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Neueinstudierung: Ein Stück von Pina Bausch
Marion Cito und Jan Minarik, Foto: Ulli Weiss © Pina Bausch Foundation
Blaubart gilt als eines der radikalsten und kompromisslosesten Stücke, mit dem Pina Bausch damals jede Form konventioneller Tanzästhetik sprengte, eine Tendenz, die sich bereits in „Das Frühlingsopfer“ und noch dezidierter in dem Brecht-Weill Abend „Die sieben Todsünden“ andeutete. Jetzt, 43 Jahre nach der Urauührung 1977, rekonstruiert das Ensemble des Tanztheaters Wuppertal das Stück, das 29 Jahre nicht gespielt wurde, in neuer Besetzung. Die beste Zeit sprach mit der Intendantin Bettina Wagner-Bergelt und der Probenleiterin Barbara Kaufmann.
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Wie kann das Revolutionäre dieses Stücks, das damals von Publikum und Presse sehr kontrovers aufgenommen wurde, beschrieben werden?
Barbara Kaufmann Der neuartige Ansatz von Pina bei „Blaubart“ besteht für mich darin, dass sie nicht eine Geschichte, die bereits existierte, nacherzählen wollte, sondern psychische Zustände in der Beziehung zwischen zwei Menschen – Judith und Herzog Blaubart - erforscht und
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Jan Minarik, Beatrice Libonati und Bettina Wagner-Bergelt Fotos: Laszlo Szito
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Milan Kampfer, Emma Barrowman, Oleg Stepanov, und vorne Julius Olbertz, Elisa Spina und Héléna Pikon
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erfahrbar gemacht hat. Jan Minarik, der zusammen mit Beatrice Libonati, Héléna Pikon und mir die Probenleitung übernommen hat, sagte neulich zu den Tänzerinnen und Tänzer: „Blaubart ist keine Tanzauührung, sondern ein Zustand.“ Das Stück spiegelt ungebremst Emotionen und Gefühle, die wir alle in uns tragen und die sich gerade durch die vielen Wiederholungen und Brüche so unausweichlich zeigen. Die Bewegungssprache besteht aus einfachen, direkten Gesten, die durch Vergrößerungen, Wiederholungen und Übergänge in Tanzsequenzen sehr eindringlich werden.
Bettina Wagner-Bergelt Und auch die Bühne und der Bühnenraum, alles, was es dort an Requisiten, Material gibt, spielt mit und wird permanent benutzt, zerrissen, malträtiert, umgedreht, weggetragen. Es ist ein Anrennen gegen Wände, gegen Widerstände. Und keiner geht als Sieger von diesem Kampfplatz. Ich denke aber, es ist heute leichter, dieses Stück zu „lesen“, weil wir inzwischen 30 Jahre Erfahrung mit Jan Fabre, mit Alain Platel, mit Schlingensief und anderen haben, die es uns leichter macht, es zu sehen.
Einige Journalisten kritisierten damals den Umgang von Pina Bausch mit der Musik von Béla Bartók, sie warfen ihr vor, die Musik zu zerstückeln, auch die Erben von Béla Bartók reagierten entsprechend. Andere nahmen gerade die Verstümmelung der Musik als vorantreibende Kraft wahr, die den Lauf der Handlung bestimmte.
Bettina Wagner-Bergelt Ja, ich weiß, das ist ein immerwährendes Thema für Musikliebhaber, dass man Musik durch ihren Kontext oder den angeblich respektlosen Umgang, dass man die Integrität des Werkes zerstören könne. Ich denke, das ist falsche Ehrfurcht. Im Gegenteil, Pina Bausch hat diese Musik geadelt, indem sie diese unbändige Kraft in ihr gehört und freigesetzt hat. Ich sehe den Umgang mit Musik grundsätzlich sehr unsentimental. Die Musik ist in der Welt, und Künstler müssen mit ihr umgehen dürfen wie mit jeder Tradition, jedem Material, das sie vorfinden. Wer die Musik als Ganze hören und genießen will, kann dies ja jederzeit tun.
Barbara Kaufmann Béla Bartóks Musik und die Stimmen gehen durch Mark und Bein, und es ist schon in sich ein tiefgehendes, psychologisches Abenteuer. In meiner Wahrnehmung vertieft sich die Zerrissenheit der Figuren durch Pinas Wahl, diese Musik zu unterbrechen, zu wiederholen, Stille und viele andere Geräusche entstehen zulassen – Atem, Laub unter den Füßen und Körpern, Lachen und Schreien, Prallen gegen Wände. Dieser Blaubart manipuliert durch das Stoppen, Spulen und Abspielen des Tonbandes die gesamte Situation.
Bettina Wagner-Bergelt Ich denke auch, Pina Bausch musste die Musik so behandeln, wie sie jetzt in Blaubart behandelt wird, weil Thema und Form von dieser Komposition vorgegeben werden. Hier wird nicht einer schönen Komposition gelauscht, nicht linear an ihr entlang choreografiert, wie in Sacre oder in den Gluck-Choreografien. Hier wird keine Geschichte um Liebe, Leben und Tod erzählt, wie noch in Iphigenie, sondern der Kampf darum findet vor unseren Augen auf der Bühne statt. Und es ist ein Akt der Zerstörung. Es gibt hier ja gar keine Geschichte, das Libretto kommt nur noch als Überbleibsel vor, die Tür, die feudalen Kleider. Keine Motive, keine kunstvolle Verflechtung von Themen, Texten und Aktionen, wie
sie auch typisch war für jene Schaensperiode der späten 70er-Jahre. Es ist ein psychischer und physischer Zustand. Eine Eskalation.
Blaubart, uraufgeführt 1977, wurde vor 29 Jahren zum letzten Mal gespielt. Wo liegen die Herausforderungen einer solchen Neueinstudierung oder Rekonstruktion nach so langer Zeit?
Bettina Wagner-Bergelt Da gibt es eine ganze Reihe. Natürlich zuerst die dramaturgische Frage, die sich immer vor der Entscheidung stellt: Warum dieses Stück? Was sagt es uns heute? Hat es etwas mit uns zu tun? Warum interessiert es uns? Und: Interessiert es die Menschen, die ins Theater kommen? Ein großer Teil des Bausch-Repertoires ist ja inzwischen auch zum Klassiker geworden, d. h. wir erleben nicht mehr in jeder Vorstellung eine Herausforderung, die lautes Türenschlagen verlangte. Die Vorstellungen sind eher verstörend in ihrer Schönheit, ihrer Harmonie, ihrer scheinbar honungsfrohen Sicht auf die Welt, die wir so gern teilen, die Negatives sublimiert und kunstvoll verschlüsselt. Mit der Form der assoziativen Bilder und Szenen, der nicht linearen Erzählweise sind wir ja längst vertraut. Ihren Ruf einer unbeugsamen Forscherin nach den Abgründen der menschlichen Seele, unseren Obsessionen und Unzulänglichkeiten, den Gründen für unser Glück und unser Unglück, hat Pina Bausch aber nicht mit diesen späteren Stücken errungen, sondern mit den frühen, in denen sie mit ihrer radikal fragenden Haltung auch eine völlig neue verstörende Form gefunden hat. Und ich bin überzeugt – auch durch meine eigene Reaktion auf dieses Stück –, da begegnet uns etwas Archaisches im Handeln Blaubarts, das aber sehr wohl gesellschaftlich eingebunden ist, Teil unseres Alltags.
Barbara Kaufmann Es ist für die Tänzerinnen und Tänzer sehr wichtig die Relevanz dieses Stückes in unserer jetzigen Zeit zu verstehen, sie zu erspüren und als Motivation zu nutzen. Und zum großen Glück können wir mit Jan Minarik, der damals in der Urbesetzung tanzte, an die Quelle der Entstehung des Stückes gehen, und Beatrice Libonati wird ihre lange und intensive Erfahrung als Judith einbringen. Mir liegt sehr daran, genau zu studieren, wie das Stück strukturiert ist, und den Inhalt und die Stimmung des Textes zu verstehen. Wie die Bewegungen erinnert werden, um das alles in die Rekonstruktion einzubringen und so die Atmosphäre in Blaubarts Burg zu erzeugen. Ein Zitat von Pina aus einem ihrer Interviews (O-Ton Pina) hat mich persönlich sehr inspiriert und ist mehr denn je von Bedeutung. Sie sagte: „Es geht nicht um die Gewalt, sondern das Gegenteil. Ich zeige die Gewalt nicht, damit man sie will, sondern damit man sie nicht will. Und ich versuche zu verstehen, was die Ursachen dieser Gewalt sind. Wie beim Blaubart.“
Bettina Wagner-Bergelt Diese sexuelle Gewalt, das Umschlagen von Liebe in Brutalität und Besitzenwollen, in Demütigung und Zerstörung des anderen, das ist aktueller denn je, heute, wo wir darum wissen und Tabus gebrochen wurden, sich damit oener auseinanderzusetzen, dort, wo wir es vorfinden. Es ist aber wie immer bei Pina Bausch nicht ein politisches Statement, sondern eine Studie über Gewalt, eine Beobachtung der Wirklichkeit, um zu zeigen, so darf es doch nicht sein, so pervertiert soll Liebe nicht sein, dieser grauenhafte permanente Wechsel von Opfer und Täter. Ich hoe, dass dieses durchweg junge Ensemble zusammen mit Jan Minarik und Beatrice Libonati, den originalen Hauptfiguren, den inneren Weg noch einmal ganz unverbraucht geht. Wir sind gespannt, zu welchem Ziel.
Inszenierung / Choreographie: Pina Bausch Bühne / Kostüme: Rolf Borzik Mitarbeit: Rolf Borzik, Marion Cito, Hans Pop
Mit Pau Aran Gimeno, Emma Barrowman, Michael Carter, Léonor Clary*, Rosella Dicuonzo*, Çağdas Ermis, Jonathan Fredrickson, Silvia Farias Heredia, Milan Nowoitnick Kampfer, Marius Ledwig*, Gustavo Leite*, Lucas Lopes Pereira*, Blanca Noguerol Ramírez, Julius Obertz*, Jolinus Pape*, Christian Paul*, Daria Pavlenko*, Elisa Spina*, Oleg Stepanov, Julian Stierle, Christopher Tandy, Tsai-Wei Tien, Stephanie Troyak, Sara Valenti*, Charlotte Virgile*, Ophelia Young, Tsai-Chin Yu
Intendanz und Künstlerische Leitung: Bettina Wagner-Bergelt Probenleitung Neueinstudierung: Jan Minarik*, Beatrice Libonati*, Barbara Kaufmann, Héléna Pikon *Als Gast