suizid ist nicht länger ein Liebestod, wie aus dem Text klar hervorgeht, dessen Aussage von der gedrängten musikalischen Entwicklung und der kurzen Dauer der gesamten Szene noch unterstützt wird. Butterflys Selbstvernichtung wird zu einer Metapher für ab jetzt nicht mehr auszuschließende abrupte und radikale, wenn auch selbstzerstörerische Vergeltungsmaßnahmen Japans; sie könnte sogar auf den japanischen Überraschungsangriff am 8. Februar 1904 auf die fernöstliche 81

JENSEITS DES ORIENTALISMUS


russische Flotte verweisen, der zum Auslöser des Russisch-Japanischen Krieges wurde. Den Schlüssel zum Verständnis des Suizids als Vergeltungsmaßnahme (im Gegensatz zum Liebestod) gibt die Analyse des neuen Abschnitts, der zwischen dem Terzett und Pinkertons Abgang eingefügt wurde. Wenngleich die Arie »Addio, fiorito asil« weitaus häufiger diskutiert wurde, ist der unmittelbar vorangehende Dialog für wesentlich wichtigere und wirkungsvollere dramatische Veränderungen verantwortlich. Pinkerton beginnt den Dialog mit Worten und Musik, die noch der ursprünglichen Konzeption der Oper entsprechen: »mi struggo dal rimorso« [»ich vergehe vor Reue«], was musikalisch nicht zuletzt durch die Wiederholungen hervorgehoben wird. Es ist Sharpless’ Eingreifen mit »Vel dissi?«, welches diesen Konflikt relativiert; als gereifter Mann legt er ein weiseres Verständnis Japans und seiner Widersprüche dar. Während seines langen Aufenthaltes ist er zwangsläufig mit den aktiven Modernisierungsbestrebungen des Landes sowie mit der Existenz einer jungen Generation von Japanern vertraut (zu der Butterfly zählt), welche sich stur weigert, den bipolaren Paradigmen des traditionellen Orientalismus zu folgen. Er wusste dies bereits drei Jahre zuvor, d.h. im 1. Akt, als er vergebens versuchte, dies Pinkerton zu erklären. Auf diese japanische Sturheit bezieht sich Sharpless besonders mit den von mir hervorgehobenen Wörtern: Sorda ai consigli, sorda Ai dubbi, vilipesa, Nell’ ostinata attesa [Tutto] raccolse il cor.

Taub für Ratschläge, taub für Zweifel, verachtet, sammelte sie ihr ganzes Herz in sturer Erwartung.

Der Konsul verwendet das cantabile (mit stabiler Harmonik, langsamer und rhythmisch beruhigter als die musikalische Umgebung), um Pinkertons schweifende Schuld- und Reuegefühle (schnell, harmonisch instabil, unmelodisch, formal offen) anzuhalten und ihn auf den richtigen Weg zu führen (langsam, harmonisch stabil, cantabile, formal geschlossen). Musikalisch legen die formalen und stilistischen Ähnlichkeiten zwischen »Vel dissi?« und der Arie »Addio, fiorito asil« (und insbesondere die Tatsache, dass sie ähnlich modulieren, da sich beide der Mediante nähern, bevor sie in ihre Grundtonart zurückkehren) nahe, dass wir die letztere als musikalische Darstellung von Pinkertons Akzeptanz der vorangegangen Argumentation des Konsuls verstehen können. Das Einverständnis der Figuren wird durch das Wiederauftreten von Zeilen aus »Vel dissi« in der Arie unterstrichen. Der japanischen Herausforderung, wie sie sich in der überarbeiteten Oper zeigt, gelingt es, sich auf die Zukunft der westlichen Figuren dauerhaft auszuwirken. Pinkerton erkennt nicht nur seine Verfehlung (»io vedo il fallo mio« [»ich sehe meine Verfehlung«]), sondern ahnt auch, dass diese Qual DOMINGOS DE MASCARENHAS

82


ihn sein Leben lang begleiten wird (»e sento che da questo tormento tregua mai non avrò!« [»und fühle, dass ich vor dieser Qual nie mehr Ruhe haben werde!«]). Er bestätigt dies auch in der Arie mit den Zeilen »sempre il mite suo sembiante con strazio atroce vedrò« [»Immer werde ich ihr / sein sanftmütiges Antlitz mit schrecklicher Qual sehen.«]. Es wird für gewöhnlich angenommen, dass dieses »sembiante« das Gesicht von Butterfly meint, das Wort kann jedoch auch als auf ihren Sohn oder sogar auf Kate bezogen verstanden werden. Aber auch wenn wir nur der einfacheren Auslegung folgen sieht Pinkerton eine Zukunft voraus, in der er für immer von den stummen oder gar nicht so stummen Anklagen und Erinnerungen der ihn umgebenden Gesichter geplagt wird, seien sie real aus seinem gegenwärtigen Leben oder imaginär aus seinen ihn heimsuchenden Erinnerungen. Neben den oben beschriebenen Überarbeitungen wurden Pinkertons offensichtlichsten Beleidigungen der Japaner im Laufe des Jahres 1906 nach und nach gestrichen, was den Eindruck bestätigt, dass die Gedanken, Worte und Handlungen dieser Figur mit dem tragischen Ausgang der Oper nicht ursächlich verbunden sind. Im Frühling 1906 verwies Pinkerton auf die japanischen Diener nicht mehr als »i tre musi« [»die drei Schnauzen«], noch auf japanisches Essen als »ragni e mosche candite« [»Spinnen und kandierte Fliegen«] und er bezeichnet Butterflys Verwandte nicht mehr unverhohlen als »sciocchi« [»Trottel«]. Bei der Vorbereitung der französischen Erstausgabe der Partitur durch Ricordi löschte Puccini einen antiwestlichen Kommentar aus dem Liebesduett im 1. Akt, in dem sich Butterfly an ihren ursprünglichen Widerwillen erinnert, »Un uomo americano! Un barbaro! una vespa!« [»Einen amerikanischen Mann! Einen Barbaren! Eine Wespe!«] zu heiraten. Er entfernte sogar Pinkertons liebenswürdige Bemerkung über »lo zio briaco e pazzo« [»den betrunkenen und verrückten Onkel«] (wenngleich diese für die amerikanische Premiere am 11. Februar 1907 wieder aufgenommen wurden und heute meist erhalten ist). Insgesamt erscheint Pinkerton durch diese Überarbeitungen weniger imperialistisch als zuvor. Mit diesem Zug vervollständige Puccini die Übertragung der Verantwortlichkeit für die Tragödie von Pinkerton und dem Imperialismus auf Butterflys und Japans sture Hinterfragung der etablierten Weltordnung.

1

83

Puccini scheint nach Mailand gereist zu sein, um einige Aufführungen der Kawakami-Truppe zu besuchen, die damals durch Europa tourte, und ein Gespräch mit dem Star der Gruppe, der Schauspielerin und Koto-Virtuosin Sada Yacco zu führen. Wenngleich es nicht dazu kam, scheint er Mailand mit den während des Besuchs gesammelten Informationen zur japanischen Musik zufrieden verlassen zu haben.

JENSEITS DES ORIENTALISMUS


JAPAN IST EINE ERFINDUNG Kein großer Künstler sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Täte er es, so wäre er kein Künstler mehr.

Nehmen wir ein ganz modernes Beispiel. Dir gefallen Kunstgegenstände aus Japan. Meinst du nun wirklich, dass die Japaner so sind, wie sie uns durch die Kunst dargestellt werden? Wenn du das glaubst, dann hast du die japanische Kunst nie begriffen. Die Japaner sind die wohldurchdachte, selbstbewusste Schöpfung einzelner Künstler. Vergleiche irgendein Bild von Hokusai oder Hokkei oder einem anderen großen japanischen Maler mit einem echten Japaner oder einer Japanerin, und du wirst entdecken, dass auch nicht die kleinste Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht. Die wirklichen Menschen in Japan gleichen dem Durchschnittstyp der Engländer; was nichts anderes heißt, als dass sie äußerst trivial sind und nichts Bemerkenswertes oder Außergewöhnliches an sich haben. Eigentlich ist das ganze Japan eine reine Erfindung. Es gibt kein solches Land, keine solchen Menschen. Die einzig glaubwürdigen Portraits sind Bilder, in denen sehr wenig von dem Modell und sehr viel vom Künstler enthalten ist. Der Stil allein macht uns die Dinge glaubhaft – und nur der Stil. Die meisten unserer modernen Portraitmaler sind zur absoluten Vergessenheit verdammt. Sie malen nie, was sie sehen. Sie malen, was das Publikum sieht, und das Publikum sieht nie etwas. OSCAR WILDE



Sergio Morabito

DIE MASKEN DER MADAME BUTTERFLY


James Ensor: Stilleben mit Masken (1896) ←

»Normalerweise mag ich die Butterfly nicht … ich meine, ich sah sie immer von riesigen Frauen gespielt, in einem schlechten Make-up …« – »Schlechtes Make-up gibt es nicht nur im Westen.« – »Aber vollkommen unglaubwürdig!« – »Und ich bin für Sie glaubwürdig?« – »Absolut. Sie waren völlig überzeugend.« Ein französischer Diplomat versucht, einer Künstlerin der Pekingoper seine Begeisterung über ihre Darbietung der Selbstmordszene der Butterfly zu erklären, denn: »Hier war eine Butterfly mit einer kleinen oder gar keiner Stimme – aber sie besaß die Anmut, die Zerbrechlichkeit … ich glaubte diesem Mädchen. Ich glaubte, dass sie litt. Ich wollte sie in meine Arme nehmen – so zerbrechlich war sie, ja. Ich wollte sie beschützen.« Das 1990 uraufgeführte Theaterstück M. Butterfly des Dramatikers David Henry Wang nimmt an, dieser Dialog sei 1960 in der deutschen Botschaft in Peking geführt worden. Dem Stück liegt der reale Fall eines Konsulatsbeamten zugrunde, der eine außereheliche Affäre mit einem Frauendarsteller der Peking-Oper unterhielt, dem es gelang, seinen Geliebten zwanzig Jahre lang über seine geschlechtliche Identität im Irrtum zu belassen. Die Pointe dieses Stückes, die Traumfrau des Protagonisten von einem Mann verkörpert zu sehen, soll uns hier nicht beschäftigen. Als bemerkenswert wollen wir festhalten, dass ausgerechnet jene Dimension, die in einer italienischen Oper eine entscheidende ist, nämlich die vokale, heruntergedimmt werden muss, damit sich die imaginierte Gestalt den Vereinnahmungswünschen des (westlichen) Mannes als »zerbrechliche Asiatin« fügt. Legt Wangs Stück den Finger auf die Wunde des lächerlichen Widerspruchs dieser Oper, die einerseits die Ästhetik des Tonfilms vorwegnimmt und andererseits dem eigenen Anspruch auf Realitätsillusion nicht gerecht wird? In der Szene von Butterflys Selbstvorstellung haben die Autoren diese Frage zum theatralischen Paradox zugespitzt. Um die betretene Stille zu beenden, die durch die Erkundigung der beiden Amerikaner nach dem Vater der Geisha eingetreten ist, fragt Konsul Sharpless die Braut nach ihrem Alter. »Mit fast kindlicher Koketterie« fordert Butterfly auf, dieses zu erraten. Sharpless schätzt es auf zehn (!) Jahre, nach einem entsprechenden Hinweis von Butterfly verdoppelt er die Schätzung auf zwanzig; nein, genau fünfzehn Jahre alt will Butterfly sein. »Maliziös« fügt sie hinzu: »Ich bin schon alt.« In der Tat beschwört der 1. Akt der Oper immer wieder das Bild einer Kindfrau. Zugleich ist aber zu beobachten, wir dieses Bild zwischen Naivität und Raffinement oszilliert. Schon die beiden Varianten ihres professionellen nom de guerre – »Madame Butterfly« ist die Übersetzung von »CioCio-San« – verweisen auf die doppelte Identität der Protagonistin: Wir dürfen annehmen, dass sie diesen Beinamen im Rahmen ihrer Ausbildung als Geisha angenommen hat 1 oder er ihr als Bühnenname 2 verliehen wurde; ihren eigentlichen Namen erfahren wir in der Oper nicht. Als Geisha ist

87

SERGIO MORABITO


Cio-Cio-San geschult, einen Mann nicht nur durch ihre Konversation, son- Rupert Bunny: Sada Yacco dern auch durch Gesang, Tanz und Pantomime zu unterhalten. Cio-Cio-Sans Mme in der WahnSpiel – das der dargestellten Figur, aber eben auch das der Darstellerin – wird sinnszene aus Shogun« dabei nicht als natürlich, sondern als über die Maßen künstlich erlebt. »Cer- »Der (ca. 1907). → to colei – m’ha coll’ ingenue – arti invescato« konzediert Pinkerton: Gewiss, die Geisha habe ihn »mit ihren unschuldigen Künsten geangelt«; »unschuldig« mögen sie sein, diese Künste, aber nichts Natürliches. Sodann spricht Sharpless von »quella divina – mite vocina«: Als mild oder sanft will er Butterflys »Stimmchen« bei ihrem Konsulatsbesuch am Vortag wahrgenommen haben, aber eben auch als »göttlich«; womit die Autoren auf die Göttlichkeit einer »Diva« anspielen. Und es ist Butterflys puppenhaftes Spielen und Sprechen, das Pinkerton entflammt; seine Worte legen nicht zwingend nahe, dass er dieses »gemachte« Spiel mit der Wirklichkeit verwechselt: »Con quel fare di bambola quando parla m’infiamma.« Können wir also annehmen, dass Sharpless sich gar nicht nach dem Alter der Darstellerin erkundigt, sondern – eingehend auf das Spiel der Geisha – nach dem der dargestellten Figur? In Japan war es Frauen mit der Begründung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral jahrhundertelang verwehrt – und in einigen Disziplinen, wie dem Nō, ist es das weitgehend bis heute – eine Bühnenlaufbahn einzuschlagen. Auch das Kabuki hatte ab 1629 nur noch männliche Mitwirkende zugelassen. Weibliche Künstlerinnen wurden in die Subkultur der Vergnügungsviertel abgedrängt, wo sie als Geisha Szenen des Kabuki-Repertoires in Teehäusern oder privaten Zirkeln darbieten konnten. Erst mit Beginn der Öffnung Japans in der Meiji-Periode (1868-1912) erstritten sich Frauen ihren Weg auf die öffentlichen Bühnen, wobei zunächst noch zwischen rein männlichen und rein weiblichen Truppen unterschieden wurde. Die als Geisha ausgebildete, auch als Reiterin und Judokämpferin trainierte Sada Yacco (1871-1946) bevorzugte es, bei ihren Bühnenauftritten Hosenrollen und Kampfszenen, statt schamhafte weibliche Wesen zu verkörpern. 1893 heiratete sie den Agitator und Entertainer Otojiro Kawakami, dessen Amateurtheater mit Zeitstücken, Spektakeln und Melodramen in westlich orientierter naturalistischer Ästhetik in Japan Furore machte. Damit erfüllte er zugleich einen kulturpolitischen Auftrag der Meiji-Ära, nämlich den Westen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Für eine Amerika-Tournee arrangierte Kawakami 1899 Sequenzen des klassischen Kabuki-Repertoires, indem er sie auf ihre spektakulären Schauwerte konzentrierte und dabei auf die Dauer eines westlichen Theaterabends schrumpfte. Gleichsam über Nacht avancierte seine Frau Sada Yacco zum gefeierten Star, der in den nächsten Jahren die ganze Welt bereiste – und nicht zuletzt durch einen Auftritt 1902 in Mailand Giacomo Puccini bei Komposition der Madama Butterfly inspirierte (um hinwiederum später die Rolle der Butterfly in ihr eigenes Repertoire aufzunehmen). SERGIO MORABITO

88


89

Die Masken der MadamE Butterfly


Dass Sada Yacco international nicht in ihren geliebten männlichen Fighter- und Actionrollen, sondern in tragischen, an der Liebe zugrunde gehenden Frauenrollen reüssierte, war der Anpassung an westliche Konventionen und Zuschauerbedürfnisse geschuldet. Ein Umstand, der verdeutlicht, dass die Emanzipation der weiblichen Schauspielerin verknüpft war mit einer Fixierung – auch des Zuschauerauges – auf ihr biologisches Geschlecht. Wenn in der Folge auch in Japan Frauen als Darstellerinnen von Frauenrollen bevorzug wurden, dann nicht zwingend aufgrund ihrer Kunstfertigkeit, sondern aufgrund des westlichen Natürlichkeitsparadigmas, das nicht frei von einer sexistischen Komponente ist: Sada Yacco machte die Erfahrung, dass ihre Nachfolgerinnen in der Rolle von Wildes Salome ein Maß an Exhibitionismus betrieben, mit dem sie nicht konkurrieren wollte. Das hier nachgezeichnete Ping-Pong-Spiel, in dem sich westliche und östliche Theatermacher wechselseitig ihre Bälle zuspielen, verdeutlicht, dass man mit Fragen nach der Authentizität vorsichtiger operieren sollte, als dies zumindest in Bezug auf die darstellenden Künste heute meist geschieht. Und sosehr wir Theaterleute dafür kämpfen müssen, in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen auch unserer eigenen Institutionen die Gleichbehandlung aller Geschlechter und Hautfarben zu erstreiten, müssen wir uns doch gegen ein Missverständnis zur Wehr setzen, das an die Masken eines Bühnenspiels umstandslos Authentizitäts-Maßstäbe ansetzen will. Puccinis Butterfly ebenso wie die Karriere der Sada Yacco zeigen, dass und wie alle Theaterkunst mit Accessoires, Zitaten und Gesten unterschiedlichster und heterogenster Provenienz jongliert. Die Kulturen und Traditionen aller Zeiten und Zonen sind ihr ein Fundus, aus dem sie sich schamlos bedient. Ihre Funde wendet und verfremdet sie, um sie kreativ misszuverstehen. So schafft sie die irrsinnigsten und aberwitzigsten Masken, die das Abbild und den Ausdruck schmerzlicher menschlicher Unfreiheit und Ungleichheit bewahren und sich doch jedem eindeutigen Realitätsanspruch entziehen. Diese Abbilder und Ausdrucksträger sind heute weder naiv zu reproduzieren noch zu zensieren, sondern durch reflektierte Darstellung zum Sprechen zu bringen. Für den nachschöpferischen Umgang mit einer Oper lassen sich zwei Strategien unterscheiden: Zum einen eine »literarische«, die sich an realistisch deutbaren Komponenten orientiert und das Geschehen durch die Realitäts-Simulation genormter Spielfilmformate zu rationalisieren versucht – ein bei Puccini scheinbar naheliegendes Verfahren, das an die hollywoodnahen Momente seiner Dramaturgie anknüpft. Zum andern eine »subversive«, die mit den vermeintlich festgelegten Bedeutungen der Vorlage in ein Spiel eintritt, das tradierte Lektüreordnungen und damit auch die widergespiegelten Macht- und Kräfteverhältnisse lustvoll in die Schwebe zu bringen oder gar zu verkehren vermag. Als exemplarisch für diese alternativen Strategien können zwei filmische Realisationen der Madama Butterfly betrachtet werden. Die eine bietet das SERGIO MORABITO

90


konventionelle Format der »Opernverfilmung«: In Frédéric Mitterands Madame Butterfly aus dem Jahr 1995 agieren in den Rollen der Cio-Cio-San und der Suzuki zwei Chinesinnen vor in Nordafrika aufgenommenen, mit japanischen Versatzstücken dekorierten Naturpanoramen. Hier wird ein Simulacrum von Authentizität erschaffen, das seine eigene Künstlichkeit permanent zu kaschieren versucht. Die Verfilmung tappt in die gleiche Authentizitätsfalle, in die bereits der Protagonist von Wangs Theaterstück getreten war: Um einer »ethnischen Beglaubigung« der Madama Butterfly willen muss ausgeblendet werden, was ihren Kunstcharakter ausmacht. Deutlich wird: Der Authentizitäts-Diskurs, den seine Ursprünglichkeits- und Natürlichkeitsideologie zur Verleugnung der eigenen Synthesearbeit zwingt, stellt selbst die größte Manipulation dar. Die andere, Jean-Pierre Ponnelles mit genuin theatralischen Techniken arbeitende Realisation aus dem Jahr 1974, wäre richtiger als »Opernfilm« zu bezeichnen, da er die Künstlichkeit der Gattung und ihrer Gestaltungsprinzipien lustvoll offenlegt, ja zum Thema macht. Anders als Mitterand bedient sich Ponnelle nicht einfach eines konventionellen Formats, sondern seine Realisation setzt, wie jedes echte Kunstwerk, eine Realitätsverzerrung ins Werk. Der Film platziert das Haus der Butterfly in den kahlen, geradezu schütter wirkenden Studionachbau einer Heidelandschaft. In dieses ewig nebelverhangene, allen Realitätskoordinaten enthobene Niemandsland verirrt sich Schmetterlingsfänger Pinkerton auf der Jagd nach Vergnügen: ein charmanter, kaugummikauender Bursche, dem das T-Shirt ebenso gut steht wie die Marineuniform. Doch die ihre ewige Liebe zelebrierende Diva wird den Primo Tenore zum intellektuell und emotional überforderten Prinzgemahl degradieren, der zur Projektionsfläche für das Begehren und die Phantasmen der Protagonistin wird. In gewisser Weise ist es Cio-Cio-San selbst, die die theatralischen Traumwelten dieses Stückes und ihre wechselnden Identitäten von der Kindfrau zum American Housewife, von der italienischen Madre zur tragischen Heroine erschafft. Mit wenigen meisterhaften Handgriffen an Pinkertons Kostüm und Maske entzaubert Ponnelle den Strahlemann für seinen Wiederauftritt am Ende zum Biedermann, der für das erwiesene Unvermögen, Butterflys Liebestraum zu entsprechen, durch den Selbstmord der Diva maßlos abgestraft wird. Ponnelles Lesart macht die außergewöhnliche Verdrängung sichtbar, mit der die Titelheldin dieser Oper alle anderen Figuren an die Peripherie verweist. Eine solche Fixierung auf die Primadonna hatte die italienische Oper seit den Tagen der Giuditta Pasta, der großen Rossini-Interpretin und Muse Bellinis, im »primo Ottocento«, seit den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts also, nicht mehr erlebt. Norma (1831) war die letzte Oper gewesen, in der die weibliche Titelrolle das Geschehen vergleichbar expansiv dominiert hatte. Seither hatte die Opernwelt den Aufstieg des Mythos des Tenors erlebt. Dass Puccini ihn in der Butterfly nicht bedient, wurde als einer der 91

Die Masken der MadamE Butterfly


Gründe für das Fiasko ihrer Uraufführung 1904 in Mailand angenommen, was Puccini in der Revision zur »Nobilitierung« von Pinkertons Vornamen (aus »Francis Blummy« wird »Benjamin Franklin«) und zur Einfügung einer »Abgangs-Arie« motivierte, die kaum darüber hinwegtäuscht, dass Pinkerton eine – wenn auch strahlende – Episodenfigur bleibt. Das Theater treibt seit je ein eulenspiegelhaftes Vexierspiel mit Hierarchien und Machtverhältnissen, um sie von den Füßen auf den Kopf zu stellen; in diesem Fall mit der »Lieblingsphantasie des westlichen Mannes« von der »unterwürfigen asiatischen Frau und dem grausamen weißen Mann«, wie sie in Wangs M. Butterfly definiert wird. Es ist bezeichnend, wie das Autorenteam der Oper alle Manipulationen durch Pinkerton, denen die Butterfly in J. L. Longs Novelle ausgesetzt ist, in autonome Entscheidungen und selbstbestimmte Akte ihrer Heldin verwandelt (die Annahme seines Namens etwa oder die Konversion zum Christentum). Puccinis vermeintlich bekannte Butterfly sollte nicht mit ihrer orientalistischen Lesart verwechselt werden, sondern darf als Einladung verstanden werden, ihr unerschöpftes und unerschöpfliches Potential theatralisch immer wieder neu und immer wieder überraschend freizusetzen und auszuloten.

1

2

Zur Ausbildung begibt sich eine junge Frau in die Lehre einer älteren »großen Schwester« und nimmt dabei einen Geisha-Namen an, der meist die gleiche Wortwurzel aufweist wie der ihrer Lehrerin. Bis heute gehört die feierliche Verleihung eines Bühnennamens, die auf offener Szene begangen wird, zu den Höhepunkten des Kabuki-Theaterjahres und lockt besonders viele Zuschauer an. Die ritualisierte Anfeuerung eines Kabuki-Schauspielers durch das Publikum erfolgt meist durch Rufen dieses Bühnennamens.

Die Masken der MadamE Butterfly

92


EHE AUF ZEIT Einzelheiten über die Ehe auf Zeit teilt der englische Schiffsarzt Samuel Boyer mit:

Man mietet eine Musume (junges Mädchen) und gibt ihr 4 Dollar, womit sie beim japanischen Zollhaus in Yokohama eine Lizenz kauft, die sie berechtigt, für einen Monat meine Gefährtin zu sein, und die ihr auch ein tägliches Bad in einem öffentlichen Badehaus erlaubt. Man mietet ein Häuschen für 25 Dollar und eine Dienerin für 10 Dollar, und dann genießt man in Sicherheit die Annehmlichkeiten einer Ehe: für 39 Dollar pro Monat. Wenn das Mädchen dir gefällt, verlängerst du den Vertrag. – Wird sie treu sein, besonders, wenn man nicht da ist? – Ja, ganz bestimmt! Wenn sie gefasst wird, hast du nämlich das Recht, sie vor einen japanischen Gerichtshof zu bringen, wo sie eine gehörige Tracht Prügel erhält. Wenn du darauf bestehst, wird sie verkauft und muss als gewöhnliche Prostituierte zehn Jahre lang arbeiten. Eine Musume zu sein, ist nicht unehrenhaft in Japan. Wenn sie genug gespart hat, wird ihr Vermittler sich nach einem guten Mann für sie umsehen. Dies ist ein alter Brauch in den ärmeren Klassen Japans. Die Musume sind sehr wohlerzogen und sehr angenehme Mätressen. SAMUEL BOYER


DER LEXUS LC

BERÜHRT MEHR ALS NUR DEN ASPHALT. Handgenähtes Interieur. Vollendete Form. 5,0I V8 mit 464PS. 3,5 l V6 Hybrid mit 359 PS Systemleistung. Ein klassischer GT. Der Lexus LC – Seele in jedem Detail. www.lexus.eu Normalverbrauch kombiniert: 6,6 – 11,6 l/100km, CO 2 -Emission kombiniert: 150 – 265 g/km. Symbolfoto.


Die OMV unterstützt die Wiener Staatsoper schon seit langem als Generalsponsor und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution in eine neue Ära begleiten zu dürfen. Wir freuen uns mit Ihnen auf bewegende Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


Impressum Giacomo Puccini MADAMA BUTTERFLY Saison 2020/2021 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Dr. Ann-Christine Mecke Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Hersteller: Druckerei Walla GmbH TEXTNACHWEISE – ORIGINALBEITRÄGE Die Handlung und Über dieses Programmbuch: Ann-Christine Mecke und Sergio Morabito – Philippe Jordan, Von Farben, Fragen und Nuancen (redigiert von Andreas Láng) – Ann-Christine Mecke, Die Stimme eines Schmetterlings – Oliver Láng, Madama Butterfly an der Wiener Staatsoper – Sergio Morabito, Die Masken der Madame Butterfly. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH /Dramaturgie ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Matt Wolf, Der ganze Minghella, aus: Metropolitan Opera News, September 2006, S. 22–26 (deutsch von Interlingua Language Services) – Aufzüge aus: John Luther Long, Madame Butterfly, New York 1904 (deutsch von Ann-Christine Mecke) – Auszüge aus: Giacomo Puccini, Luigi Illica, Giuseppe Giacosa, Madama Butterfly, zitiert nach dem Klavierauszug, Mailand 2007 (deutsch von Sergio Morabito) – Yoko Kawaguchi, Die Geisha und ihre Wahrnehmung in der westlichen Kultur, aus: Dies., Butterfly’s Sisters: The Geisha in Western Culture, Yale University Press 2010, S. 1–5 (deutsch von Ann-Christine Mecke) – Ausschnitt aus: Pierre Loti, Madame Chrysanthème, Paris 1899 (deutsch von Ann-Christine Mecke) – Ausschnitte aus: David Belasco, Madame Butterfly, aus: Ders., Six Plays, Boston 1928 (deutsch von Ann-Christine Mecke) – David Belasco über die Londoner Premiere seines Schauspiels Madame Butterfly, aus: William Winter, The Life of David Belasco, Band 1, New York 1918, S. 488–489 (deutsch von Ann-Christine Mecke) – Domingos de Mascarenhas, Jenseits des Orientalismus, aus: Art and Ideology in European Opera. Essays in Honour of Julian Rushton, Woodbridge 2010, S. 281–302 (deutsch von Sergio Morabito) – Oscar Wilde, Zitat aus: Der Verfall des Lügens. Eine Feststellung, in: Oscar Wilde, Werke in zwei Bänden, hrsg. von Rainer Gruenter, Frankfurt a. M. 1970, S. 421 ff – Samuel Boyer, Ehe auf Zeit, zitiert nach: Die Geburt des modernen Japan in Augenzeugenberichten, hrsg. und eingeleitet von Gertrude C. Schwebell, München 1981, S. 253. Kürzungen sind nicht gekennzeichnet.

BILDNACHWEISE Fotos von der Klavierhauptprobe der Neuproduktion am 31. August 2020 von Michael Pöhn / Wiener Staatsoper Ges.m.b.H S. 2/3: Hsin-Ping Chang, Tänzer S. 9: Damen des Staatsopernchors, Asmik Grigorian S. 10/11: Damen und Herren des Staatsopernchors, Freddie De Tommaso, Asmik Grigorian, Tänzer, Evgeny Solodovnikov, Andrea Giovannini S. 21 und 22: Asmik Gigorian, Freddie De Tommaso S. 40/41: Puppenspieler, Tom Yang, Asmik Grigorian, Virginie Verrez S. 55: Asmik Grigorian, Boris Pinkhasovich S. 65: Asmik Grigorian S. 72 /73: Puppenspieler, Asmik Grigorian, Virginie Verrez, Tänzer S. 78/79: Puppenspieler, Tänzer S. 85: Asmik Grigorian WEITERE ABBILDUNGEN Coverbild: Alfred Eisenstaedt / Getty Images Sonstige Bilder: Magrini, Puccini 1912 auf seiner Yacht »Cio-Cio-San«, AKG-Images – Georges-Ferdinand Bigot, Japanische Straßensängerinnen, aus: Croquis japonais, Bibliothèque nationale de France – Kusakabe Kimbei, Japanerin beim Schminken, AKG-Images – »Die Geisha« im Carltheater Wien, Österreichisches Theatermuseum – Alfred Roller, Bühnenbildentwurf zu Madama Butterfly, Österreichisches Theatermuseum – Hans Ludwig Fischer, Stadtsilhouette von Wien mit Stephansdom, blühendem Zweig und Schmetterlingen. Sammlung Peter Pantzer – Rupert Bunny, Mme Sada Yacco in der Wahnsinnszene aus Der Shogun (Öl auf Leinwand, ca. 1907). The StuartholmeBehan Collection of Australian Art. The University of Queensland holds the collection on loan from Sacred Heart Education Ministry which acknowledges the kind support of the Behan Family and the University of Queensland. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener- staatsoper.at


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.