Wien Museum Ausstellungskatalog „Der Ring. Pionierjahre einer Prachtstrasse“

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Der Ring Pionierjahre einer PrachtstraSSe

Herausgegeben von Andreas Nierhaus Residenz Verlag



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Vorwort Wolfgang Kos

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„Die architektonische Schönheit Wiens liegt ausschließlich in den Gebäuden der Zukunft.“ Planen und Bauen in den Pionierjahren der Ringstraße Andreas Nierhaus

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otal Reset? T Historismus und Moderne Christian Demand

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Der Ring und die Pastete. Parallelen zwischen dem Paris Haussmanns und der Wiener Ringstraße Alice Thomine-Berrada

51 „Die baulichen Vorgänge in

Paris ließen so vieles für Wien hoffen […].“ Paris als Vor- und Gegenbild der Architektur der frühen Ringstraßenzeit Richard Kurdiovsky

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Hoyos-Sprinzenstein und Todesco: Interieurs in Palästen der Hochund Finanzaristokratie Eva-Maria Orosz

62 Fotografische Repräsentation.

180

Demonstrative Verschwendung Paläste alter und neuer Eliten

200

rbane Öffentlichkeit U Schwarzenbergplatz und Stadtpark

214

Eine Frage des Stils Frühe Monumentalbauten

224

72

242

Gang über den Ring Gottfried Pirhofer

38

77

Über das Glacis. Erste Überlegungen zu einer Stadt­erweiterung Wiens Anna Mader-Kratky

ie soll Wien bauen? W Die ersten Häuser der Ringstraße

Zur Rolle des technischen Mediums in der Gründungsphase der Wiener Ringstraße Monika Faber

Hauptverkehrsader, Promenade – und Barriere. Zur Verkehrsfunktion der frühen Ringstraße Sándor Békési

33

160

as Ringen um die Ringstraße. D Recht auf Stadt als Recht auf Zentrum Gabu Heindl

Bühne für Kaiserhaus und Bürgertum Der Bau der Hofoper

Straßenfest Die Eröffnung am 1. Mai 1865

252

Korrekturen, Revisionen Der Ring im 20. Jahrhundert

265 Die Kosten der

266 Parzellenverkäufe

272 Die Kosten der Stadt­

274 Kurzbiografien der

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Der städtebauliche Ideenwettbewerb zur Ringstraße. Auf dem Weg zum „Grundplan“ der Stadterweiterung Harald R. Stühlinger

46

Monumente am Ring. Die inhaltliche Aufladung des Prachtboulevards durch Denkmäler zur österreichischen Geschichte Werner Telesko

81

Die Ringstraße ausgestellt Andreas Nierhaus

82

aximale Verdichtung M Wien vor dem Fall der Basteien

96

I deen für die Stadt der Zukunft Der Wettbewerb zum „Grundplan“ 1858

124

Demolierer und Fotografen Der Abbruch der Stadt­mauern als Medienereignis

142

ie Dynastie setzt Zeichen D Votivkirche, Hofburg, Heldenplatz

Demolierungen 1858–1875 und Neubauten im Stadt­ erweiterungsgebiet 1860–1865 erweiterung 1858–1914 Architekten und Planer

277 Literaturverzeichnis 283 Autorinnen und Autoren 284 Zitatnachweis 285 Bildnachweis Leihgeberinnen und Leihgeber

286 Dank 287 Impressum

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Wolfgang Thaler, Opernkreuzung, 2014


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Wolfgang Thaler, Parkring, 2014


7

Wolfgang Thaler, ElisabethstraĂ&#x;e, 2014


8

Wolfgang Thaler, Opernring, 2014


9


10

Wolfgang Thaler, Schwarzenbergplatz, 2014


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Vorwort

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Bei der Ringstraße denkt man zuerst an spektakuläre Bauten. Doch ebenso wichtig waren von Anfang an die Zwischenräume, der öffentliche Raum. Das Leitbild von 1859 regelte bereits Sichtbezüge oder die Verortung von Plätzen und Grün­flächen – städte­planerische Vorgaben, die eine starke Raumfigur sicherten und weit in das 20. Jahrhundert hinein gültig blieben. Ein Beispiel nur: Der Abstand zwischen den Alleebäum­en war mit 6,5 Metern festgelegt (in der heutigen Grünplanung sind es mindestens 5 Meter), wodurch auf beiden Straßenseiten durchgehende Blätter­ dächer entstehen konnten. Auch wenn die Errichtung des Rings eine 70 Jahre dauernde Baustelle war, ist es sinnvoll, die Geschichte von ihrem Anfang her zu erzählen. Diese Ausstellung befasst sich vor allem mit den im Rekordtempo erfolgten Entscheidungen, Planungen und Realisierungen vor 1865, dem Jahr der offiziellen Eröffnung. Später als die anderen westeuropäischen Großstädte sprengte Wien die beengenden Fesseln der Stadtmauern, wodurch aufgestaute Energien durchbrachen. Und es kam zu einer welt­ bedeutenden Innovation, zum ersten internationalen Städtebauwettbewerb. Welche zentrale Bedeutung der Ring als Bühne politischer, gesellschaftlicher und kultureller Auf- und Umbrüche hatte, zeigt sich daran, dass er zum Synonym einer Epoche wurde: In keiner anderen Großstadt wurde eine Ära nach einer Straße benannt. Heute ist die „Ringstraßenzeit“ Synonym einer Epoche, die andernorts als „viktorianisch“, „second empire“ oder „Gründerzeit“ bezeichnet wird. Zwischen Wien Museum und Ringstraßenzeit besteht eine intensive Beziehung: Einerseits liegt der Sammlungsschwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, andererseits behandeln zahlreiche Ausstellungen diese Epoche der tiefgreifenden Veränderung Wiens. Für die jüngste Zeit kann man „Großer Auftritt. Die Mode der Ringstraßenzeit“ oder „Makart – Ein Künstler regiert die Stadt“ ebenso nennen wie zeitübergreifende Ausstellungen wie „Großer Bahnhof“ oder „Alt-Wien – Die Stadt, die niemals war“, die den Clash zwischen Retrosehnsucht und dem „neuen Wien“ behandelte. Im Vorfeld der Ring-Schau gab es die Großausstellung „Experiment Metropole – 1873: Wien und die Weltausstellung“, in der der Ringstraße ein Schlüsselkapitel („Ein Boulevard der großen Ambitionen“) gewidmet war. Nach den ersten Monaten des Ringstraßen-Erinnerungsjahres 2015 kann man feststellen, dass das Interesse der Bevölkerung geweckt werden konnte, aber auch über heutige Mängel und Probleme diskutiert wird: Soll man die 1857 dekretierte „Fahrstraße“ von Autos befreien? Und die Opernkreuzung, immerhin ein Erinnerungsort der Wiener Verkehrsgeschichte, „beruhigen“? Oder: Wie hoch und markant dürfen Neubauten im Gebiet des ehemaligen Glacis sein? Der heute so gerne verwendete Begriff „Boulevard“ scheint ein Missverständnis in die Diskussion zu bringen, hatten doch große Teile des Rings nie besonderen Bummelappeal – und die legendäre Corsostrecke zwischen Schwarzenbergplatz und Oper war nie länger als ein paar Hundert Meter. Nur hier und am Schubert- und Parkring hat sich die Prestigenutzung


lange erhalten: In den 50er-Jahren residierten hier Autosalons und Fluglinienbüros, heute nimmt die Dichte von Luxushotels rasant zu. Auf den gesamten Ring bezogen, ist allerdings kommunikative Ödnis zu konstatieren: Wo einst an fast jeder Ecke elegante Kaffeehäuser für Belebung sorgten, gibt es heute gerade noch drei namhafte Ringstraßen-Cafés. Der überwiegende Teil der Ausstellungsexponate stammt aus den Sammlungen des Wien Museums. Ergänzt werden sie durch Außergewöhnliches von Leihgebern wie der Albertina oder der Hoyos’schen Forstverwaltung, das wir dankenswerterweise ausstellen dürfen. Aus dem Deutschordens-Zentralarchiv und dem Kupferstichkabinett der Akademie kommen Zeichnungen von Theophil Hansen, aus dem Wiener Stadtund Landesarchiv Otto Wagners Projekt zum Kursalon, mit dem er zum ersten Mal öffentlich auftrat. Vor allem ist es dank der Großzügigkeit des Österreichischen Staatsarchivs möglich, das zentrale Dokument des Jubiläumsjahres im Wien Museum zu zeigen, nämlich das Konzept des kaiserlichen Handschreibens vom 20. Dezember 1857, mit dem die Stadterweiterung begann. Ein großer Teil der Pläne, Fotografien und Grafiken wurde noch nie gezeigt und abgebildet. Deshalb entschieden wir uns für ein großzügiges Katalogbuch, in dem der Bebilderung ebenso große Bedeutung zukommt wie den wissenschaftlichen Erst­ begehungen in den Aufsätzen. Mein Dank gilt allen Autorinnen und Autoren. Als „Autor“ der Ausstellung – und als Herausgeber des Katalogs – fungierte mit Andreas Nierhaus, dem Architektur-Kurator des Wien Museums, ein ausgewiesener Experte für die Ringstraßenära. Einmal mehr gelang es ihm, einerseits präzise Details freizulegen und andererseits diese in große und auch überraschende Zusammenhänge zu stellen. Ebenso zu danken habe ich der Ausstellungsproduzentin Isabelle Exinger-Lang, Laura Tomicek als Registrarin, Julia Teresa Friehs als Lektorin und insbesondere dem restauratorischen Trio Andreas Gruber, Regula Künzli und Karin Maierhofer. Gestalterisch galt es, historischen Theaterzauber zu vermeiden. Daraus ergaben sich die reduziert elegante Ausstellungsarchitektur von MVD Austria (Irina Koerdt, Michael Rieper, Sanja Utech) und das Grafikdesign von Bueronardin (Sebastian Hierner, Christof Nardin). Geradezu idealtypisch passt für diese Schau unser Slogan „Wo man Wien auf die Spur kommt“. Ich bin sicher, dass die Schau neue Erkenntnisse für das Wahrnehmen der realen Ringstraße zur Folge haben wird. Eine Doppelausstellung also, zwischen dem ersten Teil im Museum und dem zweiten liegen nur ein paar Gehminuten. Wolfgang Kos Direktor Wien Museum

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„Die architektonische Schönheit Wiens liegt ausschlieSSlich in den Gebäuden der Zukunft.“ 1 Planen und Bauen in den Pionier­ jahren der RingstraSSe Andreas Nierhaus

15 Als an einem zunächst stürmischen, dann zunehmend sonnigen 1. Mai des Jahres 1865 die Ringstraße im Zuge der traditionellen ersten Praterfahrt des Kaiserpaares feierlich eröffnet wurde, war der Boulevard, wie wir ihn heute kennen, noch weit von seiner Vollendung entfernt (Abb. 1). Zwischen den bereits bewohnten Zinshäusern und Palästen am Opern- und Kärntner Ring lag die Baustelle der Hofoper. Am Schwarzenbergplatz waren die Paläste für Erzherzog Ludwig Viktor und den Industriellen Franz Wertheim eben erst begonnen worden, die meisten Wohnbauten am Kolowratring (dem heutigen Schubertring) dagegen bereits fertiggestellt. Bäume und Sträucher im Stadtpark waren noch schütter, wie überhaupt die Alleen an der Ringstraße aufgrund der Wahl ungeeigneter Baumsorten die nächsten Jahre hindurch ein eher kümmerliches Bild bieten sollten.2 Im westlichen Bereich des Stadterweiterungsgebiets von der Babenbergerstraße bis zum Donaukanal wiederum herrschte gähnende Leere, die nur von der Baustelle der Votivkirche unterbrochen wurde. Die großen Ensembles der Monumentalbauten, die hier entstehen und das Bild der Ringstraße in aller Welt prägen sollten, waren noch nicht einmal zu Papier gebracht: Die Idee zum Kaiserforum, das die Hofburg mit den Hofmuseen zu einer großartigen Platzanlage verbinden sollte, wurde erst 1869 aus­gearbeitet – ebenso der Plan, Rathaus, Reichs­rats­gebäude und Universität als Trias auf dem Paradeplatz zu errichten. In städtebaulicher und architektonischer Hinsicht herrschte das Experimentelle vor dem Abgesicherten, und von der ästhetischen Saturiert­heit der späten Gründerzeit war noch nichts zu bemerken.

Abb. 1: Wien im Jahre 1865, Wien Museum

Der Wandel der Stadt in den siebeneinhalb Jahren, die seit dem kaiserlichen „Handschreiben“ vom 20. Dezember 1857 (gS. 99) vergangen waren, war dennoch radikal. Am eindrucksvollsten lässt sich dies an zeitgenössischen Fotografien nachvollziehen, mit denen der Stadtumbau zum Teil systematisch dokumentiert wurde. 3 Von den kostspieligen Aufnahmen

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Eitelberger 1858, S. 33.

2 Vgl. Masanz/Nagl 1996, S. 97f. 3 Vgl. den Beitrag von Monika Faber in diesem Katalog.


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der k. k. Hof- und Staatsdruckerei abgesehen, erinnerte schon 1865 kaum mehr etwas an die alte Stadtbefestigung, deren Abbruch 1858 begonnen worden war. Auf den weiten Wiesenflächen des Glacis begann sich die neue Stadt immer deutlicher abzuzeichnen. Im Fremden-Blatt hieß es über die „architektonische Wiedergeburt“ Wiens: „Die Hauptstadt eines großen Reiches gibt stets in verjüngtem Maßstabe das Spiegelbild des eigentlichen Charakters des Landes, der Bevölkerung, der sozialen und politischen Entwickelung, des im Gesammtkörper des Staates pulsirenden öffentlichen Lebens. Aus den steinernen Gesichtszügen einer Weltstadt kann der kundige Reisende sich rasch die Geschichte derselben, den Rang ihrer civilisatorischen Bedeutung, die staatliche Reife und die gesellschaftliche Bildung ihrer Bevölkerung skizziren. Je großartiger die Anlage, je vollständiger die Benützung der natürlichen und geographischen Verhältnisse, je umfangreicher die öffentlichen Bauwerke und kommunalen Anstalten, je kunstreicher die Anwendung und Durchführung eines guten architektonischen Styles – um so günstiger und erhebender wird der Eindruck sein, welchen der Fremde von dem Gesammtbilde der Weltstadt empfängt […].“4 Im Jahr 1865 wurde allerdings noch nicht die neue „Weltstadt“, sondern lediglich ihr künftiger Boulevard gefeiert, der eben erst unter größtem Zeitdruck und streckenweise nur provisorisch fertiggestellt worden war. 5 Als der Kaiser samt Gefolge die Prachtstraße befuhr, waren ihre Pionierjahre zu Ende, die Weichen für die Entwicklung Wiens zur modernen Großstadt waren gestellt. Hauptstadtplanung Zwar war die städtebauliche Entwicklung Wiens gegenüber anderen europäischen Metropolen um Jahrzehnte verspätet,6 doch konnten die Verantwortlichen dadurch auf ein reiches internationales Vergleichsmaterial aufbauen, als sich der Kaiser und seine Berater im Sommer 1857 dazu entschlossen, die Stadterweiterung in Angriff zu nehmen.7 Innenminister Alexander von Bach, der zentralen Figur des Neoabsolutismus in Österreich, schwebte eine repräsentative Hauptstadt „als Symbol der zentralistischen Staatsidee“ vor. 8 Der Publizist Johann von Perthaler schrieb 1860: „Die vereinigte Kraft, welche Macht verleiht, bedarf, um aus dem Centrum bis an die äussersten Gränzen der Monarchie ihre wärmende und leuchtende also belebende Sonnenwirkung zu üben, eines mannigfachen sichtbaren Ausdruckes; sie bedarf des Spiegels, in welchem sie sich selbst anschaut und symbolisch verkörpert findet.“9

Auch wenn die Presse die Entscheidung, die neue Straße als „Ring“ und nicht als „Boulevard“ zu bezeichnen, mit Genugtuung zur Kenntnis nahm,10 war selbstverständlich Paris das erklärte Vorbild für die Umwandlung Wiens in eine moderne Metropole:11 „Neu-Wien“ müsse das östliche Gegengewicht zu Paris werden, schrieb Rudolf von Eitelberger 1858; es hänge von Erfolgen auf künstlerischem, architektonischem, ökonomischem und wissenschaftlichem Gebiet ab, ob Wien „unter den größeren Städten Osteuropa’s die erste tonangebende sein wird, oder auf das Niveau von Städten zweiten Ranges Europa’s herabsinkt. Denn so gewiss der Geist es ist, der die Welt beherrscht, eben so zuversichtlich lässt sich behaupten, dass nur jene Stadt die Suprematie in dem edlen Wettkampfe um politische und Kultur-Vorherrschaft erringt, die es versteht, das geistige Übergewicht in die Waagschale der Völkergeschicke zu werfen.“12 Allerdings, so Eitelberger, liege die architektonische Schönheit der Stadt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, „ausschließlich in den Gebäuden der Zukunft“.13 Die Pionierjahre der Ringstraße fallen in eine Zeit, in der die Donaumonarchie trotz zunehmender Spannungen mit Preußen nach wie vor an ihrer Führungsrolle im Deutschen Bund festhielt und die alte Reichshaupt- und Residenzstadt – dem aufstrebenden Berlin zum Trotz – vielen noch als die eigentliche Metropole Deutschlands galt. Mit einer solchen über die Grenzen des habsburgischen Herrschaftsgebiets reichenden Perspektive schritt man Ende der 1850er-Jahre in Wien an die Planungen. Die vom Kaiser persönlich initiierten Denkmäler im Ringstraßenbereich bestätigen diese Sichtweise.14 Die Niederlage bei Königgrätz 1866, die Schaffung der Doppelmonarchie durch den ungarischen „Ausgleich“ 1867 und nicht zuletzt die „kleindeutsche“ Reichsgründung 1871 unter preußischer Führung sollten das Habsburgerreich wie auch die Planer der Ringstraße zu einer Neuorientierung zwingen. Doch schon der Beginn der Planungen war 1859 vom Krieg gegen das von Frankreich unterstützte Königreich Sardinien-Piemont überschattet. In den Schlachten von Magenta und Solferino mit Zehntausenden von Toten und Verwundeten kam es zur katastrophalen Niederlage und dem Verlust der Lombardei. Von einer positiven Aufbruchsstimmung, die beim Bau einer neuen Stadt erwünscht gewesen wäre, konnte keine Rede sein. In jenen Tagen, in denen der „Grundplan“ zum ersten Mal der Bevölkerung präsentiert wurde, waren in den Zeitungen Meldungen wie diese zu lesen: „Seit dem Beginne des Feldzuges in Italien wurden aus dem Ertrag freiwilliger Beiträge an verwundete Soldaten 9 Stück künstliche Füße, 4 Stück Maschinen-Stelzfüße, 17 Stück Stelzfüße, 7 Stück künstliche Arme, 80 Stück Maschinen-Krücken verteilt.“15


Der „Grundplan“ und die Organisation der Stadterweiterung Ungeachtet der widrigen politischen Umstände herrschten für die Planung einer modernen Hauptstadt in Wien anders etwa als im dicht verbauten Paris geradezu ideale Voraussetzungen: Zur Verfügung stand ein Areal von rund 300 Hektar, das im Wettbewerb von 1858 die perfekte Grundlage für mehr oder weniger realistische Planspiele auf der – in diesem Fall auch wörtlichen – ,grünen Wiese‘ bildete.16 Als der aus dem Wettbewerb destillierte „Grundplan“ der Stadterweiterung 1859 der Öffentlichkeit präsentiert wurde, wirkte er nicht von ungefähr wie eine schwer mit den realen Verhältnissen in Einklang zu bringende Abstraktion: „Sucht man nun nach einem Total-Eindruck, so fühlt man, daß bei der Anfertigung des Planes die Perspective alle anderen Rücksichten dominirte. Breite, geradlinige Alleen, symmetrisch geordnete Façaden, rechtwinklige Plätze, großartige Terrassen mit Fernsichten, jeder Brunnen ein Monument! Wenn man aber in dieser herrlichen Enfilade sich häuslich einrichten will, so weiß man nicht, in welchem der Prachtsäle man die Betten hinstellen soll; es fehlen die Nebentreppen und Seitengänge, um zu Küche und Stall zu gelangen; wir hören das Plätschern der Fontänen und schmachten nach einem Glas Wasser; eine Blumenhalle, fast so groß wie der englische Glaspalast, ersteht bereits vor unseren Blicken, wir pflanzen aber noch nichts, als Spinat und Radieschen, besitzen nichts, als getrocknete Blumen aus Erfurt, und sind gezwungen, nach Dresden oder Parma zu telegraphiren, wenn wir unseren Damen einen frischen Veilchenkranz in die Locken drücken wollen. Mit einem Worte: der heutige Plan ist die architektonische Idealisirung des Programms.“17 Dennoch war der Grundplan „so wohlüberlegt, konkret und trotzdem flexibel genug“,18 um trotz vielfacher Modifikationen bis zuletzt die Basis aller Planungen auf dem Areal zu bilden. In jedem Fall sind die visuelle Eindringlichkeit und Wirksamkeit der dominierenden Figur des ringförmig um den Stadtkern gelegten Boulevards, die mit diesem Plan öffentlich gemacht wurde, nicht zu unterschätzen.19 Dass wir Wien nach wie vor als konzentrisch gewachsen wahrnehmen und die Innere Stadt als die eigentliche ,Stadt‘, wurde zuerst durch den Grundplan und dann durch die Anlage der Ringstraße städtebaulich und architektonisch fixiert.20 Die unerreichte Großzügigkeit der Planungen ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass es sich dabei um ein vom Staat getragenes Projekt handelte, das in größter Distanz zu den Begehrlichkeiten der Tagespolitik, aber auch ungeachtet lokaler Befindlich-

keiten umgesetzt werden konnte; der Horizont der Verantwortlichen war also entsprechend geweitet. Die Organisation war vorbildlich: Der Erlös aus dem Verkauf der Bauparzellen floss in den Stadterweiterungsfonds, aus dessen Mitteln wiederum die vom Staat übernommenen Kosten der Stadterweiterung und die Errichtung der Hofbauten – Oper, Museen, Burgtheater, neue Hofburg – bestritten wurden. Außerhalb des Staatsbudgets im Innenministerium angesiedelt, war der Fonds dem Zugriff des Finanzministers entzogen. Über die Verwendung seiner Gelder entschied bis zuletzt der Kaiser nach Bericht und Vorschlag durch den Minister des Innern. Trotz zum Teil enormer Ausgaben bei diesen Bauvorhaben (gS. 272) bilanzierte der Fonds am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit einem satten Plus. Allerdings hatte man zu diesem Zeitpunkt die Vollendung des Kaiserforums – nicht zuletzt aus Kostengründen – bereits aufgegeben.21 Die zentrale staatliche Steuerung des Projekts im Verein mit dem wohlüberlegten Einsatz der Mittel ließ, von den Großbauten abgesehen, vor allem auch großzügige öffentliche Freiräume entstehen – unter der häufig von Investoreninteressen diktierten heutigen Stadtplanung wäre dies in dieser Qualität wohl kaum mehr möglich.22 Der Erfolg des gesamten Unternehmens war freilich davon abhängig, ob genügend Interessenten zum Kauf von Bauparzellen motiviert werden konnten. Günstige Darlehen und mehrjährige Steuerbefreiungen

4 Wien, 1. Mai, in: Fremden-Blatt, 2. Mai 1865, S. 1.

16 Vgl. den Beitrag von Harald R. Stühlinger in diesem Katalog.

5 Vgl. Springer 1979, S. 242.

17 Der Stadterweiterungsplan, in: Die Presse, 5. Oktober 1859, S. 1f.

6 Vgl. den Beitrag von Anna MaderKratky in diesem Katalog. 7 Vgl. Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 109. 8 Springer 1979, S. 85. 9 Perthaler 1860, S. 121. 10 Die neuen Ringstraßen Wiens, in: Über Land und Meer 7 (1865), Bd. 14, S. 519-521, hier S. 519. 11 Vgl. die Beiträge von Alice Thomine-Berrada und Richard Kurdiovsky in diesem Katalog.

18 Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 457. 19 Vgl. die Beiträge von Gottfried Pirhofer und Sándor Békési in diesem Katalog. 20 Ohne topografischen Anlass besitzt auch der 2007 beschlossene Masterplan für die Seestadt Aspern eine Ringstraße und verfügt damit über eine in Wien bereits etablierte städtebauliche Figur mit hohem Wiedererkennungswert. 21 Vgl. Nierhaus 2012a, S. 332.

12 Eitelberger 1858, S. 37. 13 Ebd. 14 Vgl. den Beitrag von Werner Telesko in diesem Band. 15 Die Presse, 4. Oktober 1859, S. 3.

22 Vgl. den Beitrag von Gabu Heindl in diesem Katalog.

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sollten das Engagement im Stadterweiterungsgebiet erleichtern. Träger des mit neoabsolutistischer Geste begonnenen Großprojekts – darüber waren sich alle Verantwortlichen von Anfang an im Klaren – sollte das Bürgertum werden. Der entscheidende Motor dafür war die im Februar 1860 verlautbarte „Realbesitzfähigkeit der Israeliten“. Bis dahin vom Grundbesitz ausgeschlossen, sollten jüdische Bauherren nun eine entscheidende Rolle in „Neu-Wien“ spielen (gS. 163). Unabhängig von der Konfession ihrer Mitglieder formierte sich auf und mit der Ringstraße jene liberale Gesellschaft, die den letzten Jahrzehnten der Monarchie ihren kulturellen Stempel aufdrücken sollte. Hermann Bahr schrieb 1923: „Mit der Ringstraße war der Spielplatz der neuen Gesellschaft improvisiert. Es galt nun über Nacht auch diese selbst beizustellen; der Ringstraße war rasch noch erst das dazu passende Wien zu liefern.“23 Sie war aber nicht nur fröhlicher Spielplatz, sondern nach Carl E. Schorske auch „contested space“,24 in dem die unterschiedlichen Machtinteressen von Kaiserhaus, Militär und Bürgertum mit städtebaulichen, architektonischen und künstlerischen, im zeitgenössischen Sinn „monumentalen“ Mitteln verhandelt und zugleich ästhetisch sublimiert wurden. So wurde die Ringstraße tatsächlich zu einem äußerst vielgestaltigen und vielschichtigen ,Denkmal‘ für die Epoche Kaiser Franz Josephs, dessen Regierungszeit (1848–1916), vom ersten Jahrzehnt abgesehen, mit der Wiener Stadterweiterung zusammenfiel. Das bürgerliche Wohnhaus und die guten Sitten Wie sich die Bewohnerinnen und Bewohner von „Neu-Wien“ häuslich einrichten würden, war vor allem in den Anfangsjahren Gegenstand intensiver und für die Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit aufschlussreicher Debatten. Sie reichten von der Frage nach der angemessenen Gestaltung der Fassaden eines bürgerlichen Wohnhauses bis zu detaillierten Analysen über den Einfluss der Bautypologie auf die sittlichen Zustände der bürgerlichen Familie. Als 1860 die ersten Bauparzellen am Kärntner und Opernring sowie am Franz-Josefs-Kai verkauft wurden, traten Rudolf von Eitelberger und Heinrich Ferstel mit einer Streitschrift an die Öffentlichkeit, die das gesamte private Bauwesen Wiens infrage stellte: Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus. Ein Vorschlag aus Anlaß der Erweiterung der innern Stadt Wien’s (gS. 168). Die Autoren argumentieren darin, dass die Verdrängung des Familienwohnhauses durch das Zinshaus den sittlichen und moralischen Verfall der bürgerlichen Gesellschaft bewirkt habe. Die historische Parallele sehen die beiden in den mehr­ geschoßigen „insulae“ des antiken Rom – „traurige

Abb. 2: Unbekannter Fotograf, Palais Wickenburg (Gonzagagasse 1), um 1870, Wien Museum

Statisten“ des Endes eines Weltreichs, in denen „die verschiedenen Familien der Freigelassenen, der Fremden, der herabgekommenen Bürger, der Geschäftsleute und Speculanten, der Grisetten und Comödianten“25 gehaust hätten. Um den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft abzuwenden, so lautet der Umkehrschluss, ist die Rückkehr zum bürgerlichen Wohnhaus unabdingbar. Denn nur im Familienwohnhaus sei die „Abgeschlossenheit der Privatwohnung“, die räumliche Trennung der Geschlechter und eine Scheidung des Gesindes von den Familienmitgliedern möglich; nur hier könne man „die Töchter des Hauses“ davon abhalten, „mehr auf die Straße, als in das Haus und seine Gemächer zu schauen“.26 Wohnen und Arbeiten sollen räumlich verbunden werden, „damit die Söhne des Hauses von Jugend auf sich gewöhnen, des Handwerks ihres Vaters sich zu freuen und nicht zu schämen“.27 Vom Erfolg ihres Projekts machen die Autoren nichts weniger als die Zukunft von Staat und Gesellschaft abhängig, denn „die Festigkeit des Staates und die Garantie seiner Existenz liegen in den Händen der besitzenden Klasse. Die Elemente der Bewegung und der Unruhe sind zu allen Zeiten am stärksten in der besitzlosen Klasse vertreten gewesen. […] Die stärksten Motive patriotischen Handelns, die größte Aufforderung zu ruhiger und leidenschaftsloser Erwägung der Staatsverhältnisse liegen in dem Besitze von


Grund und Boden.“28 Schließlich sei „die Liebe zum eigenen Besitze die größte Triebfeder zur Arbeit und zur bürgerlichen Tugend“.29 Die harsche Replik auf diese konservative bis reaktionäre Sicht folgte auf dem Fuß: In seiner Schrift Wie soll Wien bauen? (gS. 168) widerlegte Ferdinand Fellner viele der Behauptungen Eitelbergers und Ferstels und zeigte sich entrüstet über die Koppelung von Besitz und staatsbürgerlichen Tugenden. Zum angeblichen sittlichen Verfall im Zinshaus heißt es: „Was die verehrten Verfasser in ihrer Entrüstung unter den unsittlichen Motiven, aus welchen die großen Zinshäuser angeblich hervorgegangen sein sollen, eigentlich verstehen, vermögen wir nicht zu beantworten; glauben aber nicht uns in der Thatsache zu täuschen, daß die Prostitution und alle mit ihr verbundenen moralischen Gebrechen sich eher in kleinen Häusern breit machen und gleich einem schwer auszurottenden Ungeziefer dort einnisten könne, als dieses in großen Häusern vorauszusetzen ist, in welchen eine Familie die andere leichter zu controliren vermag, oder wenigstens diese Controle zu fürchten hat.“30Am Ende seiner profunden Gegenschrift kommt Fellner zu der Überzeugung, dass der Bürger in Wien im eigenen Haus nicht billiger leben könne als im Zinshaus, dessen keineswegs nur teure und unbequeme Wohnungen „für den sittlichen Charakter der Bevölkerung und deren Wohlstand durchaus von keinen nachtheiligen Folgen sein dürften“. 31 Von moralischen Fragen abgesehen, herrschte in den ersten Jahren – auch angesichts der ungeahnten neuen Dimensionen des Stadterweiterungsgebiets – große Unsicherheit über die äußere Gestaltung der Wohnbauten. Ludwig Hevesi fasste 1895 die Situation so zusammen: „Thatsächlich wußten anfangs weder Bauherren, noch Baukünstler, was sie wollten. Die Aufgabe war, massenhaft vorhandene Millionen nutzbringend zu verbauen, Kapital in Miethhäuser zu verwandeln. Einen Baustyl gab es nicht, ein Kunsthandwerk ebensowenig, Aufträge aber desto mehr.“32 Vergleichsweise einfach war der Entwurf eines Familienpalastes – hier konnten Bauherr und Architekt auf das klassische Vorbild der italienischen Renaissance zurückgreifen und sich zugleich mit den zahlreichen Barockpalästen der Inneren Stadt messen (gS. 180-199). Paläste, die nur von einer Familie bewohnt wurden, bildeten jedoch die Ausnahme im Stadterweiterungsgebiet. 33 Ein großes Wohnhaus mit mehreren Mietwohnungen dagegen war für die zeitgenössischen Architekten weitaus schwieriger zu fassen, da brauchbare historische Vorbilder fehlten und zugleich das Bedürfnis bestand, zumindest die Fassaden dieser ,bürgerlichen‘ Bauten möglichst glänzend auszustaffieren. Die ersten Zinshäuser am Kärnt-

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Abb. 3: Rudolf Bayer, Haus Pollak (Franz-Josefs-Kai 37), um 1862, Wien Museum

ner und Opernring erhielten nicht selten zaghafte, geschoßweise Gliederungen mit kleinteiligem, stilistisch heterogenem Dekor. Aber auch höherrangige Bauten wie das 1863 nach Plänen von Emanuel Trojan erbaute Zinspalais des Präsidenten des Stadterweiterungsfonds, Konstantin Graf Wickenburg, am Salzgries (Abb. 2) versuchten mitunter, die gestalterische Unentschiedenheit durch einen Überschuss an dekorativem und skulpturalem Aufwand wettzumachen. 34 Angesichts solcher oft überreich und „unorganisch“ dekorierter Fassaden forderten Kritiker eine Rückkehr zu „natürlichen architektonischen Gliederungen, das Auffassen der Façade als ein mit dem Organismus des Bauwerkes verwachsenes Ganzes, die Rücksicht auf eine Gesammtwirkung, der feine künstlerische Sinn, welcher mit wenigen Mitteln ein einfaches, aber

23 Bahr 1923, S. 111.

30 Fellner 1860, S. 9.

24 Schorske 1992, S. 11.

31 Ebd., S. 35.

25 Eitelberger/Ferstel 1860, S. 7.

32 Hevesi 1895, S. 438.

26 Ebd., S. 14.

33 Vgl. den Beitrag von Eva-Maria Orosz in diesem Katalog.

27 Ebd. 28 Ebd., S. 21. 29 Ebd., S. 22.

34 Zum Palais Wickenburg vgl. Springer 1979, S. 228-231.


Abb. 4: Margherita Spiluttini, Staatsoper (ehem. Hofoper), 1984, Wien Museum

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Fassade aus Sichtziegeln und Haustein in „gotischer“ Formensprache und steht in seiner beinahe asketischen Schlichtheit in bewusstem Kontrast zu den palastartigen Zinshäusern, die durch falschen äußeren Prunk und unnötigen inneren Luxus dem Mieter schmeicheln würden (gS. 164). Die Forderung nach einem genuin ,bürgerlichen‘ Bauen blieb weitgehend ungehört. Ferstels Haus Pollak am Franz-Josefs-Kai von 1860/1862 (Abb. 3) ist das einzige Wohnhaus im Stadterweiterungsgebiet, das in formaler Hinsicht diesen Vorgaben folgt. An der Ringstraße sollte sich dagegen mit Hansens Heinrichhof (gS. 169), doch auch mit den Bauten der Architekten Romano und Schwendenwein ab der Mitte der 1860er-Jahre eine historistisch anverwandelte, durch antike und französische Motive angereicherte italienische Renaissance als dominierender „Wiener Stil“ im Wohnbau durchsetzen. Historischer Stil und moderne Architektur

Abb. 5: Margherita Spiluttini, Postsparkasse, 1984, Wien Museum

geschmackvolles Bauwerk zu schaffen im Stande ist“.35 Dem bürgerlichen Charakter des Wohnhauses sollte eine ,bürgerliche‘ Außenerscheinung entsprechen, die sich nicht an aristokratischen Mustern orientierte. Ein Zinshaus, so Rudolf von Eitelberger 1863, sei „ein so permanentes Durchzughaus für Arme und Reiche, für wohnungsbedürftige und unstete Stadt­ bewohner“, daß es „seiner Natur nach“ kein Palast sein könne: „[D]ie Unnatur dieser Verhältnisse läßt sich nicht verbergen; sie tritt an allen kolossalen Zinsbauten Wiens hervor, am meisten bei jenen, welche Zinsbauten sind und Palastbauten scheinen wollen.“36 Schon bei Eitelberger und Ferstel war die Frage nach der Typologie des Wohnens implizit mit dem „richtigen“ Stil verbunden. Da Zweckmäßigkeit und Solidität für die bürgerliche Baukunst „die bedeutendsten ästhetischen Factoren“37 sind, erhält das in ihrer Schrift von 1860 vorgestellte Musterhaus eine

Der Heinrichhof, in den Augen von Zeitgenossen „der großartigste Privatbau von Neu-Wien“38 und das „schönste Zinshaus der Welt“39, markierte nicht nur einen Wendepunkt in der Typologie des Wohnbaus der Ringstraße, sondern stand auch für die Durchsetzung einer streng an das Ideal historischer Stile gekoppelten Architektur gegenüber einem „romantischen“, künstlerisch freien Entwerfen, wie es die Architekten des gegenüberliegenden Opernhauses, Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, in Theorie und Praxis erprobt und als Professoren an der Akademie der bildenden Künste gelehrt hatten. Bereits 1845 hatte es bei van der Nüll geheißen: „Wir danken unsern Vorgängern die Kenntnisse aller Baustyle und die Überzeugung, daß man auf dem Wege der Nachahmung zu nichts gelanget.“40 Es sei „die nähere Bestimmung des Zweckes eines Gebäudes“ und eben nicht „dieser oder jener Styl früherer Epoche“, der die Wahl der Konstruktion bedinge: „Wir werden den Geist der Profilierung, die Vertheilung der ornamentalen Anordnung und vieles andere vortheilhaft zu nützen wissen, aber die neuen Konstruktionen werden auch immer neue Charaktere erzeugen“, um am Ende „zu einem wirklich originellen und nationalen Baustyle zu gelangen“. 41 Die künftige neue Architektur, nichts weniger sagt van der Nüll, wird aus dem Material und der Konstruktion entstehen, die historischen Stile werden dann keine Rolle mehr spielen. Der Historismus hat in den Augen van der Nülls keine Zukunft. 42 Wie schwer dieses Postulat in der Praxis einzulösen und vor allem zu vermitteln war, zeigte sich beim Bau der Hofoper, bei dem die Architekten zwar ebenfalls aus dem historischen Formenrepertoire


schöpften, die Anwendung und Verschränkung unterschiedlicher Motive jedoch konstruktiv und eben nicht historisch begründeten. Nicht ein bestimmter Stil wird zitiert, sondern die für die jeweilige konstruktive oder dekorative Aufgabe am besten geeignete Lösung analysiert und verarbeitet; das Ornament wird nicht kopiert, sondern mit größtmöglicher individueller Freiheit weiterentwickelt (Abb. 4). Dieses Vorgehen musste den Widerspruch all jener provozieren, die davon überzeugt waren, dass eine moderne Architektur nur auf dem Weg der strengen Nachahmung eines historischen Stilideals – jenem der italienischen Renaissance – möglich sei. Gestärkt durch entsprechende, von Theophil Hansen (Antike) und Friedrich Schmidt (Mittelalter) geleitete „Specialschulen“ an der Akademie der bildenden Künste, sollten die Vertreter des „strengen Historismus“ in den beiden Jahrzehnten nach 1865 mit den großen öffentlichen Bauten in verschiedenen historischen Stilen und Hunderten Wohnbauten das Gesicht der Ringstraße entscheidend prägen. Mit der Wiener Stadterweiterung erhielt der europäische Historismus sein mit Abstand größtes zusammenhängendes Experimentierfeld. Entlang dieser „Hauptstraße des 19. Jahrhunderts“ wurde die geballte kreative Auseinandersetzung mit den historischen Stilen zur Reife gebracht – zeigte allerdings am Ende auch schwere Ermüdungs­erscheinungen. So ist es kein Zufall, dass sich schlussendlich gerade in Wien – früher als andernorts – eine neue architektonische Kultur abzuzeichnen begann. Mit der Ringstraße hatte sich die Epoche des Historismus selbst ein Denkmal gesetzt, dessen Sockel brüchig geworden war. Wie aber ließen sich die konstruktiven, technischen und wissenschaftlichen Innovationen in der Architektur des 19. Jahrhunderts für ein neues Bauen retten? Wie konnte die Tradition bewahrt werden, ohne unmittelbar über das Ornament – wie noch im Historismus – die Form zu bestimmen? Otto Wagner, seinerseits ein Schüler van der Nülls und Sicardburgs, wandte sich bereits 1889 gegen die „Experimente mit den verschiedenen Stilrichtungen“ und war der Überzeugung, „[…] daß eine gewisse freie Renaissance, welche unseren genius loci in sich aufgenommen hat, mit größtmöglichster Berücksichtigung unserer Verhältnisse, sowie der modernen Errungenschaften in Materialverwendung und Konstruktion für die Architektur der Gegenwart und Zukunft das allein Richtige sei“.43 Das „Fort- und Umbilden, sowie das Benützen aller Motive und Materialien“ müsse zu einem neuen „Zukunftsstil“ drängen, dem „Nutzstil“. Nun wird eingelöst, was van der Nüll schon 1845 gefordert hatte: Beim Bau der Postsparkasse kurz nach 1900 konnte Wagner den „Nutzstil“ an der Ringstraße zur Anwendung bringen (Abb. 5).

Sie war einer der letzten „Monumentalbauten“ des 19. Jahrhunderts – zugleich aber auch Manifest einer konsequent aus der Tradition des europäischen Bauens abgeleiteten neuen, „funktionalen“ Architektur des 20. Jahrhunderts. Die historischen Vorbilder haben ausgedient, der Dekor wird nicht mehr aus der Geschichte, sondern beinahe plakativ aus logischfunktionalen Zusammenhängen abgeleitet; das „Ornament“ setzt sich aus metallisch blinkenden Bolzenköpfen zusammen. Vom Bau der Hofoper, deren Architekten sich in den Pionierjahren der Ringstraße gegen den Historismus stemmten, bis zur Postsparkasse, bei der Wagner vollständig auf historische Stilzitate verzichtete, spannt sich damit ein Bogen, der einmal mehr die Scharnier- und Schlüsselfunktion der Ringstraße und des Historismus innerhalb der Moderne deutlich macht. 44

21 35 Karl Weiss: Die Aufgaben der modernen Architektur, in: Recensionen und Mittheilungen über bildende Kunst 1 (1862), S. 3-7, hier S. 7.

40 Van der Nüll 1845, S. 32.

36 Rudolf von Eitelberger: Der Heinrichshof, in: Österreichische Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben, Bd. 1, 1863, S. 24-26, hier S. 25.

43 Otto Wagner: Einige Scizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke, Wien 1889, zit. n. Graf 1985, S. 72. Danach auch die folgenden Zitate.

37 Eitelberger/Ferstel 1860, S. 13. 38 Wiener Zeitung, 18. Oktober 1862, S. 1422. 39 Doderer 1870, S. 337.

41 Ebd., S. 34. 42 Vgl. Hoffmann 1972, S. 16.

44 Vgl. den Beitrag von Christian Demand in diesem Katalog.


Total Reset? Historismus und Moderne Christian Demand

Ermüdungsbruch

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„Wenn ich den Ring entlangschlendere“, schrieb der 27-jährige Adolf Loos im Jahr 1898, „so ist es mir immer, als hätte ein moderner Potemkin die Aufgabe erfüllen wollen, jemandem den Glauben beizubringen, er sei in eine Stadt von lauter Nobili versetzt. Was auch immer das renaissierte Italien an Herren-Palästen hervorgebracht hat, wurde geplündert, um ihrer Majestät der Plebs ein Neu-Wien vorzuzaubern, das nur von Leuten bewohnt werden könnte, die imstande wären, einen ganzen Palast vom Sockel bis zum Hauptgesims allein innezuhaben.“1 Schuld an dieser Vorliebe für einen epigonalen Historismus waren für Loos nicht etwa die Architekten und Bauherren, schuld

Abb. 1: Charles R. Cockerell, The Professor’s Dream, 1848, London, Royal Academy of Arts

war der zweifelhafte Geschmack der zahlenden Kundschaft. „Der Häuserspeculant würde am liebsten glatt die Façade von oben bis unten putzen lassen. Und dabei würde er auch am wahrsten, am richtigsten, am künstlerischsten handeln. Aber die Leute würden das Haus nicht beziehen wollen.“ Zu Loos’ Verdruss ziehen sie es vor, in Gebäuden zu leben, die durch effektvoll aufgeputzte Dekorhüllen falschen Glanz verbreiten: „Bald geben sie vor, aus Stein, wie die römischen und

toskanischen Paläste, bald aus Stuck, wie die Wiener Barockbauten, gebaut zu sein. Sie sind keines von beiden: ihre ornamentalen Details, ihre Consolen, Fruchtkränze, Cartouchen und Zahnschnitte sind angenagelter Cementguss.“ Das aber verstößt nicht nur gegen die Gesetze der Baukunst, sondern zugleich gegen die öffentliche Moral: „Wer sich für etwas Höheres ausgibt, als er ist, ist ein Hochstapler und verfällt auch dann der allgemeinen Verachtung, wenn niemand dadurch geschädigt wurde.“ Nun hätte Loos sich sicher nicht derart echauffiert, wäre es ihm allein um eine Handvoll Palastkopien an der Ringstraße gegangen. Die fielen mit ihrer gravitätischen Neorenaissance-Aufmachung nämlich keineswegs aus dem Rahmen des seinerzeit Üblichen. Loos’ Furor richtete sich vielmehr generell gegen das Denken in historischen Stilkategorien, das das Baugeschehen seit Generationen bestimmte. Seit den 1830er-Jahren, als der streng antikisierende Klassizismus seine dominante Stellung im Repräsentationsbau allmählich verloren hatte, war es europaweit gängige Praxis, sich für die unterschiedlichen Bauaufgaben der Gegenwart jeweils unterschiedliche historische Gestaltungssprachen anzuverwandeln (Abb. 1, 2). Welcher Baustil welchem Gebäudetypus angemessen war und wo genau der baukünstlerische Königsweg zwischen sklavischer Stilkopie und willkürlicher Nachdichtung im Einzelfall liegen mochte, war allerdings heftig umstritten, zumal die überzeugende Integration neuartiger Nutzungsanforderungen und Baustoffe in das traditionalistische Formenrepertoire die Architekten zunehmend vor verwickelte Probleme stellte. Dennoch war und blieb der Historismus das bestimmende architektonische Paradigma. (Eine Ausnahme machten reine Zweckbauten ohne repräsentative Funktion, doch selbst hier griffen die Architekten zumindest bei Giebeln und Portalen mitunter noch bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein auf das bewährte Repertoire traditioneller Bauornamentik zurück.) Von „allgemeiner Verachtung“ kann also keine Rede sein. Dafür nur zwei Beispiele: Der seinerzeit publizistisch höchst erfolgreiche Kunsthistoriker Wilhelm Lübke thematisierte in seinem Überblick über


Abb. 2: Carl Hasenauer, Antikes Kapitell aus Athen, 1853, Wien Museum

die gesamte Architekturgeschichte, dessen dritte Auflage 1865, also im Jahr der feierlichen Eröffnung der Ringstraße, erschien, die Aporien des Historismus hellsichtig und übte teils vernichtende Kritik an einzelnen Architekten und Bauten der jüngsten Vergangenheit – die Münchner Maximilianstraße etwa geißelte er in Loos’scher Diktion als „architektonischen Karneval“. Am Prinzip des historisierenden Bauens hielt er gleichwohl fest: „Unsere Zeit trägt einmal schwer an der Last der Überlieferungen. Aber sie kann dieselben nicht schlechtweg abschütteln […].“ Von der ersten Bauphase der Ringstraße zeigte er sich ausdrücklich angetan.2 Auch der architekturhistorisch umfassend beschlagene, leider anonyme Autor des Artikels Baukunst in der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon, die ab 1885, also immerhin zwei Jahrzehnte später, erschien, stellte das Bauen nach historischen Stilmustern nicht grundsätzlich infrage. In seinem Überblick über die zeitgenössische Baukunst zählte er nicht nur alle öffentlichen Gebäude der Ringstraße unter die bemerkenswerten Leistungen der „modernen Architektur“, er schloss ausdrücklich „den in dem Heinrichshof vereinigten großartigen Komplex von Miethäusern“, den Theophil Hansen in eben der von Loos gescholtenen Renaissancepalast-Optik entworfen hatte, als „epochemachend“ ein. Begeistert bescheinigte er dem historistischen Wien, es habe durch die Ringstraßenerweiterung eine Gruppe von Bauten gewonnen, „wie sie großartiger und phantasievoller keine zweite moderne Großstadt besitzt“. 3 In der sechsten Auflage von 1905 wurde das Loblied auf Stilarchitektur und Ringstraße in Meyers Lexikon noch immer wortgleich abgedruckt (mittlerweile allerdings unter dem Lemma „Architektur“). Zu diesem Zeitpunkt präsentierte sich das öffentliche

Meinungsbild allerdings beim besten Willen nicht mehr annähernd so einheitlich, wie der Artikel glauben machte. Zwar wurden Gebäude mit repräsentativem Anspruch noch immer weitgehend unter Rückgriff auf historische Stile errichtet. Doch schon vor der Jahrhundertwende4 war die Zahl der architekturtheoretischen Pamphlete und Programmschriften sprunghaft angestiegen, in denen gerade jüngere Architekten, Kunsthistoriker, Kritiker und Kulturreformer jede Form des Historismus als architektonische Sackgasse geißelten, als bauästhetischen Sündenfall, der, wie Loos es formulierte, der Ausbildung eines „unserer Zeit ureigenen Baustil[s]“ im Wege stand. Diese Kritik beschränkte sich nicht auf die ambitionierte Kunstund Architekturpublizistik. Selbst in kreuzbiederen Publikumsschriften wie der populärwissenschaftlichen Reihe des Göschen-Verlags fand das historistische Bauen nun keine Gnade mehr. Das 19. Jahrhundert, hieß es auch dort vorwurfsvoll, sei bei einem Eklektizismus stehen geblieben, „von dessen Werken man sich betrübt gestehen muß, daß auch die Besten doch allemal ihr Gutes von den Alten abgesehen“ hätten. 5 Die Vermehrung historismuskritischer Schriften war eingebettet in eine Vielzahl praktischer Initiativen zu einer umfassenden Gestaltungsreform, die von lebensreformerischen Bewegungen unterschiedlichster Couleur getragen wurden. Sie schlugen sich dem unterschiedlichen Aufwand entsprechend zunächst in Innenraumgestaltung und Kunstgewerbe nieder. Gegen Ende des Jahrhunderts bekamen jedoch auch reformfreudige Architekten immer öfter Gelegenheit, Bauten auszuführen, die in akzentuiertem Kontrast zu den hergebrachten Stilmustern standen und dementsprechend heftige öffentliche Auseinandersetzungen provozierten. Dass die antitraditionalistische Stimmungswende nicht allein die Architektur betraf, sondern in Literatur, Musik, Theater und bildender Kunst europaweit ganz ähnliche Tendenzen zu beobachten waren, beförderte in Kombination mit der

1

2

ieses und die nachfolgenden D Zitate: Loos 1898, S. 15f. Loos selbst war zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Architekt, sondern ausschließlich als Architekturkritiker öffentlich in Erscheinung getreten.

3

eyers Konversationslexikon, M Leipzig/Wien, 4. Aufl. 1885–1892, Bd. 2, S. 504f.

4

I n der Zeitschrift der Belgischen Architektenvereinigung (Societé Centrale d’Architecture Belgique), L’Emulation, hieß es bereits im Jahr 1872: „Wir sind dazu aufgerufen, etwas zu schaffen, das uns eigen ist, etwas, dem wir einen neuen Namen geben können. Wir sind dazu aufgerufen, einen neuen Stil zu erfinden.“ Zit. n. Frampton 2001, S. 60.

5

Schaefer 1898, S. 178.

übke 1865, S. 754. Dass manche L Gebäude zu „einer gewissen Ueppigkeit und Ueberladung der Dekoration“ neigten, schrieb der Preuße Lübke jovial „der Einwirkung des heiter beweglichen genius loci“ zu.

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kämpferischen Abgrenzungsrhetorik der Reformer die Deutung, hier sei nicht weniger als ein kunsthistorischer Epochenbruch im Gange. „In Deutschland haben sich moderne Baukunst und moderne Handwerkskunst eigentlich erst im letzten Dezennium des verflossenen Jahrhunderts entwickelt“, heißt es in diesem Sinne etwa bei Friedrich Haack, der 1905 eine voluminöse Übersichtsdarstellung zur Kunst des 19. Jahrhunderts vorlegte. Zu stark habe hier zuvor „das historisch-wissenschaftliche Bestreben“ gewirkt, „die verschiedenen Stile der Vergangenheit getreu nachzuahmen“. Glücklicherweise aber sei die „moderne Bewegung“ dabei, „diesem ganzen gekünstelten und unnatürlichen Schein- und Theaterwesen“ ein „seliges Ende“ zu bereiten. Mittlerweile gehe es endlich wieder um das Wesentliche, nämlich um „Zweckmäßigkeit und Material­ gerechtigkeit“.6 Die Verlautbarungen des zwei Jahre später ins Leben gerufenen Deutschen Werkbunds – 1912 wurde sein österreichisches Pendant gegründet – klangen praktisch identisch. Als der Kunsthistoriker Paul Frankl, ein Schüler Heinrich Wölfflins, 1914 in seiner Habilitationsschrift daranging, dem Historismus den wissenschaftlichen Totenschein auszustellen, indem er die Zeitstrecke von Brunelleschi bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als abgeschlossene Epoche behandelte, die ihre künstlerischen Möglichkeiten erschöpft hatte, war es längst auch über den Fachdiskurs hinaus ein eingeführter Topos, dass aus dem Geist des Historismus keine lebendige Verbindung mit der Gegenwart mehr zu gewinnen sei.7 In Oswald Spenglers Bestseller Der Untergang des Abendlandes, der zeitgleich entstand, wurde das Ressentiment gegen die Recyclingartisten des vergangenen Jahrhunderts zu einem allgemeinen geschichtsmorphologischen Gesetz umgedeutet: „Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile“, so Spengler, stellten ein verlässliches Symptom des kulturellen Niedergangs von „Spätkulturen“ dar. Frankl war da deutlich optimistischer. Sein Buch schloss mit dem Satz: „Wir Heutigen […] stehen erwartungsvoll in den Anfängen eines Neuen, von dem wir […] nicht ahnen, wie es werden wird. Aber wir wissen, daß es wieder ein Anfang ist, und darum ist es wieder eine Lust zu leben.“8 Aufbruchseuphorie Auch wenn das Bild von der epochalen Wende keineswegs unwidersprochen blieb, setzte sich in der Architekturgeschichtsschreibung doch schließlich auf breiter Basis die Auffassung durch, das auf fatale Weise rückwärtsgewandte 19. Jahrhundert sei nach langer Agonie schließlich von der zukunftsoffenen

Abb. 3: Unbekannter Fotograf, Seitenfassade der Secession, 1898, Wien Museum

Moderne abgelöst worden. Der Begriff der Moderne wurde dabei in einem emphatischen Sinne gebraucht. Wo während des 19. Jahrhunderts von moderner Baukunst die Rede war, war damit in aller Regel schlicht ein gegenwartsnaher Punkt auf der kontinuierlichen Zeitachse gemeint gewesen, auf der die abendländische Architekturentwicklung in den einschlägigen Übersichtswerken abgebildet wurde. In seinem neuen, emphatischen Sinn markierte das Adjektiv „modern“ hingegen eine schroffe Unterbrechung dieses Kontinuums, die einen zugleich gestalterischen wie auch moralischen Neubeginn beinhaltete. Tatsächlich kann von einer derart radikalen Zäsur jedoch nicht die Rede sein. Selbst die progressivsten Architekturströmungen der Jahrhundertwende verband in ideeller Hinsicht weit mehr mit dem angeblich rettungslos verschmockten baukünstlerischen Traditio­nalismus, als es der unversöhnliche Ton ihrer Propagandisten vermuten ließ. Die eingangs zitierte Philippika von Adolf Loos etwa erschien im ersten Jahrgang von Ver Sacrum, der kulturreformerischen Missionszeitschrift der Wiener Secession, deren dezidiert antihistoristisches Ausstellungsgebäude sich zu diesem Zeitpunkt gerade im Bau befand. Der spektakuläre Programmbau, der heftige Debatten


auslöste, war keineswegs von oben bis unten glatt verputzt, er setzte sich vielmehr durch ein raffiniertes Spiel mit Fläche und Ornament und den Rückgriff auf stilisierte Würdeformeln aus dem traditionellen Palast- und Denkmalbau auf durchaus konventionelle Weise von seinem Umraum ab (Abb. 3). Mochte die Bauornamentik auch in ausdrücklichem Kontrast zur Formenwelt der gängigen Stilarchitektur ausgeformt sein – im Bemühen, das Gebäude nicht nur funktional und materialgerecht zu gestalten, sondern die reine Zweckform ästhetisch zu überhöhen, lebte das Verständnis von Baukunst, das die Baumeister des Historismus beseelt hatte, deutlich sichtbar weiter. Als während der 1920er-Jahre der Kollektivsingular „Moderne“ architekturhistorisch allmählich zur festen Größe avancierte und im Zuge dessen diskutiert wurde, wann genau die Zäsur zwischen Historismus und Moderne anzusetzen war, hatten ästhetische Reformbewegungen von der Secession bis zum Expressionismus, die mit ihrem Gestaltungsrepertoire die These vom radikalen Epochenbruch nicht ostentativ genug bestätigten, deshalb einen schweren Stand. (Eine wichtige Rolle dabei dürfte die Kräfteverschiebung im Deutschen Werkbund im Anschluss an den Typenstreit anlässlich der Kölner Werkbundausstellung 1914 gespielt haben.) In der später kanonischen Pioniergeschichte von der Überwindung der verlogenen Stiltradition durch die Aufrichtigkeit eines modernen Funktionalismus – idealtypisch während der 1930erund 1940er-Jahre von Nikolaus Pevsner und Sigfried Giedion formuliert und nicht zuletzt vom Museum of Modern Art schon früh nachhaltig befördert – firmierten sie fortan lediglich als historisches Zwischenspiel, ein noch vom ornamentalen Fieber des Historismus angekränkeltes Präludium der wahren, nun tatsächlich von oben bis unten glatt geputzten architektonischen Moderne, die erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte.9 Diese Deutung, in der insbesondere dem Bauhaus und Le Corbusier eine zentrale Stellung zukam und deren teleologischer Fluchtpunkt in der künftigen globalen Geltung der neuen Bauästhetik lag, dominierte die Architekturgeschichte von 1945 bis in die 1980er-Jahre weitgehend. Während der Historismus in der Architekturgeschichte seither weitaus differenzierter behandelt wird, wirken die alten Dichotomien und Wertsetzungen außerhalb des Fachs weiterhin nach.10 Der überwältigende Erfolg dieser so auf ihre Diskontinuität hin optimierten Geschichtskonstruktion dürfte nicht zuletzt auf der befreienden Wirkung beruhen, die mit der Vorstellung eines voraussetzungslosen architektonischen Neubeginns einherging. Das Bild vom fundamentalen Bruch der Moderne mit ihrer Vorgeschichte legte schließlich nahe, es hätten sich dadurch automatisch auch die quälenden Legiti-

mationsfragen und gestalterischen Aporien des Historismus erledigt. Tatsächlich aber ist zumindest die wichtigste theoretische Herausforderung, auf die die Baumeister und Architekturtheoretiker des 19. Jahrhunderts reagiert haben, heute so aktuell wie damals: Es ist die schlichte Erkenntnis, dass sich gestalterische Entscheidungen nicht zwingend begründen lassen. Für jegliche Formgebung lassen sich stets Alternativen finden, aber keine Kriterien, sie in eine verbindliche Rangfolge zu bringen – in jeder Formentscheidung steckt immer auch ein Moment der Willkür. Heutzutage wird diese Einsicht vor allem virulent, wenn wieder einmal ergebnislos öffentlich darüber gestritten wird, ob historische Gebäude oder Ensembles originalgetreu rekonstruiert werden dürfen oder nicht. Zur Zeit des Historismus wurde sie durch den ungeheuren Zuwachs an archäologischem Wissen anschaulich vermittelt, der bereits während des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte und während des 19. professionalisiert und institutionalisiert wurde. Nie zuvor war das Formenrepertoire des eigenen, aber auch fremder Kulturkreise derart gut erschlossen und leicht zugänglich. Die Konfrontation mit der über­ wältigenden Vielfalt unterschiedlicher Gestaltungs­ optionen, die allesamt einmal für ihre Zeit normgebend, jedoch allesamt auch irgendwann von anderen

6 Haack 1905, S. 392. Aufschlussreich ist, wie Haack den von ihm geschätzten Gottfried Semper von seinem Verdikt gegen das „Scheinund Theaterwesen“ ausnimmt: „Vor jedem einzelnen seiner Monumentalbauten vergisst man ganz, dass man vor einem nachempfundenen Epigonenwerk steht, weil alle Bauglieder organisch ineinandergreifen, weil sich nirgends eine Leere bemerkbar macht, bei allem Reichtum aber auch nichts Überflüssiges vorhanden ist […].“ Ebd., S. 258. 7

Spengler 1923, S. 379.

8

rankl 1914, S. 186. Diese Deutung F war übrigens alles andere als originell. In seiner gut 25 Jahre früher erschienenen Geschichte der deutschen Baukunst (Berlin 1887) bemühte Robert Dohme ebenfalls das Bild vom epochalen Bruch, allerdings datierte er ihn auf den Zeitpunkt „der wiedergewonnenen Erkenntnis der hellenischen Kunst“ – er bezog sich auf die Ergebnisse der archäologischen Forschung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, namentlich die Stichwerke von Le Roy und Stuart/Revett –, durch die um die Wende zum 19. Jahrhundert „ein neues, befruchtendes Element

in die Entwickelungsgeschichte der Baukunst“ getreten sei. Auch er schließt sein Buch mit dem beglückten Ausruf: „Damit beginnt eine neue Periode derselben!“ 9

iese Abwertung wurde in der D Regel dadurch legitimiert, dass die baukünstlerischen Reformprogramme als Fortsetzung des Historismus mit anderen Mitteln gedeutet wurden, wobei als tertium com­ parationis die zentrale Rolle des Ornaments firmierte. Siehe dazu ausführlich Ocón Fernández 2004.

10 Das nach eigener Angabe „größte deutsche Online-Lexikon zum Thema Design“ schreibt unter dem Stichwort „Historismus“ beispielsweise: „Die Thematisierung der Geschichte, der vergangenen Kulturleistungen genoss höhere Priorität als die Bemühung um neue, der Zeit entsprechende Kunstformen. Davon hebt sich die Moderne grundsätzlich ab, da sie mit der Tradition bricht und nach einer die Bedingungen der Zeit reflektierenden künstlerischen Sprache sucht.“ http://www. designlexikon.net/Fachbegriffe/H/ historismus.html (abgerufen am 3. März 2015).

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abgelöst worden waren, musste den Glauben an absolut verbindliche bauästhetische Normen, der noch den Klassizismus ideell getragen hatte, auf Dauer nachhaltig erschüttern. Der Rückgriff auf historische Stilfolien dokumentiert also keineswegs naive Traditionsgläubigkeit. Er war, im Gegenteil, eine Reaktion auf den Orientierungsverlust, der mit der extremen Erweiterung des historischen Gesichtskreises und der Einsicht in die grundsätzliche Verfügbarkeit sämtlicher überlieferten Gestaltungsmittel einherging. Will man dem Historismus gerecht werden, sollte man das Gerede vom Epochenbruch deshalb besser nicht allzu ernst nehmen. Tatsächlich wurden alle Argumente, die später im Namen der Moderne gegen diese Praxis vorgebracht wurden – von der Gefahr einer Inflation von Bauornamentik in nobilitierender Absicht bis hin zur Frage nach Zweck- und Materialgerechtigkeit –, bereits von historistischen Theoretikern ausführlich diskutiert und das, wie die Schriften von Heinrich Hübsch, Gottfried Semper, John Ruskin oder auch Eugène Viollet-le-Duc belegen, auf einem Reflexionsniveau, das von ihren Kritikern und Kritikerinnen selten übertroffen wurde. Dass die Architekten des 19. Jahrhunderts so lange am überlieferten Formen­ repertoire festhielten, obwohl sie sich der damit verbundenen Probleme bewusst waren, hatte nicht zuletzt pragmatische Gründe: Die historischen Stile boten schließlich ein verlässliches formales Vokabular, mit dessen Hilfe jeder einigermaßen mit den Regeln der Syntax vertraute Architekt über die einfachen Verfahren der Kopie, des Zitats und der Variation seine Bauten zum Sprechen bringen und dabei davon ausgehen konnte, dass die Botschaft von einem breiten Publikum verstanden wurde. Durch den Einsatz griechischer Säulen oder auch gotischer Fialen konnte man subtilste Nuancen des Anspruchsniveaus, ideeller Bekenntnisse oder sozialer Zuordnungen anschaulich vermitteln. Angesichts der rasanten Veränderungen in allen Lebensbereichen musste diese Verlässlichkeit als hohes Gut erscheinen. In Anbetracht dessen ist die Skepsis, ob mit glatt verputzten Fassaden oder gar nackten Eisenstreben jemals ein auch nur annähernd so differenziertes Bedeutungsgefüge erreicht werden könnte, durchaus nachvollziehbar. Der Stilpluralismus des 19. Jahrhunderts war also nicht bloß ein billiges Travestieunternehmen, bei dem zeitgenössischen Gebäuden in hochstaplerischer Absicht beliebige historische Verkleidungen übergestreift wurden. Zweifellos war er der Versuch, in einer als unübersichtlich und prosaisch empfundenen Wirklichkeit durch baukünstlerischen Geschichtszauber eine ideale Gegenwelt zu installieren; und zweifellos sollten all die Wiedergänger historischer Tempel, Kathedralen, Burgen und Paläste auch eine nach den

Abb. 4: Ezra Stoller, Das Innere des TWA Flight Center am Flughafen John F. Kennedy in New York, 1962

eigenen Wünschen korrigierte Wirklichkeit evozieren. Darin unterscheiden sie sich mitnichten von vielen der asketischen Bauten der architektonischen Moderne. Schließlich waren und sind die glatten, technoiden Oberflächen, durch die diese sich so radikal vom Historismus abzusetzen scheinen, ebenfalls keineswegs allein Resultat der Bemühungen um eine zeitgemäße, industriell organisierte Bauweise. Sie sind zugleich ein hocheffizientes, kalkuliert eingesetztes Inszenierungsmittel, das den Anspruch zeitenthobener Allgemeingültigkeit nicht weniger suggestiv vermittelt als die Bauten des Historismus. Man denke nur an das irreale Raumerlebnis, das die Signature Buildings aus der Ära des International Style Anfang der 1960er-Jahre vermitteln, die heute als Ikonen der Moderne gefeiert werden, etwa Eero Saarinens TWA Flight Center in New York mit seinen kühn geschwungenen Stahlbetongewölben (Abb. 4) oder das durch spiegelnde Flächen zum Schweben gebrachte Thomas J. Watson Research Center für IBM in Yorktown. Wie hier mit gestalterischen Mitteln und durch eine Perfektion, bei der jeder Hinweis auf Schwierigkeiten und Grenzen der eingesetzten Herstellungsverfahren getilgt ist und so der Eindruck vollständiger Verfügbarkeit über die Materie im Gestaltungsprozess entsteht, eine Welt ohne Vergangenheit imaginiert wird, kann man durchaus als invertierten Historismus begreifen: Statt in ein imaginäres Gestern soll der baukünstlerische Zauber in ein imaginäres Morgen entführen. Die Optik mag grundverschieden sein, die Absicht ist die gleiche.


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