Von Advent bis Pfingsten

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Die Wahrheit des Lebens Von Advent bis Pfingsten

Was die Christenheit feiert und hofft



Matthias Grünewald (um 1475–1528): Issenheimer Altar Das Auferstehungs- und Kreuzigungsbild für den Hochaltar des Antoniterklosters Issenheim schuf Matthias Grünewald in den Jahren 1512 bis 1515. Die Bilder wollen nicht eine geschichtliche Darstellung sein. Das Karfreitagsbild steigert das Leiden Jesu zu einer umfassenden Klage. Auf der einen Seite sind Personen dargestellt, von denen die Evangelien erzählen: Maria, die Mutter Jesu, die von dem Jünger Johannes gestützt wird, und die verzweifelte Maria von Magdala. Auf der anderen Seite steht Johannes der Täufer. Er war zur Zeit der Kreuzigung nicht mehr am Leben. Seine Gestalt gibt der Darstellung den Gehalt, der für alle Zeiten gültig ist. Mit seinem weit ausgestreckten Finger weist er auf Christus als «das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt». Das Osterbild zeigt den Auferstandenen mit den Wundmalen zu einer Lichtgestalt verklärt. Er ist «die Sonne der Gerechtigkeit». Unter ihm sinken die Wächter am Grab in ein gestaltloses Dunkel.



Die Wahrheit des Lebens

Von Advent bis Pfingsten Was die Christenheit feiert und hofft

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Inhalt

Zur Einführung

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Advent und Weihnachten Gott kommt Seite 7–21 Sie haben seine Herrlichkeit gesehen Karfreitag und Ostern Ein Ereignis mit ewigen Folgen

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Seite 23–37

Auffahrt und Pfingsten Er ist der Höchste Wir wachsen hinein in seine Liebe

Seite 39–53

Biblische Beleg- und Verweisstellen

Seite 54–55


Zur Einführung

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iese kleine Schrift möchte hineinführen in die geheimnisvolle Wirklichkeit, die Jahr für Jahr von der Christenheit gefeiert wird. In zahllosen Sprachen wird rund um den Erdkreis das Weihnachtsevangelium gelesen. Seit Jahrhunderten haben unsere Vorfahren in jedem Frühling wieder an den Tod

und die Auferstehung Jesu gedacht. Junge und Alte haben die Loblieder des Glaubens gesungen und haben sich gleichzeitig zweifelnde Fragen gestellt. In fernen Ländern werden heute Menschen aus fremden Kulturen getauft. Mit uns, die wir in einer hoch technisierten Zivilisation leben, feiern sie am Auffahrtstag und an Pfingsten, dass Jesus alle Macht in seinen Händen hat, und dass er den Geist Gottes zu seinen Gemeinden sendet. Die Wahrheit, in die wir so hinein genommen werden, ist kein einfacher Gedanke. Jesus hat einmal gesagt: «Ich bin die Wahrheit». Er begegnet den Menschen als eine lebendige Person, zu der man Vertrauen fassen kann. Das Geheimnis, das wir so zu ehren und zu lieben lernen, will sich uns im Verlaufe des Lebens stückweise erschliessen. Wenn wir glückliche Tage erleben dürfen und von Herzen dankbar sein können, und wenn wir in leidvollen Zeiten getragen und getröstet werden, können wir tiefer hineindringen in das, was auch vor uns schon so viele Menschen ergriffen, erfreut und zu geduldigen Werken der Liebe ermutigt hat. Es ist nicht gedacht, dass man die Schrift in einem Zug durchliest. Dazu ist der Stoff zu schwer. Wer eine kurze Zusammenfassung haben möchte, kann die gross gedruckten, leitenden Sätze unter jedem Abschnitt lesen. Die Absicht mit dem Büchlein ist mehr als erfüllt, wenn man in ihm blättert, beim einen oder anderen hängen bleibt, sich seine Gedanken macht – und wenn man dadurch im persönlichen Nachdenken und Beten bereichert wird und vielleicht ins Gespräch mit den Familienmitgliedern oder mit Nachbarn oder Freunden kommt. Drei Bibeltexte und zwei Gemälde des Issenheimer-Altars von Matthias Grünewald leiten durch die ganze Schrift. Aus diesem Fundus möchten die Erklärungen Altes und Neues für uns heute schöpfen. Die biblischen Beleg- und Verweisstellen finden sich ganz hinten zusammengestellt.

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Advent und Weihnachten

Gott kommt Sie haben seine Herrlichkeit gesehen

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Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden. Was in ihm geworden ist, war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht ergriffen. Es war ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name: Johannes. Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Wort zeuge, damit alle durch ihn glaubten. Jener war nicht das Licht, sondern damit er zeuge von dem Licht! Das Licht, das wahrhafte, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigenes, und die Eigenen nahmen ihn nicht auf. So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Blut noch aus dem Willen des Fleisches 10


noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die des Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes zeugt von ihm und ruft und sagt: «Dieser war es, von dem ich gesagt habe: ‹Der nach mir kommt, ist vor mir gewesen, denn er war eher als ich.› » Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade! Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit aber sind durch Jesus Christus geworden. Gott hat niemals jemand gesehen – der einziggeborene Gott, der im Schoss des Vaters ist, der hat ihn hinausgeführt. Johannes 1, 1–18

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Das Licht, das wahrhafte, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt erkannte ihn nicht.

dvent heisst Ankunft. Im Advent feiern die Kirchen, dass Gott gekommen ist, und dass er wieder kommen wird. Es gibt nicht nur das Kalenderjahr, das vom Januar bis zum Dezember dem Kreislauf der Sonne folgt. Die christlichen Feste markieren

das sogenannte Kirchenjahr. Sie feiern ein Licht, das von einer anderen Art als das Licht der Sonne ist. Noch bevor die Tage am kürzesten sind und dann wieder länger werden, beginnt am 1. Advent der Zyklus der kirchlichen Feste. Mit diesen Festen verehren die christlichen Gemeinden einen Gott, der da ist und der doch erst noch kommen will. Er ist ein Gott, der nicht nur dem folgt, was die Natur vorgibt. Der Gott, an den die Kirchen glauben, steht über der Zeit und greift in den Lauf der Welt ein. Er führt die Menschen in eine neue, ihnen bislang nicht bekannte Wirklichkeit. Er tut Wunder. Das ist die Voraussetzung für die christlichen Feste. Ein Wunder ist etwas anderes als Zauberei. Gott steht über der Natur und ihren Gesetzen. Aber er ist dem Natürlichen gegenüber nicht fremd. Er hat die Welt erschaffen. Das Licht, das die christlichen Feste in das Leben bringen, ist deshalb nichts gänzlich «Jenseitiges». Im Gegenteil: das Licht, das durch den Advent in die Welt kommt, bringt das menschlich Gute zum Leuchten. Vereinfachend könnte man sagen: Gott muss Wunder tun, damit die Menschen wieder hochachten, was ihnen der Schöpfer gegeben hat. Das göttliche Licht muss sich zeigen, damit die Menschen sich selber und andere nicht nur im unbarmherzigen Licht der Sonne sehen. Wir müssen die christlichen Feste feiern, damit wir das allgemein Menschliche in seiner Begrenzung lieb haben und wert schätzen können. Die Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel erzählt: Als sein erstes Werk hat Gott das Licht ins Dasein gerufen und hat es von der Finsternis geschieden. Erst später hat er die Sonne und ihr Licht gemacht. Es strahlt ein Licht, bevor die Sonne scheint! Auch ein blinder Mensch kann dieses Licht sehen. In jedem Menschen wird es hell, wenn er gesund sein darf, wenn er sich ge12


liebt und geachtet fühlt und sich über ein glückliches Gelingen freuen kann. Sei es, dass ein Kind mit Holzklötzen einen Turm baut oder dass ein Gärtner seine Hand über die zarten Keimlinge gleiten lässt… In unzähligen Formen erstrahlt das Licht des Lebens, von dem die Bibel spricht. Und umgekehrt: Jedem Menschen wird es finster ums Herz, wenn er schlecht behandelt wird. Jeder Mensch fürchtet das Dunkel von Krankheit und Tod. Es gibt eine Finsternis, die den schönsten Sommertag dunkel macht. Eine verschmähte Liebe, bittere Niederlagen im Beruf, oder noch schlimmer, wenn ich selber vom Neid erfasst werde und mich hineinziehen lasse in Klatsch und Tratsch… Mancher dunkle Schatten legt sich auf uns Menschen. Das Licht des Lebens, von dem die Bibel spricht, ist bei allen Menschen immer schon da. Um so unheimlicher ist es, dass sich bei allen Menschen auch eine Dunkelheit breit macht, und dass diese Finsternis am Ende grösser und mächtiger zu sein scheint als das Licht. Das rührt daher, sagt das Evangelium, dass das Licht zwar in der Welt ist, aber von der Welt nicht erkannt, nicht aufgenommen wird. Es braucht das Licht der speziellen, christlichen Feste, es braucht die äusseren Feierlichkeiten und die innere Anteilnahme an diesen Festen, damit das Licht, das da ist, neu zum Leuchten kommt. Wenn an Weihnachten der Tannenbaum mit seinen Kerzen erstrahlt, finden sich diese beiden Lichter in schöner Weise. Die Zweige des Baumes sind aus sich heraus lebendig und grün. Der Baum aber leuchtet in dem Glanz der Lichter, mit denen wir die Geburt Christi feiern.

Bevor das Licht der Sonne scheint, strahlt das Licht des Lebens. 13


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Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden.

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n den ersten Versen des Johannesevangeliums wird die Geschichte von Advent und Weihnachten mit sehr weit ausholenden Worten erzählt. Die Formulierungen im griechischen Grundtext sind nahe an den Fragen, die damals die Philosophen und Dichter erregt haben,

und die auch heute jeden nachdenkenden Menschen beschäftigen. Immer wieder neu fordert das Johannesevangelium mit seinen Eingangsworten das Denken heraus.

«Im Anfang» lauten die zwei ersten Worte. Man könnte auch übersetzen: «Im Urgrund» oder «im Prinzipiellen». In diesem «Grundlegenden», sagt der Evangelist, war «das Wort». Der griechische Text spricht vom «Logos». Das erinnert uns an unsere «Logik». Aber das griechische Wort will nicht nur abstrakte Ordnungsmuster, Proportionen und Abhängigkeiten benennen. «Das Wort», von dem Johannes redet, erscheint als eine handelnde Person. In seinen späteren Ausführungen zeigt sich: Dieses Wort ist Jesus. Es ist für die Menschen hörbar, greifbar und sichtbar geworden, als Jesus in Galiläa lebte. Dieses Wort war bei Gott, bevor die Zeit ihren Anfang genommen hat. Das Evangelium will das Unvorstellbare aussprechen: Bevor irgend etwas ins Da-sein getreten ist, war Gott. Gott aber war nicht einsam. Bei ihm war «das Wort». Er kann lieben und will lieben. Er hat, er ist in sich Gemeinschaft. Alles, was ist, hat der Schöpfer durch dieses Wort erschaffen. Das Wort, könnte man sagen, ist «das Werkzeug», durch das Gott die Dinge und Lebewesen ins Dasein führt und ihnen ihre Gestalt und ihr Lebensziel gibt. Das erklärt, was wir als selbstverständlich nehmen: Die Welt besteht nicht aus vielen zufälligen Ereignissen. Im Gegenteil: Gewaltig Grosses und winzig Kleines greift präzise gefügt ineinander. Ist es nicht erstaunlich, dass die Pflanzen sich auf den Winkel der Erdachse und den Lichteinfall der Sonne einstellen, dass sie also «die Befehle» der Sonne «verstehen»? Wer über dieses scheinbar Selbstverständliche nachdenkt, beginnt sich zu fragen: Weshalb das? Warum laufen die Dinge nicht unverbunden nebeneinander her und stossen nur manchmal zufällig zusammen? Das Evangelium sagt: Es ist, weil 14


es alles durch dasselbe Wort gemacht ist. Das Leben ist nicht nur eine Maschine, die reibungslos funktioniert. Es gibt in allem ein Verlangen nach Schönheit, ein Wille, für andere da zu sein, eine untergründige Liebe. Der Biologe Adolf Portmann beschreibt die Meeresschnecke

Ägires und stellt dabei die Frage, weshalb dieses Tier so viel Energie darauf verwende, eine schöne Gestalt aufzubauen. Die Meeresschnecke selber kann nicht sehen. Die schöne Aussenhaut erfüllt keinen erkennbaren biologischen Zweck, sie dient nicht der Tarnung oder dem Locken. Rein rational lässt sich das Verhalten der Natur nicht erklären. Auch Darwins Evolutionstheorie muss vieles ausklammern. Die geschöpfliche Welt, so wie wir sie in der Natur beobachten können, will nicht nur überleben. Sie will leben. Sie erzählt von einer Liebe, die etwas anderes noch ist als der Drang, die eigene Existenz zu sichern. Das Evangelium sagt: Alles ist durch das Wort erschaffen. Dieses Wort aber hat das Verlangen, für andere da zu sein. Einen Widerhall seiner Liebe hat das Wort in alles Geschaffene gelegt.

Alles ist so erschaffen, dass es Gemeinschaft sucht. 15


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Es war ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name: Johannes. Der kam zum Zeugnis, damit er von dem Wort zeuge, damit alle durch ihn glaubten.

itten in all dem, was das Evangelium über Gott und die Welt schreibt, nennt es plötzlich eine einzelne geschichtliche Person. Diese Person heisst zum Vornamen gleich wie der Evangelist. «Sein Name: Johannes».

Damit ist Johannes der Täufer gemeint. Er ist um das Jahr 30 als Prediger in der jüdischen Wüste aufgetreten. Als Kleidung diente ihm ein Kamelhaarmantel; seine Nahrung bestand aus dem Wenigen, was die Wüste hergibt: Heuschrecken und wilden Honig. Das Volk war von ihm fasziniert. In Scharen sind die Menschen an den Wasserlauf des Jordans gekommen und haben sich von ihm taufen lassen. Nach einer kurzen Zeit des Wirkens ist der furchtlose Prediger aber von seinem Landesfürsten Herodes gefangen genommen und enthauptet worden. Es ist zunächst schwer verständlich, dass der Evangelist diesem Johannes in seinem so weit gespannten Text eine so umfassende Bedeutung zumisst: «Alle sollen durch ihn glauben», schreibt er. Der Glaube, von dem das Evangelium redet, soll offenbar nur durch Johannes den Täufer möglich werden. Diese Aussage wird verständlicher, wenn wir zur Kenntnis nehmen, was Jesus von dem Täufer sagt. Jesus nennt ihn den Grössten, der je von einer Frau geboren worden ist, und sagt dann: Alle Propheten und das Gesetz des Mose haben ihre Aufgabe getan bis hin zu Johannes. Johannes steht nicht als ein einsamer Einzelner da. Er bringt zum Abschluss, was vor ihm die alttestamentlichen Propheten in das Leben des Volkes Israel getragen haben. Menschen aller Völker und Zeiten sollen durch diese Vollendung des Alten Testamentes zum Glauben finden. Das Evangelium handelt nicht nur von Gedanken, Gefühlen, Wertvorstellungen und Zukunftsvisionen. Die jahrhundertelange, sehr leidvolle, aber auch geheimnisvoll zielgerichtete Geschichte des Volkes Israel, von Abraham bis David, von Mose bis Elia, von Salomo bis Nehemia, diese Geschichte ist die greifbare, anschauliche Realität, die der Botschaft von der Liebe Gottes Inhalt und Substanz gibt. Dass ein Gott ist, der zu den Menschen kommen 16


will, ist nicht die Idee religiöser Schwärmer oder das Wunschbild menschlicher Ahnungen. Das Alte Testament erzählt von den Gesandten Gottes, die sich noch und noch gegen die Vorstellungen und Wünsche ihres Volkes behaupten mussten. Was nun in den alttestamentlichen Schriften zu lesen steht, ist etwas anderes als sich die Menschen ausdenken und wünschen würden. In den biblischen Schriften haben nicht Menschen ihre Gedanken in Worte gefasst, sondern Gott hat seine Richtersprüche und seine Absichten durch die biblischen Autoren in dichte und oft überschwere Worte fassen lassen. Auf diesem Hintergrund hat auch Johannes der Täufer selber seinen Auftrag verstanden. Er hat sich als den Boten gesehen, der den Weg bereit macht für den Einen, der nach ihm kommen werde. Der unerbittliche Anspruch der alttestamentlichen Gesetze, aber auch die siegesgewisse, unerschütterliche Gewiss-heit der kommenden Erlösung Israels hat Johannes zu einer letzten Schärfe gesteigert. Auch er selber ist zwischenzeitlich von quälenden Zweifeln erfasst worden. Zuletzt aber lautet seine entscheidende Weisung: Jesus – er ist es, der kommen sollte! An ihn haltet euch. Er ist es, der vor allen war, und der nun in die Zeit hineingekommen ist. An dieser abschliessenden Deutung des Alten Testamentes durch Johannes den Täufer, sagt das Evangelium, kommt niemand vorbei, der glauben will.

Das Evangelium ist keine Wunschvorstellung. Der Glaube lebt von der Realität des Alten Testamentes. 17


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Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigenes, und die Eigenen nahmen ihn nicht auf.

eit einigen Jahrzehnten feiert die westliche Christenheit den Advent als eine Zeit des Lichterglanzes und der menschlichen Liebeswerke. Die Städte erstrahlen im weihnächtlichen Schmuck. Die Menschen möchten sich gegenseitig Freude bereiten.

Doch unter der Hand wird dies zu einem quälenden Zwang. Je mehr die Lichter in den Strassen leuchten, um so schmerzlicher empfinden viele das Dunkel in der eigenen Seele. Je ernsthafter sie anderen Gutes tun möchten, umso beschwerender spüren sie ihre Hilflosigkeit. Gelingt es, das beglückende Geschenk zu finden? Wird sich die Familie versammeln, und wird sie zufrieden sein? Können wir wenigstens im Kleinen den Frieden auf Erden festhalten, von dem die Engel an Weihnachten singen? Das Zeichen für dieses Bemühen ist der Adventskranz. Sonntag für Sonntag brennt eine Kerze mehr. Heller und heller soll es werden. Dieser Brauch stammt aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit des Fortschrittsglaubens. Die göttliche Liebe, dachte man, entfalte sich mit der menschlichen Liebe. Sie macht das Leben immer lebenswerter. Ursprünglich besteht der Advent aber aus einem hellen und fröhlichen Sonntag am Anfang, gefolgt von zwei ernsten und dunklen Sonntagen. Johann Sebastian Bach hat für den 2. und 3. Advent keine Kantaten komponiert. Es sind Fastentage. An ihnen sollte die Musica schweigen. Sie wollen einer strengen Selbstbesinnung Raum geben. Das entspricht dem biblischen Verständnis. Wo Gottes Licht aufstrahlt, dürfen die Menschen erlöst aufblicken. Alles, scheint es, ist nur noch gut. Doch dann fällt das Licht auch auf vieles, das – offenkundig oder verborgen – ungut ist. Manches ist derart leidvoll – alle menschliche Liebe kann nichts helfen. Es ruft danach, dass Gott mit äusserer Macht eingreift. Dem Gedenken an dieses zweite Kommen Gottes, an diese «Wiederkunft» mit Macht, ist in der Tra-dition der 2. Advent gewidmet. Der 3. Advent aber gehört Johannes dem Täufer. Er predigt die «Busse zur Vergebung der Sünden». – «Die Sünde»: Kaum ein Wort ist von so vielen Vor18


urteilen überlagert wie dieser Begriff. Und gleichzeitig ist kaum ein Wort so grundlegend für das Verständnis der biblischen Botschaft wie dieses. Wer das Anliegen der christlichen Feste erfassen will, muss zu verstehen versuchen, was das Gesetz und die Propheten Israels «Sünde» nennen. Nach ihren Worten besteht die Sünde nicht in einzelnen ungerechten Taten. Sie besteht darin, dass die Menschen das Wort ihres Schöpfers verdrängen. Auf selbstherrliche Art, durch das blosse Wissen und Wollen, möchten die Menschen werden, was Gott ist. Moralisch überheblich bilden sie sich ein, der gute Wille und schöne Gedanken seien die Hauptsache. Je besser die Absicht, um so besser der Mensch. Und welcher Mensch hat nicht gute Absichten? Das biblische Gesetz und die Propheten aber fordern das Tun. Nichts Grosses! Die Zehn Gebote sind bescheiden, vernünftig und sehr menschlich. Umso beschämender ist es, dass kein Mensch von sich sagen kann, dass er sie gehalten hat. Im Gegenteil: Alle Menschen tun vieles, was das Licht scheuen muss. Auch auf dieses Dunkle will der Advent sein Licht werfen. Nur wenn wir auch das annehmen, was der Schöpfer uns Unerfreuliches sagen will, macht sein Wort das Leben hell. Johannes der Täufer macht den Weg für Gott bereit, indem er alle Menschen aus der Selbstgerechtigkeit hinaus zur Vergebung der Sünden ruft.

Das Licht des Advents deckt beschämend das Dunkel dessen auf, was die Bibel Sünde nennt. 19


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…denen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.

ott will zu den Menschen kommen. Ja, er will nicht nur als ein ganz Anderer den Menschen nahe sein. Er will sich innig mit ihnen vereinen. Er will ihnen Anteil geben an seinem eigenen, göttlichen Leben.

Das aber kann und will er nicht mit uns Menschen tun, wie wir sind. Sonst würde er sich auch mit unserer Schuld und Sünde vereinen und würde dem Bösen Anteil geben an seinem unvergänglichen Leben. Dann würde das Un-recht nie mehr ein Ende nehmen. Deshalb muss Gott die Menschen von der Sünde befreien. So nur will er ihnen das unvorstellbar Hohe geben, von dem das Evangelium spricht: dass sie seine Kinder werden. Das neue Leben, mit dem Gott die Menschen begabt, besteht nicht aus einer übernatürlichen Kraft, durch die ein Mensch immer besser, einsichtiger und liebevoller wird. Sie besteht aber auch nicht nur aus einem juristischen Akt, mit dem Gott einen Menschen adoptiert. Es geht vielmehr um eine Realität, die erst noch erworben, eingeübt und im Inneren und Äusseren vollendet werden will. Das Recht und die Kraft dazu aber hat Gott den Menschen bereits verliehen durch sein Wort. Praktisch heisst das: Wir haben die Möglichkeit, in der Gotteskindschaft zu reifen, dadurch, dass wir mit unseren Gedanken, unserem Willen und unseren Taten dem Wort Gottes folgen, wohin es uns führt. Zuerst einmal wirkt sich das aus im Gebet. Jesus hat seine Nachfolger gelehrt, wie sie recht beten können. Sie sollen ihr Gebet nicht so verrichten, dass alle es sehen, sondern in ihrem «Kämmerlein». Dieser Ausdruck bezeichnete zu Jesu Lebzeiten einen kleinen Raum, der oft unmittelbar neben der Küche die Vorräte barg. Jesus will also sagen: Das persönliche Gebet soll zurückgezogen, für die Öffentlichkeit unsichtbar, ohne besonderen religiösen Glanz seinen Platz im Leben haben, mitten in den Alltagsgeschäften. Dann, verspricht Jesus, werde Gott, «der im Verborgenen ist und das Verborgene sieht», auf die Gebete hören. Die Anrede an Gott, die Jesus die Seinen lehrt, ist aber nicht überschwänglich 20


und auch nicht nur symbolisch gemeint. «Unser Vater im Himmel», sagen die Glaubenden zu Gott und dürfen damit wortwörtlich zum Ausdruck bringen, was für sie gilt: Gott hat sein Wort in ihre Herzen gelegt und hat sie zu einem neuen Leben gezeugt. Er ist ihr Vater geworden. In biblischen Zeiten betete man mit hoch ausgestreckten Händen. Die westlichen Völker haben aus ihrer Geschichte eine andere Gebetshaltung entwickelt: Sie falten die Hände ineinander. Bei den Germanen war das die Art und Weise, wie ein Mensch sich seinem Oberherrn oder wie nach der Schlacht der Besiegte sich dem Sieger ausgeliefert hat. Die gefaltet ausgestreckten Hän-de sind das sichtbare Zeichen: Ich trage keine Waffen. Ich kann mich nicht verteidigen. Ich lege mein Schicksal in deine Hand. So legen die Betenden ihr zeitliches Wohl und ihr ewiges Heil in die Hand Gottes, ihres Vaters, der im Himmel ist. Das Gebetsleben hat unscheinbare und doch mächtige Auswirkungen im alltäglichen Verhalten. Das opferbereite Verlangen nach einer vollkommenen Gerechtigkeit verbindet sich mit einer nachsichtigen Geduld. Denn alle Menschen haben die Vergebung Gottes nötig. Die biblischen Worte fordern den leidenschaftlichen Glauben an die Wahrheit heraus. Gleichzeitig aber machen sie den Glauben auch bescheiden. Niemand kann ja von sich behaupten, dass er die ganze biblische Botschaft, so vielschichtig wie sie ist, erfasst hat. Die Liebe zum Schönen verwandelt sich: Nicht nur über dem jungen, gesunden, erfolgreichen Leben, sondern ebenso sehr über den Kranken, Alten und Gescheiterten kann der Glaube einen Abglanz der göttlichen Liebe erblicken. Dies alles ist der Anfang eines neuen, ewigen, gottgleichen Lebens.

Wir Menschen sollen ein neues, ewiges Leben erhalten. 21


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Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie die des Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

it weit ausholenden, zum philosophischen Denken hin offenen Worten beschreibt der Evangelist Johannes das Geschehen von Weihnachten. Matthäus und Lukas beschreiben in ihren Evangelien dasselbe anschaulicher. In der jüdischen Stadt Nazareth, erzählt

Lukas, lebt eine junge Frau, Maria. Ein Engel bringt ihr die Botschaft, dass sie schwanger werden und einen Knaben gebären soll. Der werde ein ewiges Reich aufrichten. Maria wundert sich. Wie soll das geschehen? Sie hat noch keinen Mann. Der Engel fragt sie zurück: Sollte dem Gott Israels, dem Schöpfer von Himmel und Erde, etwas unmöglich sein? Der heilige Geist werde an ihr wirken. Deshalb werde ihr Kind heilig sein. Man wird ihn Sohn des Höchsten nennen, sagt der Engel. – Matthäus berichtet von demselben Geschehen aus dem Blickwinkel Josefs, des Verlobten Marias. Der entdeckt Marias Schwangerschaft und will sie verlassen. Ein Engel verweist ihn aber auf die Verheissung im Propheten-buch Jesaja. Der Gott Israels hat die Geburt eines Knaben versprochen, der Gott und die Menschen verbindet. Jetzt, sagt der Engel zu Josef, ist es soweit. Jetzt wird Maria dem lange erwarteten Erlöser das Leben geben. Josef soll ihm den Namen Jesus geben, denn «er wird sein Volk retten von ihren Sünden». Der Name Jesus heisst übersetzt «der Herr hilft». Die Weihnachtsgeschichten der Evangelien bewegen sich ganz im Rahmen der eigentümlich biblischen, realistischen Sicht auf den Menschen. Viele haben versucht, uns Menschen zu helfen, mit religiösen, technischen oder sozialen Massnahmen. Niemand und nichts aber hat die menschlichen Nöte an ihrer Wurzel zu fassen bekommen. Radikal hilfreich kann für uns Menschen nur derjenige sein, der die Sünde aus dem Menschenleben zu entfernen vermag. Dazu aber sind andere Fähigkeiten als unsere menschlichen nötig. Jesus wird in Bethlehem geboren. Damit, schreibt Johannes drastisch, ist das Wort «Fleisch» geworden. Derjenige, der vor aller Zeit war, ist in der Zeit sichtbar und greifbar geworden. Mehr noch! Johannes betont: Das göttliche Wort hat Anteil bekommen an all dem, was das körperliche Leben von Menschen und Tieren verletzlich und hinfällig macht. Jesus ist hungrig, müde und 22


beschwert gewesen. Ja, in Jesus teilt Gott mit uns Menschen sogar das, was das Leben mit Ekel erfüllt und mit Schmachvollem zeichnet. Erschöpft, durstig, im Schweiss seiner Angst ist Jesus gestorben. Matthäus erzählt aber von diesem Kommen in das Fleisch auch das andere: Sternkundige finden den Weg nach Bethlehem und bringen dem Kind ihre königlichen Gaben, Gold, Weihrauch und Myrrhe. Damit, erklärt ein früher Theologe, bekommt der Fleischgewordene zu fassen, dass unser irdisches Leben auch viel Gutes birgt: Schönes für das Auge, Wohlriechendes für den Geruchsinn, Angenehmes für die Haut. Er «wohnte unter uns», schreibt Johannes, «wir schauten seine Herrlichkeit». Mit diesen Formulierungen betont er: Wir hatten Zeit. Und wir waren bei Sinnen. Es war nicht ein flüchtiger Eindruck. Wir hatten nicht ein ekstatisches religiöses Erlebnis. Wir konnten in Ruhe zuschauen und uns unsere Meinung bilden. Und dabei haben wir rund um Jesus, über und in ihm etwas Herrliches gesehen – einen Glanz «wie des Einziggeborenen vom Vater». Gott ist nicht nur eine höhere Macht. Er hat ein Herz. Er kann sich erbarmen. Er will lieben. Er ist der Vater. Es waren nüchterne jüdische Männer, die Jesus zugeschaut haben. Sie hatten aus den mosaischen Gesetzesbüchern gelernt, kritisch zu sein. Ist es möglich, dass sie sich getäuscht haben? Ist es denkbar, dass sie lügen und andere in die Irre führen wollen mit ihrem Zeugnis?

Der Unsichtbare ist sichtbar geworden. Nüchterne jüdische Männer haben Jesus zugeschaut und sagen: Er hat eine göttliche Fülle. 23


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Karfreitag und Ostern

Ein Ereignis mit ewigen Folgen

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Siehe, es soll meinem Knecht gelingen, gewaltig und gross und sehr hoch erhaben soll er sein! So wie sich viele über ihn entsetzt haben – so unmenschlich wie sein Aussehen und so ganz ohne menschliche Gestalt wie er war – so soll er viele Völker besprengen, – vor ihm werden Könige ihren Mund schliessen! Denn was ihnen nicht erzählt worden ist, das sehen sie, und was sie nicht gehört haben, das möchten sie verstehen. Wer aber glaubt, was uns verkündet worden ist, und über wem ist der Arm des Herrn offenbar? Er wuchs auf vor ihm wie ein Spross und wie eine Wurzel aus trockenem Land. Er hatte keine Gestalt und nichts Glänzendes, wir sahen ihn, aber er hatte kein Aussehen und gefiel uns nicht. Verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit der Krankheit, so dass man sein Gesicht vor ihm verbarg, so verachtet war er, und wir schätzten ihn nicht. Fürwahr: Unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen; wir aber meinten, er sei gezeichnet, geschlagen von Gott und von ihm geplagt. Aber er ist durchbohrt um unserer Frevel willen und ist zerschlagen um unserer Sünden willen. Die Strafe, die uns den Frieden gibt, liegt auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir alle gingen wie Schafe in die Irre, ein jeder schaute nur auf seinen Weg –. 26


Der Herr aber hat die Sünde von uns allen auf ihn geworfen. Gedrängt und geplagt wurde er, aber er tat seinen Mund nicht auf: Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, er tat seinen Mund nicht auf. Aus Bedrängnis und Gericht ist er hinweg genommen – sein Geschlecht aber, wer erfasst es? Denn er ist hinausgestossen aus dem Lande der Lebendigen, wegen der Sünde meines Volkes ist er getroffen. Und man hat ihm sein Grab bei den Gottlosen gegeben und bei den Reichen liegt er im Tod, obgleich er kein Unrecht getan hat und kein Trug in seinem Mund war. Aber dem Herrn gefiel es, ihn zu zerschlagen mit Krankheit. Weil er sein Leben als Schuldopfer eingesetzt hat, soll er Nachkommen haben und seine Tage weit machen, und was dem Herrn gefällt, das soll gelingen durch seine Hand. Von der Mühsal seines Lebens soll er die Frucht sehen, er soll satt werden in seiner Erkenntnis – er, der Gerechte, mein Knecht, wird die Vielen gerecht sprechen, denn er hat ihre Sünden getragen. Darum will ich ihm sein Los zuteilen unter den Vielen und unter den Starken soll er die Kriegsbeute verteilen – weil er sein Leben dem Tod blossgestellt hat und zu den Sündern gezählt worden ist. Denn die Missetat der Vielen hat er getragen und für die Sünder soll seine Fürbitte gelten.

Jesaja 52,13–53,12 27


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…gewaltig und gross und sehr hoch erhaben soll er sein! So wie sich viele über ihn entsetzt haben – so unmenschlich wie sein Aussehen und so ganz ohne menschliche Gestalt wie er war. ie Menschen rund um Jesus haben miterlebt, was er getan und gelehrt hat, und wie er dann von den zuständigen Behörden seines Volkes als Gotteslästerer verurteilt und vom römischen Statthalter Pontius Pilatus in die schrecklichen Qualen des Kreuzestodes ausge-

liefert wurde. Von ferne haben einige seiner langjährigen Begleiter erschüttert zugeschaut, wie Jesus gestorben ist. Schliesslich hat eine kleine Schar den Leich-nam hastig in ein Felsengrab gelegt. Warum musste Jesus in so furchtbarer Art und Weise sterben? Zwei Tage später wurden die Menschen, die das Unbegreifliche des Karfreitags miterlebt hatten, noch tiefer verwirrt. Frauen aus ihrem Kreis waren am frühen Morgen hinaus zum Grab gegangen, um den Leichnam für die endgültige Ruhe zuzubereiten. Sie hatten das Grab leer gefunden. Einige scheinen es gar nicht gewagt zu haben, von diesem Erlebnis zu berichten. Andere erzählten, sie hätten Engel gesehen, die ihnen sagten, dass Jesus lebt. Was sollte man von all dem halten? Im Laufe der folgenden Tage und Wochen begegneten unterschiedliche Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Jesus. Allmählich wandelte sich die Trauer seiner Gefolgsleute in eine verwunderte Freu-de. Ruhig und für die ganze weitere Zukunft unerschütterlich hatte die Ge-wissheit ihre Herzen ergriffen: Jesus lebt. Er ist wahrhaftig vom Tod auferstanden! Warum aber hatte er leiden und sterben müssen? Weshalb in so schrecklicher Weise? Und warum hatte er sich nur einem kleinen Kreis als der Sieger über den Tod gezeigt? Als die Menschen rund um Jesus das verstehen wollten, wurde ihnen ein Text im Alten Testament besonders wichtig. Im Prophetenbuch Jesaja findet sich ein Abschnitt, in dem von einem «Knecht» die Rede ist. Die Formulierungen sind wie die eines Dichters. Sie wollen nicht etwas einsichtig und verständlich machen. Der Klang der Worte will die Herzen ergreifen, ihre Bilder wollen 28


Ehrfurcht und Liebe wecken. Sie geben das Geheimnis zu fassen und entziehen es gleichzeitig dem Verstehen. Man hat sie deshalb ein prophetisches Lied genannt. Sie singen einem Menschen das Lob, der ein erschütterndes Schicksal durchlitten hat: Hässlich entstellt, ehrlos und verachtet, gezeichnet von unerträglichen Schmerzen erscheint er vor den Menschen. Dieser Knecht ist aber gleichzeitig der Eine, den Gott hoch über alle erhöht. In diesen Worten fanden die Anhänger Jesu seinen Leidensweg vorgezeichnet. Es ist tatsächlich sonderbar: Nirgendwo im ganzen Neuen Testament werden die körperlichen und seelischen Qualen, die Jesus gelitten hat, so bildhaft und ergreifend in Worte gefasst wie in diesem Text, der viele Jahrhunderte vor dem Ereignis geschrieben wurde. Und nirgendwo sonst wird so wortreich gesagt, warum Jesus den Weg des Leidens gehen musste. Aus den alten Worten konnten die Anhänger von Jesus verstehen lernen, was er getan hatte. Fast fünfzig Mal nehmen die neutestamentlichen Schriften Bezug auf diesen Text. Was an Karfreitag und Ostern geschah, das innerste Geheimnis des Neuen Testamentes, war kein menschliches Werk. Es war mit langem Atem vorbereitet von Gott. Durch seinen Propheten hatte er lange zuvor dargelegt, dass es vielen Menschen zugute kommen sollte.

Was an Karfreitag und Ostern geschah, fanden die Anhänger Jesu in einem geheimnisvollen prophetischen Lied besungen. 29


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Er ist durchbohrt um unserer Frevel willen und ist zerschlagen um unserer Sünden willen: Die Strafe, die uns den Frieden gibt, liegt auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt.

m unseretwillen, damit wir heil werden, hat Jesus gelitten. Für uns ist er gestorben. So besingt es in vielen Variationen das prophetische Lied. So sagt es auch das Neue Testament: «Christus ist gestorben für unsere Sünden», schreibt der Apostel Paulus zusammenfas-

send. Für die Menschen, die miterlebt hatten, wie Jesus gelitten hat, war mit diesen Worten offenbar alles Nötige gesagt. Sie haben nicht versucht darzulegen, warum der Tod eines Menschen andere Menschen von ihrer Schuld befreien kann. In zwei Dimensionen leuchten in dem alttestamentlichen Text aber Ansätze zu einer solchen weitergehenden Erklärung auf. Zum einen ist davon die Rede, dass der Gottesknecht stellvertretend eine Strafe trägt. Das können wir ein Stück weit nachvollziehen: Strafe muss sein, sagt der Volksmund. Das drückt ein allgemeines, richtiges Empfinden aus. Un-recht darf sich nicht lohnen. Es darf nicht gleichgültig sein, ob ein Mensch sich um das Gute bemüht, oder ob er zu bösen Machenschaften greift. Kaum jemand mag akzeptieren, dass am Ende das Böse nur eben vergessen sein soll. Die Schuldigen sollen spüren, dass ihr Tun weh getan hat. Die Schuld soll ge-sühnt werden. In diesem Sinn, heisst es im Prophetenbuch, trägt der Gottesknecht die Strafe derjenigen, die ihn hochachten. Ihnen gibt die stellvertretend erlittene Strafe einen Frieden, der wahr und gerecht ist. Das Unrecht wird nicht verharmlost, das Böse nicht verwischt. Der Unterschied zwischen dem Wahren und dem Verlogenen wird nicht relativiert. Die Schuld hat ihre Strafe empfangen. Der Friede beruht nicht auf einer letzten Gleichgültigkeit, sondern auf der Versöhnung, die durch das stellvertretende Leiden gewonnen worden ist. Zum anderen sagt das prophetische Lied, dass der Gottesknecht sein Leben als Schuldopfer einsetzt. Ein Unrecht verletzt nicht nur andere Geschöpfe. Mehr noch dringt es in das Herz des Schöpfers. Jede gemeine Tat, jedes verlogene Wort, jeder böse Gedanke kränkt zuerst einmal denjenigen, der uns die Kraft zum Denken und Reden und Handeln gegeben hat. Das Unrecht tut Gott weh. 30


Um dieses Unrecht an Gott wieder gutzumachen, haben die Völker seit eh und je Schuldopfer dargebracht. Auch dem Volk Israel war das geboten. Täglich hat man im Jerusalemer Tempel solche Opfer dargebracht. In dieser Weise, heisst es, hat der Gottesknecht mit seinem Blut den Frieden mit Gott erworben. Er hat die Sünde seines Volkes aus dem Gesichtskreis Gottes weggetragen. Weil Jesus für die Seinen gelitten hat, will Gott nicht mehr an das Unrecht denken, das ihm angetan worden ist. So gesehen gibt es eine tiefste Grundlage für den Frieden zwischen Gott und den Menschen, die uns meistens unbewusst bleibt. Wenn wir von Gott erwarten, dass er barmherzig ist, bedeutet das nicht, dass er es nicht so genau nehmen soll. Wenn wir auf Strafe und Rache verzichten, dann nicht, weil sowieso alle im Unrecht sind und wir nur konstatieren können, dass ohnehin niemand das Unrecht wieder gutmachen kann. Wenn wir anders als die meisten anderen Religionen auf blutige Opfer verzichten, dann nicht, weil uns nichts ein solches Opfer wert ist. Es ist vielmehr, weil Jesus die Strafe getragen und das Opfer gebracht hat und das Unrecht wieder gutmachen kann.

Mit seinem Leiden schafft Christus einen Frieden, der nichts relativiert, sondern das Unrecht sühnt und die Zerstrittenen versöhnt. 31


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N

Weil er sein Leben als Schuldopfer eingesetzt hat, soll er Nachkommen haben und seine Tage weit machen. Er, der Gerechte, mein Knecht, wird die Vielen gerechtsprechen, denn er hat ihre Sünden getragen. icht nur die Menschen rund um Jesus – auch er selber hat untergründig und doch sehr deutlich Bezug auf die prophetischen Worte im Alten Testament genommen. In der letzten Nacht vor seinem Sterben hat er mit seinen Jüngern

das Passa-mahl gefeiert. Diese religiöse Feier war für das Leben seines Volkes grundlegend. Jahr für Jahr gedachte man in Israel mit diesem Fest der dramatischen Ereignisse, die schliesslich zu der Befreiung des Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft führten. Damals, erzählt die Bibel, erging von Gott der Befehl, dass sich alle Israeliten in Hausgemeinschaften versammeln sollten. In jedem Haus sollte man ein Lamm schlachten und es ganz verzehren. Das Blut des Lammes aber sollten sie an die Pfosten ihrer Türen streichen. In der Nacht des Passa, so der biblische Bericht, ging darauf der «Würgeengel» durch Ägypten und tötete alle Erstgeborenen. Nur wo er das Blut an den Türpfosten sah, ging der Engel vorbei und verschonte die Hausgemeinschaft. «Passa» heisst übersetzt «vorbeigehen», «verschonen». Im Rahmen dieser Feier hat Jesus mit merkwürdigen Worten eine neue, weltgeschichtlich einzigartige Handlung begründet: das Abendmahl. «Das tut zu meinem Gedächtnis», hat er seinen Jüngern gesagt. So hat er ein Mittel zurückgelassen, durch das die Jünger und alle ihre späteren Nachfolger geistig und leibhaftig mit ihm verbunden sind. Zuvor hatte er ihnen Brot gereicht und dazu gesagt: «Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird». Jesus hat also gewollt, dass sein Leib anderen dargereicht wird. Im weiteren Verlauf der Feier hat Jesus einen Becher mit Wein he-rumgehen lassen und hat dazu gesagt: «Trinkt alle daraus. Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden für viele». Jesus hat also damit gerechnet, dass sein Blut vergossen und dass dadurch die Verge-bung für viele gewonnen wird. Wenn man sich das vor Augen führt, stockt der Atem. Aber es ist so: Jesus selber hat sein Leiden in einen religiösen Rahmen gestellt. Er selber hat seinen Tod zur Grundlage für eine kultische Feier gemacht. 32


Jesus wollte offenbar die Aufgabe des Passalammes erfüllen. Was dadurch archaisch und für uns kaum mehr nachvollziehbar geschehen ist, hat alltägliche und praktische Konsequenzen, die weiter reichen, als wir uns klarmachen können. Mit Worten, die viel tiefer dringen als irgendein Mensch verstehen kann, sagt Johannes der Täufer von Jesus: «Seht, das Lamm Gottes, das wegnimmt die Sünde der Welt». «Für die Vielen» wird sein Blut vergossen, sagt Jesus. Damit nimmt er eine dreimalige Formulierung im Lied über den Gottesknecht auf. Nicht einfach für alle, an allen Orten und zu jeder Zeit soll die Barmherzigkeit Gottes zu finden sein. Jesus hat die besondere Feier des Abendmahls gestiftet und hat so einen Rahmen aufgerichtet, in dem der Friede mit Gott zu greifen ist. Wo Menschen ernsthaft und dankbar das Abendmahl feiern, wird ihr Glaube genährt und getränkt mit dem, was Jesus durch sein Leiden für sie gewonnen hat. «Für viele», sagt Jesus, soll sein Opfer seine Wirkung tun. Damit bietet er sein Erbarmen einer nicht näher bestimmten Vielzahl von Menschen dar. «So zahlreich wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer», ist diese Zahl einmal Abraham vor Augen gestellt worden. Nicht einheitlich alle. Unsagbar viele!

Jesus hat das Abendmahl gestiftet, durch das viele mit ihm verbunden bleiben. 33


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I

Siehe, es soll meinem Knecht gelingen!

st Gott etwa nicht ganz allmächtig? War er darauf angewiesen, dass ihm ein Opfer dargebracht wird, bevor er vergeben konnte? Kann er nicht einfach vergeben, wenn er vergeben will? In dieser Art und Weise haben vor vielen hundert Jahren schon

muslimische Denker die Christen des Mittelalters gefragt. Die Vorstellung von einem Gott, der seinen Sohn Mensch werden und leiden lässt, um die Schuld seiner Ge-schöpfe zu sühnen, schien ihnen absurd. Wahrscheinlich empfindet jeder Mensch zuerst einmal ähnlich. Wir wissen, dass man sich kein Gottesbild machen darf. Dennoch stellt man sich Gott als den Allmächtigen vor, mit einer Allmacht, wie wir sie uns denken können. Diese Macht, denkt man, lenkt das Schicksal, in das man sich ergeben muss. Wenn es das Schicksal gut meint, sieht man sich mit Gott im Frieden und geht das Leben optimistisch an. Wer aber daran denkt, wie das Schicksal blind und grausam sein kann, stellt rasch einmal die Frage, ob es diesen allmächtigen Gott überhaupt gibt. Eine manchmal dummdreiste, selbstgefällige Le-benshaltung und dann wieder eine sehr passive Frömmigkeit sind die Folgen dieses Gottesbildes. Die biblischen Worte haben durchgehend eine andere Ausrichtung. In dem Lied über den Gottesknecht jubelt Gott darüber, dass sein Knecht Erfolg hat. Durch das, was Jesus am Karfreitag erlitten und am Ostermorgen gewonnen hat, soll das Werk Gottes gelingen. Hier auf Erden, in Raum und Zeit, wollte Gott das Nötige tun, damit sich sein Wille erfüllt. Gottes Allmacht ist nicht eine Kraft, die sich ohne zu fragen von oben her durchsetzen will. Die Bibel beschreibt zwar eindringlich die Macht Gottes. Gott kann die Menschen und Völker in seine Hand nehmen und formen, wie ein Töpfer den Lehm formt. Kein Mensch kann sich seinem Wirken entziehen, niemand kann seiner Macht widerstehen. Das muss jeder Mensch akzeptieren. Wenn aber ein Mensch sich dieser Tatsache beugt und auf das Wort Gottes hört, erschliessen sich andere Dimensionen. In ihrem Ton und ihrem Inhalt setzen die biblischen Schriften beständig wieder das andere voraus: Gott will 34


die Menschen innerlich gewinnen. Oft wirbt er mit einer wie hilflosen, schmerzlich verwundeten Liebe um die Treue der Menschen. Manchmal klingen die biblischen Worte, als wäre Gott angewiesen auf die Menschen. Das aber ist so – nicht weil Gott tatsächlich so schwach ist, sondern weil seine Macht zurückgebunden wird von seiner Liebe. Wo es nötig ist, bringt Gott die Menschen mit seiner Macht zum Schweigen. Aber damit hat er sein eigentliches Ziel noch nicht erreicht. Er will die Menschen nicht wie ein Diktator unterwerfen. Er will sie nicht wie ein Zauberer als blosse Objekte behandeln oder wie Marionetten manipulieren. Er will, dass sie selber zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Sein Wirken zielt darauf, dass sie ihm aus einer innersten Freiheit heraus ihr Vertrauen und ihre Liebe schenken. Deshalb begegnet er den Menschen in einer äusserlich schwachen Weise. Jesus, ein Mensch, den man verächtlich übergehen und mit Menschenmacht beiseite schieben kann, soll die Menschen mit Gott verbinden. Nur einige wenige haben mit eigenen Augen gesehen, dass er vom Tod auferstanden ist. Nur sie mussten die Übermacht dieser Tatsache akzeptieren. Allen anderen wird der Glaube durch ein äusserlich umstrittenes, menschlich schwaches Wort angeboten, wie es die Apostel weitergesagt haben. Gottes Werk ist gelungen, wenn dieses schwache Wort den dankbaren Glauben der Menschen findet.

Gott kann alles tun, was er tun will. Sein Wille aber erfüllt sich nur dort, wo ihm Menschen ihr freies Vertrauen schenken. 35


11

N

…so soll er viele Völker besprengen.

ach seiner Auferstehung, erzählt der Evangelist Matthäus, hat Jesus seinen Nachfolgern den Befehl erteilt: «Machet zu Jüngern alle Völker. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie zu halten alles, was ich euch befohlen

habe». In den zwanzig Jahrhunderten, die seither vergangen sind, hat tatsächlich das Wasser der Taufe unzählig viele Menschen und Völker berührt. Auch die Grössten und Mächtigsten haben sich gebeugt. Sie haben für sich und ihre Kinder die Taufe in Anspruch genommen und haben akzeptiert, was diese Gabe beinhaltet: Über den Getauften steht der Name Gottes. Sie sind sein Ei-gentum. Sie wollen sich von Jesus und seinen Aposteln belehren und leiten lassen. Der Apostel Paulus gibt dem eine präzise Deutung. Durch die Taufe, schreibt er, sind die Menschen verwachsen mit dem Abbild des Todes, den Christus gestorben ist. Gott sieht sie vereint mit Jesus: Sie sind in seinen Tod gegeben und sind mit ihm begraben. Das dient einem bestimmten Zweck: die Getauften sollen einen neuen Lebenswandel führen. Sie sollen ihr körperliches Da-sein in den Dienst der Gerechtigkeit stellen. Diese Deutung der Taufe verbindet ein Wissen um die Wirklichkeit des Lebens mit einer Verheissung. Der Apostel Paulus weiss: Wer der Gerechtigkeit dienen will, muss Mühevolles durchstehen und Niederlagen erleiden. Er muss «sein Kreuz tragen», wie Jesus anschaulich sagt. Gott aber kann und will für ihn alles so fügen, dass es zum Guten dient. Auch Jesus hat sein Leben für immer gewonnen, als er es in den Tod gegeben hat. Ihm nachfolgend kann ein Mensch sein Leben in den alltäglichen Aufgaben hingeben und verschenken. Was er dabei verliert, bewahrt Gott, und gibt der opferbereiten Liebe ihren überreichen Lohn. Darauf darf ein Mensch vertrauen, wenn er darauf vertraut, dass er durch die Taufe mit Christus begraben ist. «Wisst ihr das nicht?», fragt der Apostel Paulus seine Leser. Er spricht damit eine grosse geistige Gefahr an. Wer getauft ist und nicht weiss, was ihm mit 36


der Taufe gegeben ist, nimmt die Barmherzigkeit Gottes wie etwas Selbstverständliches. Es ist, als könne man mit Gottes Erbarmen rechnen. Durch diese Gedankenlosigkeit wird die Liebe Gottes zu einer «billigen Gnade», schreibt Dietrich Bonhoeffer, ein evangelischer Theologe, der sein Leben im Widerstand gegen Hitler verloren hat. Es scheint, als könne man leben und tun, was immer man will, und am Ende kommt auf jeden Fall alles gut. Frivol spöttelt der Aufklärer Voltaire über den Gott der Christen, der darauf angewiesen sei, am Ende vergeben zu dürfen: «Pardonner, c’est son métier». Die Taufe, die ohne ein Bewusstsein ihrer Bedeutung nur eben vollzogen wird, hat viel dazu beigetragen, dass sich in den westlichen Ländern eine leichtherzige und überlegene Haltung in religiösen Fragen breit gemacht hat. Ein harmloser «lieber Gott», der niemandem etwas zu Leide tun kann, ein Christentum ohne das Kreuz Christi, eine letzte Gleichgültigkeit dem Bösen gegenüber sind die Folgen der «billigen Gnade», die Bonhoeffer beklagt. Damit die Taufe zu ihrer guten Wirkung kommt, müssen die Getauften sich bewusst sein, was ihnen mit ihr gegeben ist – und müssen daran glauben. Dann erneuert die Taufe ihr Leben aus dem Innersten heraus, bis in die ganz äusserlichen, alltäglichen Verhaltensmuster hinein. Dass dies geschieht, ist aber alles andere als selbstverständlich: «Wer glaubt, was uns verkündet worden ist», fragt das prophetische Lied mit einem zitternden Ernst.

Die Taufe erschliesst ein Leben, das sich im Vertrauen auf Gott hingeben und verschenken kann. 37


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A

Von der Mühsal seines Lebens soll er die Frucht sehen, er soll satt werden in seiner Erkenntnis – er, der Gerechte, mein Knecht, wird die Vielen gerecht sprechen.

nschaulich formuliert das prophetische Wort, auf welche Weise das Werk Gottes durch den Gottesknecht gelingen soll. Er soll die Vielen gerecht sprechen. Durch ihn soll «die Kriegsbeute verteilt werden». Seine Fürbitte soll gelten. In dieser Weise, sagen die neu-

testamentlichen Schriften, tut Jesus Christus nach seiner Auferstehung sein Werk. «Er muss herrschen, bis Gott ihm alle Feinde unter seine Füsse legt». Gerecht sollen die Vielen werden. Das aber können sie nicht schon dadurch, dass Jesus für sie gestorben ist. Was er mit seinem Tod erworben hat, will er den Einzelnen persönlich zueignen. Er spricht sie gerecht, sagt das prophetische Lied in bezeichnender Weise. Das ist eine denkbar knappe Formulierung für einen Sachverhalt, den die Bibel auch sonst stets wieder beschreibt. Das Mittel, das «Medium», durch das Christus seine Herrschaft ausüben will, ist vor allem anderen die Sprache, der Zuspruch. Der Weg, auf dem er die Menschen erreichen will und an ihnen sein gutes Werk tut, sind Worte – Worte, die in seinem Auftrag weitergesagt werden. In der mittelalterlichen Frömmigkeit hat man dies amtlich eingegrenzt und zugespitzt. Wenn der Priester einen Menschen im Beichtstuhl losspricht von seiner Schuld, dann, meinte man, übt Jesus seine Herrschaft zum Heil der Menschen aus. Dieses Verständnis war viel zu eng. Der Zuspruch, den Jesus weitergeben will, geht in vielen Formen von Mensch zu Mensch. Besonders wertvoll ist es, wenn schon die Eltern ihren Kindern das Vertrauen in die Vergebung Gottes mitgeben. Im alltäglichen Umgang mit Gott, im Ge-spräch und im Gebet, kann in der Familie der Glaube an Jesus zur geistigen Grundlage für das ganze Leben werden. Aber auch das Gespräch im freundschaftlichen Kreis, die persönliche Bibellektüre und der sonntägliche Gottes-dienstbesuch sind Gelegenheiten, bei denen Christus sein Wort von einem Menschen zum anderen weitergeben will. So wird all das, was Christus an Kar-freitag und Ostern erworben hat, für die Menschen gegenwärtig. Dieses Wort verleiht auch die rechte Zuversicht im Hinblick auf das Geschehen, durch das die Schöpfung zu ihrer Vollendung kommen wird, das Gericht 38


am «Jüngsten Tage», von dem Jesus gesprochen hat. Die Bibel redet in verschiedener Weise davon, manchmal anschaulich und bildhaft, dann wieder mit Begriffen, die die Sache selber benennen. Es geht um eine Realität, die unsere Vorstellungskraft nicht umfangen kann. Wir können nur innerhalb von Raum und Zeit denken. Das Ende der Zeit und der Anbruch einer Zeit, die nicht mehr vergeht, sind für uns undenkbar. Die biblischen Schriften sprechen davon, dass alles Geschaffene, auch der Wechsel der Tage und Jahre, vergehen wird, und dass die Völker und Menschen zu einem letzten Gericht gesammelt werden. Alle werden gerichtet nach ihren Werken. Dieses Gericht scheint nicht nur ein einmaliger Akt am Ende der Zeit zu sein. Vielmehr erscheint es als ein göttliches Werk, das sich oft unerkannt in den Wendungen des Schicksals und im Lebensvollzug der Völker, Familien und einzelnen Menschen vollzogen hat und noch immer vollzieht. Auch für dieses Geschehen aber, das über das ewige Schicksal eines jeden Menschen entscheidet, gilt die Zusage, mit der das prophetische Lied im Jesajabuch das Werk des Gottesknechtes beschreibt: «Seine Fürbitte soll gelten.» Jesus will sein Wort einlegen für diejenigen, die schuldig geworden sind und ohne ein eigenes Recht vor dem Richter stehen. Darauf dürfen sie vertrauen. Dann wird ihnen um seiner Fürbitte willen geschenkt, was sie nicht verdient haben: die Gnade, dass sie mit Gott im Frieden sind, dass sie von ihm geliebt werden, ja, dass sie von ihm Lohn empfangen.

Was Jesus für die Vielen erworben hat, will er durch sein Wort jedem persönlich zueignen. 39


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Auffahrt und Pfingsten

Er ist der Hรถchste Wir wachsen hinein in seine Liebe

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So ermahne ich euch – ich, der Gefangene in dem Herrn –, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen seid: Mit aller Bescheidenheit und einem sanften Sinn, mit Langmut, nehmt einander in Liebe an. Seid eifrig, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens: Ein Leib und ein Geist, gleichwie ihr auch in einer Hoffnung eurer Berufung berufen seid, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist. Einem jeden Einzelnen von uns aber ist die Gnade gegeben gemäss dem Mass der Gabe Christi. Darum sagt er: Er ist aufgestiegen in die Höhe und hat die Gefangenschaft gefangen genommen; er hat den Menschen Gaben gegeben. Aber das Aufsteigen – was ist das anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist in die untersten Sphären der Erde? Der hinabgestiegen ist – er selbst ist es, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfülle. Und er selbst hat die einen gegeben als Apostel, die einen als Propheten, 42


die einen als Evangelisten, die einen als Hirten und Lehrer, um die Heiligen zuzurüsten zu dem Werk der Gerechtigkeit, zur Erbauung des Leibes Christi, bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mannesalter, zum Mass der erfüllten Lebenszeit Christi, damit wir nicht mehr kleine Kinder seien, die im Betrug der Menschen, in der List, die der Methode des Irrtums dient, von jedem Wind der Lehre hin und her geworfen und getrieben werden, sondern dass wir wahrhaftig seien in der Liebe und in allem wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem der ganze Leib (der zusammengehalten und zusammengefügt wird durch jedes unterstützende Bindeglied, gemäss der Kraft, die in dem Mass eines jeden Teils vorhanden ist) das Wachstum des Leibes vollbringt zu seiner Erbauung in der Liebe. Epheser 4, 1–16

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W

Aber das Aufsteigen – was ist das anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist?

as Gott mit den Menschen tun will, lässt sich offenbar mit direkten Worten fast nicht benennen. Der Epheserbrief mit seinen vielen Substantiven, Partizipien und komplizierten Schachtelsätzen macht sofort spürbar: Es geht im Neuen Testament um gewaltig grosse,

weit verzweigte, vielschichtige und nur schwer zu fassende Zusammenhänge. Fein-gliedrig und gleichzeitig sehr kompakt ist die Wirklichkeit, die der Apostel Paulus mit derart vielen Worten beschreibt, dass man sie unmöglich alle aufnehmen kann. Ganz selbstverständlich gehen die neutestamentlichen Aussagen davon aus, dass es für Gott und für die Menschen ein Oben und ein Unten gibt, das Gültigkeit hat. Der Evangelist Lukas erzählt, dass sich Jesus nach seiner Auferstehung während vierzig Tagen immer wieder den Jüngern gezeigt hat. Am 40. Tag nach Ostern aber führte er sie aus der Stadt hinaus, hob seine Hände segnend über sie und wurde von ihnen weg in den Himmel hinauf genommen. Er ist jetzt «in den Himmeln», in den Sphären des Daseins, die uns verborgen sind. Ein Mensch, der in Raum und Zeit gelebt hat, steht über der Zeit und lenkt ihren Lauf. Die Welt ist keine geschlossene Wirklichkeit. Was auch immer geschieht, ob ich gesund sein darf oder krank werde, ob die Wirtschaft blüht oder politische Gefahren drohen – Christus, der selber weiss, was es heisst, ein Mensch zu sein, steht über diesen Entwicklungen und kann sie zum Guten hin wenden. Ihm ist «alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben».

Das verändert das Verhältnis zu allem, was hoch und mächtig dasteht. Wenn Jesus Christus der Höchste ist, können wir von ihm einen guten Umgang mit der Macht und Hoheit lernen. Nüchtern kann der Glaube akzeptieren, dass das Leben viele Formen der Über- und Unterordnung kennt. Schon im biologischen Leben strebt jede Pflanze über die anderen hinaus ans Licht. Jede Herde ordnet sich einem Leittier unter. Sozial stehen einige Menschen höher, andere tiefer. Einige haben grössere finanzielle Mittel, besseren politischen Einfluss, höhere geistige Fähigkeiten… Und auch moralisch und geistig gibt es Werte, die über anderen 44


stehen, kunstvolle Formen, die reicher, gekonnter, schöner und vollkommener sind. All diese Unterschiede sind immer wieder missbraucht worden. Mit dem Hinweis auf eine göttliche Ordnung haben die Herrschenden ihren eigenen Vorteil abgesichert. In der neueren Zeit hat sich demgegenüber ein «antiautoritäres» Denken etabliert. Es setzt voraus, dass es gar keine zeitlos gültigen Werte gibt, und dass darum niemand ein Recht hat, anderen seine Ansichten aufzudrängen. Schlagwortartig verkürzt sagt man, dass «alles relativ» sei und «jeder sich sein eigenes Bild machen muss». Doch auch das führt zu Herrschaftsansprüchen. Ein relativistisches Weltbild wird zum Massstab erhoben, dem sich alle unterwerfen sollen. Die biblische Erzählung von der Auffahrt Christi führt ihre Hörer auf einen anderen Weg. Sie freut sich, dass Christus die Macht in seine Hände genommen hat. Doch bevor er das getan hat, hat er sich selber erniedrigt. Jesus hat es erduldet, dass er machtlos, verachtet, ja, als verwerflich und nutzlos dastand im Urteil der massgebenden Menschen. Wer an ihn glaubt, will nicht, dass alles nivelliert wird. Er will aber auch nicht, dass das Höhere einfach nur oben bleibt. Das Hohe soll den Geringen dienen. Sei es in Kunst oder Politik, in der Wissenschaft oder im wirtschaftlichen Leben: Die Rechtsgüter, Werte und Prinzipien sollen liebevoll die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen aufnehmen. Wer herausragende Fähigkeiten hat, soll sich um das Wohl der Niedrigen kümmern. Wer in einer höheren Stellung steht, soll sich mit einer innersten Freiheit in den Dienst der Geringen und Armen stellen. Denn hoch steht in den Augen Gottes ein Mensch, wenn er sich hinab beugt, um mit den Geringen hinaufgezogen zu werden zu Christus.

Weil Christus der Höchste ist, können Hohe und Niedrige zu einem neuen Umgang mit der Macht finden. 45


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Z

Ein Leib und ein Geist, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe…

ehn Tage nach dem Tag der Auffahrt Christi war der «Pfingsttag». Dieser Tag hat seinen Namen von dem griechischen Wort «pentecoste», fünfzig: Es ist der fünfzigste Tag nach dem Passa. An diesem Tag feierte man in Israel den Anfang der Ernte. Die ersten Früchte

des Feldes wurden Gott dargebracht. An diesem Tag waren die Apostel alle versammelt – da erfüllte plötzlich ein Brausen wie von einem gewaltigen Wind das Haus, und «Zungen, zerteilt, wie Feuer» erschienen ihnen, und die Männer aus Galiläa begannen in den unterschiedlichsten Sprachen der Welt zu reden. Das aussergewöhnliche Ereignis lockte eine grosse Schar von Neugierigen heran. Menschen aus allen möglichen Ländern, die zum Fest nach Jerusalem gekommen waren, stellten erschrocken fest, dass sie die galiläischen Männer in den Sprachen ihrer jeweiligen Wohnorte reden hörten. So erzählt die Apostelgeschichte. Der Heilige Geist, den Jesus seinen Jüngern versprochen hatte, war in dieser spektakulären Weise sichtbar und hörbar geworden. In der allgemeinen Verwirrung richtete Petrus ein ruhiges Predigtwort an die Versammelten. Ausführlich zitierte er aus dem Prophetenbuch Joel und aus einem Psalm Davids. Mit Hilfe dieser alttestamentlichen Worte legte er eindringlich und für seine Volksgenossen nachvollziehbar dar, dass Jesus gestorben und vom Tod auferweckt worden ist. Nun sind die letzten Tage angebrochen, sagt Petrus, in denen der Geist Gottes nicht mehr nur auf besonders erwählte Amtsträger herabkommt, sondern unterschiedslos auf viele Verschiedene, Männer und Frauen, Junge und Alte. Von dieser Predigt im Innersten getroffen, haben sich am Pfingsttag dreitausend Menschen auf den Namen Jesu taufen lassen. Damit hatte die Geschichte der Kirche, der Weg der Gemeinde Jesu durch «die letzten Tage» dieser Zeit begonnen. Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche. Die ersten Früchte der göttlichen Ernte unter den Menschen, könnte man sagen, wurden eingebracht. Zu den Vielen, die Jesus gesammelt hatte, waren noch einmal viele dazugekommen. Unzählig viele mehr sollten und sollen es noch werden, so lange die Zeit 46


währt. Diese Gemeinschaft der Glaubenden vereint Menschen aller Generationen. In vielen hundert Sprachen werden dieselben biblischen Geschichten erzählt. Men-schen in sehr verschiedenen Lebensumständen haben dasselbe Unser Vater ge-betet: An den überreich gedeckten Tischen der mittelalterlichen Fürsten wurde es gebetet und in den Lehmhütten der Armenviertel vor Karthum wird es heute wieder gebetet. In den Bauernhöfen, die im dreissigjährigen Krieg von rohen Soldatenhorden verwüstet wurden, hat man von Jesu Leiden erzählt, aber auch in den glitzernden Hochhäusern Hongkongs lesen Manager, wie ihr Heiland mit Dornen gekrönt worden ist. Unvorstellbar viele Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und Zeiten sind vereint durch den Glauben. Gott sieht sie als eine Einheit. Für ihn sind auch die Gläubigen vergangener Zeiten nicht tot. «Ihm leben sie alle», sagt Jesus. Paulus spricht von einem «Leib», den diese Vielen miteinander bilden. Die einzelnen Menschen sind Glieder dieses Leibes. Ihr gemeinsamer Herr hat sie gesammelt, richtet sie aus und setzt sie ein, wie es für sein Werk gut ist. Durch alle grossen Unterschiede hindurch sind sie verbunden durch den einen Glauben und die eine Taufe.

Für sie gilt: Der Geist Gottes leitet sie in aller Wahrheit. Sie haben die Wahrheit also nicht als einen festen Besitz in ihren Gedanken, Gefühlen und Le-bensordnungen. Sie werden in die Wahrheit hineingeführt. Der Heilige Geist «erinnert» sie an das, was Jesus gesagt hat. Er bewirkt, dass die Worte nicht äusserlich bleiben, sondern einleuchten, hineindringen in die Herzen und Gedanken, und die Menschen verwandeln.

Der Heilige Geist sammelt und erbaut die Kirche. Sie umfasst Menschen aus allen Völkern und Generationen.

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C

Er selbst hat die einen gegeben als Apostel, die einen als Propheten, die einen als Evangelisten, die einen als Hirten und Lehrer.

hristus will die Vielen lehren und leiten, damit die Liebe wahrhaftig wird. Zu diesem Zweck, schreibt der Apostel Paulus, hat Gott bestimmten Menschen einen besonderen Auftrag erteilt und hat ihnen eine dementsprechende Stellung und Autorität verliehen.

Paulus nennt zuerst Menschen, die mit ihrer Verkündigung etwas leisten, das niemand sonst leisten kann: Die Apostel haben aus einem besonderen Wissen heraus zum ersten Mal ausgesprochen, wer Jesus ist. Die Propheten haben von Gott Einblicke in die verborgenen Zusammenhänge der Menschheitsgeschichte erhalten. Über das Innerste im Menschenherzen, aber auch über die gewaltigen geschichtlichen Umbrüche in der Völkerwelt konnten sie vieles aufdecken, das kein Mensch sonst durchschauen könnte. Die Evangelisten wiederum geben uns ein zusammenhängendes Bild von all dem Guten, das Jesus getan hat. Gott hat die Herzen der Apostel, Propheten und Evangelisten fruchtbar gemacht, schreibt der grosse theologische Lehrer des Mittelalters, Anselm von Canterbury. Von ihnen nehmen alle Späteren den Samen, aus dem der Glaube wachsen kann. Nach diesen drei Personengruppen nennt Paulus «Hirten und Lehrer». Mit dieser Formulierung bindet er zwei unterschiedliche Tätigkeiten zusammen. Das Lehren, das mit erklärenden Worten geschieht, und das «Hirtenamt». Dieser Ausdruck beschreibt in der Bibel die Pflicht, die ein Mensch hat, wenn er eine Gemeinschaft zusammenhalten, in ihrem Inneren für den Schutz der Schwächeren sorgen und sie gegen aussen vor zerstörerischen Kräften verteidigen soll. Diese Aufgabe erfordert auch ordnende Massnahmen, verbindliche Regelungen und vor allem die persönliche, spürbare Präsenz des Verantwortlichen.

In diesen «Hirten und Lehrern» hat man in den Kirchen der Reformation die Pfarrer gesehen. Sie sind, davon ging man aus, der Kirche von Gott gegeben. Sie leiten die Gemeinden, indem sie verbindliche Entscheidungen für das gemeinsame Leben fällen und gleichzeitig erklären, warum sie das tun. Die Lehre, die das alltägliche Verhalten und Empfinden prägt, soll die Gemeinde zusammenhalten. 48


Die freikirchliche Kritik hat dagegen schon früh darauf hingewiesen, dass die Pfarrer ihre Stellung keineswegs nur Gott verdanken, sondern viel mehr der staatlichen Macht, oft sogar ihrer brutalen Zwangsgewalt. Tatsächlich sind die Kirchen Institutionen, die mit ihren Steuern, Gesetzessammlungen und amtlichen Selbstdarstellungen den Menschen als eine äusserlich formale Macht begegnen. Doch der Verzicht auf Institution und Amt bringt auch nicht die freie Gemeinschaft. Es ist unübersehbar, dass die freikirchlichen Gemeinschaften rasch einmal von einer einzelnen Führerpersönlichkeit abhängig werden, oder dass sie von einem Gruppengefühl leben, in dem der Reichtum der biblischen Botschaft kaum mehr zur Geltung kommt. Das Neue Testament enthält keine Beschreibung, wie sich die Kirche organisieren soll. Über die Ordnungsform der Kirche ist deshalb zwischen den Konfessionen stets wieder gestritten worden. Das Neue Testament aber rechnet offenbar damit, dass Christus selber seine Kirche regiert und ihr die rechten Lebensformen verleiht. Wie es ihm gefällt, beruft er Menschen in einen besonderen Auftrag und begabt sie mit den entsprechenden Fähigkeiten und äusseren Mitteln. Im Kleinen, in Familie und Freundeskreis, und im Grossen der kirchlichen Gemeinschaften tut er das. Der Zweck ist immer derselbe: Durch alle Irrungen und Wirrungen der geschichtlichen Umbrüche hindurch sollen sich Menschen finden zu einer Gemeinschaft, die sein Wort bewahrt und weitersagt.

Gott verleiht Menschen einen besonderen Auftrag, damit die Vielen in der Kirche ihren Dienst erfüllen können. 49


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D

…damit wir nicht mehr kleine Kinder seien, die im Betrug der Menschen, in der List, die der Methode des Irrtums dient, von jedem Wind der Lehre hin und her geworfen und getrieben werden… er Eine, der den Kranken geholfen und sich über die Schuldbeladenen erbarmt hat, Jesus Christus, ist über alle erhöht. Er hat die Macht über alles, was das Schicksal einem Menschen zufügen kann. Ob ein Mensch in tiefer Not ist oder sorglos ein Glück geniessen

darf: Jedem kann Jesus den Heiligen Geist geben, so dass er beten, glauben, hoffen und in der Liebe geduldig und treu bleiben kann. Weil Gott dieses alles zuverlässig tut, müssen wir Menschen nur weniges leisten. Paulus verlangt als ein aktives Tun nur, dass sich die Gemeindeglieder gegenseitig mit Liebe annehmen. Bedeutend schärfere Wörter braucht er dann, wenn er sagt, was sie nicht tun sollen. Sie sollen sich nicht betrügen lassen. Sie sollen bewahren, was ihnen gegeben ist. Dieser Grundzug geht durch das ganze Neuen Testament. Auch Jesus hat seine Jünger vor allem ermahnt, dass sie bleiben sollen in dem, was er ihnen als Lebensraum bereitet hat. Das Gute, das die Christenheit mit ihren Festen feiern darf, kann ihr verloren gehen. Dies geschieht, wenn die Menschen sich weg von Gott führen lassen. Paulus verwendet eigentümliche, schwer zu übersetzende Formulierungen, wenn er vor dieser Gefahr warnt. Er spricht von einem Irrtum, der System hat. Er setzt voraus, dass ein listiger, planvoller Betrug die Menschen um das Gute bringt, das Gott ihnen zugeteilt hat. Das Unheimliche ist also, dass der Irrweg zuerst einmal nicht als solcher erkennbar ist. Im Gegenteil: Er scheint in sich stimmig. Die guten Absichten, die Erfahrungen, die man macht, die Zusammenhänge, mit denen man rechnen kann, die Möglichkeiten, die absehbar sind: Alles stimmt zusammen und verleiht ein starkes Gefühl, auf dem rechten Weg zu sein. Es ist bekannt, dass in sektenhaften religiösen Gruppierungen das Selbstverständnis und das entsprechendes Bild der Aussenwelt derart gut zusammenspielen, dass nichts mehr diese Scheinwelt aufbrechen kann. Doch wäre es fatal anzunehmen, dass ein solcher Selbstbetrug nur konfuse Sondergruppen beherrschen kann. Die Geschichte zeigt, dass ganze Völker einem solchen 50


«methodischen Irrtum» verfallen können. Der Nationalsozialismus und der Kommunismus sind erschreckende Beispiele, wie hoch gebildete Menschen ebenso wie Bauern und Arbeiter mit ihrem gesunden Menschenverstand sich täuschen liessen. Millionen mussten sterben, bis der Irrtum unübersehbar wurde. Auch in den Kirchen ist es aber geschehen und geschieht es noch und noch, dass die Gemeinden und Pfarrer sich ein Idealbild ihrer Existenz machen und sich durch entsprechende Erfolge ermutigt sehen. Jeder Einzelne ist auf seinem Lebensweg von solchen Irrtümern bedroht. Im Alltag können es die eigenen guten Absichten sein, mit denen man sich bestätigt, wie gut, oder jedenfalls doch viel besser als viele andere man ist. Manche Ehe wird zerrissen, nicht weil eine Treulosigkeit das notwendig macht, sondern weil die Betroffenen sich nach unrealen Ansprüchen richten. Auch in Beruf und Wirtschaft ist die Gefahr gross, dass künstliche Bedürfnisse erzeugt und zufrieden gestellt werden, statt dass die Arbeit sich an die menschlichen Gegebenheiten hält. In unserer Zeit, in der die sogenannten Medien eine Kunstwelt aus Sensationen, kurzen Spots und hastigen Gefühlen aufbauen, ist diese Gefahr besonders gross. Gegen die vielfältige Gefahr eines solchen «methodischen Irrtums» mahnt der Apostel die Glaubenden eindringlich, dass sie hineingebunden bleiben sollen in das, was ihnen mit den christlichen Festen gegeben ist.

Weil Christus alle Macht hat, müssen die Menschen nur weniges tun: treu bleiben in dem, was er ihnen zugeteilt hat. 51


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So ermahne ich euch – ich, der Gefangene in dem Herrn –, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen seid: Mit aller Bescheidenheit und einem sanften Sinn, mit Langmut, nehmt einander in Liebe an. er Apostel Paulus schreibt ausdrücklich als ein Gefangener. Er ist ein Mensch, der wegen eines Verbrechens angeklagt ist. Von seinem eigenen Volk wurde er als Verräter angesehen. Für die Vertreter der hohen griechischen Bildung war er ein Anhänger einer widerver-

nünftigen Religion. Beide waren überzeugt, dass er als Fanatiker womöglich gefährlich war, jedenfalls ohne soziales Ansehen, schandbar und verachtenswert dastand. Das ist ein Grundzug des Glaubens: Das Volk Israel wird ausdrücklich als das kleinste unter allen Völkern bezeichnet. In der antiken Welt goss der Philosoph Porphyrius seinen Hohn über die junge Kirche aus: Unter den ersten Gläubigen, stellte er fest, befanden sich kaum hochgeborene Männer und angesehene Autoritäten. Der Glaube, spottete der Dichter und Denker, sei offenbar etwas für minderwertige Menschen, Sklaven und Frauen. Auch heute ist oft in einem ähnlich spöttischen Ton zu hören, in der Kirche seien «nur ein paar alte Frauen». Schon der Apostel Paulus betonte, dass sich in den frühen Gemeinden nicht viele Menschen mit Geist, mit Macht und mit sozialem Prestige zusammenfanden. In der Gemeinde in Korinth scheinen sich eher Menschen getroffen zu haben, die wir als Randständige, als bedenkliche Spekulanten, vielleicht sogar als den Abschaum der Gesellschaft bezeichnet hätten. Zu allen Zeiten sorgt das Wort Gottes in dieser Hinsicht für Verwirrung und Unsicherheit. Es sammelt besonders gern und besonders leicht Menschen, die angeschlagen, in eine Krise geraten oder gar gescheitert und am Ende ihrer Möglichkeiten sind. In den westlichen Ländern ergibt sich deshalb eine eigentümliche Situation. Ganz offensichtlich gibt es keine geistige Kraft, die sich mit derjenigen des Evangeliums messen könnte. Keine Philosophie und keine andere religiöse Praxis hat die Kultur derart tief geprägt, hat sozial derart breit in alle Schichten hineingewirkt und hat vergleichbar vieldimensionale und volksnahe Kunstwerke hervorgebracht, wie der Gottesdienst der Kirchen. Dennoch beschäftigen sich viele Kunstschaffende kaum ernsthaft mit diesem reichen 52


Erbe. Unter den Medienschaffenden gibt es manche, die das meistgelesene Buch der Welt kaum je studiert haben. Die Schulen klammern die biblische Weisheit aus, und die Politiker berufen sich nur zaghaft und vage auf die Vorgaben, die Jahr für Jahr durch die Feste der Christenheit wieder vergegenwärtigt werden. Es scheint, dass unsere Kultur den Glauben erfolgreich zu einer reinen Privatsache erklärt und in den Bereich der Freizeitangebote abgedrängt hat. Diese äusserlich schwache Stellung kann aber die innere Stärke der Kirche sein. Paulus zitiert das rätselhafte Wort aus einem Psalm: Gott hat die Gefangenschaft gefangen genommen. Gott kann und will also das, was uns Menschen bindet und uns unsere Möglichkeiten raubt, seinerseits wieder einbinden, so dass es seinem Willen dienen muss. Darf man das so verstehen: Gott macht sich die eingeschränkte Stellung seiner Gemeinde zu Nutze? Er ergreift die Menschen in ihrer Machtlosigkeit und nimmt sie gerade so in seinen Dienst. Seine Kraft «ist in den Schwachen mächtig», sagt er zum Apostel Paulus. Auf jeden Fall wird die Gemeinde mit ihren schwachen Gliedern zu einer Schule der Liebe, wie es sie sonst nicht gibt. Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Glückliche und Trauernde, Gebildete und Ungebildete – alle können wir in der Gemeinde uns üben in der scheinbar so einfachen, in Wirklichkeit aber schweren und schwierigen Kunst, uns gegenseitig mit Liebe anzunehmen.

In Kirche und Gemeinde werden wir in die Schule der geduldigen Liebe genommen. 53


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…sondern dass wir wahrhaftig seien in der Liebe und in allen Dingen wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.

it allem, was Gott tut, will er eines bewirken: Wir sollen wahrhaftig werden in der Liebe. Was wir Menschen Liebe nennen, ist oft nur ein idealistischer Ge-danke oder ein süsses Gefühl, nur eine Liebe zu uns selber. Die

Liebe aber, die Gott schenkt, ist wahrhaftig. In ihr ist beides der Fall: In ihrem Innersten ist sie ungezwungen, rein und ohne Hinterabsichten. Im Äusseren aber greift sie sachgerecht, hilfreich und gut in das Leben der anderen hinein. Sie ist nicht schon fertig. Sie wächst zu Christus hin. Der Geist Gottes bewegt die Herzen, so dass die Menschen Jesus Christus als den Höchsten und Mächtigsten verehren. Alle Wertmassstäbe, alle Empfindungen und Erwartungen werden dadurch verändert. Das kann still und kaum sichtbar geschehen, aber es hat schwerwiegende Folgen: Als hoch gilt nicht mehr, was Erfolg und allgemeines Ansehen hat. Als das Grösste erscheint die Liebe, mit der Jesus Christus geliebt hat: die Liebe, die nicht ihren Vorteil und ihre Ehre sucht. Wir müssen nur treu bleiben im Lebensalltag. Dann sorgt Gott für alles andere. Durch Freude und Leid lässt er uns im Laufe der Jahre reifen. Er schenkt uns Erkenntnisse, die mehr sind als jede intellektuelle Einsicht. Er lässt uns älter und schwächer werden, ohne dass dies uns bitter machen muss. Denn in allem gibt er uns Anteil an einem Leben, das wir ohne ihn nicht hätten – ein Leben, das verborgen in Christus Jesus noch immer zunimmt, bis es endlich, am Ende der Zeiten, seine letzte Fülle erlangt. Das verändert den Lebensalltag. In der Ehe und Familie lernen wir, die Schwachheiten unserer Nächsten zu akzeptieren und doch nicht nur passiv allem den Lauf zu lassen. Wir wissen: Gott hat uns in diese Grundformen des Lebens hineingestellt und hat ihnen seinen Segen und seine Verheissung gegeben. Er will, dass wir in ihnen treu sind. Wenn wir aber ehelos leben, soll uns das um so freier machen, unsere Lebenszeit in den Dienst Gottes zu stellen und für andere da zu sein, so nüchtern und kritisch wie sein Wort es lehrt. 54


Auch der Beruf kann uns so zu einer Berufung werden. Ob wir eine untergeordnete Stellung haben oder eine leitende Verantwortung tragen: Wir können in der Arbeit den Ruf Gottes hören. Dadurch erhält der Beruf eine neue Würde. Wir tun unsere Arbeit nicht nur, um damit das tägliche Brot zu verdienen. Wir sind nicht nur Angestellte oder Manager im Dienst von Menschen. Wir tun unsere Arbeit, um mit ihr Nützliches, Gutes und Schönes zu schaffen, an dem auch Gott sein Wohlgefallen haben kann. Wir dürfen wissen: Gott kann reinigen und läutern, was wir schaffen. Er kann aus unserer täglichen Mühe ein Werk machen, das zum Reichtum des ewigen Lebens beiträgt. Das letzte Buch der Bibel beschreibt auf seinen letzten Seiten die Stadt Gottes. Diese Stadt wird nicht von der Erde zum Himmel hinauf gebaut. Sie wird im Himmel von Gott bereitet. Am Ende der Zeiten lässt er sie zur Erde niedersinken und sammelt in ihr alle und alles, was er in dieser Stadt zum Strahlen bringen will. Er trocknet die Tränen auf den vom Leiden gezeichneten Gesichtern. Die Trauer, die ihren Trost gefunden, das Leid, aus dem Gott erlöst hat, sind die kostbarste Substanz der ewigen Freude. Mit seinen Geschöpfen freut sich Gott aber auch an all dem, was die Völker Ehrenvolles, Nützliches, Schönes und Gutes geschaffen haben. Das ewige Leben ist nicht ein rein geistig Abstraktes. Es umfängt, was die Menschen Wertvolles erarbeiten. Wie wird es sein, wenn wir Gottes Gesicht sehen werden, und auf ihm die Freude, mit der er sich über seine erlösten Kinder und ihre Freude freut?

Gott will die Trauer in Freude verwandeln und den Reichtum der Völker sammeln. 55


Biblische Beleg- und Verweisstellen

Zur Einleitung Psalm 106,2 Johannes 14,6 Advent und Weihnachten Kapitel 1 Psalm 98,1 1. Mose 1,3.14 Kapitel 2 1. Johannes 4,16 Kapitel 3 Matthäus 3,1–13; 11,11–19; 14,1–12 Johannes 3,35–37 Kapitel 4 Lukas 21,5–37 Lukas 3,1–14 1. Mose 3,1–5 Galater 3,10 Kapitel 5 Matthäus 6,5–15 1. Johannes 3,1.2 Kapitel 6 Lukas 1,26–38 Matthäus 1,18–25; 2,1–12 5. Mose 18,15–22

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Karfreitag und Ostern Kapitel 7 Matthäus 27,31–28,15 Markus 15,20–16,8 Lukas 23,32–24,12 Kapitel 8 1. Korinther 15,3. 3.Mose 7,1–7 Kapitel 9 Matthäus 26,26–28; Lukas 22,19.20 2. Mose 12 Johannes 1,29 1. Mose 15,5; 22,17 Kapitel 10 Jeremia 18,1–10 Römer 9,14–29 Jeremia 2; Hosea 2 Römer 3,19; Psalm 107,42 1. Timotheus 2,3–6 Kapitel 11 Matthäus 28,18–20 Römer 6,3–14 Kapitel 12 Römer 10,14–17 1. Korinther 15,25 Matthäus 24,35; 25,31–46 Johannes 5,22–24; 6,37–40; 11,24; 12,48 2. Korinther 5,10 1. Johannes 2,1; Römer 8,34


Auffahrt und Pfingsten Kapitel 13 Lukas 24,50.51; Apostelgeschichte 1,1–11 Matthäus 28,16–20 Kapitel 14 Apostelgeschichte 2 Johannes 14,16.14,26 Lukas 20,38 1. Petrus 2,9; Römer 12,1 Kapitel 15 Jeremia 1,13–15; 17,9.10; 28,12–17; 29,1– 14 Lukas 6,12–16; Apostelgeschichte 1,15–26 Epheser 1,22 Kapitel 16 Johannes 15,4–16 Kapitel 17 1. Korinther 1,22 und 23 5. Mose 7.8 1. Korinther 1,26–29 Psalm 68,19 2. Korinther 12,9 Kapitel 18 Offenbarung 21,2–5 und 26

Impressum Text Pfr. Dr. Paul Bernhard Rothen, Basel Lektorat Doris Rothen, Bern Gestaltung & Fotografie wortbild, David Meyle, Basel Litho & Druck Grauwiller & Partner, Liestal Auflage 2000 Ex. ©Pfarramt am Münster, Basel Paul Bernhard Rothen

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