![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/b22e4a1520fb0605e46df6f7740299ca.jpg?width=720&quality=85%2C50)
9 minute read
Tanz und Film verbinden die Welt
Das Finale auf der Bühne vom Rex-Filmtheater, Foto: Stefan Fries
„we live future now“ Tanz und Film verbinden die Welt
Advertisement
Internationaler Tanzfilmwettbewerb und TANZRAUSCHEN fanden im „dancescreen 2019 + TANZRAUSCHEN Festival Wupper- tal“ im November zusammen.„Dance or die“ hat sich der 27-jährige Ahmad auf seinen Nacken tätowieren lassen. Berührend, eindringlich und behutsam erzählt der gleichnamige 54-minütige Dokumentarfilm die Geschichte des syrischen Tänzers Ahmad Joudeh, der seine zerbombte Heimatstadt Damaskus verlässt und in den Niederlanden neu beginnt. Tanz ist sein Leben und gibt ihm Kraft. Im Orient bedroht und ausgegrenzt, findet er in der europäischen Ferne über den Tanz ein ihn beflügelndes Leben, Freunde und eine Freiheit, die ihn wieder mit seinem Vater zusammenführt und versöhnt. Hier in Wuppertal verlieh ihm die internationale Festival-Jury den erstmals in Wuppertal vergebenen Social Movers Award, kurze Zeit später gewann er in New York den Emmy-Award für Arts Programming. „Dance or die“ steht ein Stück weit sinnbildlich für ein herausragendes, künstlerisch und menschlich bewegendes Spektrum an 67 ausgewählten Tanzfilmen. Diese Vorauswahl aus insgesamt 216 Filmen, die bei dancescreen 2019 eingereicht worden waren, wurde vom 21. bis 24. November im Rex-Theater und an anderen Orten präsentiert. Sie zeigte ein schillernd-beflügelndes Spektrum von dem, was Tanz und Film vermögen, wenn sie zusammenkommen.
Der dancescreen-Tanzfilmwettbewerb wird vom IMZ International Music + Media Centre mit Sitz in Wien ausgerichtet und fand 2013 in San Francisco und 2016 in London statt. Das IMZ bezeichnet sich selbst als größtes BusinessNetzwerk für darstellende Kunst in den Medien aus, mit vielseitigen Kontakten in das weltweite Multimedia-Karusell. Es unterstützt und verbreitet die Sichtbarkeit von Performing Arts in und über audiovisuelle Medien, engagiert sich in Zusammenarbeit mit Tanzfilmfestivals und anderen Foren. Tanzrauschen wurde zum Partner des IMZ und veranstaltete das internationale Tanzfilmfestival „dancescreen 2019 + TANZRAUSCHEN Festival Wuppertal“. Nicht nur in der hiesigen Kunstszene, sondern auch internatio-
nal ist Tanzrauschen mittlerweile ein Begri, der für das zukunftsweisende hybride Genre Dance on Screen steht, das Tanz, Film und Medienkunst ganz dynamisch miteinander verbindet. Erstmals an die Öentlichkeit trat Tanzrauschen e. V. 2014, initiiert von der Kommunikationsdesignerin Kerstin Hamburg und einem wachsenden Team. Zunächst wurden 40 Filme auf acht Monitoren im damaligen Olga-Atelier des Malers und Tänzers Milton Camilo präsentiert, und die enorme Resonanz der 300 Besucher war sofort spürbar. Neben anderen Aktivitäten startete im nächsten Jahr die Zusammenarbeit mit der Tanz- und Film-Künstlerin Jo Parkes, bekannt durch ihre partizipativen „CommunityDance“-Projekte und dieses Jahr geehrt mit dem Deutschen Tanzpreis.
Entstanden sind seither die „Letters from Wuppertal“ und „my move my place“ mit nicht professionell tanzenden engagierten Wuppertalerinnen und Wuppertalern. Diese Filmproduktionen machen Tanzrauschen ebenso aus wie sein Wirken als Plattform und Netzwerk für alle Bereiche der globalen Tanzfilm-Bewegung, unterstützt von einem sich permanent wandelnden Team aus Kolleginnen und Kollegen, seit 2018 mit Felicitas Willems, Zara Gayk, Dr. Marc Wagenbach und Kerstin Hamburg im Vorstand. Mit viel Engagement gelang es, im Januar 2016 das erste Tanzrauschen-Festival in der börse durchzuführen und damals schon Tanzfilme und Expertinnen und Experten aus aller Welt nach Wuppertal zu holen. Erste weitreichende Netzwerke und Kooperationen wurden initiiert oder fortgesetzt. Hier wurden auch die Samen für die diesjährige Ausgabe des Festivals gesät.
Unter der Schirmherrschaft von Helge Lindh, Bundestagsabgeordneter aus Wuppertal, ist mit „dancescreen 2019 + TANZRAUSCHEN Festival Wuppertal“ vom 21. bis zum 24. November 2019 ein vielseitig inspirierendes Programm kuratiert, organisiert und dank der Unterstützung vieler Fördernder umgesetzt worden. Es wurde an verschiedenen Orten der Stadt durchgeführt, die wie ein Spinnennetz miteinander verbunden waren: So machten sich die lokalen, nationalen und internationalen Tanzrauschen-Besucherinnen und -Besucher quer durch Elberfeld auf den Weg. Der Tanzrauschen-Stadtplan sah folgendermaßen aus: Die Filme liefen überwiegend im Kinoambiente des Rex. Der Dance Screen Market mit Netzwerktreen, Installationen, Buchvorstellungen und weiterem Programm fand hauptsächlich im alten Schauspielhaus statt. In der börse waren die Filme von Jo Parkes zu sehen, in den letzten zehn Jahren an verschiedenen Orten der Welt entstanden. Im Neuen
Der finnische Film „Fram“ (2019) von Thomas Freundlich und Valterri Rasekallio. Foto: Thomas Freundlich
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/0e2545ac48a70d838edfc074ec3a276b.jpg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/1611189e622e584d402b45a6b8fc430a.jpg?width=720&quality=85%2C50)
Still Tanzfilm „my move ma place“ (2019) von Jo Parkes und Julia Franken
Der französische Film „A secret Joy“ (2019) von Jérôme Cassou über die Choreographin Nadia Vadouri-Gauthier. Foto: Le prix de l‘essence
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/ab976cfaa54bb02e1a20a9bc2f8dca2b.jpg?width=720&quality=85%2C50)
Kunstverein war die Ausstellung „Das totale Tanz Theater 360° – Bauhaus Spirit Virtuell“ zu Gast. Im Urban Art Complex gab es Filme zu sehen, und es wurden eine Lecture Performance und ein Schnupperkurs zur Körpersprache des Urban Dance und Hiphop angeboten. Im Studio Double C önete die Choreografin Chrystel Guillebeaud ihr Atelier und zeigte die Installation ihrer Produktion „Dein Femur singt“. Im Wuppertal Institut, das sich mehr und mehr für die Rolle von Kunst für Veränderungsprozesse önet, gab es Gespräche zum transformativen Potenzial von Tanzfilmen und Urban Art, Kunst im städtischen Raum.
Einen besonderen Puls gaben dem Festival an allen Orten neben dem obligatorischen Filmeschauen: Begegnung, Austausch und Vernetzung untereinander, eigene Recherche oder ganz einfach ein beschwingtes Zusammensein mit
Menschen aus der ganzen Welt. Dafür ganz besonders geeignet war die Festival Lounge im LOCH, im alten Bücherschi im Haus der Jugend Elberfeld. Hier waren in einer audiovisuellen Bibliothek an vier Rechnern alle Filme zu sehen, die zu dancescreen 2019 eingereicht worden waren. Die Covestro-Installation „Dancing Sampler Interactive“ lud zum Tanz ein: Ein riesiger Monitor reagierte virtuell auf Körperbewegungen und nicht wenige verausgabten sich dort tänzerisch bis zur Atemlosigkeit. Auch Konzerte oder DJ-Sessions gab es entsprechend der eigenen Klangart im LOCH sowie Expertengespräche, wie ein Treen der JuryMitglieder aus Polen, Finnland, Schweden und Großbritannien. Die Gespräche, Vorträge, Workshops und Begegnungen, ganz kosmopolit, wurden allerorts als gemeinsame Plattform überwiegend auf Englisch durchgeführt.
Stimmungsvoll auf pinkfarben beleuchteter Rex-Bühne führte der schon lange dem Tanzrauschen verbundene Tänzer Paul White im pinkfarbenen Paillettensakko durch den Erönungsabend. Nach Sambaklängen von Apito Fiasko tanzte Schirmherr Helge Lindh in seine Rede, die virtuos schmackhaft machte, wie ein Politiker performativ begeistern und Menschen erreichen kann. Er bekannte sich zum Tanz, zu Pina Bausch, zu menschlich bewegenden Alltagsmomenten und vor allem zur geliebten Stadt, denn, so Lindh, die Wuppertalerinnen und Wuppertaler, die rennen nicht, die laufen nicht: „They just dance, in every minute of their life. That is why I love Wuppertal!“
Den filmischen Auftakt des Festivals machte der 35-minütige Film „touched“ von Jukka Rajala-Granstrubb und Marc Wagenbach , der außer Konkurrenz lief. Wagenbach, ehemaliger Assistent von Pina Bausch, näherte sich als Schauspieler und Filmemacher gemeinsam mit seinem finnischen Kollegen der Tanzikone aus Wuppertal und machte den – ihm von Pina vermachten – Wollschal zum verbindenden Erinnerungsstück. Im Wald, an anderen ihm wichtigen Orten und mit von ihm ausgewählten Menschen ging er in inneren und teils surrealen Szenarien Gefühlen der Trauer, des Verlustes und dem Vermächtnis der Choreografin nach. Damit erschloss sich der Film eine sehr persönliche Auslegung von kulturellem Erbe und den Spuren, die Pina Bausch in künstlerisch inspirierten Menschen der Stadt hinterlassen konnte.
Das Spektrum der dancescreen-Tanzfilme, die in einem Film-Marathon von drei Tagen im Rex gezeigt wurden, war schillernd, berührend und vielseitig anregend: sowohl tänzerisch, filmisch, ästhetisch, als auch inhaltlich. Die Fülle an Eindrücken hat bei jeder und jedem sicherlich andere Spuren hinterlassen. Filme tänzerischer Koriphäen wie Sasha Waltz „Kreatur“, Meryl Tankard „Two Feed“ oder Teresa De Keersmaker „Mitten“ waren dabei. Körper und Natur tauchten in ganz unterschiedlichen Konstellationen auf, wie in dem finnischen Film „Fram“, einer eindrucksvollen Polarexpedition als geografisch-künstlerische Erkundung. Perspektiven von Kindern, wie in dem bretonischen „Dance, little chick“ oder dem schwedischen „Shadow Animal“ machten eindrucksvoll die Vielfalt des Lebens sinnlich erfahrbar. Ebenso aufwühlend waren Filme, die Wahrnehmung und Begegnung angesichts körperlicher Versehrtheit vermittelten: Sowohl dem norwegischen „Blind Danser“ als auch dem britischen „Artificial Things“ gelang dies eindringlich. Letzterer gewann übrigens in der Kategorie „Film über 15 Minuten“.
Noch ein Jahr sind die preisgekrönten Filme über die WDR Mediathek zu sehen: das atemberaubende Ringen um eine Welt im Gleichgewicht in „The Great Ghost“, Best Film, die reiterisch verrückte Hommage an Musicals der 20er/30er Jahre in „With Reason and Heart“, Film bis 5 Minuten, die Einflüsse der Kindheit auf Beziehungen in karger Natur in „Fracture“, Film bis 15 Minuten, der hingebungsvolle aus 1250 Bildern entstandene 2minütige Clip „Disco“, Animation, und der zwischen Trauma und Trauern oszillierende gut zweistündige Film „Betroenheit“, Live-Performance and Camera Re-work. Den „Best Student Award“ gewann der bulgarische Film „Waiting for color“, ein sechsminütiger dokumentarischer Tanzfilm, der auf den Berichten von 33 Personen basiert, die von der Verfolgung der LGBTQ+ (Lesbian, Gay, Bisexuell, Transgender) in der tschetschenischen Region Russlands berichten, den Schikanen, der Folter und den Demütigungen, denen sie in der Haft ausgesetzt waren. Wie auch der anfangs erwähnte Social Movers-Preisträger „Dance or die“ zeigen viele der Filme eindringlich und sinnlich zugleich die Wunden und Sehnsüchte von Menschen unserer Gesellschaft. Viele weitere der nicht erwähnten Filme zeigen unverblümt, wie Tanz das alltägliche Leben und gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf faszinierende Art beleben und mitsteuern kann. Diese Potenziale in die Welt zu bringen, dazu kann das Genre Tanzfilm entscheidend beitragen.
Wie solche Kooperationen von Tanz, Film, Kamera und Wirtschaft weiter gefördert werden können, wurde auf dem Festival in verschiedenen Foren vielseitig diskutiert und in Speed-Date-Formaten durch Austausch von Kunstschaffenden und Produzierenden ganz pragmatisch umgesetzt.
Im alten Schauspielhaus waren filmische Installationen von und mit Tanztheater- und Underground-Tänzerinnen – wie Julie Anne Stanzak oder Ruth Amarante – zu sehen. Der international renommierte Choreograf Fabien Prioville zeigte auf den Treppenaufgängen im Foyer sein Virtual-Reality-Projekt „Here We Are“. Auch das digital ambitionierte Projekt zur tanzenden künstlichen Intelligenz „Blackberry Winter“ von Christian Mio Loclair im Schauspielhaus oder die „Das Totale Tanz Theater360°“-VR-Reise im Neuen Kunstverein mit virtuell animierten Tänzern, das sich auf die Ideen des Bauhauses beruft, ließ erahnen, was sich alles in den kommenden Jahren an Tanz und virtueller Realität noch entwickeln wird. Mit Film, Wort und Fotografie hat das TANZweb, die kritische Plattform für das Begleiten und Sichtbarmachen von Tanz, Choreografie und dem hybriden Genre Tanzfilm mit seinem Nachwuchslabor „dance&dare“, Wettbewerb und Festival begleitet.
„we live future now“ war nicht nur der Slogan des Festivals: Zukunft wird jetzt schon gelebt. Das macht ein Projekt beispielhaft deutlich, das aus dem Tanzrauschen-Symposium 2016 entstanden ist und dessen Start jetzt bekannt gegeben wurde: „mAPs – migrating artists project“ ist eine transmediale, dreijährige Kooperation zwischen den fünf europäischen Ländern Frankreich, Griechenland, Italien, Finnland und Deutschland. In enger Zusammenarbeit mit den jeweils lokalen Stadtgesellschaften entstehen fünf Filme zu Transformationsprozessen rund um „Macht“ und fokussieren dabei Fragen zu Klima, Medien oder Gender.
Wie können Tanz und Tanzfilm Zukunft gestalten? Dazu haben dancescreen 2019 und Tanzrauschen eine faszinierende Plattform ermöglicht, die gezeigt hat: Bei den Menschen selbst fängt Zukunft an. Allen voran zeigt dies der vor seiner Rede selbst tanzende Politiker Helge Lindh mit seiner Liebeserklärung an die tanzende Stadt. Beeindruckend präsent waren neben vielen professionellen Tänzern die seit etlichen Jahren engagierten Amateurtänzer Wuppertals, alt und jung: All ihnen bedeutet Tanz unsagbar viel. Bewegung und Tanz haben viel mit Selbstwirksamkeit in Gemeinschaft zu tun, sie bedeuten: miteinander umgehen, sich nahe kommen, berühren, voneinander lernen und etwas gemeinsam gestalten. In einem der jüngsten Filme von Jo Parkes „my move my place“, von Jo Parkes und Julia Franken, stehen die Menschen auf Steinen mitten in der Wupper und tanzen dort. Kunst mitten im Stadtleben! We live future now!
Uta Atzpodien
Festival-Lounge im LOCH mit audiovisueller Bibliothek. Foto: Kerstin Hamburg
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/7fa1d71b56d36a43991f5be666d15fcd.jpg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/6928a0641c64e75b45742d2ea4927760.jpg?width=720&quality=85%2C50)
Ahmad Joudeh, „Dance or die“, Social Movers Award, Dancescreen 2019
Filmische Installationen im Schauspielhaus von TanztheaterTänzerinnen Ruth Amarante (links) und Julie Anne Stanzak (rechts). Foto: Kerstin Hamburg
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/18817e664425ceb1031aadf27aea3c0f.jpg?width=720&quality=85%2C50)
Unten: Verleihung des Awards Best Film an „The Great Ghost“ Foto: Stefan Fries
![](https://assets.isu.pub/document-structure/200402110010-e8c9317e44b296233abc19e77a2f69d1/v1/7083321bc3d38dcfc9ca8e13ae261087.jpg?width=720&quality=85%2C50)