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Das Theater Anderwelten bespielt die Bühne der Wuppertaler Oper
Vorhang auf für die Geschichten der Vertriebenen Heiner Bontrups Theater Anderwelten inszeniert auf der Bühne der Wuppertaler Oper das Exil als großes Menschheitsthema
Yasser Niksida, Thomas Braus, Bernd Kuschmann, Foto: Ava Weis
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„Der Zug fährt nicht auf Schienen, er schwimmt über ein Meer von Glück. Noch scheinen Sterne hinter wolkigen Nebeln. Morgen lass etwas Sonne sein, lieber Gott.“ So beschreibt Irmgard Keun in ihrem Roman „Nach Mitternacht“ jenen Moment, in dem ein Paar die Flucht aus Nazi-Deutschland gelingt. Diese bittersüße, vielleicht trügerische Honung auf ein besseres Leben in der Fremde durchstimmt als Grundton die Urauührung des multimedialen Stücks Die Schutzbefohlenen. Heiner Bontrup hat mit diesem Stück Menschen, die in die Fremde vertrieben wurden, eine Stimme verliehen und der Frage nachgespürt, ob es über alle Zeiten und Räume hinweg eine anthropologische Konstante des Exils gibt.
Das Stück beginnt in der Gegenwart: Yasser Niksida ist 14 Jahre, als auf der Flucht nach Europa das Boot kentert, mit dem die Schleuser ihn zur griechischen Küste bringen wollen. Yasser kann nicht schwimmen, er taucht unter, bekommt keine Luft. Dann zieht ihn die Rettungsweste nach oben. Yaser überlebt. Mehr als die Hälfte der ca. 60-köpfigen Besatzung des Schlauchbootes aber ist verschollen. In Berlin angekommen, trit Yasser auf die Spiegel-Redakteurin Susanne Koelbl, die ihn und andere geflohene Jugendliche ermutigt, im Versemachen ihre Stimme zu finden, z.B. in Versen wie diesen: Alle dann in den Waggons, nur ich allein auf dem Gleis. Das Schlauchboot sank und mein heißes Herz für Europa wurde kalt.
Für diese und andere Gedichte haben Yasser und andere junge Flüchtlinge des preisgekrönten Berliner Poetry Projects im vergangenen Jahr den Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis erhalten. Nun steht Yasser da auf der großen Bühne der Wuppertaler Oper: ein junger Mann mit Cargo-Hose und Parker in Tarnfarben. Beeindruckt, aber nicht eingeschüchtert durch die große Kulisse trägt er sein Gedicht auf Farsi vor, und Thomas Braus, Schauspielintendant der Wuppertaler Bühnen, trägt Yassers Verse auf Deutsch vor.
Allein dass Thomas Braus da steht und die Verse Yassers rezitiert, ernst und würdevoll, ist ein klares und unmissverständliches Statement zur Funktion des Theaters. Braus ist es auch, der dem Publikum die Fluchtgeschichte von Mahdi Hashemi, einem Freund Yassers, nahebringt. Acht Minuten dauert diese Geschichte, und wie lange hat man auf dem Theater nicht mehr erlebt, dass eine Geschichte „einfach so“ erzählt wird. Keine Sekunde davon ist zu lang - äußerst gespannt verfolgt das Publikum diese Geschichte einer Flucht. Die Erinnerungen an die Heimat, die Eltern, die Freunde, die gemeinsam gefeierten Feste werden für
Margaux Kier, Foto: Ava Weis
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Mahdi zu Überlebensmitteln in der Fremde, zur Selbstvergewisserung der eigenen Identität: „Wenn ich gewusst hätte, wie lange ich in Deutschland bleiben würde und wie sehr ich meine Familie und meine Heimat vermissen würde – ich hätte meine Mutter stundenlang in den Armen gehalten. Ich hätte die zerfurchten und abgearbeiteten Hände meines Vaters so oft geküsst, bis sie ganz nass gewesen wären. Es ist meine größte Sehnsucht, sie wiederzusehen.“
Begleitet wird diese Erzählung wie auch die anderen ExilGeschichten durch Videosequenzen, die der Wuppertaler Lichtkünstler Gregor Eisenmann geschaen hat. Nie drängen sie sich in den Vordergrund, sind aber stets ein verlässlicher Begleiter der Erzählung. Leitmotivartig - mal abstrakt, mal assoziativ - begleitet der Videostream die Bühnenerzählung. Dabei spielt Eisenmann geschickt mit dem Raum, holt zum Beispiel durch eine lange Kamerafahrt die Zuschauer vom Opernvorplatz in den Zuschauerraum (wo sie ja bereits sind!), während die Figuren visuell auf den Platz nach draußen befördert werden. So fungiert die Installation auch als ein (selbst-)ironisches Spiel mit dem Raum.
Zeitauflösung Ganz ähnlich wie Yasser und Mahdi reiste auch Else Lasker-Schüler in ihren Zürcher und später in ihren Jerusalemer Jahren immer wieder zurück in die Zeit ihrer Kindheit. Erinnerungen an ihre Eltern, an das alte Elberfeld suchten sie heim. Auch Rojin Namer, die während des Syrienkrieges allein nach Deutschland geflohen ist, kehrt in ihren Versen immer wieder zurück in ihre Heimatstadt Damaskus, die für sie als Kind das Paradies war: Am Ende ihres Gedichtes findet sie Worte, die denen Else Lasker-Schülers ähneln, die den Verlust ihrer Heimat ebenso wie eine Vertreibung aus dem Paradies beschreiben:
Wie soll ich Damaskus beschreiben? Wie soll ich das Paradies beschreiben, denjenigen, die es nicht kennen?
Das Herz von Syrien. Die Seele von mir. Die Honung von anderen. Das ist Damaskus.
Mein Damaskus. Ich will dich zurück. Zurück zu mir.
Heiner Bontrup lässt auf dieses „Zurück zu mir“ Else Lasker-Schüler mit Versen aus ihrem Gedicht „Weltflucht“ antworten: „Ich will in das Grenzenlose // Zu mir zurück“. Über die Zeiten hinweg begegnen Dichterinnen wie Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs, Mascha Kaléko und Irmgard Keun, die während der NS-Zeit ins Exil gehen mussten, in diesem Stück Menschen, die erst kürzlich aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Exodus-Erzählung des Alten Testaments erinnert an die Honungen und Sehnsüchte, die einen Au¼ruch in ein anderes Land („in dem Milch und Honig fließen“) immer auch begleiten. Diese biblische Erzählung bildet gemeinsam mit den Sätzen der Philosophin Hannah Arendt über das Exil den mythologisch-philosophischen Referenzrahmen für die Video-Suite.
In diesem Textlabyrinth fungiert Bernd Kuschmann, langjähriges Ensemblemitglied des Wuppertaler Schauspiels, als eine Art „Geist der Erzählung“. Er ordnet das Geschehen historisch ein und hält die Erzählstränge zusammen. Kuschmanns Sprechkunst ist es zu verdanken, dass sich die Exil-Geschichten wie eine plötzliche Imagination des Erzählers ereignen. Immer wieder beeindruckt, wie viel Präsenz Kuschmanns Stimme trotz seines in der Tiefe des Raumes verorteten Standortes entfaltet.
Jenseits der Worte Zu den Exil-Erzählungen hat Mathias Haus eine musikalische Suite komponiert, eine scheinbar lose Folge von Stücken, die atmosphärisch dem Bühnengeschehen folgen. Sehr dierenziert und nuancenreich spielt das el¤öpfige Orchester aus Dozentinnen und Dozenten sowie Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz, Köln (Abteilung Wuppertal), deren Nukleus die Wuppertaler Kammerphilharmonie bildet. Haus hat als Komponist eine Musiksprache gefunden, die zwischen Neuer Musik, Jazz und gelegentlichen Einflüssen der Weltmusik changiert und doch einen ganz eigenständigen kohärenten musikalischen Ausdruck findet. Dabei gelingt es dem Komponisten, den Worten etwas ganz Eigenes hinzuzufügen. Die mal zarte und dann wieder ausdrucksstark gewaltige Musik entführt das Publikum nach und nach in eine ganz eigene Welt und fungiert als ein kathartischer Kontrapunkt zu den traurigen Lebensschicksalen der Vertriebenen. Sie hält die Erinnerungen an die Honungen aufrecht – auch noch in den Augenblicken der Verzweiflung. Dass Haus den Klassiker „Ain’t No Sunshine“, diesen großartigen Song über das Verlassenwerden, von Margaux Kier sehr gefühlvoll vorgetragen, in einem fast klassisch anmutenden Arrangement einfügt, gehört zu den berührendsten Momenten der Inszenierung.
Julia Wol, Margaux Kier, Foto: Ava Weis
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Doch immer wieder reißen unvermittelt die von Charles Petersohn gestalteten Klangwelten das Publikum aus solch melancholischen Stimmungen. Petersohn hat aus Radiound Fernsehnachrichten beklemmende Soundcollagen gestaltet, die unter die Haut gehen und die taumelnde Abwärtsspirale der politischen Entwicklungen seit 9/11 über islamistische Anschläge bis hin zu den rechtsterroristischen Morden in Deutschland spiegeln. Sie bilden den dramaturgischen Gegenpol zu Haus‘ Musik. Zu einer dieser Klanglandschaften tanzt Chrystel Guillebeaud, langjähriges Mitglied des Pina Bausch Tanztheaters. Ihr vom Butoh inspirierter Tanz ist ein ergreifender Kommentar zum zeithistorischen Geschehen jenseits der Worte.
In dem fiktiven Schlussdialog zwischen Rojin Namer und Else Lasker-Schüler wird das Exil als Vertreibung aus dem Paradies reflektiert. Dennoch erlischt der Funken der Ho- nung nicht. Heiner Bontrup greift auf eine späte Vision Else Lasker-Schülers in ihrem Jerusalemer Exil – kurz vor ihrem Tod – zurück: „Ich habe einen famosen Plan: Wir erönen einen kleinen Jahrmarkt. Mit Karussell. Vorerst. Für die Kinder in Jerusalem. Später in der ganzen Welt. So versöhnen wir die Völker. Solange noch ein Kind hungert, verzichtet Gott auf jede Synagoge.“
Gregor Eisenmann verwandelt mit seinen dreidimensionalen Videoeinspielungen die Wuppertaler Oper in einen Jahrmarkt, Spielzeug-Karussells drehen sich überdimensional groß auf der Leinwand, alle Mitspieler betreten die Bühne und werden Teil dieser Videoinstallation: Realität und Spiel, Wirklichkeit und Vision verschmelzen in einem grandiosen Schlussbild, in dem Diversität und Harmonie eins sind. Dazu spielt das Orchester einen herrlich augenzwinkernden Walzer, der einen glücklichen Augenblick lang die traurige Wirklichkeit vergessen lässt.
Jan Dieker