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Finster schönes Traumgedicht auf Glanz und Elend des Menschen

von links nach rechts: Jean Laurent Sasportes, Pierre Siegenthaler, Bernd Kuschmann (oben), Marek Sieczkarek, Jörg Reimers

Jean Laurent Sasportes

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Finster schönes Traumgedicht auf Glanz und Elend des Menschen

Robert Sturm lässt Moby Dick in den Wuppertaler Riedelhallen stranden

Sprachkunst trifft auf Sprechkunst. Bewegungskunst trifft auf großartige Musik. An den Nahtstellen entsteht eine tiefschichtige und sehr berührende Bühnenfassung von Herman Melvilles Roman Moby Dick.

Moby Dick ist ein großer Roman. Ein Jahrhundertroman. Entsprechend hoch ist die Fallhöhe bei der Inszenierung. Robert Sturm hat ein Faible für Weltliteratur, die ganz großen Stoffe. Seit 2000 war Sturm Produktionsleiter des Tanztheaters Pina Bausch und seit 2009 - nach dem Tod der Tanzikone – bis 2013 gemeinsam mit Dominique Mercy dessen künstlerischer Leiter. Moby Dick ist seine dritte Theaterinszenierung. Nach „Romeo und Julia“ und der etwas klamaukhaft verrutschten Inszenierung des „Don Quichotte“ nun also Moby Dick. Diesmal hat Sturm die Skylla einer profanen, naturalistischen Inszenierung und die Charybdis einer mimetischen Nacherzählung erfolgreich umschifft. Danke!

Herman Melville geht in seinem Roman weit über die Schilderung der Handlung hinaus, flicht philosophische Essays, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, ökonomische Reflexionen sowie Lyrismen in den Gang der Handlung. Eine literarische Collage, die bis heute fasziniert: halb Abenteuerroman, halb philosophisches Traumgedicht auf Größe und Elend des Menschen: „Menschen mögen gemeine und mickrige Visagen haben, aber der Mensch ist seinem Ideal nach ein so edles und funkelndes, ein so großartiges und strahlendes Geschöpf, dass all seine Mitmenschen herbeieilen sollten, um einen etwaigen Schandfleck mit ihren kostbarsten Gewändern zu bedecken.“

Sturms Inszenierung schlägt eine Schneise in das dicht gewebte, ca. 600 Seiten umfassende Epos, die mitten in das großartig-finstere Herz dieser Dichtung führt. So ist eine von Sprechkunst getragene Bühnenerzählung entstanden, die den anthropologischen und philosophischen Kern des Romans freilegt und diesen doch eng an die abenteuerliche Erzählung bindet.

Wer je den Roman gelesen hat, dem wurden seine Figuren zu Wegbegleitern durch das ganze Leben: Ahab, der Kapitän, der, von Moby Dick zum Krüppel gemacht, seine ganze dunkle Lebensenergie darauf konzentriert, sich zu rächen, und dabei dem Irrsinn verfällt: „Zu dir rolle ich, du alles zerstörender, aber nicht erobernder Wal; bis zum letzten Mal greife ich nach dir; aus dem Herzen der Hölle steche ich auf dich; um des Hasses willen spucke ich meinen letzten Atemzug auf dich.“ Und da ist Ismael, der Erzähler – Nennt mich Ismael! -, der raunende Beschwörer der Vergangenheit, der das Erlebte vor das geistige Auge des Lesers ruft: ein gebildeter Mensch, der sich auf das Abenteuer der See und des Walfangs einlässt. Ismael, der die tödliche Jagd auf den Wal in Worte von monumentaler Schönheit und Erhabenheit fasst: alter Ego seines Autors, Kommentator des Geschehens, Geist der Erzählung. Und da ist Starbucks, Erster Steuermann, der Kontrahent Ahabs, der mit den Augen der Vernunft und den Maßstäben der Religion das Vermessene im Charakter seines Kapitäns erkennt und für einen kleinen flüchtigen Moment daran denkt zu meutern, um dem Schicksal zu entgehen. Und dann doch nicht den letzten Mut dazu aufbringt. Und da ist Queequeg, der Polynesier, der edle Wilde, der inkarnierte Traum Rousseaus, der mit dem Sein so vertraut ist, dass er die Stunde seines Todes vorhersehen kann. Und da ist Pip, der Schiffsjunge, „das Tamburin Gottes“, der mit seiner Leichtigkeit und Fröhlichkeit, mit seinem Tanz und seiner Musik die Herzen aller Männer gewinnt, die auf dieser schicksalhaften letzten Reise der Pequod zusammengekommen sind. Pip, der das Wunder vollbringt, gegen alle Regeln beim Walfang vom Boot zu springen, und genau dadurch sein Leben rettet. Pip, der Gottversucher, der das Kunststück gegen die Ermahnung Ahabs wieder-

Jörg Reimers, hinten; Luise Kinner. Bühneninstallation von Tony Cragg

holt und dabei den Tod findet: „Das Meer hatte in spöttischer Weise seinen sterblichen Körper aufgehoben, aber seine unendliche Seele ertränkt.“

Und da ist der Wal. Moby Dick. Ein Ungeheuer der Tiefsee, ein Geschöpf von göttlicher Erhabenheit, vollkommen und mächtig. In seinen Adern pumpt das Blut von tausend Menschen; größer, schneller und stärker ist er als das Walfängerschiff: unbesiegbare erhabene Natur; Moby Dick ist die Apotheose der Schöpfung. Das 42. Kapitel ist der Weiße des Wals (Whiteness of a Whale) gewidmet, es enthält die vielleicht profundesten Gedanken, die je über eine Farbe gedacht wurden. Die Weiße des Wals verleiht Moby Dick einen transzendenten Schimmer, als sei er ein Sendbote aus einer anderen Welt: „Deshalb kann niemand leugnen, dass das Weiß in seiner tiefsten, idealisierten Bedeutung eine besondere Erscheinung in der Seele hervorruft, wenn er in seinen anderen Stimmungen etwas Großartiges oder Anmutiges damit symbolisiert.“

von links nachr rechts: Bernd Kuschmann, Pierre Siegenthaler, Ed Kordtland

Pierre Siegenthaler und Jan Minarik

Ahab ist nicht von Gewinn und Geld getrieben, nur von seiner prometheischen Hybris. Mit Geld aber weiß er die Mannschaft blind zu machen, sodass sie ihm folgen, „als wären sie die Glieder seines Leibes“. Ahab weiß: „Der Mensch ist ein geldgieriges Tier, und diese Eigenschaft kommt allzu oft seiner Güte in die Quere.“ Der Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Ausbeutung der Natur, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen versinnbildlicht Sturm, indem allen Figuren Dublonen auf die Augen gelegt werden.

Ahab, der Prometheus seiner Zeit, weiß um diese Zusammenhänge. Es ekelt ihn, dass Walöl genutzt wird, um Kirchen und Wohnstuben zu erhellen. Dennoch jagt er Moby Dick, angetrieben von seinem grenzenlosen Hass auf diese Kreatur: „Bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir, dem Haß zu liebe spei‘ ich meinem letzten Hauch nach dir.“ Es sind archetypische Gestalten, die Melville geschaffen hat, Spiegelungen von Urbildern, die in unseren Seelen hausen und doch Menschen aus Fleisch und Blut sind.

Moby Dick ist eine Geschichte aus einer anderen Zeit, von unserer galaktisch weit entfernt. „All das, was am meisten verrückt und quälend ist; alles, was die Hefe der Dinge aufwirbelt; alle Wahrheit mit Bosheit darin; alles, was die Sehnen knackt und das Gehirn zusammenbackt; all die subtilen Dämonismen des Lebens und Denkens“, sei darin enthalten, sagt Melville durch die Stimme seines Erzählers Isamel. Wir Heutigen sind von solchen Geschichten biblischen Ausmaßes getrennt durch die unermesslichen Tiefen von Raum und Zeit, deren Dimensionen sich nicht nach Jahren, sondern jähen Wechseln der Ausdruckformen rechnen: Aufklärung, Profanisierung und Technik haben die Hybris des Menschen genährt, seines eigenen Schicksals Herr und Dame zu sein. Wir üben uns in Selbstoptimierung und Selbstinszenierung. Das Selbst, das Ich,

ist der Fetisch des modernen Menschen. Moby Dick aber erzählt noch von Menschen, die einfach tun, was sie tun müssen, von Menschen, die ihrer Bestimmung folgen. Paradoxerweise erweist sich genau das als ihr freier Wille. Freier Wille und Schicksal sind bei Melville eins. Ganz tief in sich wissen die Figuren um ihr Schicksal: „Der Weg zu meinem festen Zweck ist mit eisernen Schienen gelegt, worauf meine Seele gerillt ist, um zu rennen“, sagt Ahab über sich selbst. Seile, die sich die Schauspieler um den Leib und das Gerippe ihres Schiffes mit dem mythischen Namen des Indianerstammes der Pequod binden, symbolisieren in Sturms Inszenierung die Schicksalsfäden, die die Parzen weben: Und das sind ziemlich fette Schiffstaue.

Tony Craggs Bühneninstallation zeigt die konstruktive Schönheit des Walfänger-Schiffs. Die raumfüllende Größe des Bootes in den Riedel-Hallen korrespondiert mit der Monumentalität der Erzählung. Es liegt schief zur Mittelachse, was das Rollen des Bootes in hoher See andeutet oder auch sein Stranden auf Meeresgrund. Die drei Masten sind aus der Längsachse gebrochen; so zeigt die Installation die Pequod als vulnerables Artefakt im Augenblick seiner Zerstörung durch Moby Dick. „Tand, Tand ist alles aus Menschenhand.“

Der Rumpf des Schiffes erinnert fatal an das Gerippe eines Wals. Jäger und Gejagter, zusammengeschweißt in einer Schicksalsgemeinschaft: Wer ist wer? Cragg hat die Pequod in ihrer verletzlichen Monumentalität und symbolischen Bedeutung wunderbar gestaltet, aber ein Bühnenbild, das der Handlung und dem Ideengehalt des Romans gerecht würde, ist dadurch (noch) nicht entstanden. Die Bühneninstallation erzwingt nämlich eine lediglich zweidimensionale Darstellung in der Vertikalen und Horizontalen. Die Tiefe fehlt; und damit auch die Fokussierung auf die großartig minimalistische Bewegungskunst der Tänzer, die zuweilen von der Größe des Raums verschluckt werden. In der Tiefe aber, links und rechts hinter dem Schiffsskelett, sind die Musiker platziert, die mit ihrem Spiel der Handlung und der Seelenschau einen weiten Echoraum eröffnen. Doch dazu später mehr.

Sturm besetzt die Rollen nicht eins zu eins. Ahab ist Ahab, aber er ist auch Erzähler und Ismael; Starbuck ist Starbuck, aber er ist ebenfalls Ismael, der Erzähler. Pip ist Pip, aber auf eine magische Weise ist er, mehr noch als alle anderen Figuren, das Spiegelbild des Erzählers. Man versteht in dieser Inszenierung, vielleicht mehr noch als bei der Lektüre, die Transpersonalität, die in dem Roman angelegt ist. Denn so wie in Ahab, dem Menschen, alle übrigen Figuren als Archetypen angelegt sind, so sind wir alle Ahab. Kurz vor der Katastrophe, bei der Moby Dick die Pequod rammt und alle Menschen – bis auf Isamel, den Erzähler – ertrinken, ziehen sich alle Figuren die Beinprothese Ahabs an; jetzt sind sie eins mit Ahab, nein: Sie sind Ahab.

So wie Moby Dick eine Geschichte aus uralten, fernen Zeiten ist, so entführt uns auch deren Inszenierung in eine weit zurückliegende Theaterzeit. Die Bühnenfassung erinnert in manchem an das surreale Theater des walisischen Dichters Dylan Thomas; die Stimmen der Toten scheinen aus der Tiefe des Meeres zu uns Lebenden herüberzudringen. Zugleich kehren wir mit dem Wal zurück in die Wuppertaler Theaterzeit, als eine junge Pina Bausch begann, ihr Ausdrucksrepertoire zu entwickeln, und im Schauspiel Wuppertal unter der Intendanz Holk Freytags neben anderen Bernd Kuschmann brillierte.

Fast vier Jahrzehnte später legt Kuschmann mit seiner Sprechkunst alle Facetten in Ahabs Charakter auf eine so beeindruckende Art und Weise frei, dass das tief, ganz tief unter die Haut geht: Wir erleben schaudernd Ahabs Wahnsinn, seinen Hass auf den weißen Wal, seine Hybris, seine dämonischen Potenziale, sein tiefes Wissen, dass er sich gegen die Gesetze der christlichen Seefahrt, der Mitmenschlichkeit, gegen den Schöpfungsplan Gottes stellt. Wir erleben hautnah seine Verzweiflung, seine Angst, seine Erschöpfung, seinen Trotz und seinen unbändigen Willen. Sein „Stirb und Werde“, wie es Goethe in dem Gedicht „Selige Sehnsucht“ fasste: „Und so lang du das nicht hast // Dieses: Stirb und werde! //Bist du nur ein trüber Gast //Auf der dunklen Erde.“ Ahab hat es, dieses „Stirb und Werde“!

Allen diesen Schattierungen einer Seele verleiht Kuschmann eine ungeheure und dramatische Präsenz, die in unserer heutigen Zeit vielleicht verstörend wirkt und gerade dadurch so betörend ist. Jörg Reimers und Pierre Siegenthaler bilden mit Kuschmann ein fantastisches Trio, das die Geschichte von Ahab und Moby Dick über das weite Meer der langen Spielzeit trägt. Hinzu kommt die großartige Luise Kinner, die als einzige Frau unter wunderbaren weißen alten Männern den Schwarzen Pip springlebendig in die Gegenwart holt und als Ko-Erzählerin den epischen und dramaturgischen Bogen spannt.

Mit Jean Sasportes, Jan Minarik, Ed Kordtland (der vor seiner Zeit bei Pina Bausch noch bei Martha Graham in New York tanzte) und Mark Sieczkarek hat Sturm Prota-

Blick aus der Perspektive des Schönberg-Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln auf das von Tony Cragg

gestaltet Walfängerschiff Komponist Alexander Balanescu

gonisten aus der frühen Zeit des Tanztheaters Pina Bauschs in seine Produktion eingebunden, und es ist faszinierend zu beobachten, wie gut der Minimalismus der Körpersprache und Bewegungskunst auch heute noch funktioniert. Die Semantik und Grammatik dieser Bewegungskunst erreichen uns auch heute noch, und sie fügen der Bühnenerzählung etwas hinzu, wohin unsere Ohren nur bedingt reichen. Wenige Gesten, wie das Streichen der Hand über das Herz und das anschließende Ausschütteln, genügen, um dem Zuschauer einen Röntgenblick in die Daseinszustände der Protagonisten zu ermöglichen.

Ganz großartig ist die Bühnenmusik. Die Komposition Alexander Balanescus (u.a. Kooperationen mit Carla Bley, David Byrne, Grace Jones, Philip Glass) illuminiert die tragische Fahrt der Peqoud gleichsam von innen. Ein Ostinato, das in Dynamik und Tempo variiert, transportiert die wechselnden Stimmungen der Reise in den Tod. Der Komponist entwickelt aus dem Nukleus eines zentralen Motivs unzählige Variationen auf das Thema des Schicksals: mal euphorisch und schon tragisch grundiert beim Aufbruch des Walfängerschiffs, dann drängend und dräuend vorwärtseilend, als ob Sturm in die Segel des Schiffes greift und die Pequod ihrem tragischen Ende entgegentreibt. Vorgetragen wird die Musik auf exzellentem Niveau vom Schönberg-Ensemble der Hochschule für Musik und Tanz Köln/ Standort Wuppertal unter der Leitung von Werner Dickel, der gemeinsam mit Alexander Balanescu die Komposition einstudiert hat. Der Komponist selbst ist mit seiner Violine auf der Bühne; es scheint, als ob er das Ensemble – Schauspieler und Tänzer – von der Bühne aus dirigierte: eine geisterhafte Erscheinung, die in ihrer Musik die Erzählung noch einmal neu gestaltet und in ihre Kunstform transformiert: Es ist magisch, es ist, als entstünde die Musik erst jetzt, im Augenblick ihrer Erfindung. Einmal, es ist schon kurz vor dem Schluss, setzt sich Alexander Balanescu neben Luise Kinner, dem weißen schwarzen Pip, dem „Tamburin Gottes“: der Geist der Erzählung und der Geist der Musik vereint. Herzergreifend schön und tief traurig kündet die Violine das bevorstehende Ende an.

Alexander Sturm und allen Mitwirkenden ist mit Moby Dick ein beeindruckendes Kunst-Stück gelungen: die Verschmelzung der Genres zu einem Bühnenkunstwerk, das die ungeheure Vielfalt der Dichtung Melvilles auf allen Ebenen sinnlich erleben lässt. Ein Kunst-Stück auch, weil es einen aus einer fern zurückliegenden Denk- und Empfindungswelt stammenden Stoff so ins Hier und Jetzt holt, dass es uns mitten ins Herz trifft.

Heiner Bontrup Fotos: Heinrich Brinkmöller-Becker

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