Wien Museum Katalog „100 x Wien – Highlights aus dem Wien Museum Karlsplatz“

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HIGHLIGHTS AUS DEM

WIEN MUSEUM

100 x WIEN 100 x WIEN

Bedeutende Kunstwerke. Stadthistorische Zeugnisse. Kulturhistorische Raritäten. Ungewöhnliches aus dem Alltagsleben. Mit diesem Buch kommt man Wien auf die Spur, anhand von 100 außergewöhnlichen Exponaten aus dem Wien Museum. Der Zeitbogen reicht von der Prähistorie bis zur Wiener Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. Die ausgewählten Highlights spiegeln die panoramatische Breite der Sammlungen eines bedeutenden großstädtischen Universal-museums.

HIGHLIGHTS AUS DEM WIEN MUSEUM KARLSPLATZ


100 x WIEN HIGHLIGHTS AUS DEM WIEN MUSEUM KARLSPLATZ


WIEN MUSEUM

100 x WIEN HIGHLIGHTS AUS DEM WIEN MUSEUM KARLSPLATZ Herausgegeben von Wolfgang Kos

Mit Texten von Sándor Békési Susanne Breuss Elke Doppler Peter Eppel Alexandra Hönigmann-Tempelmayr Andrea Hönigmann Regina Karner Renata Kassal-Mikula Wolfgang Kos Frauke Kreutler Michaela Kronberger Michaela Lindinger Sylvia Mattl-Wurm Walter Öhlinger Eva-Maria Orosz Reinhard Pohanka Adelbert Schusser Werner M. Schwarz Ursula Storch Susanne Winkler Reingard Witzmann Lisa Wögenstein


IMPRESSUM Herausgeber: Wolfgang Kos Koordination: Andrea Hönigmann Textredaktion: Walter Öhlinger Lektorat: Milena Greif visuelle Gestaltung: fuhrer, Wien Fotografien der Objekte: Enver Hirsch, Hamburg Sonstige Fotografien: Lichtbildwerkstätte Alpenland, Wien; Mischa Erben, Wien; Paul Grünzweig, Wien; Fotostudio Otto, Wien; Color Fotolabor Dr. Parisini, Wien; Selenographie Kunstreproduktionsgesellschaft, Wien; Stiegler/Massard, Wien Scans: Pixelstorm, Wien; Vienna Paint, Wien Eigenverlag des Wien Museums Druck: Holzhausen Druck GmbH, Wien 2. Auflage 2011 © 2011 Wien Museum ISBN 978-3-902312-24-2

Wien Museum Karlsplatz 8 A-1040 Wien Tel.: 505 87 47 Fax.: 505 87 47 / 7201 E-Mail: office@wienmuseum.at Web: www.wienmuseum.at

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Hinweis Bei drei der abgebildeten Sammlungsobjekte gibt es Unklarheiten bezüglich der Provenienz: · Peter Fendi, Der frierende Brezelbub vor der Dominikanerbastei, 1828 Inv.-Nr. 59.894 · Joseph Haupt, Damenschreib- und Toilettetisch, 1805 Inv.-Nr. 70.572 · Franz Xaver Messerschmidt, Die Einfalt im höchsten Grad, nach 1770 Inv.-Nr. 67.137 Diese Objekte wurden zwischen 1938 und 1945 aus dem Kunsthandel angekauft. Es ist nicht auszuschließen, dass sie aus jüdischem Eigentum stammen und von den Nationalsozialisten entzogen worden sind. Wem die Objekte zuvor gehört hatten, konnte jedoch bisher nicht festgestellt werden. Das Wien Museum ersucht im Sinne des Beschlusses des Wiener Gemeinderats vom 29. April 1999, zweckdienliche Mitteilungen über ehemalige EigentümerInnen dieser drei Objekte vor 1938 an den Restitutionsbeauftragten (Mag. Gerhard Milchram +43/1/505 87 47 DW 84034, gerhard.milchram@wienmuseum.at; oder MMag. Dr. Michael Wladika +43/1/505 87 47, +43/676/811 80 12 63, michael.wladika@wienmuseum.at) zu richten.

Coverabbildungen Vorne: Max Kurzweil, Dame in Gelb (Detail), 1899 (Nr. 85_100) Hinten: „Zum (großen) Roten Igel“ (Detail), erste Hälfte 18. Jahrhundert (Nr. 40_100) Abbildung S. 3: Nr. 61_100 (Detail) Abbildung S. 6: Nr. 46_100 (Detail) Abbildung S. 10: Nr. 64_100 (Detail) Bildnachweis Enver Hirsch: S. 10, 13, 15, 17, 19, 21, 23, 25, 27, 29, 31, 33, 35, 37, 39, 41, 43, 45, 47, 51, 52, 53, 55, 57, 59, 65, 75, 77, 85, 89, 91, 93, 95, 97, 99, 101, 105, 107, 117, 119, 131, 133, 135, 137, 139, 149, 155, 157, 159, 161, 173, 175, 185, 187, 191, 193, 195, 207, 209, 211 Lichtbildwerkstätte Alpenland: S. 103 (oben) Mischa Erben: S. 79, 115 Paul Grünzweig: S. 210 Fotostudio Otto: S. 49, 61, 67, 73, 81, 83, 87, 109, 111, 113, 129, 143, 147, 153, 167, 169, 171, 177, 179, 197, 199, 201 Color Fotolabor Dr. Parisini: S. 3, 132 Selenographie Kunstreproduktionsgesellschaft: S. 69, 71, 121, 123, 125, 127, 141, 145, 151, 163, 165, 181, 183, 189, 203, 205 Stiegler/Massard: S. 6, 63, 103 (unten)


Inhalt

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Vorwort

100 Highlights aus dem Wien Museum Karlsplatz

Autorenkürzel SBe Sándor Békési SBr Susanne Breuss ED Elke Doppler PE Peter Eppel AHT Alexandra Hönigmann-Tempelmayr AH Andrea Hönigmann RK Regina Karner RKM Renata Kassal-Mikula WK Wolfgang Kos FK Frauke Kreutler MK Michaela Kronberger ML Michaela Lindinger SMW Sylvia Mattl-Wurm WÖ Walter Öhlinger EMO Eva-Maria Orosz RP Reinhard Pohanka AS Adelbert Schusser WS Werner M. Schwarz USt Ursula Storch SW Susanne Winkler RW Reingard Witzmann LW Lisa Wögenstein



Vorwort

Ein Mondidol aus der älteren Eisenzeit. Die originalen gotischen „Fürstenfiguren“ von der Fassade des Stephansdoms. Die älteste komplett erhaltene Pferderüstung der Welt. Der erste nach exakter Geometrie erstellte Stadtplan von Wien. Ein Speichenrad, mit dem bis 1786 unter entsetzlichen Qualen Mörder gerädert wurden. Eine edel gestaltete Wöchnerinnenschale aus dem Rokoko. Ein dreihundert Jahre altes Hauszeichen in Form eines Igels. Die Innenansicht einer Freimaurerloge, auf der mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Logenbruder Wolfgang Amadeus Mozart zu sehen ist. Der vergoldete Halbmond, der von 1519 bis 1686 auf der Spitze des Stephansturms angebracht war. Ein „Reportagegemälde“, das ein Attentat auf Kaiser Franz Joseph zeigt. Eines der bedeutendsten Frauenporträts von Gustav Klimt, nämlich jenes von Emilie Flöge. Die Einrichtung, die Adolf Loos für seine eigene Wohnung entworfen hat. Diese Beispiele mögen disparat wirken, doch sie deuten das erstaunliche Panorama und die alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Vielfalt an, die für die Sammlungen eines großstädtischen Universalmuseums typisch sind. Das Wien Museum (bis 2003 Historisches Museum der Stadt Wien) ist ein Erinnerungsspeicher, der bedeutende Kunstwerke aus sechs Jahrhunderten ebenso enthält wie einzigartige historische Stadtmodelle, Archäologisches ebenso wie kunsthandwerkliche Preziosen, Zeugnisse des städtischen Alltagslebens ebenso wie die ältesten Ansichten Wiens oder Bilddokumente außergewöhnlicher Ereignisse, Prunkvolles ebenso wie Kurioses – also ein reiches Spektrum zwischen High and Low, zwischen Hochkultur und Populärkultur, zwischen „ebener Erde“ und „erstem Stock“, um einen Stücktitel von Johann Nepomuk Nestroy zu zitieren, der auf die sozialen Gegensätze in der Gesellschaft verweist.

Eine Dauerausstellung zeigt immer nur eine schmale Auswahl der Schätze einer musealen Sammlung. Gut 99 Prozent der musealisierten Objekte lagern in den Depots, darunter alte Kutschen, steinerne Baureste oder zehntausende Fotografien. Und von den Exponaten, die in drei Geschossen des Wien Museums am Karlsplatz zu sehen sind, enthält diese Publikation wiederum nur einen Ausschnitt. Die hier präsentierten Highlights wurden von den wissenschaftlichen Mitarbeitern des Museums nach mehreren Kriterien ausgewählt. Es wurden vor allem jene aufgenommen, die sich im Lauf der Jahrzehnte zu besonderen Attraktionen für das Publikum entwickelt haben, von den gotischen Statuen des Doms von St. Stephan über Erinnerungsstücke an die Türkenbelagerung von 1683 bis zu Hauptwerken der Wiener Biedermeiermalerei und Ikonen der frühen Wiener Moderne. Es wurde versucht, Beispiele aus allen Epochen der Wiener Kulturgeschichte auszuwählen. Und es sollten möglichst viele verschiedene Objektkategorien vertreten sein, also keinesfalls nur Gemälde. Man sollte die Planmäßigkeit einer Museumssammlung nicht überschätzen. Neben gezielt gesammelten Objekten gab und gibt es auch unerwartete Zugänge. Dass sich in einem historischen Museum auch bedeutende Kunstwerke befinden, geht beispielsweise auf die vor über einhundert Jahren erfolgten Schenkungen des Fürsten Liechtenstein an die Stadt Wien zurück. Seit damals wurden neben den für Stadtmuseen typischen geschichtlichen Objekten auch systematisch Kunstwerke gesammelt. Die Gemälde von Schiele kamen beispielsweise aus dem Nachlass seines Mentors Arthur Rössler ins Museum, die Kostbarkeiten der Wiener Werkstätte im Zuge einer Auktion nach Auflösung dieses kunstgewerblichen 7


Musterbetriebs. Dazu kamen viele Erwerbungen aus dem Kunsthandel, aber auch weitere Schenkungen. Einige Teilsammlungen sind älter als das Museum. Als 1887 der Wiener Gemeinderat beschloss, ein historisches Museum zu gründen, wurden bereits bestehende Sammlungen in dieses integriert, vor allem das Bürgerliche Zeughaus oder das Lapidarium, in dem Baureste von abgerissenen historischen Gebäuden gelagert waren. Zu den ersten Sammlungsschwerpunkten zählten neben Stadtansichten und Porträts bedeutender Bürger auch Raritäten aus dem Wiener Volksleben. Später wuchsen dem Museum kulturhistorische Spezialsammlungen (Mode, Uhren, etc.) zu. Das Bewahren des Kulturerbes ist eine Hauptaufgabe eines Museums, doch ebenso wichtig ist das aktive Weitersammeln. Die jüngste Erwerbung, die in dieses Buch aufgenommen ist, liegt erst wenige Monate zurück. Es handelt sich um einen merkwürdigen Lindwurm, der im 18. Jahrhundert wahrscheinlich als Geschäftszeichen einer Kolonialwarenhandlung diente. Es gab auch Zugänge, die im Zuge brutaler Enteignungen erfolgten, nämlich jene „arisierten“ Kulturzeugnisse, die nach 1938 von den Nationalsozialisten aus jüdischen Sammlungen geraubt wurden. Manches wurde bald nach 1945 retourniert, die meisten Objekte – über 2.000 – wurden jedoch erst nach dem Wiener Restitutionsgesetz von 1998 den Eigentümern und ihren Nachfahren zurückgegeben. Immer noch gibt es Sammlungsgut aus bedenklichen Erwerbungen. Unter den 100 Highlights dieses Buches finden sich drei davon, vielleicht ergeben sich Hinweise darauf, ob es sich eventuell um Raubgut handelt. Dieser Band enthält ausschließlich Exponate, die im Haupthaus des Museums am Karlsplatz 8

ausgestellt sind. Demnächst wird ein Band mit Highlights aus dem Uhrenmuseum folgen, sowie einer mit Erinnerungsstücken an bedeutende Komponisten, die in den „Musikergedenkräumen“ zu sehen sind, welche ebenfalls zum Wien Museum gehören. Die meisten der aufgenommenen Kunstwerke und Alltagsobjekte werden seit über fünfzig Jahren im Museum präsentiert. Erst 1959 bekamen die städtischen Sammlungen ein eigenes Haus, vorher diente das Rathaus sieben Jahrzehnte lang als Ort einer „Zwischenaufstellung“. Fast wäre es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Bau eines prachtvollen Stadtmuseums von Otto Wagner gekommen. Wäre er realisiert worden, stünde heute am Karlsplatz ein Hauptwerk des Jugendstils. Die in den späten 1950er-Jahren konzipierte Dauerausstellung im neuen Historischen Museum wurde zwar mit beeindruckenden Exponaten bestückt, hatte aber entscheidende Mängel: Einerseits fehlte schon beim Neubezug im viel zu eng dimensionierten Nachkriegsbau der nötige Platz, um auch das 20. Jahrhundert zu berücksichtigen. Aus diesem Manko ist längst ein unhaltbarer Zustand geworden. Andererseits entsprach es dem Museumsstil der damaligen Zeit, Kunst-, Kultur- und Geschichtszeugnisse „stumm“ zu präsentieren, nämlich ohne Ausleuchtung ihrer gesellschaftlichen, politischen und urbanistischen Zusammenhänge. Während sich das Wien Museum im Lauf der Jahrzehnte durch Sonderausstellungen profilieren konnte, gab es bei der Dauerausstellung nur zaghafte innovative Schritte. Ihre grundlegende Neugestaltung im Zusammenhang mit einer räumlichen Erweiterung ist für das Wien Museum die wichtigste Aufgabe für die kommenden Jahre. Aber die in


diesem Buch präsentierten „Highlights“ werden sicher auch in einer völlig neu konzipierten Darstellung der Geschichte Wiens prominente Auftritte haben. Die den 100 ausgewählten Exponaten beigegebenen Erläuterungstexte deuten an, wie viele verschiedene Geschichten Sammlungsobjekte erzählen können – auch solche von ihrem einstigen sozialen Gebrauch, ihrer Bedeutung für den jeweiligen Alltag oder von ihrem oft verschlungenen Weg in das Museum. Auch wenn es sich um 100 solitäre Exponate handelt, ergeben sich in den Erläuterungstexten immer wieder Momentaufnahmen der Geschichte Wiens und der Menschen, die in dieser Stadt lebten. Und hoffentlich auch überraschende Erkenntnisse und Querverbindungen im Sinn unseres Mottos „Neues aus der Vergangenheit“. Museumsobjekte sind aber nicht nur „Links“, um Wissen zu vermitteln. Das Museum ist auch eine „Schule des Befremdens“ (Peter Sloterdijk), wird man doch mit Gegenständen und Darstellungsweisen konfrontiert, welche von Realitäten künden, die heutigen Betrachtern fremd und rätselhaft erscheinen. Das beginnt schon bei exotisch anmutenden Objektbezeichnungen wie „Funeralhelm“ oder „Brechel“. Dem Hamburger Fotografen Enver Hirsch ist es gelungen, auch diese magische Dimension herauszuarbeiten. Hirsch, der in den 1990er-Jahren mit seiner Arbeit für Design- und „Zeitgeist“-Medien wie Wallpaper oder Tempo bekannt wurde, steht für eine subjektiv-inszenatorische Objektfotografie, die über das bloß Dokumentarische hinausweist. Von ihm stammen vor allem die Bilder der dreidimensionalen Sammlungsobjekte. Grafik und Layout lagen beim Büro Fuhrer, welchem ich für seine klare und elegante Arbeit

danke. Dank der behutsamen gestalterischen Herangehensweise war garantiert, dass die ausgewählten „Highlights“ die visuellen Stars dieses Buches sind. Den Autorinnen und Autoren, durchwegs wissenschaftliche Mitarbeiter des Museums, danke ich für ihre anschaulichen Texte und vor allem für ihr Bemühen, Fachinformationen möglichst gut lesbar und anschaulich zu vermitteln. Die Erarbeitung einer solchen Publikation ist eine äußerst komplexe Angelegenheit. Eine Schlüsselrolle kam dabei Andrea Hönigmann zu, die alle technischen Produktionsschritte ebenso umsichtig begleitete wie die editorischen Feinabstimmungen. Die Hauptlast der Textredaktion lag bei Walter Öhlinger, dem Generalisten unter den am Wien Museum tätigen Historikern. Ihnen sei ebenso herzlich gedankt wie allen Museumsmitarbeitern, die an der Produktion beteiligt waren. Endlich liegt mit den „Highlights aus dem Wien Museum“ nun eine Publikation vor, die eine Ahnung von der panoramatischen Vielfalt der Exponate gibt, die im Wien Museum Karlsplatz zu bestaunen sind – und durch die man Wien auf die Spur kommen kann. Wolfgang Kos Direktor Wien Museum

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HIGHLIGHTS 1-100


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Gefäße in Tiergestalt, Urnenfelderkultur, 1300/1200 bis 800/750 v. Chr. Keramik, handgeformt, H 8–9 cm, B 5,5–6 cm, L 10,5–13,5 cm Inv.-Nr. MV 8.228–8.231 Fundort: Vösendorf, 1941

In den frühen 1940er-Jahren wurden in Vösendorf, im Süden von Wien, 31 spätbronzezeitliche Gräber gefunden. Dabei kamen neben den für diese Epoche üblichen Grabbeigaben einige ganz außergewöhnliche Objekte zu Tage. Darunter waren vier sich gleichende Gefäße, die wie Fabelwesen gestaltet sind. Ihre hohlen walzenförmigen Körper, die sich an den Enden verjüngen, setzte man auf menschliche Beine. Ein Ende wurde jeweils zu einem Kopf ausgebildet, der am ehesten dem eines Rindes nahe kommt. Die gegenüberliegenden Seiten versah man mit einer Öffnung, genau wie die Oberseiten. Auf den ersten Blick vermitteln sie ein vogelähnliches Aussehen. Als Gruppe zusammengestellt könnte man meinen, sie würden sich gerade anschicken, einige ihnen zugeworfene Körner aufzupicken. Aufgrund der Größe und der zierlichen Ausgestaltung der Fabelwesen werden sie in der wissenschaftlichen Diskussion oft der Welt der Kinder zugeordnet. Durch ihre funktionalen Merkmale, der Eingussmündung an der Oberseite und der Öffnung an der Hinterseite, fanden sie möglicherweise als Saugfläschchen für die Fütterung von Säuglingen und Kleinkindern Verwendung. Die Grabungen 1940 und 1941 standen ganz im Zeichen des Autobahnbaus. Dabei wurden große Flächen der umliegenden Äcker abgetragen, um

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Schotter für den Unterbau der Fernverkehrsstraße zu gewinnen. Auf dem sogenannten Eisgrubfeld förderte man dabei auch reichhaltige archäologische Funde zu Tage. Die zuständigen Archäologen waren dazu angehalten, die Relikte, die eine Zeitspanne von etwa 4.700 Jahren – von der mittleren Jungsteinzeit (4700–4000 v. Chr.) bis zur keltischen Latènekultur (450–15 v. Chr.) – umfassen, unter starkem Zeitdruck zu bergen und zu dokumentieren. Dabei kamen auch Zwangsarbeiter zum Einsatz. Die Funde wurden den Sammlungen der Stadt Wien eingegliedert, da Vösendorf in der Zeit des Nationalsozialismus zum Wiener Stadtgebiet gehörte. MK Lit.: Otto Seewald: Zur Bedeutung des Gräberfeldes der älteren Urnenfelderzeit aus Vösendorf, in: Karl Krabicka: Was Heimat ist und Vaterland, Vösendorf 1966, S. 21-25. Dorothea Talaa: Fundgeschichte und kurzer Überblick über das urgeschichtliche Geschehen Vösendorfs, in: Urgeschichtliche Funde aus Vösendorf (Ausstellungskatalog Marktgemeinde Vösendorf), Vösendorf 1991, S. 26f., 39. Otto H. Urban: Der lange Weg zur Geschichte. Die Urgeschichte Österreichs (Österreichische Geschichte. Bis 15 v. Chr., hg. von Herwig Wolfram), Wien 2000, S. 193-210. Otto H. Urban: Junior-Wegweiser in die Urgeschichte Österreichs, Wien 1989, S. 17-21. Clemens Eibner: Die urnenfelderzeitlichen Sauggefäße. Ein Beitrag zur morphologischen und ergologischen Umschreibung, in: Prähistorische Zeitschrift 48 (1973), S. 144-199 (ÖAW Prähistorische Kommission).



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Oberitalienischer Wanderkünstler Thronende Maria mit Kind, Abt und Stifter Fresko vom Singertor von St. Stephan, um 1400 Übertragen auf Aluminiumwaben- und Glasfaserträger, 220 ¥ 120 cm Inv.-Nr. 13.924 Schenkung des fürsterzbischöflichen Consistoriums, 1897

Der Wunsch, über den Tod hinaus präsent zu sein und das Gedächtnis an die eigene Person zu erhalten, ist in allen Gesellschaften vorhanden. Im Mittelalter motivierte er Menschen zur Stiftung von Messen, Pfründen und karitativen Einrichtungen. Die Darstellung des Stifters in Begleitung von für das persönliche Leben signifikanten Heiligen vermittelte der Nachwelt die Selbstsicht. Wer der Stifter des ehemals in der Vorhalle des Singertors angebrachten, 1895 abgenommenen und 1999/2000 restaurierten Freskos war, ist nicht bekannt. Die Vermutung, es könnte sich um den aus Padua stammenden und in Wien zwischen 1396 und 1406 nachweisbaren Galleazzo di Santa Sofia, Leibarzt von Albrecht IV. dem Geduldigen, handeln, ist angesichts der untypischen Tracht des Dargestellten eher unwahrscheinlich. Das Fresko aus der Zeit um 1400 ist eine exzellent ausgeführte Arbeit eines veronesisch-paduanisch geschulten Wanderkünstlers, der ikonografische Typus sowie die stilistische Erscheinung zeigen deutliche Abhängigkeiten von Werken Jacopo Avanzis oder Altichieros (Aldighieros) da Zevio. Es ist eine der ersten derartigen Arbeiten im mitteleuropäischen Raum. Dargestellt sind die

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Madonna mit dem Jesusknaben und links davon der kniende Stifter, eingeführt durch einen hl. Abt. Maria und Kind sitzen in einer vielteiligen, durch Blendarkaden und Nischen reich gegliederten und mit Engeln belebten Thronarchitektur. Im Originalzustand war das Fresko etwa doppelt so groß, auf der seit 1480 durch einen Pfeilereinbau in St. Stephan verlorenen zweiten Hälfte war vermutlich die Ehefrau des Stifters dargestellt, ihr ebenfalls fehlender Patron müsste nach Vorbildern zu urteilen ein hl. Jakob gewesen sein. Im hochgotischen Dom von St. Stephan entstand durch diese Stiftung eines wohlhabenden Auftraggebers ein Kunstwerk der italienischen Frührenaissance. Der kleine Putto im Mittelteil trägt ein Portativ, eine Handorgel, dies ist die älteste Darstellung eines Musikinstrumentes in Wien. RP/ED

Lit.: Peter Berzobohaty, Claudio Bizzari, Claudia Riff: Abgenommene Wandmalerei aus der Stephanskirche Maria mit Kind, hl. Antonius und Stifter. Unveröffentlichter Bericht, Wien Museum 2002. Günter Brucher (Hg.): Gotik (Geschichte der bildenden Kunst in Osterreich, Bd. 2), München/London/New York 2000, Kat.Nr. 210 (Text Franz Kirchweger)



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„Mondschein“ – Bekrönung des hohen Turmes von St. Stephan, Wien, 1519 Messing, vergoldet, 141,5 ¥ 145 cm Inv.-Nr. 561 Aus dem Bestand des ehemaligen Wiener Bürgerlichen Zeughauses

Am 28. Juli 1519 erhielt der hohe Turm von St. Stephan als neue Spitze den „Mondschein“: Ein steinerner Schaft trug einen von acht vergoldeten Kupferplatten umhüllten Knauf, auf den ein achtstrahliger Stern und ein Halbmond, beide aus vergoldetem Messing, aufgesetzt waren. Die Spitzen der Mondsichel waren dabei so an der Achse des Sterns befestigt, dass sich der Mond seitlich um den Stern drehen konnte. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Zeichens ist nicht eindeutig: Es kann als Sinnbild des Zusammenspiels von geistlicher und weltlicher Macht – Papst und Kaiser als Sonne (Stern) und Mond – gesehen worden sein. Angesichts des damals in voller Blüte stehenden Humanismus mit seinem Interesse an der Astronomie ist aber auch eine zeitgenössische Deutung als kosmisches Symbol möglich. Der Knauf wäre demnach für die Sonne, Stern und Mond für deren Trabanten gestanden. Der Mondschein stand ursprünglich in keinem Zusammenhang mit dem islamischen Symbol des aufgehenden Halbmonds, das seit der Regierungszeit Sultan Selims (1512–1520) auf Fahnen und Feldzeichen des osmanischen Reiches verwendet wurde. 1529, während der Ersten Türkenbelagerung, musste den Wienern freilich die Ähnlichkeit auffallen. Sowohl in Wien als auch im Osmanischen Reich erzählte man sich in der Folge, das Symbol sei auf

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Forderung des Sultans auf dem Turm angebracht worden. Eine 1530 vom Stadtrat an den Kaiser gerichtete Bitte, ihn durch eine Figur des hl. Georg mit Fahne zu ersetzen, blieb zunächst unerfüllt. Erst am 15. Juni 1686 wurden Halbmond und Stern abgenommen und – wie es hieß, in Erfüllung eines Gelübdes Kaiser Leopolds I. während der Zweiten Türkenbelagerung – wenig später durch ein Kreuz ersetzt. Mond und Stern der alten Turmspitze, die nun offenbar gänzlich als islamisches Zeichen gesehen wurden, nützte man zur Schmähung der Osmanen. Man ätzte in den Mond die Inschrift „Haec Solymanne Memoria tua“ („Dieses, Süleyman, zu deinem Andenken“) mit einer eine obszöne Geste („Feige“) vollführenden Hand und der Jahreszahl „Ao 1529“ ein und stellte ihn zusammen mit dem Stern, aus dem zwei Strahlen herausgebrochen wurden, in der „Kaiserlichen Gallerie“ in der Stallburg aus. Später kam er ins Wiener Bürgerliche Zeughaus, wo man auch Beutestücke aus den Türkenkriegen aufbewahrte. WÖ

Lit.: 850 Jahre St. Stephan. Symbol und Mitte in Wien 1147–1997 (Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien), Wien 1997, S. 230-231. Birgit und Thomas Ertl: Sonne und Mond. Die Turmbekrönung am Stephansdom zwischen den zwei Türkenbelagerungen, in: Wiener Geschichtsblätter 52 (1997), S. 165-181.



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Medaille anlässlich des beim Einzug von Erzherzog Maximilian nach Wien gebrachten Elefanten, 1554 Medailleur: Michael Fuchs Blei, Dm 61 mm Einseitig: DISER. HELFANT.IST.KVMEN.GIEN WIE-N. IN DIE.STAT.DA / MAN.IN.BEI.SEINEM.L-EB-EN.ABKONT / ERFETH-AT Im Abschnitt: .1554.M.F. Inv.-Nr. 76.410 Spende des Kunsthistorischen Museums Wien, Münzkabinett, 1943

Zur Zeit der Renaissance in Wien entstanden, ist diese Medaille eine Rarität ersten Ranges. Sie verdankt ihre Entstehung der Rückkehr des späteren Kaisers Maximilian II. (1527–1576, Kaiser 1564–1576) aus Spanien nach Wien. Als Maximilian mit seiner spanischen Frau Maria 1552 feierlich in Wien einzog, befand sich unter den vielen mitgebrachten exotischen Tieren auch ein Elefant, genannt Soliman. Er wurde von einem indischen Tierpfleger, einem sogenannten Mahout – die Medaille zeigt ihn auf dem Elefanten reitend – begleitet. Obgleich der Elefant bereits am 6. März 1552 in Wien eintraf, wurde er erst am 7. Mai 1552 (einem Samstag) der Wiener Bevölkerung vorgestellt. Da es der erste Elefant war, den man in Wien sehen konnte, hatten sich am Grünen Markt (wie damals der Graben genannt wurde) viele Schaulustige eingefunden. Hier soll sich folgendes ereignet haben: Wegen des großen Gedränges der Leute soll einer Frau ein etwa fünfjähriges Töchterchen entfallen und vor die Füße des Elefanten geraten sein. In der entstandenen Panik habe der Elefant das Kind in aller Ruhe mit seinem Rüssel gepackt und es unverletzt der weinenden Mutter übergeben. Zur Erinnerung an dieses Ereignis ließ angeblich der Vater des geretteten Kindes, der niederösterreichische Raitrat (Finanzbeamter) Anton Gienger, einen großen Elefanten aus Sandstein anfertigen,

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der an der gegen den Stock-im-Eisen-Platz zugekehrten Seite des Hauses, das den Ostabschluss des Grabens bildete, angebracht wurde. Fortan hieß dieses Gebäude „Zum schwarzen Elefanten“. Das später umgestaltete Haus wurde 1866 demoliert. Der Elefant starb bereits am 18. Dezember 1553, wahrscheinlich in der in den 1550er-Jahren gegründeten Menagerie im Schloss Ebersdorf. Aus Knochen des toten Tieres ließ der Wiener Bürgermeister Sebastian Huetstocker 1554 einen Stuhl anfertigen, der sich heute im Stift Kremsmünster befindet. An die Reise des Dickhäuters über die Alpen erinnerten alsbald „Elefanten-Häuser“, beispielsweise in Brixen, Lambach und Linz. In Wien wurde der Elefant besonders populär, wie zahlreiche Hausschilder bezeugten. Michael Fuchs, dem diese Medaille zugeschrieben wurde, war in erster Linie Bildhauer und Grafiker. Er wirkte zuerst in Nürnberg, kam 1550 nach Wien und kehrte später nach Deutschland zurück. Den Auftrag zur Schaffung der Medaille erhielt der Künstler von Kaiser Maximilian II. selbst. AS Lit.: Ferdinand Opll: „ ... ein(e) vorhin in Wien nie gesehene Rarität von jedermann bewundert“. Zu Leben, Tod und Nachleben des ersten Wiener Elefanten, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 60 (2004), S. 229-273.



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Kara Mustafa Pascha, 1696 (?) Unbekannter Künstler Öl auf Leinwand, 75 ¥ 49 cm Aufschrift: Chara Mustapha türkischer Großvezier welcher / Anno 1683 den 12. July die Kay. Residenz Statt Wien belagert / aber wider den 12. 7br. mit Verlust und großen Spott weckgeschlagen worden. Inv.-Nr. 31.033 Schenkung des Grafen Hans Wilczek, 1883

Es sind nur sehr wenige Porträts von Kara Mustafa (um 1640–1683), dem osmanischen Oberbefehlshaber während der Zweiten Wiener Türkenbelagerung, erhalten geblieben. Das im Wien Museum gezeigte Gemälde ist vermutlich etwas mehr als zehn Jahre nach der Hinrichtung Kara Mustafas entstanden. Es zeigt den Feldherrn in prächtiger, aber ziviler Kleidung und mit einem federgeschmückten Turban. Vor dem riskanten Vordringen nach Wien hatte sich Kara Mustafa bereits gegen das polnischlitauische Reich, in der Ukraine und gegen die Kosaken als weitgehend glücklos erwiesen. Zeitgenössischen Berichten zufolge entsprachen Erpressung, Bestechung und verschiedene Grausamkeiten seinem Wesen eher als geschickte strategische Überlegungen im Kampf. Familiäre Verbindungen machten es ihm 1661 dennoch möglich, zum Großadmiral der türkischen Flotte aufzusteigen. Ab 1676 war Kara Mustafa Großwesir, er hatte somit eines der höchsten Ämter im osmanischen Reich inne. Nachdem seine Eroberungspläne im Westen durch die Verteidigung Wiens und vor allem durch das rechtzeitige Eintreffen des polnischen Königs Jan III. Sobieski vereitelt worden waren, zog er sich mit seinem geschlagenen

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Heer nach Belgrad zurück, wo ihn der Hinrichtungsbefehl des Sultans Mehmet IV. ereilte. Der ehemalige Heerführer starb am 25. Dezember 1683. Sein angeblicher Schädel war nach der Eroberung Belgrads (1688) von Grabräubern entwendet und dem österreichischen Kardinal Leopold Graf Kollonitsch übergeben worden. Dieser brachte das „Andenken“ in das damalige Wiener Bürgerliche Zeughaus, dessen Bestände später in das Historische Museum der Stadt Wien übergingen. Der bekannte Orientalist Joseph Hammer-Purgstall bezweifelte mit dem Hinweis, dass Kara Mustafa in der türkischen Stadt Edirne beigesetzt worden sei, dessen Echtheit – diese Ansicht wird bis heute von türkischen Historikern geteilt. Bis 1976 war der Schädel in einem versilberten Messingschrein im Historischen Museum der Stadt Wien (heute Wien Museum) ausgestellt, später wurde er im Depot aufbewahrt. 2006 wurde er am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. ML Lit.: Die Türken vor Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1683 (Ausstellungskatalog Historisches Museums der Stadt Wien), Wien 1983, S. 67. ¸ a, Tagungsband, Ankara 2001, S. 283. Merzifonlu Kara Mustafa Pas



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Porzellanfiguren aus einer Serie „Wiener Kaufrufe“: Zwirnverkäuferin, um 1765 Entwurf: Johann Joseph Niedermayer (?) Ausführung: Wiener Porzellanmanufaktur, Anton Payer, Christoph Dreischarf

Galanteriewarenhändler, um 1755 Entwurf: Johann Joseph Niedermayer (?) Ausführung: Wiener Porzellanmanufaktur, Anton Payer

Porzellan, bemalt, H 20,9 cm Bez.: Unterglasurblauer Bindenschild, Ritzzeichen: X, Staffierer-Nr. 26 (= Ch. Dreischarf), eingepresst Bossiererzeichen P (= A. Payer) Inv.-Nr. 49.139 Ankauf: Auktion der Porzellansammlung Karl Mayer bei Glückselig, 1928

Porzellan, bemalt, H 20,4 cm Bez.: Unterglasurblauer Bindenschild, eingepresst Bossiererzeichen P (= A. Payer) Inv.-Nr. 49.148 Ankauf: Auktion der Porzellansammlung Karl Mayer bei Glückselig, 1928

In der Zeit von 1745 bis 1785 wurden von der Wiener Porzellanmanufaktur mehrere Folgen von Figuren hergestellt, die Wanderhändler und Gewerbsleute darstellten. Heute sind etwa 65 solcher Statuetten bekannt, darunter eine Fischhändlerin, ein Verkäufer von Degengriffen, ein Tabakkrämer, ein Barometerverkäufer, eine Verkäuferin von Häkeleien, ein Dudelsackpfeifer mit einer Marionette, ein Bandlkramer, ein Koch, ein Gärtner, ein Schmied, eine Putzmacherin oder ein Perückenhersteller. Sie gehören zu den ältesten Darstellungen dieser Art. Viele dieser Berufe sind längst ausgestorben und Wanderhändler wie etwa auch die beiden hier gezeigten – die Zwirnverkäuferin, welche die verschiedensten Nähutensilien wie Zwirn oder Bänder verkaufte, oder den Galanteriewarenhändler, der Schmuck, Kurzwaren und andere Gebrauchsgegenstände in feiner Ausführung zum Verkauf anbot – gibt es heute nicht mehr. Die Porzellanfiguren gingen den ebenfalls populären „Kaufruf-Typen“ der Wiener Kupferstecher voraus. Vorreiter auf dem Gebiet der figuralen Kleinplastik waren, von französischen Kaufrufstichen angeregt, die Manufakturen von Meißen und Sèvres. Die 1718 gegründete und 1744 vom Staat übernommene Wiener Porzellanmanufaktur griff dieses neue Thema auf und konnte nach anfänglichem Kopieren französischer Vorlagen bald ihren eigenen Stil finden.

Die künstlerisch wertvollsten Statuetten entstanden nach 1755, in der Blütezeit des Wiener Rokoko. Die Wiener Figuren sind in der Bewegung elegant, ihre Haltung ist natürlich und beschwingt. Die Bemalung ist zart, eine sorgfältige und detailbewusste Ausführung zeichnet sie aus. Die Stoffe der Kleidungsstücke sind meist einfärbig, hermelinartig gemusterte Pelzbesätze oder gestreifte Halstücher waren äußerst beliebt. Die goldverzierten Miedereinsätze sind eine besondere Feinheit. Gegen Ende der Rokokozeit wurde bei den Frauenkleidern oft die damals beliebte kleine Streublumenmusterung angewandt. Der Sockel der Figuren ist meist mit Golddekor versehen. Der Urheber dieser Modelle war mit hoher Wahrscheinlichkeit Johann Joseph Niedermayer, von 1747 bis 1784 der Modellmeister der Wiener Porzellanmanufaktur. Die Aufgabe der Bossierer war es, die Figuren auszuformen und Details herauszuarbeiten, wodurch ohne Änderungen des Modells mehr oder minder große Varianten der gleichen Figuren entstanden; die Bemalung oblag den sogenannten Staffierern. AH

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Lit.: Hubert Kaut: Kaufrufe aus Wien. Volkstypen und Straßenszenen in der Wiener Graphik von 1775 bis 1914, Wien/München 1970, S. 26-29. Josef Folnesics: Die Wiener-Porzellan Sammlung Karl Mayer. Katalog und historische Einleitung, Wien 1914, S. 60f. Edmund Wilhelm Braun: Ausruferfiguren aus Alt-Wiener Porzellan, in: Alois Trost (Hg.): Alt-Wiener Kalender für das Jahr 1918, Wien 1918, S. 105-109.



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Josef Danhauser Das Kind und seine Welt, 1842 Öl auf Holz, 22,6 ¥ 29 cm Monogr. u. dat. (auf der Spielzeugschachtel): J. D. 842 Inv.-Nr. 16.640 Ankauf: Auktion der Sammlung Rogge bei Wawra, 1898

Von den bedeutenden Malern des Wiener Biedermeier setzten sich einige von ihnen, wie Ferdinand Georg Waldmüller oder Peter Fendi, besonders mit dem Thema „Kind“ auseinander, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch neue pädagogische Theorien Aufschwung erhalten hatte. Der äußerst sensible Zeichner und Maler Josef Danhauser (1805–1845) wandte sich ab 1840 – am Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens – dem für ihn neuen Sujet des Kinderbildes zu, in dem seine eigenen Kinder die Hauptakteure bildeten. Das Gemälde „Das Kind und seine Welt“ gewann beim Publikum große Zustimmung, sodass der Künstler mehrere Fassungen ausführte, die allerdings heute nicht mehr zur Gänze rekonstruierbar sind: Zumindest hat er im Entstehungsjahr 1842 das Bild zweimal gemalt, in den beiden folgenden Jahren wieder jeweils zwei Wiederholungen geschaffen, und 1845, in seinem Todesjahr, zwei bis drei weitere Variationen davon angefertigt. Große Popularität und Verbreitung gewann das Bild durch den mit ziemlicher Sicherheit in das Jahr 1843 zu datierenden Reproduktionsstich von Franz Stöber. Auf den ersten Blick erscheinen manche seiner erzählenden Bilder als Idyllen kleinbürgerlichen Zuschnitts, doch dem feinnervigen Josef Danhauser blieb die politische und soziale Entwicklung der Biedermeierzeit keineswegs verborgen. Er selbst hatte durch die Arbeit für die Möbelfabrik seiner Familie – die er 1829 nach dem plötzlichen Tod seines Vaters übernehmen musste – die Probleme und Spannungen gekannt, die schließlich 1848 zur Revolution führten. Danhauser fand in seiner letzten Schaffensperiode zu einer inhaltlichen Tiefe, die sich nicht vordergründig erschließen lässt. Dazu gehört das Gemälde „Das Kind und seine Welt“, mit seinem verschlüsselten Bildinhalt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit: Auf einer fast merkwür128

dig leeren Bühne liegt im Zentrum das Kind, sein eigener dreijähriger Sohn. Mit dem Oberkörper ruht er auf einem Sessel – ein modisches Erzeugnis der eigenen Möbelfabrik Danhauser –, während sich seine Beine auf einem Atelierschemel, auf dem noch ein Buch liegt, abstützen. Das Kind hat sich in einer dynamischen Bewegung dem Betrachter zugewandt, seine Augen blitzen, als habe es etwas Wunderbares gesehen. Unter dem Sessel liegt in sich ruhend sein Spielgefährte, ein geflecktes Hündchen, das auch als Sinnbild für das kreatürliche Element gedeutet werden kann. Wie auf der unendlichen Fläche eines Weltmeeres stehen – untereinander vollkommen beziehungslos – kleine steife Erwachsene umher. Dabei handelt es sich um Holzpuppen, sogenannte Docken, die damals als billigeres Spielzeug in Verwendung waren und in Holzspanschachteln aufbewahrt wurden. In der linken unteren Bildecke liegt auch eine solche Schachtel, unter der aber eine Docke eingeklemmt ist, die den Eindruck des nicht „Aufstehenkönnens“, des Erschlagenseins vermittelt. Dieser unbewegliche „Holzerwachsene“, in der Querachse zum lebendigen Kind liegend, ergibt zwar keinen effekthaschenden, aber doch sehr wohl einen bestimmenden Kontrast: Es ist das Kind, dem in seiner ureigensten Sphäre des Spiels ein schauendes Erkennen in dieser erstarrten, kalten Welt gelingt. RW Lit.: Veronika Birke: Josef Danhauser (1805–1845). Gemälde und Zeichnungen (Ausstellungskatalog Graphische Sammlung Albertina), Wien 1983. Gerbert Frodl, Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Wiener Biedermeier. Malerei zwischen Wiener Kongreß und Revolution (Ausstellungskatalog Kunstforum der Bank Austria Wien und Österreichische Galerie Belvedere), Wien 1993, S. 4-32. Reingard Witzmann: „Euer Kinderland sollt ihr lieben ...“ – Die Imagination des Kindes in der Malerei und Graphik, in: Heinrich Pleticha (Hg.): Die Kinderwelt der Donaumonarchie, Wien 1995, S. 181-206.



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Ferdinand Georg Waldmüller Die Rosenzeit, um 1864 Öl auf Holz, 56,9 ¥ 70,6 cm Sign. u. (unvollst.) dat. Mi. li.: Waldmüller/186( ) Inv.-Nr. 10.134 Widmung des Fürsten Johann II. von und zu Liechtenstein, 1894

Vermutlich im letzten Sommer vor seinem Tod malte Ferdinand Georg Waldmüller (1793–1865) eines seiner schönsten Bilder aus der Umgebung der Brühl im südlichen Wienerwald, wo er auch wohnte. In „Die Rosenzeit“ sehen wir das Sparbachtal mit dem Bergrücken des Mittleren Otter im frühmorgendlichen Licht eines warmen Sommertags. Ein mit zwei Ochsen bespannter Wagen hält auf einem Weg. Vom Wagen herab unterhält sich ein junger Bursche mit einem Mädchen, das ihm eine Rose an den Hut steckt. Der Titel „Die Rosenzeit“ bezieht sich sowohl auf das im rechten Vordergrund dargestellte Blühen der Rosen in der Natur als auch auf die Symbolkraft der Rose für das Liebespaar. „Menschliches Schicksal und Natur werden, gleichgerichtet, zu völligem Einklang gebracht.“ (Grimschitz) In seinen späten Genrebildern verzichtet Waldmüller allmählich darauf, „inszenierte“ Geschichten mit theatralisch wirkenden szenischen Auftritten zu erzählen. Das Geschehen wirkt „natürlich“, ja beinahe alltäglich. Die maßstäblich kleiner gewordenen Figuren sind selbstverständlicher in die Landschaft eingebettet, die nun zum eigentlichen Stimmungsträger, zum Hauptakteur wird. Menschen, Tiere und Landschaft bilden eine harmonische Einheit. In Bildern wie der „Rosenzeit“ näherte sich Waldmüller der kompromisslosen Verwirklichung seines künstlerischen Ideals der Sonnenlichtmalerei an. Zeitlebens beschäftigte ihn ja fast zwanghaft das Problem, Sonnenbeleuchtung wahrheitsgetreu wiederzugeben. „Das Baden in der blendenden Sonne, das Blühen in ihrem Lichte und das Glühen in ihrem Schatten reizte ihn bis zur Unzu-

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rechnungsfähigkeit“ (Hevesi). Der streitbare Künstler, dessen intensive Bemühungen um eine Reorganisation des Akademieunterrichts zu schweren Zerwürfnissen mit dem Professorenkollegium und zu seiner Zwangspensionierung als Akademielehrer geführt hatten, ließ sich jedoch auch durch zeitgenössische Kritik nicht beirren. In der „Rosenzeit“ verhilft das klare Sonnenlicht den Farben zu großer Leuchtkraft. Die Sonne wirkt vereinheitlichend und setzt gleichzeitig durch scharfe Licht-Schattenkontraste spektakuläre Akzente. Das Ochsengespann und das junge Paar erscheinen im Gegenlicht in fast greifbarer Plastizität und gleichzeitig als langgezogener Schattenwurf auf dem Weg. Im Gegensatz zu den französischen Impressionisten hielt Waldmüller aber immer an der festen Form und der Lokalfarbe fest, eine Tradition, auf die später der österreichischen Stimmungsrealismus eines Emil Jakob Schindler oder einer Tina Blau aufbauen sollte (siehe Nr. 77). Um die Jahrhundertwende wurde dem wiederentdeckten und gefeierten Spätwerk des Künstlers allerdings eine dem Impressionismus vergleichbare Modernität bescheinigt. ED Lit.: Ludwig Hevesi: Oesterreichische Kunst im 19. Jahrhundert, Leibzig 1903, S. 78, 82 (Zitat). Bruno Grimschitz: Ferdinand Georg Waldmüller, Salzburg 1957, S. 70 (Zitat) und WV 971, S. 365. Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Ferdinand Georg Waldmüller (Ausstellungskatalog Kunstforum Länderbank Wien), München 1990, S. 29-31. Rupert Feuchtmüller: Ferdinand Georg Waldmüller 1793–1865, Wien/München 1996, S. 296 und WV 1087, S. 526. Johann II. von und zu Liechtenstein. Ein Fürst beschenkt Wien. 1894–1916 (Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien), Wien 2003, S. 52



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Modell der Wiener Innenstadt, 1852/54 Herstellung: Eduard Fischer Holz, Papier und Karton, koloriert, 432 ¥ 510 cm, Maßstab 1 : 450 Inv.-Nr. 94.521 Vor 1888 im Bestand des Historischen Museums der Stadt Wien

Modelle mit einem Anspruch auf realistische Wiedergabe gehören seit der frühen Neuzeit zu den besonderen Darstellungsformen der Städte. Ältere Wienporträts dieser Art, wie etwa jene des Kartographen Daniel Suttinger um 1680, sind leider verschollen. Die beiden großformatigen Stadtmodelle aus dem 19. Jahrhundert (siehe Nr. 82) gehören seit ihrer Aufstellung im Wien Museum zu den Hauptattraktionen der Schausammlung: Jenes vom bürgerlichen Tischlermeister Eduard Fischer erstellte Modell der Wiener Innenstadt gilt somit als die älteste erhaltene, plastische Darstellung Wiens. Es entstand zur Zeit der ersten Stadterweiterung der Neuzeit und veranschaulicht die alte Stadt kurz vor dem Abriss der Befestigungsanlagen und der Errichtung der Ringstraße an Stelle der freien Glacisgründe. Auf der Grundlage des Katasterplans und im wesentlichen maßstabsgetreu lässt die Nachbildung besonders die Ausmaße und die Beschaffenheit der Festungsmauern, des Stadtgrabens und der Basteien hervortreten. Mit diesen Wehranlagen verschwand eine morphologische und bauliche Großstruktur, welche das Aussehen und die Erfahrung der Stadt über Jahrhunderte geprägt hatte. Die Festungsmauern präsentieren sich hier in ihrem letzten Entwicklungsstadium bereits mit Volks- und Burggarten sowie Äußerem Burgtor, die aus der sogenannten

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„kleinen Stadterweiterung“ in Folge der Zerstörung eines Teils der Stadtbefestigung 1809 durch die Franzosen hervorgingen. Deutlich zu sehen sind die zahlreichen verwinkelten und engen Gassen der alten Innenstadt, in deren Gefüge bis dahin nur wenige Regulierungsmaßnahmen stattgefunden hatten. Im Modell integriert ist bereits die 1854–57 auf der Dominikanerbastei errichtete FranzJosephs-Kaserne – das Pendant zur späteren Rossauer Kaserne auf der anderen Seite der Stadt. Fischers Modell wurde 1872 in der Historischen Ausstellung der Stadt Wien im Pädagogium, der 1868 eröffneten städtischen Lehrerbildungsanstalt in der Hegelgasse, gezeigt. Später diente es einmal mehr der Repräsentation „Alt-Wiens“, als es 1898 während der Jubiläumsausstellung im fünfzigsten Regierungsjahr von Kaiser Franz Joseph I. im Prater aufgestellt war, und zwar als Gegenstück zum damals neuen Stadtmodell Erwin Pendls, das bereits die gründerzeitliche Innenstadt mit der Ringstraßenzone veranschaulicht. SBe Lit.: Andrew John Martin: Stadtmodelle, in: Wolfgang Behringer, Bernd Roeck (Hg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800, München 1999, S. 66-72. Karl Fischer: Der Kartograph Daniel Suttinger (1640– um 1690). Sein Leben und sein Werk im Rahmen der frühen Wiener Stadtkartographie, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, 1991/92 (Studien zur Wiener Geschichte, Bd. 47/48), S. 51-92.



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Gustav Klimt Porträt Emilie Flöge, 1902 Öl auf Leinwand, 178 ¥ 80 cm Sign., dat. u. monogr. im rechten unteren Bereich: Gustav Klimt 1902 GK Inv.-Nr. 45.677 Übernommen vom Niederösterreichischen Landesmuseum, 1921

Gustav Klimts Porträt von Emilie Flöge ist eines der berühmtesten und zugleich das wertvollste Gemälde des Wien Museums. Es ist das erste Damenbildnis Klimts, in dem das Ornament Eigenwert besitzt, und es markiert damit den Beginn jener Schaffensperiode des Künstlers, deren Bilder in den letzten Jahren auf internationalen Auktionen absolute Höchstpreise erzielen konnten. Die Dargestellte steht in Lebensgröße, ganzfigurig vor einem vagen, in Schlamm- und Erdtönen gehaltenen Hintergrund, von dem sich nur Gesicht, Hände und Dekolleté hell abheben. Ihre naturalistisch gehaltenen Gesichtszüge stehen dabei im Gegensatz zu dem abstrakten Ornamentgefüge, das Emilie Flöges Körper einhüllt und Kopf und Schultern wie eine Aura umgibt. Emilie Flöge (1874–1952) kann zweifellos als Gustav Klimts wichtigste Bezugsperson bezeichnet werden. Mit ihren Schwestern führte sie von 1904 bis 1938 einen florierenden, von der Wiener Werkstätte eingerichteten Modesalon auf der Mariahilferstraße. Als finanziell unabhängige Geschäftsfrau, für die eine konventionelle Ehe im Sinne der materiellen Absicherung bedeutungslos war, konnte sie einer freiheitsliebenden Künstlernatur wie Gustav Klimt auf gleicher Augenhöhe begegnen. Über das Verhältnis der beiden zueinander wurde viel spekuliert. Die wahrscheinlichste Variante ist wohl, wie schon von Tobias Natter vermutet, eine Liebesbeziehung, die sich im Laufe der Zeit zu einer krisenfesten Partnerschaft entwickelte. Kennengelernt hatten sich die beiden 1891 bei der Hochzeit von Emilies Schwester Helene mit Klimts Bruder Ernst. Seit dem Sommer 1900 verbrachten sie die Sommermonate gemeinsam am Attersee. Auf Urlaubsfotos sieht man Klimt im Malerkittel und Emilie in weiten, lose fließenden 178

Gewändern. Ohne einengendes Korsett zu tragen, waren diese sogenannten Reformkleider um die Jahrhundertwende hochmodern, symbolisierten sie doch Freiheit und den Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen. Dementsprechend wurde in der Literatur Emilies Kleid auf Klimts Porträt zumeist als Reformkleid interpretiert, was allerdings höchst unwahrscheinlich ist: Zum einen spricht die schmale Silhouette von der Hüfte abwärts gegen die von den Fotos bekannte Stofffülle eines Reformkleids, zum anderen müsste das Stoffmuster durch tiefe Falten gebrochen erscheinen. Gerade die regelmäßige Ausführung des Ornaments aber ist Indiz dafür, dass Klimt sich just in diesem Bild von der naturalistischen Malerei zugunsten der ornamentalen Abstraktion verabschiedete. Emilie Flöges Porträt wurde erstmals 1903 in der Klimt-Ausstellung in der Secession gezeigt. Berta Zuckerkandl war davon begeistert: „Das reizvolle Antlitz, subtil und fein modellirt [sic], wird durch die seltene Umrahmung noch gehoben. Das Haupt umgibt ein aureolartiger grün-blauer Blüthenkranz, der die Farbenmystik byzantinischer Hintergründe hat.“ Emilie Flöge selbst lag nichts an ihrem Bildnis. Möglicherweise fehlte ihr die psychologische Nuancierung in ihrem Porträt, das viel eher dem Abbild einer schönen, gelangweilten Dame der Wiener Gesellschaft glich, als dem einer Unternehmerin mit eigener Karriere. Aus diesem Grund verkaufte Klimt das Bild 1908 an das Niederösterreichische Landesmuseum. USt Lit.: Emilie Flöge und Gustav Klimt. Doppelporträt in Ideallandschaft (Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien), Wien 1988. Tobias G. Natter, Gerbert Frodl (Hg.): Klimt und die Frauen, Köln 2000, S. 100-103. Sehnsucht nach Glück. Klimt, Kokoschka, Schiele (Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle), Frankfurt a. M. 1995, S. 66.



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Vitrine, 1901 Entwurf: Josef Hoffmann Ausführung: Fa. Portois & Fix, Wien Mahagoni furniert, Messingbeschläge, Glas geschliffen, H 180 cm, B 110 cm, T 50 cm Inv.-Nr. 198.098 Ankauf aus dem Wiener Kunsthandel, 1993

1901 veröffentlichte die Zeitschrift „Das Interieur“ Josef Hoffmanns programmatischen Text „Einfache Möbel“. Hoffmann appellierte darin an alle Entwerfer, die jedem Kunstwerk, jedem Möbel ganz natürlich innewohnenden Gesetze der Schönheit durch das Verständnis für die gute Proportion und durch Sensibilität bei Wahl und Einsatz der verwendeten Materialien zur Geltung zu bringen. Der Entwurf dieser Vitrine entstand zum selben Zeitpunkt wie der Artikel von 1901, in dem der Künstler sich unter anderem gegen die nun als materialwidrig abgelehnten gekurvten Möbelformen seiner Frühzeit aussprach. Die Vitrine markiert jene stilistische Phase Hoffmanns, in der er weg von der secessionistisch weichen Linie zu der von ihm geforderten Ehrlichkeit der Form im geradlinigen, material- und zweckechten Entwurf fand. Eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt 1902 in puristischen Formen von elementarer geometrischer Einfachheit erlebte. Das Möbel illustriert also die von Hoffmann geforderte „Reinigung und Klärung“ der Formensprache. Stilistisch steht es jenen Möbeln nahe, die Hoffmann 1900 in der von ihm initiierten und

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gestalteten Ausstellung europäischer Möbelkunst in der Secession zeigte und mit denen er erstmals seine neuen Formprinzipien einer breiten Öffentlichkeit präsentierte. Die Komposition der Vitrine wird von der sehr durchdachten Kombination geometrischer Körper innerhalb des eigentlichen Möbelinnenraumes bestimmt. Es ergibt sich ein Raum, der durch die seitlichen Eckstollen und das abschließende Dach definiert, aber nicht wirklich begrenzt wird. Die dadurch entstehende Offenheit der Form nach außen und die betont schlanke Proportion relativieren die Strenge der geometrischen Umrissformen des Möbels. Die Ähnlichkeit des Entwurfes zur gebauten Architektur verdeutlicht, wie sehr das Denken des Architekten Hoffmann auch die Tektonik seiner Möbel bestimmte. Die Vorgaben Hoffmanns nach Schönheit der verwendeten Materialien einerseits und technisch perfekter Ausführung andererseits setzten die Kooperation mit erstklassigen Herstellerfirmen voraus. In diesem Fall lag die Umsetzung bei dem um 1900 wohl bedeutendsten Möbelerzeuger Wiens, der Firma Portois & Fix. ED



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Egon Schiele Selbstbildnis, 1911 Öl auf Holz, 27,5 ¥ 34 cm Sign. u. dat. re. u.: Egon Schiele 1911 Inv.-Nr. 104.207 Nachlass Arthur Roessler, 1954

Dieses ausdrucksstarke Selbstporträt Egon Schieles (1890–1918) entstand 1911 in Neulengbach, wo sich der junge Maler niedergelassen hatte, nachdem die Bevölkerung im böhmischen Krumau ihm mit ihren eng gefassten Moralbegriffen den weiteren Aufenthalt in der kleinen Stadt unmöglich gemacht hatte. Zurückgezogen am Land lebend, dürfte der junge Künstler nun um Selbstvergewisserung bemüht gewesen sein. Er stellt sich in der linken Hälfte eines querformatigen Bildes dar, den Kopf leicht zur rechten Schulter gedreht, die Finger der linken Hand vor dem dunklen Oberkörper gespreizt haltend. Hinter ihm meint man einzelne seiner Gemälde zu erkennen, etwa eines der Bilder mit einem dürren Baum und eine Krumauer Stadtlandschaft. Die weiße Fläche in der rechten Bildhälfte wurde zumeist als Tischplatte gedeutet, auf der ein Stück bunter Stoff liegt. Allerdings könnte es sich auch hier um ein – unfertiges – Bild handeln. In Kopfhöhe ist ein dunkel glasiertes Tongefäß zu sehen, dessen Umriss rechts einem scharfkantigen Profil gleicht. Dieses Detail wurde in der Literatur wiederholt mit Paul Gauguins „Selbstbildnis mit dem gelben Christus“ in Verbindung gebracht – ebenfalls ein Querformat, auf welchem rechts hinter dem Kopf des Künstlers ein Krug mit physiognomischer Darstellung wiedergegeben ist. Schiele könnte dieses Bild 1907 bei der Gauguin-Ausstellung in der Galerie Miethke oder 1909 bei der Internationalen Kunstschau gesehen haben und davon inspiriert worden sein. In jedem Fall lässt sich die Verdoppelung von Schieles Gesicht mit dem

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„Profil“ des Tongefäßes symbolistisch deuten: Die Darstellung mit einer Art Januskopf entsprach möglicherweise seinem Selbstbild zu dieser Zeit, oder vielmehr dem, was die Gesellschaft in ihm sah. Die expressive Mimik und Gestik dieses Selbstporträts findet man in vielen Werken Egon Schieles, etwa auch in etlichen Zeichnungen und Aquarellen bzw. in den 1914 in Zusammenarbeit mit seinem Fotografenfreund Anton Trcˇka entstandenen Fotoporträts. Sie decken sich mit der Forderung des Expressionismus nach übersteigerter Darstellung des seelischen Ausdrucks und gelten im Rahmen der österreichischen Kunstgeschichte als Bindeglied zwischen den grimassierenden Selbstbildnissen des Barockbildhauers Franz Xaver Messerschmidt (siehe Nr. 47) und den Gesichtsüberzeichnungen Arnulf Rainers. Dass Egon Schiele für das kleinformatige Selbstbildnis Holz als Trägermaterial wählte, ist auf einen Tipp seines Mentors Arthur Roessler zurückzuführen. Dieser riet ihm im Frühling 1911 zu dieser Technik, da sich Bilder dieser Art und Größe angeblich besser verkaufen lassen würden. USt

Lit.: Peter Baum: Körpersprache im Werk von Egon Schiele, in: Egon Schiele (Ausstellungskatalog Fondation Pierre Gianadda), Martigny 1995, S. 29-32. Rudolf Leopold: Egon Schiele. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Salzburg 1972, S. 194. Erwin Mitsch: Egon Schiele, München 1978, S. 32f. Sehnsucht nach Glück. Klimt, Kokoschka, Schiele (Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle), Frankfurt a. M. 1995, S. 266.



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