A n dr eAs Groll Wiens erster moderner FotograF 1812–187 2
Die neu ausgebauten Giebel an der S端dseite von St. Stephan, 1855
Pfarrkirche in Deutsch-Altenburg, um 1854
Blick auf den Hradschin in Prag, 1855 oder 1856
Blick in den Welschen Hof in Kuttenberg, 1855
Rüstung des Erzherzogs Sigismund von Tirol, fotografiert für Die vorzüglichsten Rüstungen und Waffen der k. k. Ambraser Sammlung, um 1857 Zusammenstellung für die Sammlung der Akademie der Bildenden Künste Wien
Zigeunerlager bei Reschitza im Banat, um 1860
Halle des Westbahnhofs in Wien, Blick von der Ausfahrtsseite, 1859 Barbakane der Befestigungsanlage Krakaus, 1863
Terrakottabauschmuck der Firma Wienerberger für das Chemische Institut und das k. k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie (Entwurf: Heinrich Ferstel), 1871
Unbekannter Autor, Andreas Groll, um 1853
A ndreas G roll W i e n s e r s t e r m o d e r n e r F o t o g r af 1812–187 2
Mit einem Vorwort von M at t i B u n z l
und Beiträgen von E l k e D o p p ler M on i k a Faber A ndreas N i er h a u s u nd Pe t ra Trn ko vá
Herausgegeben von M on i k a Faber
Photoinstitut Bonartes . Wien Wien Museum Fotohof edition . Salzburg
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M at t i B u n z l
Vorwort
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M on i k a Faber
„… mit aller Kraft auf die Photographie verlegt …“ Annäherungen an das Berufsbild eines frühen Fotografen B i ld t e i l
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Wien und Umgebungen 1847–1855 Erste Reisen nach Böhmen 1855–1856 Alte Kunst und Denkmalpflege 1856–1864 Österreichische Veduten 1857–1861 Fotografien für die Aristokratie 1857–1860 Industrie und Eisenbahn 1859–1861 Fotografieren in Krakau 1863 Neubauten in Wien 1854–1871
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E l k e D o p p ler
112 132 148 168 180 196
Andreas Groll als Vedutist? Fotografie und Malerei im Vergleich
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Pe t ra Trn ko vá
Archäologischer Frühling Aufnahmen historischer Baudenkmäler in Böhmen
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A ndreas N i er h a u s
Architektur-Bilder Zu den Fotografien von Andreas Groll im Wien Museum
A n h ang 254
Biografie Andreas Groll Mappenwerke und publizierte Serien 259 Literatur 264 Verzeichnis der Abbildungen und Bildnachweis 268 Namenregister 269 Register der Orte der Abbildungen 270 Dank 258
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Vorwort
Vor w or t
Viadukt der Semmeringbahn über die Kalte Rinne, 1849
Die Fotografie bestimmt unsere Sicht der Welt. Das war die revolutionäre These von Susan Sontags 1977 erschienenem Buch On Photography. Die wohl einflussreichste Kulturkritikerin des späten 20. Jahrhunderts ging vom Höhlengleichnis Platons aus und verknüpfte es mit der technologischen Moderne. So wie Platons Höhlen bewohner die Realität nur durch ihre Schatten wahrnehmen können, ist unsere Welt durch ihre fotografische Darstellung gefiltert – eine Idee, die in unserer digitalen Postmoderne sicherlich ungebrochene Gültigkeit hat. Fotografie, so Sontag, „lehrte uns einen neuen visuellen Code“. Dieser ließ es nicht nur zu, unsere Umgebung wahrheitsgetreu abzubilden, sondern konstruierte die gängige Vorstellung von Realität erst als solche. „Denn die Bilder, die eine gleichsam uneingeschränkte Autorität in der modernen Gesellschaft besitzen, sind fotografische Bilder.“ Sontags Theorie beruht auf einem technologiehistorischen Argument. Frühere Formen visueller Repräsentation waren immer nur eine „Interpretation des Realen“ – ein Umstand, der zum Teil auch auf die Fotografie zutrifft. Doch ist diese schließlich mehr: eine wahrhaftige „Spur“ und „etwas, das dem Realen direkt abgenommen“ ist „wie eine Fußspur oder eine Totenmaske“. Vor der Erfindung der Fotografie war der soziale Blick demnach ein anderer, verzerrt durch die visuellen Ideologien der manuellen Bildproduktion. Erst die technologische Darstellbarkeit der Realität schuf den modernen Erfahrungshorizont, eine weiterhin durch Repräsentationen gebrochene Wahrnehmungsebene, die der Wirklichkeit trotzdem näher war als alles Vorherige. Dadurch wurde das „Sammeln von Fotografien“ zum „Sammeln der Welt“ und das Medium „eine Grammatik, und noch wesentlicher, eine Ethik des Sehens“. So war es aber nicht immer. Ganz im Gegenteil. Als die fotografische Methode im frühen 19. Jahrhundert entwickelt wurde, war von einer Revolution des Blicks noch keine Rede. Die Aktivitäten von Pionieren wie Nicéphore Niépce waren Teil des rapiden wissenschaftlichen Fortschritts der Ära. Und selbst der Triumph von Louis Jacques Mandé Daguerre, der das nach ihm benannte Verfahren 1839 einführte und erstmals kommerzialisierte, brachte noch keinen fundamentalen Umbruch. Daguerreotypie war zwar eine der Sensationen der frühen 1840er-Jahre und verbreitete sich rasant in die gesamte westliche Welt, so auch nach Wien. Doch die Grammatik des Sehens blieb davon unberührt. Denn in der Anfangsphase war die kommerzielle Fotografie wenig mehr als ein Hilfsbehelf für Porträtisten. Deren Praxis wurde durch das Lichtbild nachhaltig verändert. Darüber hinaus gab es aber für geraume Zeit weder systematische noch kommerzielle Anwendungen für das neue Medium. So war der Beruf des Fotografen auch noch nicht erfunden – die Idee, dass eine Person im Auftrag anderer oder für persönlichen Gewinn die Welt in der neugewinnbaren Realität darstellt, und zwar in ihrer ganzen Vielfalt. Die Profession wurde erst in den späten 1840er-Jahren vorstellbar, einerseits aufgrund neuer technologischer Entwicklungen, andererseits weil sich die mögliche Entstehung eines Marktes abzuzeichnen begann.
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Vorwort
In Wien war es Andreas Groll, der als Erster das neue Berufsbild des Fotografen überstreifte. Als er sich 1853 aus den Diensten des Polytechnischen Instituts löste, um ein „photographisches Institut“ einzurichten, wurde er zum Pionier des neuen Berufsstands. Seine Werke stellten ganz unterschiedliche Bereiche dar: Gebäude, Industrieanlagen, Kunstwerke. Und er fotografierte auf Bestellung: Architekten ließen sich die Qualitäten ihrer Arbeiten in neuer Wirklichkeitsnähe attestieren; Konzerne heuerten ihn an, die Imposanz ihrer Fabrikationsstandorte zu dokumentieren. Aber Groll arbeitete nicht immer auf Zuruf. Er versuchte auch selbst, neue Märkte zu erschließen, vor allem auf dem Gebiet der Kunstreproduktion. Und er bot seine Fotografien durch vielerlei Kanäle zum Verkauf an. Wien war nur einer von vielen Knotenpunkten im sich rapide entwickelnden globalen Netzwerk kommerzieller Fotografie. Groll wurde bald von seinen Konkurrenten überflügelt – einem wirtschaftlichen Höhepunkt 1861 folgte rasch ein markanter Abstieg. Auch technologisch und ästhetisch war seine Position bald überholt. Und trotzdem: Andreas Groll ist eine zentrale Figur an der Schwelle zu dem von Susan Sontag markierten Zeitalter. Als erster moderner Fotograf Wiens war er es, der ohne vorheriges Beispiel das Medium jenseits eines wissenschaftlichen Hobbys und von den Mauern des Porträtstudios befreit praktizierte. Er begründete somit die Grammatik des Sehens von Wien (oder ist es die Grammatik des Wiener Sehens?) – eine Genealogie, in die sich über mittlerweile fast zwei Jahrhunderte so illustre Fotografen und Fotografinnen wie August Stauda, Emil Mayer, Trude Fleischmann, Erich Lessing oder Margherita Spiluttini eingeschrieben haben. In Weiterführung der Arbeit ihres ersten Berufskollegen prägten sie das Bild Wiens und schufen die Realität, in der wir uns seit der Pionierleistung Grolls finden. Dass uns Grolls Verdienst gewahr sein kann, verdanken wir der Fotohistorikerin und Kuratorin Monika Faber, Leiterin des Photoinstituts Bonartes. Ihrer beispiellosen Forschung, der wir so viel von unserem Wissen über die Geschichte der Fotografie in Österreich schulden, entstammen Idee und Ausführung der Ausstellung „Andreas Groll. Wiens erster moderner Fotograf“ sowie dieses monografischen Katalogs. Das Wien Museum ist über diese Partnerschaft mit dem Photoinstitut Bonartes überaus glücklich. Sie macht es nicht nur möglich, unserem Publikum eine faszinierende Figur der Wiener Fotografiegeschichte näherzubringen, sondern bot auch den Anlass, unseren signifikanten Bestand an Grolls Werken wissenschaftlich zu erschließen. Wir freuen uns auch, dass es erstmals zu einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Wien Museum und der Galerie hlavního města Prahy (Galerie der Hauptstadt Prag) gekommen ist, die es erlaubte, Andreas Grolls wesentliche Rolle in der Fotogeschichte Böhmens in den 1850er-Jahren zu erforschen. Wir danken Frau Direktor Magdalena Juřikova und unserer Kollegin Petra Trnková von der Akademie der Wissenschaften in Prag für die gelungene Zusammenarbeit sowie dem Technischen Museum Wien für die hilfreiche und kollegiale Kooperation. Zu guter Letzt noch ein besonderer Dank an Frauke Kreutler, die Leiterin des Digitalen Sammlungsmanagements des Wien Museums, die als Fotohistorikerin die Ausstellung an unserem Haus vorbildlich betreut hat.
Matti Bunzl Direktor, Wien Museum
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„ … m i t aller Kraf t a u f d i e P h o t ogra p h i e v erleg t … “ A n n ä h e r u n g e n a n d as B e r u fsb i l d e i n e s f r ü h e n F o t o g r af e n
/ M on i k a faber
„ … m i t a l l e r K r af t a u f d i e P h o t o g r ap h i e v e r l e g t … “
St. Stephan, um 1855
Austriabrunnen in Wien Ausschnitt von S. 151
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Aus der Bildmitte gerückte Türme, stürzende Mauern, nur als geisterhafte Schatten auftauchende Menschen, zudem noch Flecken und verblassende Bildränder: Diese Häufung des Nichtperfekten war es wohl, was mich 1982, als ich das erste Mal Bilder von Andreas Groll sah, anzog und nicht mehr losließ. Alle Regeln der klassischen Vedute wurden hier gebrochen, doch selbst die technischen Möglichkeiten der Fotografie der 1850er-Jahre schienen nicht immer bestmöglich eingesetzt. Umso suggestiver wirkte die Unmittelbarkeit, die aus diesen Zeugen eines noch nicht vollkommen beherrschten neuen Mediums spricht. Wer war dieser Andreas Groll, der uns bei der Arbeit an der ersten großen Ausstellung zur österreichischen Fotogeschichte1 als außergewöhnliche, aber auch geheimnisvolle Figur begegnete? Trotz der sichtlich frühen Entstehungszeit der damals vorliegenden Blätter war Groll niemals unter die schon im 19. Jahrhundert immer wieder aufgezählten Pioniere eingereiht worden und hinterließ auch später kaum Spuren in der „offiziellen“ Welt der 1861 gegründeten Photographischen Gesellschaft, sodass wir lange sogar vergebens nach seinen Lebensdaten suchten.2 Erst heute, da die großen Fotosammlungen in Österreich, aber auch in Prag, gesichtet und erschlossen werden, erlauben Erkenntnisse über Grolls Themen- und Kundenkreis, seine Rolle als eine der Schlüsselfiguren zum Verständnis der frühen Berufsfotografie in der Habsburger Monarchie zu identifizieren. Die Fotografie als faszinierende neue Möglichkeit, Bilder zu schaffen, ist ein Thema, das mit Recht schon vielfach und mit Rücksicht auf unterschiedlichste Aspekte als wesentlich für das Verständnis der Zeit um 1850 abgehandelt wurde. Apparate statt der manuellen Arbeit einzusetzen stand am Beginn der Industrialisierung und war damals in vielen Bereichen bereits üblich. Im Feld der visuellen Darstellung eröffneten sich damit ebenso viele neue Wege wie durch die Erfindung der Dampfmaschine in der Industrie, im Baugewerbe oder im Verkehrswesen. Dennoch war das erste Jahrzehnt nach der Einführung der Daguerreotypie 1839 in der Hauptsache von nur einer professionellen Anwendung des Lichtbildes gekennzeichnet, die auch rasch zur fast völligen Verdrängung eines traditionellen Berufs führte: Die „armen, einst so glänzend bezahlten Maler von Miniaturporträten“3 mussten das Feld der Kamera überlassen oder selbst das neue Medium von einem der Quereinsteiger beherrschen lernen: Der erste solche Fall ist in Österreich bereits für das Jahr 1841 belegt, als der wandernde Porträtmaler Joseph Weninger (1802– nach 1857) sich vom – ebenfalls auf Kundensuche reisenden – Physiker Anton Martin (1812–1882) in Karlsbad (Karlovy Vary) erfolgreich das Daguerreotypieren beibringen ließ. Dagegen verwehren konnten sich auf längere Sicht nicht einmal die bekanntesten Künstler, in Wien etwa Josef Kriehuber (1800–1876) oder Robert Theer (1808–1863). Sie mussten immer öfter fotografische Vorlagen akzeptieren und auf die Praxis langer „Sitzungen“ mit den Modellen verzichten, oder – wie Kriehuber – im fortgeschrittenen Alter noch als Zeichenlehrer eine Zusatzbeschäftigung annehmen, wenn sie ihre Arbeit nicht „billiger als Photographien“ abgeben wollten.4
Geschichte der Fotografie in Österreich, Ausstellungstournee 1983/84; Geschichte 1983, Ausst.-Kat. Zu den verkürzt zitierten Quellen siehe das Literaturverzeichnis im Anhang. Heute lassen sich die bekannten Daten zur österreichischen Fotogeschichte in einer ständig wachsenden Datenbank aufsuchen: siehe Biobibliografie zur Fotografie in Österreich (erstellt von Timm Starl), http://sammlungenonline. albertina.at//?target=biobibliografie. Alle hier nicht im Einzelnen belegten Angaben über Lebensdaten und Aktivitäten von Protagonisten der österreichischen Fotografie stammen von dort. Anton von Perger, „Ueber Photographie“, in: Wiener Zeitung (im Folgenden WZ), 11. 8. 1859, S. 3400 f., hier S. 3400. Eine Autopsie des sehr umfangreichen Bestandes von Kriehubers Druckgrafiken in der Sammlung der Albertina in Wien ergab für die Zeit nach 1842 immerhin ca. zehn Prozent Porträts, bei denen eigens „nach Daguerreotypie“ oder „nach Photographie“ hinzugefügt wurde. Zu Kriehubers späterer Zeichenlehrertätigkeit im Zusammenhang mit der Porträtfotografie siehe Krasa 1987, S. 28. 1856 bot ein Anonymus in Wien seine Ölmalereien „billiger als Photographien“ an und versprach, nur eine Sitzung zu benötigen, Fremden-Blatt, 14. 11. 1856, S. 5.
A n n ä h e r u n g e n a n d as B e r u fsb i l d e i n e s f r ü h e n F o t o g r af e n
Lustschloss Belvedere in Prag, 1856 oder 1864
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Um 1850 erweiterten sich durch technische Entwicklungen im nun allgemein gebräuchlichen Negativ-Positiv-Verfahren international die Anwendungsbereiche der Fotografie. Innerhalb weniger Jahrzehnte kam es zu einer Spezialisierung vieler Lichtbildner. Dem sozialen Umfeld, das diese Entwicklung bedingte, förderte und dabei selbst affiziert wurde, ist bisher in Mitteleuropa verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden.5 In dem vorbildlichen Buch Industrial Madness: Commercial Photography in Paris 1848–1871 hat Elizabeth McCauley das geradezu explosionsartige Anwachsen der Fotostudios in der französischen Metropole von 13 (1848) auf 400 (1871) anhand einer Reihe von unterschiedlichen Beispielen untersucht. Sie belegte überzeugend die außerordentlich rasche Verschiebung der Interessen an der neuen Bildtechnologie. Eine noch herausfordernde Erfindung mutierte durch ihre kommerzielle Nutzung innerhalb kürzester Zeit. Statt sich wie ursprüng lich an wissenschaftlich-innovativen Kriterien zu orientieren, folgten praktisch alle Neuerungen nun den Anforderungen eines volatilen Marktes. Die Ateliers „mussten ständig Unterstützer auftreiben, Kunden hofieren und jede Stufe der Produktion standardisieren“, um überleben zu können.6 Der – manchmal drama tisch rasch – wechselnde Publikumsgeschmack beeinflusste nicht nur Themen und Darstellungsweisen der Fotografien, also die Interessengebiete der konventionellen Kunstgeschichte, sondern auch deren Größe, Preise oder die Vertriebswege in einem zunehmend arbeitsteilig organisierten Feld der Bildproduktion. Am Beispiel der Karriere von Andreas Groll wird im Folgenden etwas Ähnliches für Österreich versucht, wobei sich erweist, dass die für Paris geltende Wachstumsrate und Diversifikation in der mitteleuropäischen Großstadt Wien nicht wesentlich geringer war: Es sind unterschiedliche Zahlen überliefert, aber man kann von etwa zehn bis zwölf längerfristig ansässigen Ateliers um 1853 ausgehen.7 Die kolportierten 400 im Jahr 1866 wird es nicht gegeben haben, aber sicherlich waren es mehr als die im offiziellen Adressbuch erfassten 166 Betriebe.8 Für die anderen größeren Orte, die Groll innerhalb der Habsburger Monarchie besuchte – etwa Graz, Krakau, Prag oder Salzburg –, liegen
Michael Ponstingl hat eine vor allem auf die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Gründung der Photographischen Gesellschaft in Wien abzielende Untersuchung vorgelegt, die auch die diversen beruflichen Anbindungen von deren Mitgliedern an andere Interessengruppen nennt; Ponstingl 2011, S. 32–49. In Jens Jägers vergleichender Studie zur Frühzeit der englischen und deutschen Fotografie (Jäger 2013) wird auch die frühere Literatur zu diesem Thema zitiert. McCauley 1994, S. 46. Eine zeitgenössische, aber wenig verlässliche Quelle verzeichnet bis 1854 in Wien folgende Namen: Cramolin, Groll, Herberth, Hofer, Fasching, v. Jagemann, Koberwein, Küss, Lafranchini, Mansfeld, Marneau, Miller, Mutterer („Daguerreotipist“), Nigg, Ost, Schlossarek, Stretzek, Wecker, Weingartshofer, Wünsch, in: Marneau 1869, S. 34. Lehmann 1868, S. 204 f. Michael Ponstingl hat die Problematik der Zählung ausführlich kommentiert (Ponstingl 2011, S. 32 f.). Für Wien gelten prinzipiell dieselben Einschränkungen, die McCauley für Paris geltend gemacht hat: In der eigenen Wohnung oder in Gasthöfen ohne Steueranmeldung praktizierende Fotografen etwa lassen sich ebenso wenig erfassen wie die bis weit in die 1850er-Jahre hinein von Ort zu Ort ziehenden, etc.; siehe McCauley 1994, S. 4. Starl 1983, S. 13, nannte für 1863 noch 99 Ateliers in Wien, doch haben sich inzwischen zahlreiche neue Quellen erschlossen, die eine viel höhere Zahl an tatsächlich professionell Fotografierenden belegen, die allerdings in den Wiener Adressbüchern nicht als solche aufscheinen. Siehe u. a. Innsbrucker Nachrichten, 16. 11. 1863, S. 2331; Schimmer 1866, S. 189. Beide Quellen nennen 400 Fotografen in Wien – eine Zahl, die etwa zehn selbstständig fotografierende Frauen einschloss.
„ … m i t a l l e r K r af t a u f d i e P h o t o g r ap h i e v e r l e g t … “
Karikatur „Die Fotografen-Schwärme” aus der Zeitschrift Kikeriki mit einem Atelier auf dem gerade abgetragenen Stephansturm, 14.11.1861
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noch keine solchen Statistiken vor. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass „bis 1855/60 eine Einwohnerzahl von mindestens 10.000 notwendig war, um einem Photographen das Auskommen zu sichern“9. Für die österreichische Provinz habe 1867 noch eine Zahl von mindestens 20.000 gegolten. Doch klaffen hier die Evidenz offizieller Quellen und die Dokumente subjektiver Wahrnehmung der Zeitgenossen weit auseinander. 1861 schien es einem Kommentator der Wiener Zeitung, dass die Fotografie „derart überhandgenommen [habe], daß in den belebteren Theilen der Stadt kaum noch ein Haus zu finden ist, dessen Außenseite nicht mit einer kleinen Gallerie mehr oder weniger gelungener Bildnisse […] geschmückt wäre.“10 Es wurde bewusst ein mikrohistorischer Ansatz gewählt, der die bereits „offizielle“ Fotogeschichte nur in groben Zügen nachzeichnet und dafür an einzelnen Stellen weiter ausholt. Lytton Strachey hat in seinem Versuch, das viktorianische Zeitalter durch punktuelle Darstellungen lebendig werden zu lassen, vorgeschlagen, aus dem „großen Ozean des verfügbaren Materials hier und da einen Eimer heraufzuziehen, der bei mit Sorgfalt eingesetzter Neugier in dunklen Winkeln bisher unentdeckte Einzelheiten zu Tage fördern kann, die sich als besonders charakteristisch er weisen“11. Solche Fischzüge an unterschiedlichsten Orten in Museen, Archiven und Privatsammlungen haben erstaunlich vielfältiges Material ans Licht gebracht – allerdings auch zahlreiche Fragen unbeantwortet gelassen. Das vorliegende Ergebnis wirft daher noch immer nur Schlaglichter sehr heterogener Art auf das zu wenig beachtete Feld der kommerziellen Fotografie in Österreich im 19. Jahrhundert und die vielen Bereiche, in denen sie als Symptom neuer Praktiken auftauchte – oder ihrerseits neue Vorgangsweisen anstieß. Doch der üblichen Erfolgsgeschichte eines ungebrochenen Siegeszugs des stetig verbesserten neuen Mediums und seiner durch und durch innovativen Protagonisten werden hier keine neuen Argumente geliefert, im Gegenteil: Durch die „Fehler“ in Grolls Fotografien sind deren Materialität und Fragilität, die Schwierigkeiten ihrer Herstellung und das potenzielle Scheitern daran zwangsweise mit ins Bild eingeschrieben und konterkarieren viele Vorstellungen von den Pionierjahren. Dies ist keine Erzählung von heroischen Erfindern oder von einfühlsamen Künstler naturen, sondern von Pragmatikern mit offenem Blick für sich bietende neue Gelegenheiten, vor allem aber von einem Kämpfer gegen die „Dämonen der Foto chemie“12 und andere Widrigkeiten auf dem Weg zur Professionalisierung einer neuen Technologie. E i n fo t ograf i s c h es A u fs t i egss z enar i o
Andreas Groll erschloss sich als erster in der gesamten Donaumonarchie in den 1850er-Jahren zahlreiche der später so selbstverständlich bedienten Bereiche: Architekturfotografie, Industriefotografie, Kunstreproduktion etc. Ohne die Initiative seiner diversen Auftraggeber wäre dies, wie wir sehen werden, nicht möglich gewesen. Denn Andreas Groll kam aus ärmlichen Verhältnissen und hatte es mit 40 Jahren nur zum Hausknecht am chemischen Laboratorium des Polytechnischen Instituts in Wien gebracht. Ihm selbst ging es daher ganz explizit um mehr als einen Berufswechsel; die Fotografie sah er als Mittel zum sozialen Aufstieg: Groll „wollte sich seine Lage wesentlich […] verbessern“. Dies gelang ihm in gewissem Maß auch. Wir wissen aus 9 10 11 12
Jäger 2013, S. 74. WZ, 15. 10. 1861, S. 950. Strachey 1986, S. 9 (Übers. d. Verfasserin). Geimer 2002, S. 316.
E i n f o t o g r af i s c h e s A u fs t i e g ssz e n a r i o
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seinen schwankenden Steuerleistungen und Berichten von Zeitgenossen, dass er später „sehr anerkennenswerte Erfolge erzielte“ und zumindest zeitweise eine „behagliche Existenz führen“ konnte.13 Zu einem gesicherten Wohlstand gelangte er allerdings nie. Doch immerhin studierte sein gleichnamiger Sohn (1850–1907) nicht nur an der Akademie der bildenden Künste, sondern wurde schließlich selbst Professor an der Kunstgewerbeschule in Wien. Heute ist das Werk dieses Malers praktisch vergessen, doch seine Wand- und Deckenbilder zierten einige der wichtigsten Palais an der Wiener Ringstraße. Vom Fotografen Groll haben sich zumindest 1200 verschiedene Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1842 und 1873 erhalten – eine im Vergleich zu anderen Zeitgenossen erstaunliche Anzahl von Bildern. Doch über seine Persönlichkeit wissen wir fast nichts. Eines der wenigen Dokumente, die ein wenig Aufschluss geben könnten, ist jenes, das den wesentlichen Einschnitt in seinem Leben markiert: „Der unterthänigst Gefertigte als Hausknecht am chemischen Laboratorium des k. k . polytechnischen Instituts angestellt, hofft sich seine Lage wesentlich dadurch verbessern zu können, dass er sich mit aller Kraft auf die Photographie verlegt und ein photographisches Institut errichtet. Da der unterthänigst Gefertigte aber zuerst probeweise als Photograph zu wirken wünscht, um wenn sich dies Geschäft nicht rentiren sollte, in seiner bisherigen Stellung weiter verbleiben zu können, so stellt er an die hochlöbliche Direktion das ergebenste Ansuchen, selbe wolle ihm vom 1. Mai angefangen einen viermonatigen Urlaub gnädigst bewilligen, für welche Zeit im Bewilligungsfalle der unterthänigst Gefertigte auf seine Kosten einen Ersatzmann für die Leistung des Hausknechts am chemischen Laboratorium stellen würde, dessen Wahl er der hochlöblichen Direktion anheim stellt. Andreas Groll, Hausknecht, Wien, den 27. Aprill 1853.“14 Dieses ganz im servilen Ton der Zeit verfasste Ansuchen, das durch die Billigung seines direkten Vorgesetzten, Chemieprofessor Anton Schrötter (später: Schrötter von Kristelli, 1802–1875), innerhalb von nur zwei Tagen bewilligt wurde, hat Groll zwar nicht selbst niedergeschrieben, doch wurde es sicherlich in seinem Sinn verfasst. Der Hausknecht war mit seiner Situation nicht zufrieden. Seit 1844 am Polytechnischen Institut tätig, blieben alle Versuche, aus der subalternen Stellung aufzusteigen und zum „Saaldiener“ ernannt zu werden, erfolglos.15 Seinen Plan, sich als Fotograf „besser“ durchs Leben zu bringen, ging er allerdings mit Vorsicht an; er wünschte sich eine Rückkehrmöglichkeit im Falle des Scheiterns. Müssen wir uns Andreas Groll nun als übertrieben furchtsamen oder zumindest außergewöhnlich vorsichtigen Mann vorstellen? Er hatte sicherlich gute Gründe, einen solchen Wunsch auszusprechen. Einerseits gab es da persönliche Bedenken: Sein Sohn war noch keine drei Jahre alt, seine Frau Josepha (1808–1883) litt in unregelmäßigen Abständen an einem „Nervenfieber“, auch er selbst war nach einer Pockenimpfung im Jahr 1850 (wegen einer „Bauchentzündung“ und „nervösen Zuständen“) mehrere Monate arbeitsunfähig gewesen. Er verdiente am Polytechnikum etwa 15 Gulden im Monat, hatte aber in den Jahren davor mehrfach um zusätzliche Unterstützung ansuchen müssen. Es handelte sich also um ein zwar karges, aber
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Bauer 1921, S. 9. Die wesentlichen Dokumente zu den Lebensdaten Andreas Grolls werden in der tabellarischen Biografie am Ende dieses Bandes im Einzelnen zitiert. Sie stammen aus Wirth 1939, Kirchenmatrikeln, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv und den Personalakten an der Technischen Universität Wien. Das hätte eine Verdoppelung seiner Bezüge bedeutet; siehe Lagler 1967, S. 103.
„ … m i t a l l e r K r af t a u f d i e P h o t o g r ap h i e v e r l e g t … “
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doch sicheres und regelmäßiges Einkommen. Andererseits fasste Andreas Groll einen Beruf ins Auge, den bis dahin in Wien nur wenige dauerhaft finanziell erfolgreich ausgeübt hatten. Die Gründung eines „photographischen Instituts“ war mit einigen Risiken verbunden, vor allem weil Groll offenkundig von Anfang an eben jenen Aufgabenbereich, der damals üblicherweise das Zentrum jeder kommerziellen fotografischen Aktivität darstellte, also das Porträt, nicht anstrebte. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass er jemals ein dementsprechend mit Dekorationen oder Oberlicht ausgestattetes Atelier besaß. Groll muss also schon im Frühjahr 1853 recht genaue Vorstellungen davon gehabt haben, welche Alternativen ihm offenstanden – und die hatte noch niemand vor ihm als „Geschäftsmodell“, wie man heute sagen würde, praktiziert. Insofern dürfte er nicht ohne Selbstbewusstsein gewesen sein, nicht nur was seine Fähigkeiten im Beherrschen der technischen Seite des angestrebten Metiers betraf. Und was vielleicht noch entscheidender war: er vertraute sichtlich auf die Tragkraft eines Netzwerkes potenzieller Auftraggeber, das er sich in den Jahren davor hatte aufbauen können. Das einzige gesicherte Porträt von Andreas Groll, das überliefert ist, muss um diese Zeit entstanden sein. Es zeigt einen Mann von etwa 40 Jahren, dessen schon ein wenig abgetragene und stellenweise speckig glänzende Kleidung nichts Armseliges an sich hat, sondern durchaus in das im Metier der akademischen Wissenschaftler und Techniker damals Übliche passt – selbst das leicht strubbelig-ungekämmte Haar erinnert an Professor Schrötter. Eine tiefe Falte hat sich in die Wange gegraben, doch die Körperhaltung ist vollkommen entspannt: kein Bittsteller, kein Knecht, sondern ein Mann mit vielleicht sorgenvoller Vergangenheit, der aber selbstbewusst in eine Zukunft blickt, die er selbst zu bestimmen gedenkt. D er D i ener als F o t ograf
Johann Baptist Jenger, Daguerreotypie, 1842
Von Kindheit und Jugend des Andreas Groll fehlen sichere Nachrichten. Geboren wurde er am 30. November 1812 in Erdberg.16 In dieser damals noch ländlich geprägten Wiener Vorstadt wird er auch aufgewachsen sein. Das kleine Haus mit Garten in der Wällischgasse, in dem die Eltern eingemietet waren, stand in Sichtweite des Linienwalls, also an der äußersten Peripherie dieses Ausläufers der Stadt. Das „Versorgungshaus St. Marx“, ein Armen- und Pflegeheim, lag in unmittelbarer Nähe und bescherte der Gegend einen schlechten Ruf; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Viertel sogar als Elendsquartier bezeichnet. Der Vater Joseph Paul Groll (1782–1833?) war Gärtner und „Kucheltrager“, womit eine untergeordnete Tätigkeit in einem herrschaftlichen Haushalt bezeichnet wurde. Ob auch seine Mutter, geborene Anna Fischer, im Dienst stand oder in der – in dieser Gegend damals üblicherweise sehr kleinen – Gärtnerei mitwirkte, die wohl Gemüse für die Wiener Märkte produzierte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich
16 Das Geburtshaus stand in der Wällischgasse (bis 1822: Erdberg 201, dann Erdberg 248); jetzt heißt dieser Straßenzug Hainburger Straße, während die heutige Wällischgasse einen anderen Verlauf hat.
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