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Im Reich von Engel, Elfen und Co

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Kulturtipps

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Zum 120. Geburtstag der Wuppertaler Künstlerin Sulamith Wülfing

Es gibt so Geschichten, da findet und findet man kein rechtes Packende. Es sei denn, man gesteht zu, dass sie einen geradewegs in die eigene Vergangenheit führen. So geht es

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mir mit Sulamith Wülfing. Eine ganze Serie großformatiger Karten mit den für sie so typischen Feenwesen und Engeln hingen in meinem Dachzimmer an der Wand, damals, Mitte der 1970er-Jahre. Gekauft in einem dieser mit Esoterikkram angereicherten „Indienläden“, in denen wir unsere Sehnsucht nach der großen Reise stillten, bis wir selbst aufbrechen würden mit dem VW-Bus über Land. Ganz bestimmt, spätestens nach dem Abitur. Als ich das geschafft hatte, träumte ich längst von ganz anderen Dingen. Und die Bilder von Sulamith Wülfing hatte ich von der Wand genommen. Sie gehörten schon einem anderen Lebensabschnitt an, der angefüllt gewesen war mit dämmrigen Teestunden bei Kerzenschein, Musik von Cat Stevens, stundenlangem Versinken in Tolkiens „Herr der Ringe“-Welt und dem muffigen Duft von Räucherstäbchen. Bis heute kann ich die Bilder von Sulamith Wülfing kaum anschauen, ohne dass mir der Geruch von Sandelholz und Patschuli in die Nase steigt. Und meine damalige Schwärmerei für Fantasy-Welten ist mir immer ein kleines bisschen peinlich geblieben. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund dafür, dass ich jahrzehntelang einfach nicht mehr an Sulamith Wülfing und ihre Feen, Elfen und Engel gedacht habe.

Mit meiner Schwärmerei war ich freilich nicht allein: Mitte der 1970er-Jahre erzielten ihre Arbeiten in Form von Postkarten, Postern und Kalendern Millionenauf-

lagen; reißenden Absatz fanden sie vor allem auch in den USA. Ihre detailreichen Zeichnungen beseelter Natur, wo in jeder Blume eine Fee zu wohnen scheint, trafen den Nerv der „New Age“-Bewegung, und mit ihren Drachen, Gnomen, Trollen, Zwergen und Elfen hätte man umstandslos das gesamte boomende Genre der Fantasy-Literatur illustrieren können. Bilder von ihr schmückten Plattencover von Bands, deren Musik die im ländlichen Cronenberg lebende ältere Dame vermutlich nie gehört hat. Roger Daltrey, Sänger der Rockgruppe The Who, besuchte sie dort wegen eines Cover-Auftrags, und angeblich sollen sogar die Beatles angefragt haben. Ihren Erfolg konnte sie bis zu ihrem Lebensende genießen. Zu ihrem 85. Geburtstag 1986 wurde sie überschüttet mit Blumen und Glückwünschen aus aller Welt, ihre zahllosen Bewunderer und Verehrerinnen hatten sie nicht vergessen. So erzählt es Marlene Maurhoff in ihrer großformatigen Monografie über Leben und Werk der Künstlerin.

Der Bildband, erschienen 1992, ist ebenso wie die vielen von Sulamith Wülfing selbst illustrierten Bücher nur noch antiquarisch zu haben. Die einst so beliebten Porzellansammelteller mit ihren Motiven werden en masse für ein paar Euro auf Ebay verramscht. Die Sulamith-Wülfing-Stiftung, die ihr künstlerisches Erbe verwaltet, hat nicht einmal eine Webseite. Einzig der auf spirituelle Themen spezialisierte Aquamarin-Verlag hält noch ihre Fahne hoch und gibt jährlich einen Sulamith-Wülfing-Engelkalender heraus. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ihrer Heimatstadt Wuppertal scheint die einst so populäre Künstlerin weitgehend verschwunden zu sein. Einzig eine kleine Straße unweit vom Uni-Campus Freudenberg erinnert an sie. Auf dem Straßenschild stehen ihre Lebensdaten: geboren 1901 in Elberfeld, gestorben 1989. 120 Jahre alt wäre sie also heuer geworden. Gefeiert wird sie nicht. Schon ihren hundertsten Geburtstag hatte man vergessen.

Dabei hat Sulamith Wülfing immer noch viele Anhänger und Verehrerinnen auf der ganzen Welt, weiß Yvette Endrijautzki. Die Wuppertalerin, die viele Jahre in den USA lebte, ist vor drei Jahren in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hat im Luisenviertel die kleine Galerie Nautilus eröffnet, die sich der „phantastischen Kunst“ verschworen hat. Jetzt hat sie in den Solinger Güterhallen die Ausstellung „Die vergessene Tochter der Stadt“ organisiert. Eine Hommage an Sulamith Wülfing von 26 Künstlerinnen und Künstlern u.a. aus Deutschland, Österreich, USA, Iran, Mexiko und von den Philippinen, die sich mehr oder weniger direkt von ihr inspirieren ließen oder zu ihren Verehrern zählen. Auch einige wenige Drucke und illustrierte Bücher von Sulamith hat Endrijautzki zusammengetragen.

Dass sie sich mehr gewünscht hätte, verleugnet die Galeristin nicht; aber es sei ihr nicht gelungen, an mehr Originale heranzukommen. Die Rechtelage in Bezug auf den Nachlass ist offenbar kompliziert; ein Aufruf in der örtlichen Tageszeitung, um Werke in Privatbesitz aufzuspüren, brachte nicht den erhofften Erfolg. So wird Sulamith Wülfing jetzt in einem Umfeld gefeiert, das zwar einerseits – wie schon zu Lebzeiten – von einer enthusiastischen Anhängerschaft und fortgesetzter Wirkung zeugt, sie aber andererseits auch für eine bestimmte Szene vereinnahmt. Was vermutlich nicht dazu beitragen wird, den Blick auf das Werk dieser Künstlerin neu zu öffnen.

Das aber würde sich gewiss lohnen. Auch wenn (oder vielleicht gerade weil) man dabei schwerlich aus einem gewissen Zwiespalt herauskommen wird. Schon ihr Erfolg in den 1960er- und 70er-Jahren verdankte sich der großen inhaltlichen Schnittmenge zwischen ihren Sujets und spirituell orientierten Lebenswelten mit großer Affinität zu Engeln, Feen und dergleichen. Mit ihrem großen Christus-Zyklus von 1956/57, den sie lange Zeit geheim hielt, hat sie sich thematisch noch einmal weiter verengt und ist als Künstlerin endgültig aus der Zeit gefallen. Aber war sie das auf eine Art nicht schon immer? Märchen und Mythen haben ihre eigene Zeit, jenseits aller realen Zeitläufe. Folgt man der Überlieferung ihrer Lebensgeschichte, dann scheint alles von frühen, glücklichen Kindheitstagen geprägt, eingesponnen in eine Märchenwelt. Das Kind kommt am 11. Januar 1901 in Elberfeld zur Welt, heiß ersehnt von ihren christlich-evangelikalen, theosophischen Kreisen nahestehenden Eltern Carl-August und Hedwig Wülfing. Den Namen Sulamith entnehmen sie aus dem alttestamentarischen Hohen Lied der Liebe. Kurz nach der Geburt des Kindes ziehen sie in ein Häuschen raus aufs Land nach Hahnerberg, und Sulamith wächst auf in einem Idyll mit Garten und umgebender Natur, mit Bäumen, Bächen und Teichen und dem großen Hund der Hausbesitzerin als einzigem Spielkameraden. Sie entbehrt nichts, alles wird von ihr beseelt und „spricht“ zu ihr, seien es Blumen, Schnecken, Käfer, Frösche, Schmetterlinge, Libellen. All das wird sich später genau beobachtet und detailliert gezeichnet in ihren Bildern wiederfinden. Mit vier Jahren zeichnet sie ihren ersten Engel. Der jährliche Familienausflug führt nach Schloss Burg, wo sie es liebt, die Wand- und Deckengemälde mit den mittelalterlichen Bildwelten zu betrachten. Ihre frühe Kindheit nennt sie später selbst eine „Märchenexistenz.“

Der erste Bruch, der einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommt, folgt schon fünf Jahre später mit der Geburt der Schwester Hedwig, dem Umzug in die Stadt kurz vor ihrer Einschulung und einer unglücklich verlaufenden Schulzeit. Das zarte, mit überreicher Fantasie begabte Kind scheint zu verkümmern. Der Vater nimmt sie mit ins städtische Museum, um sie aufzuheitern – und die Entdeckung der Kunst führt für sie zur Überwindung der Krise, bedeutet den Durchbruch zu ihrer lebenslangen Leidenschaft. Ihr Talent bricht sich Bahn, sie zeichnet wie besessen; die Eltern sind beunruhigt und besorgt, unterstützen sie aber auch. Carl Wülfing zeigt die Zeichnungen dem damaligen Museumsdirektor Prof. Friedrich Fries. Der bescheinigt ihr großes Talent und eine außergewöhnlich reiche Einbildungskraft und rät davon ab, ihr einen Zeichenlehrer zu suchen: Man solle sie in Ruhe lassen und ihr keinen fremden Stil aufprägen.

Mit 16 Jahren geht Sulamith von der Schule ab und tritt in die Kunstgewerbeschule Barmen-Elberfeld ein. Mitten im ersten Weltkrieg beginnt für sie persönlich eine glückliche Zeit. Sie kann ihr Talent ausleben, wird gefördert, macht künstlerische Fortschritte und hat sogar schon außerhalb der Schule Erfolg: Die Buch- und Papierwarenhandlung, wo sie ihre Materialien kauft, nimmt von ihr

Sulamith Wülfing und Otto Schulze (der Jüngere), 1925 in der Verlobungszeit

gestaltete Visiten- und Grußkarten in den Verkauf. Auch während des Arbeitsdienstes im Telegrafenamt geht sie abends weiter zum Unterricht. 1918 kehrt der Sohn des Schuldirektors Otto Schulze jr. aus dem Krieg zurück und kommt als Zeichenlehrer an die Schule. Der nur drei Jahre Ältere, der seinen eigenen künstlerischen Weg verfolgt, lehrt sie, unterstützt, fördert. Zusammen verbringen sie ihre Freizeit im Kreis der Wandervogelbewegung. Die Verlobung erfolgt 1919, vorerst heimlich. 1921 schließt Sulamith die Schule mit exzellenten Noten ab.

Otto organisiert eine Ausstellung im Museum mit ihrer beider Arbeiten, investiert in das riskante Unternehmen. Die Ausstellung wird ein großer Erfolg: Sie verkaufen gut und haben sich einen Namen gemacht. Im Museumsalmanach 1922/23 werden sie aufgeführt neben Ausstellungen von Andreas Achenbach, Lovis Corinth, Max Klinger, Max Slevogt und anderen. Weitere Ausstellungen folgen; Sulamith illustriert Märchen, Liederbücher und Gedichtbände von Rilke und Morgenstern. Die Nachfrage nach Druckerzeugnissen wächst und führt 1929 zur Gründung des eigenen Verlags. Das erste Buch mit 33 Zeichnungen Sulamiths trägt den Titel „Dürers kleine Tochter“ – der Dichter Max Jungnickel, von dem das Vorwort stammt, hatte sie so bezeichnet, um ihre Arbeiten zu beschreiben. Zu hoch gegriffen ist der Titel kaum, bezieht man ihn auf die handwerkliche Kunstfertigkeit ihrer Zeichnungen. Man mag darin aber auch schon das Gespür für Marketing erkennen, das dem Künstlerpaar über Jahrzehnte hinweg wirtschaftlichen Erfolg gesichert hat.

Doch es gibt nicht nur Höhen, sondern auch tiefe Tiefen im Leben der beiden. Im Mai 1933 kommt das ersehnte erste Kind zur Welt und stirbt einen Tag später. Während der Erste Weltkrieg Sulamiths Leben noch recht unbeschadet gelassen zu haben scheint, bringen die Kriegsjahre ab 1939 einen heftigen Bruch mit sich. Otto ist an der Front, Sulamith bleibt allein mit ihrer Mutter und dem zweiten, 1936 gesund zur Welt gekommenen Sohn in Cronenberg zurück. Wirtschaftlich und künstlerisch ist es eine schwierige Zeit. Schon 1935 waren Portfolios mit ihren und Ottos Arbeiten in Königsberg öffentlich als entartete Kunst verbrannt worden; Nachrichten von der Zerstörung ihrer Arbeiten erreichen sie auch aus Berlin und Leipzig. Goebbels lädt sie vor und macht Vorgaben, unter denen sie weiter arbeiten dürfe: Alle märchenhaften Elemente sollen verschwinden, vor allem keine Engel mehr und keine Aureolen um Blumen. Gewünscht: Motive von Mutter und Kind und mehr lachende Menschen. Nach ihrer eigenen Schilderung hat sie dem Ansinnen widerstanden. Die schweren Bombardements im Mai/Juni 1943, die halb Wuppertal in Schutt und Asche legen, veranlassen sie endlich, aus der Stadt zu fliehen. Sie findet mit Mutter und Sohn Unterschlupf bei einer Freundin im Elsass; ihr Haus und ihre Kunst zurücklassend. Das Haus wird im Mai 1944 zerstört, zusammen mit 250 Originalzeichnungen aus 25 Jahren.

Wenige Tage vor Heiligabend 1945 kehrt Sulamith mit Sohn und Mutter nach Wuppertal ins völlig Ungewisse zurück. Eine Rückkehr wie aus einem Drehbuch mit dem Titel „Die Engel halten die Hand über sie“: Otto lebt und war aus amerikanischer Gefangenschaft freigekommen, das Haus ist dank ihrer Schwester wieder aufgebaut.

Im Januar 1946 bekommen sie von der britischen Besatzungsmacht die Erlaubnis zur Wiedereröffnung des Wülfing-Verlages, und es geht sogleich wieder steil

bergauf. Die Briten lieben ihre Arbeiten und kaufen viel. Als erste Nachkriegspublikation erscheint Weihnachten 1946 „Das Zwergenvolk“ mit zwölf Zeichnungen von Engeln, Zwergen und Blumen, Auflage 8000 Stück. Sie knüpfen nahtlos an den früheren Erfolg an und können ihn die folgenden Jahrzehnte hindurch fortsetzen. Sulamith zeichnet, und Otto managt den Verlag. Und auch seine Frau?

Da ist dieses Bild von der zurückgezogen lebenden, ganz ihrer Kunst hingegebenen zarten Person, die nur zeichnet, wenn sie wie von Ferne her die Inspiration dazu empfängt, und die man quasi vor der richtigen Welt beschützen muss, damit diese Quelle nicht versiegt … Wie viel von diesem Bild kommt der Realität nahe? Und wieviel davon verdankt sich wohl Otto Schulzes Gespür für erfolgreiches Marketing? Oder hat Sulamith Wülfing dieses Image durch ihre Kunst quasi unabsichtlich selbst hervorgebracht?

Die schiere Menge, die sie produziert, während sich ihr einmal gefundener Stil über die Jahrzehnte kaum verändert, kann da schon ein wenig irritieren. Jedwede zeitgenössischen Kunstströmungen lehnt sie vehement ab, selbst der träumerische Chagall, bei dem auch mal gern ein Engel durchs Bild fliegt, ist ihr zu modern. Wohlwollend kann man sagen: Sie bleibt sich immer treu. Frühe künstlerische Einflüsse von Jugendstil und Arts and Crafts ziehen sich durch ihr Werk, man erkennt ihre Verehrung für die Präraffaeliten des 19. Jahrhunderts, für die Illustrationen des „Lebensreformers“ Fidus und für die Malerei des Worpsweders Heinrich Vogeler, aber sie amalgamiert die Einflüsse zu ihrem unverkennbar eigenen Stil. Der ist durchaus nicht durchgängig so zuckrig wie die späteren Weihnachtstellermotive. Die Engel- und Kindergesichter mit den großen, mehr wissenden als fragenden Augen scheinen von einer Art heiligem Ernst durchdrungen. Nur: Es sind die immer gleichen Gesichter. Fast immer schützende, leitende, leuchtende Engel. Da hängt auch in düsteren Zeiten keinem sein Flügel gebrochen schwer am Schulterblatt wie im Gedicht der anderen Wuppertalerin Else Lasker-Schüler. Sulamith illustriert Rilke-Gedichte, aber mit seinen Engeln, den „tödlichen Vögeln der Seele“, sind ihre lockigen Geschöpfe sicher nicht verwandt.

Sulamiths Welt bleibt eine Gegenwelt, eine mythische,

unveränderliche Welt jenseits der Zeitläufe. In die mit den Jahren allenfalls etwas süßlichere Farbtöne Einzug gehalten haben – was den Arbeiten nicht guttut. Es ist ein bisschen wie mit Sahnetörtchen – man muss aufpassen, nicht zu viele davon zu konsumieren. Was bleibt ist der Eindruck einer fantastischen Illustratorin von ebenso großer Könnerschaft wie Einbildungskraft, die sich aber in die Gefilde der Freiheit der Kunst nicht hat aufschwingen können. Dennoch würde es sich unbedingt lohnen, Leben und Werk von Sulamith Wülfing neu aufzuarbeiten, sie als Zeichnerin zu würdigen und aus der Räucherstäbchenecke herauszuholen. Ein Schattendasein als „vergessene Tochter der Stadt“ jedenfalls hat sie nicht verdient. Anne-Kathrin Reif

Die von Yvette Endrijautzki organisierte Ausstellung

„Sulamith Wülfing – Die vergessene Tochter der Stadt“

in den Güterhallen, Alexander-Coppel-Straße 28, Solingen, läuft bis 15. Oktober 2021 (Eingang auf der Parkanlagen-Seite am Bauwagen) Geöffnet: sonntags, 14 - 18 Uhr und nach Absprache Telefon o212 185 36 Weitere Infos: www.nautilusstudio.net Abbildungen der Gemälde und Zeichnungen mit freundlicher Genehmigung des Aquamarin Verlages. Kunstkarten und Kunstdrucke von Sulamith Wülfing unter www.aquamarin-verlag.de Der Kunst-Katalog kann kostenlos angefordert werden: Aquamarin Verlag, Kammer 11, 83123 Amerang.

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