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Ein Gespräch zum 30. Jubiläum der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft

Exemplarisches Schicksal, einzigartiges Werk Zum 30. Jubiläum der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft: Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden Hajo Jahn sowie den Vorstandsmitgliedern Anne Grevé und Heiner Bontrup

Erst einmal darf ich gratulieren. Schon für einen mäßig orientierten Beobachter ist ja unverkennbar, wie aktiv, auch hartnäckig

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diese Gesellschaft ist. Mit welchen Motiven sind Sie alle denn vor 30 Jahren an die Gründung gegangen?

Hajo Jahn: Ich bin Berliner. Als Kriegskind hatte ich den Krieg und die DDR-Diktatur im Hinterkopf und kam nun in die Stadt, in der Else Lasker-Schüler geboren ist, die in Berlin berühmt wurde. Aufgrund meiner Biografie wollte ich, dass nicht nur Werk und Andenken an diese großartige Künstlerin wachgehalten werden, sondern es ging mir auch um eine neue, zeitgemäße Erinnerungskultur: Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger „Nie wieder“, sondern angelehnt an einst und aktuell verfolgten Künstlern, Journalisten und anderen Intellektuellen. Weil wir damals, politisiert durch Nazizeit und Kommunismus, wollten, dass so etwas nie wieder passiert. Und Else Lasker-Schüler steht mit ihrer Biografie für alle verfolgten Kunstsparten, für Toleranz auch gegenüber Christen und Muslimen. Deshalb wollte ich eine Literaturgesellschaft, die politisch agiert. Zur Gründung kam es am 23. November 1990 – im Hochhaus der Sparkasse, denn Lasker-Schülers Geburtshaus in der Herzogstraße 39 war im Krieg zerstört worden.

Das heißt: Ihre Motivation, Herr Jahn, war von vorne herein diese politische, ganz konkret nach der Nazizeit. Hajo Jahn: Ja. Bei der Gründungsversammlung gab es eine Diskussion, wir sollten eine jüdische Gesellschaft werden. Dies habe ich strikt abgelehnt und darüber abstimmen lassen. Man folgte mir, dass es eine weltoffene, säkulare politisch agierende Gesellschaft werden sollte. Anne Grevé: Es war eine sehr politisierte Zeit. 1933 hat sehr viel mit Else Lasker-Schüler zu tun. Es war keine große Frage, nun eine solche Gesellschaft zu gründen, das war allen ganz klar. Wir waren engagiert und sehr dankbar, dass Hajo das initiiert hat. Es ist ja immer so: Einer muss mal anfangen. Die Grundintention war also politisch und zunächst nicht unbedingt geknüpft an die Person Lasker-Schüler? Anne Grevé: Doch. Beides. Hajo Jahn: Untrennbar. Viele musste ich überzeugen, dass Else Lasker-Schüler durchaus eine politisch bewusste Künstlerin war – auch Johannes Rau. Heiner Bontrup: Sie hat ja zwei Standbeine. Das eine ist sicher das politische Bewusstsein: Lasker-Schüler steht mit ihrem Schicksal exemplarisch für Menschen, die gerade heute wegen ihrer Ethnie, Überzeugung, Hautfarbe verfolgt werden. Doch ist sie auch als Künstlerin absolut herausragend: Es geht auch um Erinnerungsarbeit für das literarische und zeichnerische Werk.

Wie lief die Gründung ab? Hajo Jahn: Ich war ja WDR-Studioleiter. Alle, die ich eingeladen hatte, kannte ich durch meine Arbeit als Journalist – darunter Karl Otto Mühl, Hermann Schulz, Hanna Jordan und andere. Journalisten gründen nicht Gesellschaften, um dort Vorsitzender zu werden, und gehen eigentlich auch in keine Vereine. Deshalb wurde ich Geschäftsführer, habe auch die Arbeit gemacht und Ideen eingebracht. Vorsitzender auf Zeit wurde aber Prof. Friedhelm Beiner. Heinz Engel, Vorstandsmitglied der Sparkasse, war unser erster Schatzmeister. Die Sparkasse hat uns über all die Jahre sehr unterstützt.

Außenminister Hans

Dietrich Genscher und

Journalist Jürgen Serke,

beide Mitglieder der

1995 im Berliner Schloß Bellevue: Benefiz-CD für die Stiftung Zentrum der ver-

folgten Künste an (von links) Bundespräsident Roman Herzog mit Hans Joachim

Schädlich, Jürgen Serke, Hajo Jahn und Liedermacher Klaus Hoffmann.

Für die CD hatten u.a. BAP und Reinhard Mey Lieder zur Verfügung gestellt.

Die spätere Lieraturnobelpreisträgerin Herta Müller mit dem Schriftsteller-

kollegen Hans Joachim Schädlich beim IX. ELS-Forum 2001 in Jerusalem. Schirm-

herr war Shimon Peres.

Ex-PEN-Präsidentin

Ingrid Bachér mit

der Schauspielerin

Gudrun Landgrebe

am 28. April 2013 im

Zentrum für

verfolgte Künste. Betty und Paul Alsberg 1998 am Grab von Else Lasker-Schüler in Jerusalem.

Der in Elberfeld geborene Prof. Alsberg war Staatsarchivar Israels und Nachlass-

verwalterin der Dichterin.

Mario Adorf und Tochter Stella Maria Adorf beim XI. Else Lasker-Schüler-Forum

2003 in Breslau.

Heiner Bontrup: Ihr seid mit 20 Mitgliedern gestartet. Heute hat unsere Gesellschaft 1200 Mitglieder – ein phänomenales Wachstum.

Wie kam es denn zu dieser enormen Expansion? Die Verbreitung erstreckt sich heute ja in alle Welt. Hajo Jahn: Wir wurden national und international richtig bekannt nach den Anschlägen um 1992 auf die Asylbewerberheime in Rostock, Mölln, Hoyerswerda. Darauf gewannen wir mehr als 50 prominente Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu Dichterlesungen in Asylbewerberheimen, darunter Günter Grass, Herta Müller, Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Peter Härtling. Wir starteten am 9. November, also an einem historischen Datum, in allen 16 Bundesländern gleichzeitig. Eine Mammut-Organisationsaufgabe. Jeder Dichter wurde vor Ort von einem Mitglied von uns betreut.

Adolf Burger, Prag, wurde 2008 Ehrenmitglied der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft.

Mit ihr zusammen hat er im Laufe der Jahre vor ca. 90000 Jugendlichen über sein

Leben als Fälscher im KZ gesprochen, gegen Antisemitismus, Nationalismus und

Die Dichterin Safiye Can, Tochter von aus der Türkei eingewanderten

Tscherkessen, erhielt 2016 den Else Lasker-Schüler-Lyrikerpreis.

Das setzten wir dann jeden Samstag fort – nun in je einem Bundesland mit je einem Lesenden. Das hat eine Menge von Mitgliedseintritten hervorgebracht.

Eine Initialzündung? Hajo Jahn: Das war eine Initialzündung. Und es ging durch alle Medien. Ich wollte über diese prominenten Schriftsteller die deutschen Nachbarn in die Asylbewerberheime holen, und das ist auch gelungen. Von ihnen wurden viele dann Mitglied und auch die prominenten Schriftsteller. Die Nachbarn kamen mit den Asylbewerbern ins Gespräch und merkten: Das sind Menschen wie du und ich. Anne Grevé: Aber es war auch sehr wichtig, so populäre Künstler dorthin zu bringen, wo die Heime kurz vorher angezündet worden waren. Das hatte doch eine Öffentlichkeitswirkung: Zu vermitteln, dass Geflüchtete willkommen sind. Eine Atmosphäre zu schaffen, die diese schrecklichen Taten zurückdrängt. Und die Künstler haben sofort zugesagt.

Neben den politischen Anliegen der Gesellschaft: Was waren jeweils Ihre persönlichen Bezüge zur Person Else Lasker-Schüler? Hajo Jahn: In der DDR bekam ich, das Kriegskind, zu hören: das Gedicht „Weltende“. „Es ist ein Weinen in der Welt, als ob der liebe Gott gestorben wär“. Seitdem war ich von dieser Künstlerin gefesselt. Und lande dann als Berliner hier in dieser Stadt. Anne Grevé: Für mich entscheidend war, dass ein solcher Mensch in dieser Stadt weitestgehend unbeachtet geblieben ist. Das hat sich jetzt auch dadurch bewahrheitet, dass die Gesellschaft für das Jubiläumsjahr nicht einen Euro mehr bekommen hat als seit mindestens 25 Jahren. Das ist in dieser Stadt so verknöchert, das sitzt so tief. Das habe ich nie verstanden. Deshalb war die Else Lasker-Schüler-

Nina Hoger bei einer Lesung im Zentrum für verfolge Künste 2018

Gesellschaft eine verdammt wichtige Angelegenheit, um diese Frau, diese Künstlerin, diese Lyrikerin, dieses Leben endlich einmal hier in die Stadt zu bringen und bewusst zu machen. Heiner Bontrup: Wuppertal stellt generell sein Licht unter den Scheffel. Deswegen ist es gut, dass die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft jedenfalls diese Dichterin spätestens seit 2019 mit diesem fulminanten Erinnerungsjahr in die Köpfe der Wuppertalerinnen und Wuppertaler bekommen hat. Hajo Jahn: Sie ist heimgeholt worden. Heiner Bontrup: Ja, davon bin ich fest überzeugt. An dieser Stelle ist die Saat, die unsere Gesellschaft gesetzt hat, aufgegangen. Manchmal muss man eben Geduld haben. Hajo Jahn: Den städtischen Eduard von der Heydt-Kulturpreis nach Else Lasker-Schüler umzubenennen ist uns leider nicht gelungen. Was uns aber gelungen ist: Wir haben drei Theaterstücke über Else Lasker-Schüler finanzieren können. Sie bundesweit in Veranstaltungen vorgestellt. Sie wieder in die Schulbücher gebracht. Das Image von Wuppertal hat durch unsere Aktivitäten einen Schuss nach vorne gekriegt. Wir haben in Berlin eine Else Lasker-SchülerStraße erkämpft, bei Google gab es ein „Doodle“ zu ihr, es existiert eine Briefmarke. „Ichundich“ wurde als Oper an der Hamburger Staatsoper uraufgeführt. Als Schirmherren für Else Lasker-Schüler-Foren haben wir Vaclav Havel gewinnen können, ebenso Schimon Peres, Wladislav Bartoszewski oder Mary Robinson, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Else Lasker-Schüler ist eine internationale Figur. Wir haben erreicht, dass ihre Gedichte übersetzt und in allen Weltsprachen herausgegeben wurden. Es gibt in Wuppertal keine Person – außer Engels –, die international wieder so ins Bewusstsein gelangt ist wie Else

Lasker-Schüler. Eine Chance, die Frauen, Jüdinnen, Exilanten normalerweise nicht haben. Heiner Bontrup: Was meinen Bezug betrifft: 1995 las ich in der Zeitung: Hajo Jahn plant, einen „Exil-Club“ zu gründen. Schülerinnen und Schüler sollten die Lebensgeschichten Nazi-Verfolgter in ihrer Heimatstadt recherchieren, was dann im Internet veröffentlicht werden sollte – und Hajo suchte dafür einen Redakteur. Ich bin Lehrer, habe aber auch eine journalistische Ausbildung gemacht und meldete mich. Wir lernten uns kennen, und Hajo hat mir sofort die Chance gegeben. So bin ich in die Else LaskerSchüler-Gesellschaft hineingerutscht. Ehrlich muss ich sagen: Zwar war ich von expressionistischer Lyrik schon mit zwölf Jahren fasziniert, aber LaskerSchüler blieb mir zunächst ein Fremdkörper. Ich glaube übrigens bis heute, dass sie keine Expressionistin ist. Über die Arbeit für die Gesellschaft bin ich ihr dann immer näher gerückt, und heute habe ich fast alles von ihr gelesen. Was mich heute an Else Lasker-Schüler fasziniert: Bei ihr sind Leben und Werk eine Einheit, untrennbar. Wenn sie Gedichte schreibt, dann performt sie sie auch. Wenn sie sich in die Figuren wie Prinz Jussuf von Theben oder Tino von Bagdad hineinversetzt, dann ist sie das auch in der Weise, dass sie sich so anzieht. Auch die Bipolarität in der Sexualität findet sich bei ihr schon in den 1920er-Jahren. Das ist der persönliche Bezug von meiner Seite: Dass sie diese Bewegungen schon antizipiert hat, finde ich so toll an der Else.

Auch ich habe die Wahrnehmung, dass Lasker-Schüler inzwischen fest im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Ein weiteres Ansinnen daneben war für Sie ein Zentrum für verfolgte Künste. Hajo Jahn: Das war ein Kampf gegen viele Widerstände. Viele meinten, es gebe ja genug Einrichtungen: KZ-Gedenkstätten, das Jüdische Museum in Berlin, das Deutsche Literaturarchiv ... Dass es einer weiteren Einrichtung bedarf, sehen wir an der politischen Entwicklung: neuer alter Antisemitismus, Faschismus und dergleichen mehr. Es kamen zwei glückliche Umstände zusammen: Einmal, dass eine wohlhabende Fotografin und Künstlerin uns über die ehemalige PEN-Präsidentin Ingrid Bachér eine Stiftungssumme zur Verfügung gestellt hat. Und es gab die Bildersammlung Gerhard Schneider mit Bildern verfolgter Maler. Wir haben mit unserer Stiftung die Sammlung des Schriftstellers und Journalisten Jürgen Serke gekauft. Else Lasker-Schüler ist die Verbindung zwischen allen verfolgten Kunstsparten. Ihre Werke wurden verbrannt, Stücke durften nicht aufgeführt werden. Einen schon geplanten Film durfte sie nicht realisieren. Von den Komponisten, die sie anfangs vertont haben, waren drei von den Nazis Verfolgte: Herwarth Walden, Paul Hindemith, auch Friedrich Hollaender. All das kann man Jugendlichen näherbringen. Plötzlich gewinnen die Biografien Hand und Fuß, Greifbares, Nachvollziehbares, Hörbares, Sichtbares. Das soll in diesem Zentrum geschehen. Und das schlägt ja jetzt Wellen: In Berlin wird versucht, ein Deutsches Exilmuseum einzurichten, für all die unbekannten Verfolgten. Unser Ansatz sind die Künstler und Wissenschaftler – das war die Elite, Vorbilder, die etwas hinterlassen haben. Das ist viel nachvollziehbarer. Heiner Bontrup: Wobei: Meine Erfahrung ist, dass neben den großen Namen auch der lokale Bezug sehr wichtig ist. Gerade für die namenlos Gewordenen haben wir eine ethische Verantwortung: Dass sie nicht noch einen zweiten Tod sterben. Darum ging es ja im besagten Exil-Club.

Der, wie ich jetzt gelernt habe, ja eher die weniger prominenten Opfer in den Mittelpunkt stellt. Hajo Jahn: Ja, aber im Internet gibt es noch ein weiteres Standbein: das „Exil-Archiv“. Da ist es uns mit Ulrike Müller gelungen, dass die Biografien von einst und heute Verfolgten ins Internet gestellt werden. Derzeit ist es allerdings offline.

Kann man das „Zentrum“ als Meilenstein in Ihrer Erfolgsgeschichte sehen? Anne Grevé: Deutlich ausgesprochen: Ohne Hajo Jahn würde es das Zentrum nicht geben, ohne seine Arbeit, inzwischen jeden Tag von morgens bis abends, und das seit 30 Jahren – kräftig unterstützt von seiner Ehefrau. Und sie machen das alles ehrenamtlich. Hajo Jahn: Und unterstützt von Euch. Anne Grevé: Ja. All die Veranstaltungen und auch das Zentrum: Ohne Hajo gäb‘s das nicht.

Was steht an als Ausblick? Hajo Jahn: Das 23. Else Lasker-Schüler-Forum, wenn Corona uns keinen Strich durch die Rechnung macht: Im Oktober nächsten Jahres in Sanary-sur-Mer. Das war der Hotspot der deutschen Exilliteraten: So vollendete Brecht mit Weill hier seine Dreigroschenoper. Es wird Theaterstücke geben, von Heiner Bontrup und Gerolt Theobalt. Alfred Grosser ist geplant, Frido Mann haben wir angefragt, der bei uns Mitglied ist. Das ist so ein bisschen auch die Motivation: Dass man so tolle Leute kennenlernt, wenn man solch eine Arbeit macht.

Das Gespräch führte Martin Hagemeyer

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