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Ausgabe Oktober 2o13
6 Ju
n g & Wi l d
Fest6 gemacht 6 Jung & Wild
Festivalsommer 2013
Karriere? Geil! Jan Böhmermann über die Jugend
Immerhin jung! Wilder oder Spießer?
Liegenlassen Mal kosten
Liebefüralle Abgefilmt
Lost Places
Peace, Love and
Umsonstladen MD
Happiness
Filmtipp Shanzo
Szenemagazin Halle/Saale Magdeburg
Impressum Chefredaktion: Andreas Lilienthal V.i.S.d.P. Stellvertretende Chefredaktion: Christian Geipel, Sophie Hubbe
Fotoredaktion: Fabian Benecke, Vanessa Kanz, Andreas Lilienthal, Robert Meinel, Lisa Schliep, Juliane Schulze, Susann Schwass, Anne Strackeljan
Redaktionsleitung Halle: Andreas Lilienthal
Grafiken: Maria Urban, Jörn Rohrberg
Art Director: Lektorat: Jörn Rohrberg // http://www.mfjweb.de Sophie Hubbe, Marlen Kasch Produktionsleitung: Andreas Lilienthal, Jörn Rohrberg Covergrafik: Maurice Limée Redaktion: Juliane Ahrens, Julia Baron, Fabian Benecke, Hagen Brandt, Sarah Düvel, Susann Frömmer, Christian Geipel, Dominik Grittner, Vanessa Kanz, Anni T. Kleinkopf, Philipp Kloss, René Lehmann, Robert Meinel, Jörn Rohrberg, Lisa Schliep, Valerie Schönian, Susann Schwass, Anne Strackeljan, Maria Urban
Herausgeber: Youngspeech Media e.V. Gräfestraße 21 06110 Halle (Saale) info@youngspeech.de Anzeigenredaktion: anzeigen@youngspeech.de Youngspeech Media e.V. Magdeburg & Halle (Saale) Druck: flyeralarm GmbH, Alfred-Nobel-Str. 18, 97080 Würzburg
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‘s tra gbar!
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die vor Ihnen liegende Ausgabe widmet sich den Träumern, den Visionären und den Energiegeladenen, kurz: den jungen Wilden in unserem Land. Von denen werden Sie auf den folgenden Seiten genug lesen... Warum also hier an dieser Stelle bereits kostbaren Platz mit Sachen vergeuden, die weiter hinten im Heft ohnehin erschöpfend dargelegt werden? Eben! Das lassen wir schön bleiben. In den letzten Wochen dreht sich doch so oder so alles um die feisten, alten Machtgeilen. Ja, die Bundestagswahl steht kurz nach unserem Redaktionsschluss an und das Volk ist aufgerufen einen neuen Führer zu wählen oder unsere glorreiche Führerin im Amt zu bestätigen. Der Weg dahin führt für viele Unentschlossene über quälendes Seeleerforschen und medialen Input, was kurz vor den Wahlen zuweilen nicht ganz ohne ist. Im Vorfeld des Showdowns, bei den Debatten im Bundestag fühlt man sich oft als beobachtete man eine Horde irrsinniger Bonobos, die sich gegenseitig mit Scheiße bewerfen. Im übertragenen Sinne versteht sich. Wer das nicht erträgt, wählt einfach das, was der omnipotente ''Wahl-O-Mat'' einem oktroyiert. Das macht die Sache wesentlich entspannter. »Moment mal, feist und alt hat er gesagt?« Man mag mir widersprechen und sagen »Aber die Piraten...!«. Ja stimmt schon, die sind immer für eine witzige Aktion zu haben und man könnte denen wohl auch den Stempel ''Jung und Wild'' aufdrücken. Trotzdem bleibt das Stigma mangelnder Seriosität an ihnen haften. Das wird gerade jetzt deutlich, da die Kernthemen unserer Cyber-Kreuzritter heftig diskutiert werden und die Umfragewerte der Piraten trotzdem bei klar unter 5 Prozent liegen. Nichtsdestotrotz wäre es schon ein interessantes Projekt, die Piraten in den Bundestag einziehen zu lassen/ im Bundestag zu erleben – Learning by Doing und so...
Worauf ich eigentlich hinaus wollte: Zeichnen wir mal eine mögliche Zukunft nach den Wahlen, welche in diesem Moment, da Sie unser Produkt in den Händen halten, vielleicht schon Realität geworden ist. Kurz vor den Wahlen wurde bekannt, dass die NSA in Verbindung mit der Vereinigung Deutsche Sanitärwirtschaft heimlich Mikrofone in die Toilettenschüsseln deutscher Bürger installiert hatten. Ob dies zur Informationsgewinnung geschah oder aus perversen Gelüsten erfolgte, ist bis heute noch nicht restlos geklärt. Diese neuerliche Offenbarung und das damit verbundene Aufbegehren des Volkes versetzte die politische Elite jedenfalls in wilde Panik, worauf diese fluchtartig das Land verließ und Deutschland nun von einer ''Koalition der Dagebliebenen'' aus Violetten und der RENTNER Partei Deutschland regiert wird... Wie die Sache auch ausgegangen sein mag, immer dran denken: Es könnte schlimmer sein. Viel Spaß beim Lesen.
CGeipel Christian Geipel, stellvertretender Chefredakteur christian.geipel@youngspeech.de
Inhalt #6
Jan Böhmermann 10
Gib dir - nimm dir 19
4 Mias Tipps _______________________ Tippster
14 Das Rad neu erfinden ___________ Verkehrsfixiert
5 Die bezaubernde SeitE der Stadt__ Mystique
15 Liebe für Alle ___________________ Projekt
6 Junge Wilde oder junge Spießer?__ Immerhin jung…
16 Kultur ___________________________ Mahnwache
8 Shanzo___________________________ Filmtipp
18 Zieh dir was an __________________ Anzüglich
10 Jan Böhmermann ________________ Interview
19 Der Punk für jeden _____________ Gib dir - nimm dir
13 Wohnzimmerkonzert ____________ Konzert
20 Kunst der verlorenen Plätze___ Lost Places
Noch mehr Kultur:
youngspeech.de
Lost Places 20
Festivalfotos 30
22 Hochschulgedanken_____________ Zeit loszulassen
27 Betamind_________________________ Musiktipp
23 Deaf Slam________________________ HĂśrensagen
28 Der Wagner und das Wasser_____ Kolumnen
24 Autoreninterview_______________ Wildfang
29 Der Schmetterlingsschlag der Erde
25 HilDEGaRd________________________ short
30 Festivalfotos
26 Rezensionen
32 One last thing‌_______________ Outro
Tippster
MIAS TIPPS Hallo liebe Youngspeech Leser Der Herbst steht vor der Tür, das heißt Platz für Neues schaffen. Dabei fallen viele Sachen an, die für die Tonne zu schade sind. Ich habe mich für euch in Halle und Magdeburg umgesehen und tolle Orte gefunden, wo ihr noch etwas Gutes mit euren Sachen erreicht. Es gibt Container für Kleidung und Schuhe am Straßenrand, jedoch ist nie ganz klar, wo sie am Ende landen. Die Mitarbeiter der AWO-Kleiderkammer in Halle und Magdeburg freuen sich immer über Kleidungs- und Sachspenden. Das Schöne: Hier kommt eure Spende direkt bei den Bedürftigen an. Bei der Caritas könnt ihr Möbel, Kleidung und Spielsachen abgegeben. Ein kurzer Anruf bei der Caritas genügt und eure Möbel werden kostenfrei abgeholt. Ihr könnt eure Schätze auch im Umsonstladen Magdeburg (Brandenburger Str. 9, Faulmannstraße 22) und Halle (Böllberger Weg 5) abgeben und bei Interesse gegen interessante Funde eintauschen. Wer seine Sachen nicht spenden möchte, kann sie auf einem Flohmarkt an den Mann oder die Frau bringen. Ich empfehle euch, kleine Märkte aufzusuchen, dort gibt es weniger profesionelle Händler und ihr trefft viele Gleichgesinnte. Meine Emphelung hierfür: die alte Gärtnerei vom Blumenhaus Zeising in Halle. Erkundigt euch nach Standgebühren und Ablagemöglichkeiten, bevor ihr mit dem Verkauf beginnt. Oberstes Gebot hierbei ist jedoch, die Sachen müssen sauber und funktionstüchtig sind, schließlich wollt ihr auch keinen Müll von anderen kaufen!
Ist eure Wohnung dann ausgemistet, aber eurer Tatendrang dennoch nicht gedeckt, dann gibt es natürlich noch weitere Möglichkeiten, etwas für sein soziales Umfeld und nebenbei für den eigenen Geldbeutel zu machen: so beispielsweise das Blutund Plasmaspenden. Ich lese oft über den starken Rückgang von Spendern. Dabei wird neben der Spende konstant das eigene Blut überwacht und das gute Gefühl, etwas für einen anderen Menschen zu tun, lässt mich auch den kurzen Piecks am Anfang vergessen. Alle Mitarbeiter sind ausgebildete Fachleute und beraten euch vorher ausgiebig. Voraussetzung für alle Spenden ist ein Mindestalter von 18 Jahren, einem Mindestgewicht von 50kg und die körperliche Gesundheit. Egal wo ihr spendet, als Dank für eure Spende gibt es kleine Aufwandsentschädigungen in Form von Gutscheinen, Verköstigungen oder Geldbeträgen. Beim Plasmaspenden wird euer Blut gefiltert und vom Blutplasma getrennt. Das Blut erhaltet ihr zurück und am Ende einer Spende wird euch eine Kochsalzlösung indiziert, um euren Körper wieder aufzupäppeln. Ihr müsst vor jeder Spende gut gegessen und getrunken haben. Bei allen Fachwissen und Können der MitarbeiterInnen ist eine Blut- oder Plasmaspende dennoch immer eine Belastung für den Körper. Spenden könnt ihr unteranderem in den Unikliniken von Halle und Magdeburg, beim Deutschen Roten Kreuz, sowie in den Plasma Service Europe Zentren von Halle und Magdeburg. Darüber hinaus gibt es regelmäßige Termine an beiden Universitäten. Da allerdings weder Blut noch Plasma künstlich hergestellt werden können, ist jede Spende sinnvoll. Einen guten Nebeneffekt hat das auf der Pritsche liegen allerdings noch, man lernt neue Leute rechts und links von einem kennen. Also bis bald ihr Lieben und wer weiß, der Nächste der neben mir liegt, bist vielleicht du! »»Bis demnächst, eure Mia
4 Youngspeech
Mystique
Herrje, was war das für ein Sommer in Magdeburg! Überfüllte Bade-Seen, Temperaturen um die 35 Grad, Draußen-Kino, Hochschuldemonstrationen. Aber auch überfüllte Flussläufe und Hilfseinsätze von gewaltigem Ausmaß, Schicksale und Zusammenhalt. An vielen Stellen zeigte sich in diesem Jahr eine völlig andere, für viele ungekannte Seite dieser Stadt, die in Sachen Intensität und Dimension auf jeden Fall auch so manchen Ur-Magdeburger überrascht haben dürfte. Neben den vielen jungen Kulturschaffenden der verschiedenen Vereine, wie Tor5 und Urbanpiraten, Kante und Freiluftatelier, Projekt 7 und Kunstkantine hat sich auch der Kulturanker an eine neue Dimension gewagt. In diesem Sommer fand die zweimonatige Ausstellung „Mystique – die bezaubernde Seite der Kunst“ im Magdeburger Stadtteil Alte Neustadt ihr Zuhause. Der bereits siebte Teil der Reihe „Kabinett der Künste“ war einmal mehr der Beweis dafür, was mit Engagement auf die Beine gestellt werden kann. Natürlich geschah all das unter Mitwirkung vieler Außenstehender und Sponsoren, ohne deren Hilfe ein solch großes Projekt kaum umsetzbar erscheint. Ein Projekt wie Mystique ist Vorzeigeobjekt, wenn es um den Mut geht, sich weit aus dem Fenster zu lehnen und das zu Gunsten der eigenen Stadt. Natürlich ist das mit Aufwand behaftet, der in vielen Fällen auch Fehler und mangelnde Organisation zum Vorschein bringt. Aber Magdeburg kann offensichtlich etwas leisten und muss sich nicht hinter anderen Städten verstecken. Dazu braucht es aber die Unterstützung der Vielen.
bezaubernde
Seite
Die
der Stadt
Überraschend war, wie oft das Mystique-Gelände einfach leer blieb. Zu Beginn gab es andere Stellen in der Stadt, an denen die Menschen gebraucht wurden und das ist völlig klar. Irgendwie haben die restlichen Wochen aber doch gezeigt, dass Magdeburg noch nicht bereit war für ein solches Projekt. Die Künstlerzahl reduziert, die Ausstellung besser geballt – so erwies sich diese Episode des Kabinetts der Künste als eine sinnvolle Entwicklung gegenüber dem Vorgänger Romantik 2.0. Dennoch: Die Fläche wurde größer, das Publikum gefühlt kleiner. Wenn hier noch mehr Menschen an einem Strang ziehen und die Organisatoren das Motto „weniger ist mehr“ auch bei Veranstaltungen beherzigen, verspricht es im nächsten Jahr noch beeindruckender und wirksamer zu werden. Viele Vereine schaffen in kleinen Aktionen große Momente, in denen der Sommer erst zum Sommer wird. Mystique war der Versuch, eine gesamte Welt zu erschaffen, die ein beinahe tägliches Ausbrechen aus dem Alltag erlaubte. Dankbar können wir aber auch allen anderen sein, die ihre Freizeit für etwas opfern, von dem nicht nur eine Szene profitiert, sondern das Stadtbild und die Lebensqualität der Einwohner. Dazu zählt eben nicht nur der Kulturanker, sondern alle noch so kleinen Vereine, die ihr Können und ihre Kreativität Außenstehenden zugänglich machen.
»»Text & Foto: Robert Meinel
Youngspeech 5
Immerhin jung…
Jede Generation junger Menschen hat mit Zum einen fehlten in West- wie Ostdeutschland die Möglichkeiten, einen längeren Auslandsaufenthalt zu realisieren und den gleichen Vorurteilen zu kämpfen: Man sei rebellisch, wild und aufmüpfig. Betrachte ich meine zum anderen stand so etwas wie »die Welt und dabei sich eigene Generation, stellt sich jedoch eher die Frage, wo sie selbst entdecken« schlichtweg nicht zur Debatte - in der sind, die Rebellion und die Wildheit der Jugend. Das Leben DDR bekanntermaßen aus anderen Gründen als im restlichen scheint sich zunehmend leistungsorientierter zu gestalten. Deutschland. Im Vordergrund stand auch ein ganz anderer Zwischen Praktika, Auslandsaufenthalt und Abschluss bleibt Lebensentwurf: Beruf, Heirat, Familie. Mit dieser Verantnicht viel Zeit, um noch aufmüpfig zu sein. Weshalb auch? wortung im Gepäck ließen sich wenige Findungsexperimente Zum Demonstrieren auf die Straße zu gehen, gehört schon verwirklichen. Heute sind die persönlichen Erfahrungen wichfast zum guten Ton, der obligatorische Aufenthalt im Ausland tiger, nicht zuletzt um sich auch von der Masse abzugrendarf mittlerweile auf keinem Lebenslauf fehlen und ich werde zen und zum Beispiel die Chancen auf einen Job zu erhöhen. erst dann argwöhnisch betrachtet, wenn ich sexuell nicht Unsere Eltern gingen i.d.R. direkt aus der Schule in den Beruf aufgeklärt bin. Selbst die optisch auffälligeren Punker, Emos und machten möglichst wenig Umwege. oder Goths sind so starker Bestandteil unserer alltäglichen Wahrnehmung, dass sie plötzlich doch nicht mehr so auffällig sind. Die Zeiten kopfschüttelnder älterer Damen beim Anblick dieser rebellierenden Jugend scheinen vorbei zu sein. Wo sind Sex Me, Baby! sie also hin, die „jungen Wilden“, die mit ihrer Generation die Welt revolutionieren wollen? Oder gibt es einfach nichts Freie Liebe für alle! Das kennt man bereits aus der 68er Bewemehr, gegen das man sich auflehnen müsste? gung. Es wurden nicht nur die Ketten der Prüderie der 50er Jahre gesprengt, sondern auch die Grenzen der Monogamie übertreten. Für die damalige Zeit entstanden daraus radikale Do you want to see the world? neue Lebenskonzepte, die außerhalb der Bewegung auf wenig Akzeptanz stießen. Seit 1987 gibt es das ERASMUS-Programm, mit dem europäischen Studenten der Zugang zu einem Auslandssemester erleichtert werden soll. Die Pilotprojekte hierfür starteten schon 6 Jahre zuvor, weitere internationale Programme folgten. Seitdem strömen immer mehr Studenten ins Ausland. Doch nicht nur im Studium ist ein Auslandsaufenthalt beliebt: Nach der Schule gehen viele Abiturienten ins Ausland, um einen sozialen Dienst zu absolvieren oder um dort Geld zu verdienen und zu reisen („Work and Travel“). Den Reisezielen sind dabei keine Grenzen gesetzt. Wer jede noch so kleine Ecke dieser Welt erkunden möchte, dem ist zumindest auch die Möglichkeit gegeben, dies zu tun. Mit etwa 25 000 deutschen Studierenden, die allein durch das ERASMUS-Programm im Jahr 2011 ins Ausland gingen, kann man dabei eigentlich nicht mehr von „wild“ sprechen. Vor der Einführung solcher internationalen Programme war der Aufwand für einen Auslandsaufenthalt weitaus größer. Vor 40 Jahren wäre es noch exotisch gewesen, wenn sich jemand für ein Jahr verabschiedet hätte, um herumzureisen und sich selbst zu finden. 6 Youngspeech
Auch heute stoßen alternative Partnerschaftskonzepte immer noch auf Widerstand, dennoch ist die Gesellschaft offener geworden. Immer öfter hört man von offenen Beziehungen und Polyamorie (gleichzeitige Liebesbeziehungen zwischen mehr als zwei Menschen), die Trans- und Homosexualität ist weitestgehend angenommen. Anfang der 70er Jahre wurde (zumindest in Westdeutschland) gleichgeschlechtlicher Verkehr für Volljährige legalisiert, seit 2013 dürfen Schwule und Lesben auch Kinder ihrer Lebenspartner adoptieren. Es ist ein langer Weg zur Akzeptanz, doch heute bekämpfen wir die Homophobie an Stelle der Homosexualität. Auch das sexuelle Erleben der Frauen zeigt sich so offen wie nie. Zwischen “Feuchtgebieten” und “Vaginamonologen” entdeckt frau sich und ihren Körper und ist auch stolz darauf. Motiviert durch die 68er Frauenbewegung fordert Frau offen nach sexueller Aufmerksamkeit, die weit über das Schlafzimmer hinausgeht.
Weltkarte: http://dryicons.com Kondom: CarinaReis@DA
Junge Wilde oder junge Spießer?
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Lasst uns diskutieren!
Gerade in den 70er und 80er Jahren war das politische Engagement besonders ausgeprägt: Die Anti-Atomkraftbewegung kämpfte für den Erhalt der Umwelt, die Partei der Grünen etablierte sich. Die Frauenbewegung protestierte mit “Mein Bauch gehört mir!” gegen den §218 und ein Bürgeraufstand in der DDR brachte ein vereintes Deutschland zurück. Und heute? Auf den ersten Blick gibt es nichts mehr, das wir noch erkämpfen müssten: Wir haben im Gegensatz zu anderen Ländern so viele Freiheiten, dass wir kaum etwas vermissen. Aber erinnern wir uns an ACTA: Wenn die Politiker unsere Rechte im Netz beschneiden wollen, gehen wir auf die Straße. Aus diesem Grund gibt es nun die Piraten. Auch Occupy Germany ist stets in unserem Bewusstsein. Angetrieben von dem Gedanken über politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Missstände unseres Systems aufzuklären und offen zur Diskussion zu stellen, strömten 2011 zahlreiche Initiativen auf die Straßen um zu demonstrieren. Dass diese Bewegungen nun nicht mehr die Straßen beleben, heißt dennoch nicht, dass kein Protest mehr stattfindet. Lediglich die Mittel und Wege haben sich gewandelt. Aktiver Protest unserer Generation präsentiert sich besonders stark im Internet.
Gerade Studenten machen ihrem Ärger auch heute immer wieder Luft, egal ob es um die Freiheitsbeschneidung im Netz oder die Sparmaßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt geht. Auch die Petitionen im Internet an den Deutschen Bundestag zeigen, dass politisches Engagement heute nicht weniger ausgeprägt ist als in der Jugend unserer Eltern.
Also?
Auf den ersten Blick mögen wir vielleicht angepasst und langweilig wirken, dennoch sind wir willens, die hart erkämpften Errungenschaften der vorangegangen Generationen mit Stolz und Selbstbewusstsein fortzuführen. Die “große” Rebellion der Jugend ist dennoch viel privater geworden und erfolgt über weitaus mehr als äußere Merkmale. Alternative Lebensentwürfe und der Weg hin zur eigenen Persönlichkeit stehen im Fokus. Das, was früher wild war, ist heute schon fester Bestandteil des Lebens: Wir müssen nicht mehr darum kämpfen, ins Ausland gehen zu müssen und werden sogar bezuschusst. Wir müssen uns vor keinem Gericht mehr dafür verantworten, "andersherum" oder promiskuitiv zu sein. Gibt es ein Problem, können wir gemeinschaftlich nach demokratischen Lösungen suchen und Einfluss auf die Politik nehmen. Wir genießen die Freiheiten, die uns gegeben sind und gehen für die Dinge, die uns wirklich bewegen, auch auf die Straße. Wenn wir spießig sind, weil wir keine Regeln brechen müssen, um unser Ziel zu erreichen, dann sollten wir stolz auf unser Spießertum sein. »»Text: Sarah Düvel, Julia Baron
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Filmtipp
Jung Am Bild
8 Youngspeech
Junge deutsche Regisseure machen fast ohne Budget großes Kino – allein dank des technischen Fortschritts und des kreativen Potenzials. So auch der Essener Nachwuchsregisseur Markus Pajtler, der mit seinem Neo-Noir-Urban-City-Western „Shanzo“ seine neueste künstlerische Vision verwirklichen möchte.
Urgesteine wie Lothar Lambert oder Klaus Lemke haben schon in den 70er-Jahren Filme fast ohne Budget gedreht, aber sie hatten lange nicht die Möglichkeiten, die junge Regisseure haben. Heute ist es möglich, erstklassige Kinobilder mit einem digitalen Fotoapparat für 2.000 Euro zu schießen. Geschnitten wird am Heimrechner, und statt ins Kopierwerk zu gehen und dann einen Verleih zu finden, werfen die Guerillafilmer ihre Werke mit dem Beamer an irgendeine Wand. Während Verleiher und Produzenten ums Überleben kämpfen, drehen sie einen Film nach dem anderen. Die Produktion von hochwertigen Filmen ist nicht mehr denen vorbehalten, die millionenschwere Finanziers im Rücken haben.
Bei der Beschaffung der Anschubfinanzierung setzte das Team auf die Crowdfunding-Plattform Startnext. So konnte man innerhalb kürzester Zeit über 16.000 Euro für das Projekt sammeln. Überwältigt von dem großen Zuspruch können die Mitwirkenden es nun kaum erwarten, die ersten Szenen in Berlin zu drehen.
Für eine Independent-Produktion ist der Cast wahrlich beeindruckend. Neben Murat Seven wirken u.a. die Hollywood-Schauspieler David Gant (Braveheart) und Udo Kier (Armageddon) sowie Julia Dietze (Iron Sky) mit.
Doch neben gestandenen Hollywoodgrößen kann der Film auch mit seiner facettenreichen Story punkten. „Shanzo“ erzählt drei eng miteinander verflochtene Geschichten dreier ungewöhnlicher Menschen: Shanzo (Philip Bender), einem Fremden, der in einer Großstadt ankommt und diese gern wieder schnell verlassen würde, um sein eigentliches Leben zu finden. Und zu allem Überfluss auch noch einen Übergangsjob bei einem Unternehmen annimmt, das sich darauf spezialisiert hat, Mafiamorde zu vertuschen und Tatorte zu reinigen.
Marcio Plata (Murat Seven), einem gescheiterten FußballStar, der nach einem von ihm verschuldeten Autounfall im Rollstuhl sitzt und erst durch die junge Prostituierte Elisa wieder ein bisschen Lebensfreude findet; und eben jene Elisa Day (Julia Dietze), einer jungen, phantasievollen, selbstbestimmten Frau, die ihre Erfüllung in der Unterstützung anderer findet, doch durch Zufall einen Mord beobachtet und so selbst ins Visier der Mafia gerät.
Laut Pajtler bebildert Shanzo den männlichen Antihelden, der sich schlussendlich für das Gute und Erstrebenswerte entscheiden. Moderne Vorbilder in einer Zeit, die zu oft von schnellem Ruhm und fehlgeleiteten Idealen bestimmt wird.
:: Mehr Infos - http://www.shanzo-film.com
Interview Zum Start vom NEO MAGAZIN mit Jan Böhmermann schickten wir die Redakteure Fabian Benecke und Jörn Rohrberg ans GEZ- Rundfunkbeitrag-finanzierte Pressebuffett beim ZDF. Hier die Infos zur neuen Speerspitze des deutschen TV-Journalismus: Wir sitzen dem ersten TV-Moderator gegenüber, der sich selbst live im TV anschauen kann, während er sendet. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Inception-mäßigen Multimedialität. Wenn Lateline auf das neue NEO MAGAZIN in ZDFneo trifft – was soll ich gucken? Lateline gucken, denn ich werde in der Lateline-Sendung das NEO MAGAZIN gucken – Fullscreen!
Mit dem NEO MAGAZIN in ZDFneo wird endlich Qualitätsjournalismus im Fernsehen ankommen. Ist es speziell für junge Zuschauer gemacht oder wird es eher eine ZDF heute-show mit mehr Haupthaar? Ich weiß nicht, ob's überhaupt eine Sendung für Zuschauer wird?! Auf Jeden Fall wird’s erstmal eine Sendung nur für mich und unser Team [grinst]. Weil wir da Bock drauf haben.
KARRIERETIPPS
Gegenfrage: Deutschland braucht das NEO MAGAZIN, weil…“ Zum Konzept: Die Lateline ist eine Radiosendung, die einfach 2 Stunden abgefilmt wird. Dadurch hat es einige Längen – quasi reingehen und ohne nachzudenken laufen lassen. Das NEO MAGAZIN ist hingegen eine richtige Fernsehsendung mit einem eigenen Team, Budget, Studio und Konzept von der ersten bis zur letzten Minute. Interessant wird es, wenn beide Konzepte gleichzeitig – mit ein und demselben Moderator aufeinandertreffen. Endlich ernstzunehmende Konkurrenz! Es kann sein, dass es zu einer Digitalsparten-Kernschmelze kommt und am Ende alles explodiert und wir alle sterben. Oder aber eine der beiden Sendungen kackt halt ab... oder beide senden einfach normal wie immer. Ich denke Letzteres. Übernimmt Markus Lanz dann die Lateline? Wär ne gute Idee, aber würde quotenmäßig ein Desaster. Hat man bei „Wetten, dass..?“ gesehen, das würde ZDF nicht zulassen. Wir durften den Presse-Trailer sehen und fragen uns: Wird es neben dem Böhmermann-typischen objektiv-investigativen Blick auf die Geschehnisse auch ein Zusammentreffen mit Politikern und Prominenz geben? Können wir uns auf eine Umarmung mit Kai Diekmann in Silicon Valley als Geste freuen? Kai Diekmann haben wir via Twitter angefragt! Er war unser absoluter Lieblingsgast - zusammen mit zehn anderen. Er hat aber nicht zugesagt. Aber auch nicht abgesagt [überlegt] …also ich denke, das heißt, er kommt. Wüsste auch nicht, was ihn davon abhalten sollte. Und außerdem: Wer mit ZDFneo im Fahrstuhl nach oben fährt, fährt auch mit ZDFneo wieder nach unten! Ich rate an dieser Stelle Kai Diekmann zu kommen, ansonsten machen wir den mit der medialen Power von ZDFneo platt! Er soll mir einfach mal auf die Mailbox sprechen. 10 Youngspeech
Wenn es dann noch Zuschauer findet – umso besser! Außerdem ist die heute-show ja schon für junge Leute im ZDF. Also für das ZDF „junge Leute“: 40- und 50-Jährige schauen die ja bereits. Wir sind eher sowas wie [überlegt kurz] das Haar auf der Warze auf dem Rücken der heute-show.
»Nichts ist möglich! Es ist gar nichts möglich! Und was wir sagen, ist lustig!«
Wir haben einfach das Konzept des alten, reaktionären Politmagazins komplett entkernt. Jedenfalls teilweise. Wir haben alles behalten: Titel und Melodie... [etwas leiser dann] und vielleicht nen Teil der Haltung. Also wir sagen nicht mehr: Ist ne kunterbunte Unterhaltung. Alles ist möglich. – Nein, wir sagen: Nichts ist möglich! Es ist gar nichts möglich! Und was wir sagen, ist lustig! Das ist also die klassische öffentlich-rechtliche Haltung, die wir da durchziehen, mal raus aus der Defensive. Haben Sie die Diskussion um das Format „Auf der Flucht“ mitbekommen und falls ja, wie ist Ihre Meinung? Ich habe es bisher noch nicht gesehen, aber ich bin mir ganz sicher, dass es ne gute Idee ist, ne Flucht von Menschen aus der dritten Welt mit ner Eventshow zu illustrieren [grinst breit]. Wenn's keine gute Idee wäre, liefe es ja nicht bei ZDFneo – das ist meine Logik.
Also ist es der richtige Weg, dass man für jede Generation einen extra Spartensender beim ZDF entwickelt? Das ist ne gute Idee! Grad für Rentner sollte man Spartensender gründen, wo die dann ihre Sachen gucken können: Schlager, Tagesthemen und - keine Ahnung - Semino Rossi. Das wird alles rausgenommen ausm Hauptprogramm und wird dann in nen extra Spartensender verpackt... Könnte man dann „Goldener Herbst“ nennen oder „Golden Shower“. Golden Shower! Für alte Leute.
Inzwischen aber Umstieg auf Kekse und 0,2-Liter-Cola-flaschen?! Das ist der Tribut des Erfolgs! [bietet uns Kekse an]. Die gute Bahlsen »Seleccíon« und ne kleine Gastro-Cola! Dekadent ZDFneo!
aber…
willkommen
bei
Für unsere Leser: Haben Sie Tipps für abgeschlossene und potenzielle Studienabbrecher und ihre Karriere? Ein ernsthafter Tipp: Niemals Studium abbrechen, ohne dass man weiß, was man danach macht! Totaler Schwachsinn! Ich kenne viele Leute aus meinem Bekanntenkreis und von früher, die »Niemals Studium jetzt auch 32 abbrechen, ohne sind wie ich.
Idee, was man danach macht!«
Und die freigewordenen Sendeplätze werden von jungen Leuten wie Johannes B. Kerner besetzt. Der muss schließlich auch mal wieder ins Fernsehen. Gibt es ein Moderatoren-Leben vor 23 Uhr für Jan Böhmermann? Eigentlich bin ich ein Nachtmensch. Am liebsten arbeite ich nachts, so lange es geht. Das rührt noch von Zeiten, in denen ich mich von Pizza und 1,5-Liter-Flaschen Cola ernährt und programmiert habe. Ruhig, kalt und nur das Licht des Monitors hat den Raum erhellt – das hatte was. Und wenn es warm werden sollte, hat man einfach irgendwie nen rechenintensiven Prozess gestartet. Dieses Arbeiten macht zwar den Biorhythmus in’ Arsch, aber ist eigentlich meine Lieblingszeit – so 23 bis 5 Uhr morgens. Foto: ZDF und Fabian Preuschoff Grafik: Youngspeech
Die haben 3 bis 4 Studiengänge gemacht und keinen zuende studiert haben. Das ist keine gute Idee. Irgendwann, z.B. mit 32 denkst du dir so: Oh, ich bin von meiner 14-Jährigkeit [Anm. der Redaktion: „es handelt sich um eine kreative Abrundung der wirklichen Zahl“] nun genausoweit weg wie von meiner 46-Jährigkeit. Man wird einfach älter und im Nachhinein bin ich froh darum, dass ich nicht soviel Zeit mit Studieren verschwendet habe; weil es für mich aber auch sinnlos gewesen wär.
Sonst hätte ich klassisch eine Ausbildung zum Mediziner gemacht, bin aber bei Sachen „hängengeblieben“, die mir einfach mehr Spaß gemacht haben und wo man auch Geld mit verdienen konnte und es da kaum Leute gab. Es gibt einfach kaum Leute, die so ernsthaft und mit Bock und seriös ihren Job machen wie ich! Viele Leute, die jetzt noch an der Uni oder Journalistenschule sind, wollen dann zur Zeitung gehen oder Internetblogs schreiben… Fernsehen ist hart sich da durchzubeißen, aber es ist eindeutig ein gutes Medium, welches aufgrund zu vieler mittelmäßiger Inhalte in Verruf geraten ist. Die Möglichkeiten sind aber riesig. Das sehe ich in der Arbeit mit der bildundtonfabrik, mit meinen Jungs also: Wir arbeiten seit 5 1/2 Jahren zusammen und ich mache seit 10 Jahren Fernsehen...
Wenn man hartnäckig ist und nicht aufgibt, gibt es Möglichkeiten Fernsehen gut zu machen, so pathetisch das jetzt auch klingt. Ich sag immer wieder: Fernsehen ist keine schlechte Idee, aber man muss es als Beruf betreiben und nicht als Hobby oder als Möglichkeit sehen schnell berühmt zu werden. Fernsehen ist ein vernachlässigtes Medium, was Leute braucht, ganz klar.
Natürlich gibt’s auch sinnvolle Studiengänge! Und ich hatte mal vor Arzt zu werden, hatte auch mein Latinum gemacht und hätte nach dem Abi Medizin studiert, bin dann aber abgebogen und hab mich beim Radio festgearbeitet. Youngspeech 11
Interview Also contra die Youtube-Berühmtheiten und Trendblogger? Ich bin einfach nur gegen Scheiß-Inhalte – und da ist es mir egal, wo die sind, ob bei Youtube, in Blogs oder auch im Fernsehen. Wenn ein Schülerfilm-Niveau- oder Offener-KanalFilmchen läuft – da ist es egal, wo das läuft, es reicht einfach inhaltlich nicht... Z.B. die ganzen Comedy-WGs auf Youtube, egal von wem jetzt, das ist auf einem Niveau, da muss eher die Bravo Angst vor Konkurrenz haben – weil da kommen die Leute her, die das sehen und nicht die Leute, die ernsthaft unterhalten werden wollen... also... [Suche nach der exakt passenden Formulierung] nicht die Leute, die ernsthaft Unterhaltung machen wollen, nee... also ernsthaft unseriöse Unterhaltung… oder… [JETZT!] seriös und ernsthaft unseriöse Unterhaltung machen wollen! Weil das ist meilenweit davon entfernt professionell zu sein – was irgendwie auch beruhigend ist. Es mag erfolgreich sein, aber letztlich reizen dich, wenn du 25 bist, eher Formate und Inhalte, die gut gemacht sind und nicht einfach nur „lustig“ sein sollen und wollen. Die Fernsehsender, die Inhalte produzieren wollen und müssen und auch Unterhaltung und Informationen bieten, sollten das dann aber auch bezahlen – weil sie ja auch das Geld dafür haben. Ob man das nun im Internet sendet oder im Fernsehen, mir als MMS aufs Handy oder per Videokassette nach Hause schickt – das ist dann letztlich egal. Es muss jedoch sinnvoller Inhalt produziert werden – und die Sender haben die Kompetenz dafür. Und das Geld. Ernsthafte „Macher“ sind dann also im Fernsehen und die, die nur „irgendwas mit Medien“ studiert haben, landen bei der Bravo? [überlegt] Es ist wie bei allem: Wenn man eine Idee hat, kann man die durchsetzen.
12 Youngspeech
Jan Böhmermann (Jahrgang 1981) Radiomacher, Moderator, Satiriker und Autor Auszeichnungen: Deutscher Fernsehpreis 2009, Unterhaltungsjournalist 2012 Urheber des Spruches: "Fußball ist wie Schach - nur ohne Würfel" ZDF NEO MAGAZIN startet am 31. Oktober um 23 Uhr auf ZDFneo. Ein Kurzfilm in der Reihe "16xDeutschland" von Ihm ist schon am 5. Oktober in der ARD zu sehen.
Man muss dann aber hinterher sein und hart dafür arbeiten und sich kümmern. Wenn man dann vorher „abbiegt“, weil einem jemand für eine andere Sache Geld gibt, eventuell auch eine Sache, die man nicht braucht oder eigentlich was anderes machen wollte, wird man zu einem dieser „Eigentlich“Leute. „Ich bin studierter Journalist, eigentlich, aber jetzt mach ich halt Content Management System-Betreuung einer Jugend-Redaktion im Internet oder mach keine Ahnung was für nen Online-Quatsch und hab ne Comedy-WG gegründet.“… Aber wenn du „Eigentlich-Journalist“ bist, bist du halt eigentlich Journalist und hast die Verpflichtung deiner eigentlichen Tätigkeit nachzugehen. Und alles Andere ist Selbst-Korrumpierung und macht irgendwann Sinn, wenn man eine Familie ernähren muss oder wenn die Notwendigkeit gegeben ist. Aber solange man 20 ist und studiert, sollte man das tun, was man will. Da ist es auch von Vorteil schon zu wissen, was man wirklich studieren will. Man hat letztlich nur die Zeit zwischen 20 und 30, in der man seinen Weg gehen kann. Denn ab spätestens 30 fangen die Ersten an Kinder zu kriegen und dann ist man noch viel schneller bei Dingen, die einem nur den Lebensunterhalt sichern und nicht künstlerisch-intellektuell so anspre»Als chen wie das, was „Eigentlich-Journalist“ man „eigentlich“ bist du halt eigentlich Journalist und hast machen wollte. Verpflichtungen…« Das ist auch meine private Erfahrung. Ich habe viele Leute beim Radio kennengelernt und manche haben dann einfach ihr eigenes Ding gemacht, sind quasi abgebogen. Wie auch Philipp und Matthias [Geschäftsführer der bildundtonfabrik und Macher der Sendung] sind so rausgeflogen. Philipp war beim Radio, machte ne Ausbildung zum Mediengestalter und hat danach studiert und einfach sein Ding gemacht. Obwohl alle seiner Kollegen in Baden-Baden geblieben sind, sagte er sich: „Ich bekomm hier zwar Geld ohne Ende, es ist eine Möglichkeit mich auszuprobieren, aber ich bin noch nicht da.“ Wenn man diese Stimme in sich hört, dann muss man der folgen und darf die auch nicht mit Geld oder einem Werbedeal oder irgendwas zum Schweigen bringen.
Wohnzimmerkonzert
WOHNZimmer wohnZIMMER
Ich stehe vor einer fremden Wohnung und stelle meine Schuhe zu den ca. 30 anderen Paar Schuhen im Hausflur. Der Freund eines Freundes hat eingeladen und macht mit einem Lächeln auf dem Lippen und einem goldenen Zylinder auf dem Kopf die Tür auf. Ich betrete die Wohnung und stehe direkt im nicht übermäßig großen aber gemütlichen Wohnzimmer. Um mich herum erkenne ich einige Freunde, sehe aber auch viele unbekannte Gesichter. Jeder hat irgendwo einen Platz gefunden, auf dem Sofa, in der Küche oder einfach auf dem Boden sitzend, in einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Mikrofon und ein Lautsprecher. Das Licht ist angenehm gedimmt. Ich bin das erste Mal auf einem Wohnzimmerkonzert und sehr gespannt was mich erwartet. Es soll ein Auftritt der Magdeburger Band Kickboard Drivers werden. Die Jungs habe ich vorher schon einmal gesehen und kann mir irgendwie noch nicht so richtig vorstellen wie das in ein Wohnzimmer passt. Und dann geht’s auch schon los. Der Gastgeber und die Veranstalterin begrüßen uns. Zu meiner Überraschung erfahre ich, dass heut Abend auch 3 Poetry Slamer aus Magdeburg zu Gast sind und die Veranstaltung mit ein paar selbstgeschriebenen Texten untermalen werden. Den Anfang macht der Poet David. Er trägt ein wortwitziges Liebesgedicht an Jar Jar Binks von Star Wars* vor und spätestens jetzt bin ich wirklich angekommen. Um mich herum hören alle begeistert zu, kichern und lachen über Davids Worte und sind voller Erwartungen auf alles was noch kommen wird.
»Schon jetzt steht für mich fest: Sowas will ich auch! In meinem Wohnzimmer!«
Ganz ohne Umbaupause geht es dann direkt mit den ‚Kickboard Drivers‘ los. Sie haben ihren Schlagzeuger zu Hause gelassen und spielen ein Akustikset. Sehr wohnzimmertauglich und nachbarfreundlich. Die Stimmung ist magisch. Ich gucke mich um und sehe nur lächelnde und grinsende Menschen um mich herum. Ab und zu schlängelt sich jemand durch die am Boden Sitzenden in Richtung Küche und kommt bald zurück oder sucht sich einfach einen neuen Platz. Unkompliziert. Hören und sehen tut eh jeder was in diesem kleinen Rahmen. 25 Minuten später gibt es einen riesen Applaus und eine kleine Pause.
Gitarrenpicks in der Sofaritze
Danach kriegen wir noch einmal drei fantastische Texte von Ronja und Jan-Henrik, ebenso zwei Poeten, zu hören. Nach dem Konzert und dem Vortrag der Poeten klingt der Abend aus.
Schon jetzt steht für mich fest: Sowas will ich auch! In meinem Wohnzimmer! Aber wie? Ich lasse mir von der Veranstalterin erklären, dass jeder so ein Konzert bei sich veranstalten bzw. sich als Künstler melden kann. Es gibt bereits einen großen Pool an Bands die darauf brennen kostenfrei wohnzimmer-taugliche Konzerte vor kleinem Publikum zu spielen. Der Kontakt zwischen Band und Gastgeber entsteht über die Facebook-SeiteWohnzimmerkonzerteMagdeburg. Die Organisation übernimmt das Wohnzimmer-konzerte Team. Der Gastgeber selbst bleibt dabei die ganze Zeit Hauptentscheider.
Weil es so einfach zu sein scheint und immer Gastgeber und Künstler gesucht werden, melde ich mich sofort für eins der nächsten Konzerte als Gastgeber an.
»»Text: Anni T. Kleinkopf *Anmerkung des Layouters: Für jeden
Fan von Star Wars ein unvorstellbares Unterfangen! (PS: David Grashoff war's nicht) Youngspeech 13
Verkehrsfixiert
DAS
RAD NEU
ERFINDEN Jörg Schindelhauer (2.v.l.) und sein Team
Ein Sportwagen und ein Fahrrad? Auf den ersten Blick haben die beiden wohl wenig gemeinsam. Jörg Schindelhauer bildet das Bindeglied und beweist, dass aus einer kleinen Idee etwas ganz Großes werden kann. Eigentlich wollte Jörg Schindelhauer einen Sportwagen bauen. Die Pläne lagen vor und Investoren für das Projekt c2g Roadster hatten sich auch schon gefunden. Doch 2008 machte ihm die Finanzkrise einen Strich durch die Rechnung. Nun musste eine andere Lösung her. Immerhin hatte Schindelhauer schon zusammen mit seinen Kommilitonen und Freunden Martin Schellhase, Manuel Holstein und Stephan Zehren die Firma c2g-engineering gegründet. Es entstand die Idee, das Geld in ein Dienstleistungsbüro zu investieren, das sich mit Produktentwicklung auseinandersetzt. Doch der ökologische Umschwung und Schindelhauers Liebe zu Zweirädern lenkten die Pläne in eine andere Richtung. So entstand die Fahrradmarke Schindelhauer Bikes. Das Besondere an den Rädern ist die Mischung aus moderner Technik und klassischem Design. Mit Hilfe der patentierten Zahnriementechnologie wird die sonst so lästige Öl-Kette ersetzt. Wer sich auf die Suche nach den puristischen Zweirädern begibt, wird auf verschiedene Modelle mit altdeutschen Namen treffen. Um etwas Kleines groß aufzuziehen, braucht es vor allem ein starkes Team. Schindelhauer kennt seine Kollegen aus der Studienzeit, alle haben unterschiedliche Fähigkeiten und sind so vielseitig einsetzbar. 14 Youngspeech
Außerdem ist es wichtig, sich an Gründernetzwerke zu halten, um Kontakte zu Investoren zu bekommen und eine betriebswirtschaftliche Sicht auf das Projekt zu erlangen, wie zum Beispiel die des das Interaktionszentrums Entrepreneurship GmbH der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit Januar 2012 hat Schindelhauer Bikes seinen Sitz in Berlin. »Es war kein leichter Schritt, aber eine Entscheidung, die im Team getroffen wurde.«, so Schindelhauer. Der gebürtige Magdeburger hängt noch immer an seiner Heimatstadt. Ihm gefallen die vielen Grünflächen, die Nähe zum Fluss und die Möglichkeiten, an der Elbe Rad zu fahren. In der Zukunft möchte sich Jörg Schindelhauer auch weiterhin mit dem Thema „urbane Mobilität“ auseinandersetzen. Es geht um individuelle Transportmöglichkeiten, die nicht unbedingt etwas mit Fahrrädern zu tun haben müssen. Laut Schindelhauer war dies aber ein erster Schritt in die richtige Richtung. Und der Sportwagen? Bei dieser Frage muss er lachen. „Das ist ein schwieriger Markt. Es ist eher ein privater Wunsch, das Projekt prototypisch umzusetzen.“ Ein junger Wilder also? Klar! Jung ist er ja noch und auch das „Wilde“ kann man ihm wohl bedenkenlos zuschreiben.
»»Text: Anne Strackeljan
»»Foto: Pressefoto, Rechte liegen bei Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Projekt
»Wir würden unsere Sticker in gewisser Weise schon als StreetArt ansehen, da hinter Street-Art auch immer eine Botschaft steckt«, sagen die Köpfe hinter Liebe für Alle. »Nur, dass wir mit unseren Stickern eine größere Reichweite haben, da wir direkten Kontakt zum Empfänger knüpfen.« Hauptsächlich finden sich die rosa-farbenen Sticker in Magdeburg, vor allem auf Partyveranstaltungen werden sie munter verteilt, auf Brust und Po geklebt. Der lokale Trend expandiert: Mittlerweile findet man Liebe für Alle-Sticker in neun Ländern Europas. Ob in den Bergen der Schweiz oder hoch in den Fjorden Norwegens. Und sogar bis in den amerikanischen Wüstenstaat Nevada haben es die rosa Aufkleber geschafft. Was die Sticker so besonders macht: Hier steht die Message für sich. Es wird keine Institution, kein Verein, kein Happening angeworben. Ganz nach DIY-Attitüde druckt das Liebe für Alle-Team seine Sticker, um sie unter die Leute zu bringen, um Augen zu öffnen. »Unsere größte Motivation ist es, das Miteinander zu fördern und damit die Grenzen des Geschlechts, Glaubens, der Herkunft, sozialen Stellung und der Sexualität zu überwinden.« Die Sticker sollen verbinden, die Welt bunter und freundlicher gestalten. Das Team ist dabei publikumsoffen: Wer mithelfen möchte, seine Umwelt lebendiger zu gestalten, kann Liebe für Alle jederzeit kontaktieren und Sticker anfordern. Das Projekt ist vor allem an das Party- und Nachtleben gekoppelt.
So entstand die Idee zum Verteilen der Sticker vor knapp einem Jahr. Als eine Art Partygag. Die Nachfrage wuchs schnell, die Facebook-Seite hat weit mehr als 1000 Likes, derzeit kooperiert das Team mit Frisch & Frei bei der Veranstaltungsreihe „Follow the Rabbit“. Aber auch auf Musikfestivals wie Krach am Bach, das Highfield, Open Flair oder Rocken am Brocken waren die Sticker der Renner. Bei letzterem schafften es die Aufkleber sogar auf die Instrumente der Donots. Die Liebe für Alle-Crew erkennt bei solchen Veranstaltungen einen geeigneten Nährboden für ihre Aktion: Die Stimmung, die ein Gefühl von Freiheit vermittelt. Die Möglichkeit, sich vom Alltag zu befreien, sich fallen zu lassen. Mittlerweile sind 12000 Sticker im Umlauf. Die Liebe für Alle-Crew gibt sich trotz Erfolg selbstlos: »Uns geht es um das schöne Gefühl, Menschen mit einer so kleinen Sache wie einem Sticker glücklich zu machen und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen.«
Magdeburg funkelt rosa – ob an Laternen am Hassel oder auf den T-Shirts vom Partyvolk: Der Sticker mit der Aufschrift „Liebe für Alle“ ist omnipräsent – und ist dabei viel mehr als bloß ein Klebebildchen.
d l r o W e h t r e v o l l a it Spread facebook.com/LiebeFuerAlle.SpreadItAll
OverTheWorld
»»Text: Dominik Grittner »»Foto: © Liebe für Alle Youngspeech 15
Gegen Zukunfts-Abbau!
Kein Platz f端r
Kultur
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Ein Umdenken ist erforderlich. Schreibt Mails an die Landesregierung, geht auf Demos und nutzt die Chance - den Abbau unserer Zukunft gilt es zu bekämpfen. Aktiv und lautstark!
Die Sparpolitik des Landes droht Hochschulen und KulturEinrichtungen zu vernichten. Mit zynisch-roter Feder werden Pläne & Zahlen veröffentlicht um danach wieder (teilweise) zurückzurudern.
Anzüglich
Zieh dir was an
und ich sag dir, wer du bist
Weil Mode mehr ist als nur ein Accessoire
Kleidung ist für uns Menschen eine Art zweite Haut, welche den Körper in erster Linie schützen soll. So lautet die allgemein gängige Definition dessen, was wir tagtäglich an unserem Körper tragen. Nachvollziehbar, aber bei weitem nicht alles, was Kleidung kann. Die meisten von uns würden sicher sagen, Kleidung ist darüber hinaus Ausdruck für Individualität und Abgrenzung oder schlichtweg die Expression eines Lebensgefühls. Andere sehen in ihr ein Schlupfloch oder eine Maskerade, hinter der sie sich verstecken können. Egal aus welchem Blickpunkt man es betrachtet: Kleidung hilft mir, meiner Mitwelt verstehen zu geben, wie sie mich sehen soll und wie ich ihr gern begegnen möchte. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass sich der Zweck, die Form und die Art von Kleidung in einem stetigen Wandel befinden. Einzig ihre Funktion als Abgrenzungsmerkmal blieb ihr bis heute eigen. Früher galt Kleidung vornehmlich als gesellschaftlicher Spiegel. Material und Verarbeitung gaben Aufschluss über den sozialen Stand des Trägers. Besonders in Zeiten des Umbruchs erhielt die Kleidung eine neue Aufgabe – das Textil wurde zur Protestbotschaft. Vor allem im Zuge der Studentenbewegungen, als junge Freidenker rund um den Globus versuchten, Normen und Werte der Gesellschaft in Frage zu stellen, entwickelte sich Kleidung zu einem gesellschaftlichen Kalkül. Die jungen Menschen widersetzten sich gängigen Modekonventionen und schufen ihre eigenen gruppenspezifischen Erkennungsmerkmale. 18 Youngspeech
Der persönliche „Look“ war und ist bis heute eine Art Statement. Kleidung hat eine eigene, sich stetig wandelnde Sprache, die aus individuellen Zeichen besteht. Mode wird so zu einem Ventil, um Emotionen und Ansichten auf nonverbalem Wege sichtbar zu machen und erfüllt die verschiedensten Bedürfnisse eines jeden Einzelnen. Gerade heute bedienen sich jüngere Generationen dieses Mittels. Jugendkulturen splittern sich immer mehr in eine bunte kaum überschaubare Vielfalt. Mode und Trends stagnieren nicht, sie wandeln sich stetig, so auch die jugendlichen Subkulturen, die mit ihr kommen und gehen. Gerade heute ist das Schaffen einer dauerhaften Identität schwieriger geworden. Vielleicht liegt es daran, dass heutigen Jugendkulturen die nötige Rebellion und Brisanz ihrer Vorgänger fehlt. Wir befinden uns in einer schnelllebigen Zeit, die es zur Herausforderung macht, sich entgegen aller Einflüsse treu zu bleiben und sich selbst zu finden. Am Ende bleibt zu sagen: Kleidung sagt weit mehr, als sie zunächst vermuten lässt. Es liegt an uns, sie richtig zu verstehen und einzusetzen. »»Text: Lisa Schliep »»Illustration: Joey-Zero@DA
Gib dir, nimm dir Der Punk für jeden und jeder für den Punk Sie sitzen vor Bahnhöfen, auf Plätzen und Parkbänken. Wie Wächter kreisen ihre Hunde um sie. Das Bier in der Hand und das Anarchie-Zeichen auf die Weste genäht grölen sie vorbeilaufenden Passanten hinterher. Dies ist das vorherrschende Bild der Punk-Szene. Doch es steckt mehr und durchaus Gegensätzlicheres dahinter. Ein Junge und ein Mädchen, jung und wild, sitzen im Schatten auf dem Boden. Sie essen Pommes und lassen sich prompt auf eine Unterhaltung ein. Der Junge überlässt größtenteils dem Mädchen das Reden. In der Schule hatte sie aufgrund ihrer Diskutierfreudigkeit ziemliche Probleme und verließ sie letztlich auch. Ihr ging das autoritäre Verhalten der Lehrer auf die Nerven. Wenn sie der Meinung war, dass es momentan wichtiger wäre, zuhause Wasserrohre zu verlegen, dann war das eben so. Das Mädchen strahlt Selbstbewusstsein aus. Sie ist Straßenmusikerin und genießt es, für den Moment zu leben. Freiheit bedeutet für sie das Jetzt. Auf die Frage, ob sie Ziele im Leben habe, antwortet sie forsch, dass jeder Mensch im Leben Ziele besitze; nicht jeder aber in der Lage sei, diese zu erreichen. Sie selber ist sicher, was sie erreichen will. Eigene Kinder in diese Welt setzen, gehört nicht dazu. Das, was sie bislang gesehen hat und was ihr täglich widerfährt, bestärkt sie in ihrem Entschluss. Es ist eine für Außenstehende traurige Aussage. Das Mädchen gibt selber zu, dass sie einst eine starke Feindlichkeit gegenüber Menschen hegte – selbst gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden. Im Laufe des Gesprächs erwähnen beide den Umsonstladen, der sich in der Brandenburger Straße 9 in Magdeburg befindet.
Versteckt in einem Innenhof, trifft man sich hier, um einander zu helfen und Gespräche zu führen. Der Umsonstladen ist ein soziales Projekt, das sich gegen die Konsumgesellschaft und den Kapitalismus ausspricht. Jeder kann geben und nehmen, was er will – ohne jegliche Zwänge oder (finanzielle) Pflichten. Eine junge Punkerin mit Kind, eine ältere Dame und ein paar weitere Menschen tummeln sich in dem Geschäft. »Der U-Laden ist für viele eine Art Zuhause geworden, da sie nicht wissen, wo sie sonst hingehen sollten«, erzählt ein ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Büchersortieren. Der Mitarbeiter flucht und stöhnt während des Gespräches immer wieder über die Kapitalisten und die Politik, die »alles kürzt, was sozial ist«. Während der Unterhaltungen im U-Laden, schiebt die junge Mutter ihr Kind mit dem Kinderwagen durch den Raum, um es zum Einschlafen zu bringen. Die Frage, ob sie in ihrem Leben etwas bereue, verneint sie und sagt, dass sie es genieße, Kinder zu haben und diesen Weg immer wieder einschlagen würde. Sie gibt das Bild einer liebevollen Mutter ab – trotz oder gerade aufgrund ihrer auffallend pink gefärbten Haare. Der Besuch im U-Laden imponiert vor allem durch die sympathische Akzeptanz, mit der hier jeder jeden begrüßt. Es ist ein Geben und Nehmen an materiellen sowie spirituellen Gaben. Vor diesem Erlebnis- und Erfahrungshintergrund lernt man schnell, potenzielle Ängste und Vorurteile gegenüber der linken Szene, aber auch allgemein gegenüber Andersdenkenden, zu überprüfen. »»Text & Fotos: Vanessa Kanz Youngspeech 19
Lost Places
Kunst der verlorenen Plätze Man schleicht sich so hinein in eine andere Welt, stromert, klettert, beobachtet, dann und wann betätigt man den Auslöser.
Im Hintergrund das Knartschen des alten Riesenrades. Wenn der Wind weht, dreht es sich mitunter schneller als von Motoren angetrieben; wenn er still steht, schweigt es mit ihm. Der kleine Bach, der das ausrangierte Riesenrad umfließt, scheint nicht immer so hoch mit Wasser gefüllt gewesen zu sein, denn an seinem Rand ist eine Bank bis zur Sitzfläche im Wasser versunken. Im Spreepark Berlin, der seit 2002 für Besucher geschlossen ist, nehme ich an einer geführten Fototour teil, die seit einigen Jahren von der Firma go2know angeboten wird. Irgendwo zwischen umgestürzten Dinosaurierskulpturen und einer trockengelegten Wildwasserbahn sitzen Thilo Wiebers und Arnas Diemann an einem kleinen überdachten Holztisch und erläutern die Faszination von „Lost Places“. »Zum einen sind da die Motive an sich. Motive, die immer anders sind, von Ort zu Ort verschieden. Das hängt vom Vorleben der Orte ab. Wir haben alles Mögliche bei uns dabei: alte Kasernen, eine Lungenheilklinik, der Spreepark. Zum anderen ist es natürlich die Atmosphäre. Man erlebt eine total eigene und surreale Welt. Es geht damit auch jeder anders um, der Eine sucht die Ruhe und Abgeschiedenheit, der Andere die Aufregung und manche einfach das Schöne.«, erklärt Thilo. Mit dem Scheinanglizismus „Lost Place“ werden normalerweise Orte und Gebäude bezeichnet, die aus verschiedenen Gründen von Menschen verlassen wurden und nun ungenutzt und leer stehen. 20 Youngspeech
Diese „vergessenen Orte“ sind meist nicht legal zugänglich, da sie - obwohl sie nicht mehr aktiv genutzt werden - natürlich trotzdem noch einen Eigentümer haben. Umso seltener ist es, dass diese Plätze, wie zum Beispiel durch die geführten Fototouren von go2know, legal zugänglich sind. »Geführte Touren sind natürlich gut, weil mal legal auf die Plätze kommt und die Ruhe hat, weil man nicht auf irgendeinen Wachschutz achten muss.«, erklärt Arnas. »Außerdem ist es auch wirklich sicherer, weil wir die Orte vorher begehen und Gefahrenstellen absichern. Meine erste eigene Erfahrung mit Lost Places hatte ich aber auch trotzdem in meiner alten Schule, die seit einigen Jahren schon geschlossen war« Mit den Theorien, was diese Orte für Menschen faszinierend macht, beschäftigt sich unter anderem die Forschungsrichtung der Psychogeografie. Eine der Haupttheorien dieses Forschungszweiges, der im Rahmen einer Kunstbewegung der 60er Jahre entstanden ist, besagt, dass die meisten europäischen Städte ‚zerschnitten‘ sind. Durch Unterteilungen in Industrieviertel und Wohnungsviertel sind in modernen Städten Lebenswelten und Industrie- und Arbeitswelten der Menschen separiert und werden dadurch als getrennt voneinander wahrgenommen. Für beide Welten gelten ganz eigene Regeln und Erwartungshaltungen der Besucher. „Lost Places“ lösen dieses Grenzen irgendwie wieder auf.
Einige Wochen später, in einer nicht allzu weit entfernten Stadt, stehe ich zusammen mit Basti in einem leer stehenden Bürokomplex irgendwo in der Alten Neustadt vor einer bemalten Wand. Zwei Augen blicken zwischen herausgerissener gelber Dämmwolle und nur noch zur Hälfte stehenden Rigipswänden auf uns zurück - das Bild, das er vor zwei Wochen auf diese Wand gesprayt hat, ist schon zum Teil zerstört und von anderen übermalt worden. Basti nimmt es gelassen: »Ich habe früher mit Graffiti angefangen, ich bin es gewohnt, dass irgendwann alles wieder weg ist.« Wir gehen etwas weiter, steigen eine Treppe hinauf bis auf eines der Dächer der Häusergruppe. Von hier aus kann man das ganze Gelände überblicken. »Es ist toll Orte zu bemalen, die sich die Natur zurück erobert hat. Alles wird irgendwie zu einem Gesamtwerk dann - die Umgebung, die Farbe an den richtigen Stellen, und alles passt dann zusammen. Kunst an diesen Orten ist anders als in Galerien.«
Während Basti mir mehr über seine vorherigen Bilder erzählt, blicke ich wieder über das Gelände und muss ihm zustimmen. Irgendwas an diesem Ort macht die Kunst organischer, verbundener mit ihrer Umwelt. Wir klettern zusammen wieder hinunter. Von etwas weiter her hört man das Hämmern von Arbeitern, die dabei sind den Gebäudekomplex zu renovieren. Auf dem Herunterweg frage ich Basti, ob er nicht doch ein bisschen traurig ist, dass sein Bild nicht mehr lange da sein wird. Er guckt mich an und lächelt. »Wenn das Gebäude nicht mehr da ist, dann hat auch das Werk keine Bedeutung mehr. Das ist wie bei allem Anderen im Leben auch - alles ist irgendwann weg. Wichtig für mich ist eigentlich nur, dass das Bild noch in meinem Kopf ist.«
Und irgendwie sind sie beides - verlassen und verloren. Verlassen von Menschen und verloren von den Augen des Alltags. Und irgendwie hat es etwas Schönes an sich. Ich sehe einen Platz an, von dem ich mir meine eigenen Gedanken machen kann. Einen Platz, den nur ich so sehe, wie er gerade ist. Ich sehe heruntergebröckelten Putz, ich sehe winzig kleine Scherben auf den Treppenstufen neben mir und meine Fantasie spinnt sich ihre eigenen Geschichten, wie all dies zustande kam. Sie haben etwas unglaublich Beruhigendes diese Plätze. Vielleicht gefallen sie uns so, weil sie Zeit zeigen. Zeit in einer Umwelt zeigen, die sonst so starr steht. In einer Welt, in der alles restauriert und alle Jahre neu gestrichen wird. In der das Einzige, das wir altern sehen, wir selbst sind. Es ist beruhigend zu sehen, dass auch unsere Umwelt altern kann. Zu sehen wie sich Zeit und Natur zurückholen, was ihnen gehört, an einigen wenigen Stellen unsere Umwelt mit uns altern lässt und wieder zu etwas Organischem macht. Wir sehen all die Spuren und die Fantasie spinnt sich dazu, woher sie kommen. Meist sind die aufregendsten Orte unter ihnen Orte, die im Alltag mit viel Aufwand aufrecht und intakt erhalten werden. Die aufgelöste klinische Sauberkeit von Krankenhäusern, die abblätternde Buntheit von Vergnügungsparks, die Leere von alten Lagerhäusern, die friedliche Ruhe von alten Militäranlagen. Es ist das Nichtgehorchen des eigentlichen Zwecks, den wir diesem Teil der Umwelt zugeordnet haben. Das Sprechenlernen von Gegenständen, die sonst keine Stimmen haben. All das, was die Natur mit dem Menschen und Menschgeschaffenen gerne tun würde und sonst nicht tun kann. Kein Wunder, dass Künstler Kunst an, über und mit ihnen machen. Diese Orte haben etwas Ursprüngliches. Und waren nicht die ersten Kunstwerke auch Malereien an Höhlenwänden?
»»Text & Fotos: Susann Schwass
Irgendwann später kehre ich allein an diesen Platz zurück und sitze eine Weile dort. Er liegt mitten in der Stadt und trotzdem ist es so still, als wäre ich irgendwo alleine im Wald. Hier ist kein Mensch mehr und ist auch lange schon kein Mensch mehr gewesen. Ich denke darüber nach, warum wir diese Plätze in Deutschland „Lost Places“ nennen und wieso sie im Englischen „Abandoned Places“ heißen. Youngspeech 21
Zeit loszulassen
Es ist Zeit loszulassen!
Gedanken über die Lage der Hochschulen
Es ist ein schöner Donnerstagnachmittag, etwa gegen 15 Uhr. Vor wenigen Minuten stand ich zitternd vor der Tür des Prüfungsamtes - zwei schwarze Büchlein mit der Aufschrift »Bachelorarbeit« fest in den Händen. Nur einige Augenblicke später war es vorbei und das „Ding“ abgegeben. Erleichtert und glücklich stieß ich mit Freunden auf diesen geschichtsträchtigen Augenblick an. Da kam mir die Idee, die freudige Nachricht meinem Gutachter mitzuteilen. Ein paar Schlucke aus der Rotkäppchen-Flasche später hatte ich bereits seine Antwort im E-Mail-Fach. Doch statt Worten des Glückwunsches nur die sehr erbost klingende Frage: »Warum haben Sie mir die Arbeit vor der Abgabe nicht noch einmal vorgelegt?«
Das Studium sollte dafür da sein, sich selber Wissen über alle Bereiche des Studiums und des Lebens allgemein anzueignen. Zu dieser Selbstbildung und -findung gehört das Scheitern selbstverständlich dazu. Sicher wäre es schlecht und unvorteilhaft gerade am Ende des Studiums zu scheitern.
Ohne es direkt zu ahnen, befand ich mich just in diesem Moment im fortschreitenden Verschulungsprozess der Universitäten. Zwar wird an jeder (Hochschul-)Ecke Selbstständig-keit gepredigt, doch zeigt die Praxis ein ganz anderes Bild. Die Hochschulen sehen es am liebsten, wenn den „Ersties“ sofort ein Mentor beiseite gestellt wird, der diese durch das Studium begleiten soll. In Facebook-Gruppen wird kaum noch über den Inhalt von Seminaren diskutiert, sondern darüber, wo das Buch fürs nächste Seminar zu finden ist. Vorträge müssen vorab mindestens fünf Mal mit dem Dozenten abgesprochen werden und sobald ein Studierender im Seminar zu schweigsam ist, wird er in die Sprechstunde bestellt und über private Probleme ausgefragt. Wie sollen aus diesen Studierenden selbstständig denkende und handelnde Persönlichkeiten werden?
Doch was wären heutige Führungspersönlichkeiten ohne ihre im Studium gesammelten Erfahrungen? Höchstwahrscheinlich nicht das, was sie sind. Dabei schwärmen doch gerade unsere Politiker von ihrer „ach so tollen Studentenzeit“. So sehr, dass sie gar nicht merken, wie sie uns durch Reformmaßnahmen und Haushaltskürzungen eben jene Zeit wegnehmen. Die diesjährigen Proteste zahlreicher Studierender in den Hochschulstädten Sachsen-Anhalts zeigen, wie groß die Unzufriedenheit über die Spar- und Einschränkungsmaßnahmen ist. Vielleicht sollten wir bei der nächsten Demonstration auch einmal für unsere Studienfreiheit und Selbstständigkeit auf die Straße gehen und uns zurückholen, was ein Studium ausmacht: die Macht, selbst über Studien- und Lebensalltag zu entscheiden.
»Scheitern gehört dazu!«
Die Frage meines Dozenten verdeutlicht diese Angst vor - wohlgemerkt meinem - potenziellen Scheitern. Doch sie wäre wesentlich weniger begründet, wenn wir Studenten kleine Misserfolge erleben und aus diesen lernen dürften. Im heutigen Studium ist dafür kein Platz mehr. Zeit- und Leistungsdruck lassen es nicht mehr zu, dass junge Menschen zu sich selbst finden können.
Bis dahin liebes Bildungssystem: Wenn du uns schon früher in den Ernst des Lebens entlassen willst, dann solltest du zum Ende unseres gemeinsamen Weges ein wenig deinen Griff lösen
!
»»Text: René Lehmann
22 Youngspeech
Hörensagen
DEAF SLAM Poetry Slam ist nicht nur etwas für Hörende! Allerdings kennt nur die hörende Welt den Poetry Slam. Vor einigen Jahren schufen die gehörlose Israelin Aneta Brodski und die hörende Palästinenserin Tahani Salah, vereint als ein überragendes Slam-Paar, eine neue Form des Poetry Slams den Deaf Slam. Als einzigartiges Performance-Duo verbinden die Frauen gerappte Lautsprache mit Gebärdensprache und erschaffen so eine unverwechselbare und außergewöhnliche Gebärdenpoesie. Sie überwinden nicht nur kulturelle, sondern auch kommunikative Grenzen. Die Idee war es, Hörende und Gehörlose gleichermaßen anzusprechen.
»Sometimes in my dreams Von der Geschichte der beiden war die I sign and everyone under- Regisseurin Judy stands me. Everybody is Lieff so begeistert, dass sie den Entsigning.« (Aneta Brodski) stehungsprozess des Gehörlosen Slams verfilmte. Der Dokumentarfilm „Deaf Jam“ erschien 2011 in den USA. Die USA - genauer New York kann man auch als Wiege des Deaf Slams bezeichnen.
Jetzt heißt es: Warten – Warten auf ein baldiges Deaf Slam Erlebnis, bei dem wir Slammer auf der Bühne sehen werden, die ihren ganzen Körper nutzen, um mit verschiedensten Mienen Pointen zu setzen. Denn die Deaf Slams sind facettenreicher und persönlicher als manche Poetry Slams und sie gehen unter die Haut. Die Magie der Körperbewegungen zeichnet energiegeladene Bilder in die Luft. Die Bilder reihen sich aneinander und werden zu Geschichten. Worte brauchen an dieser Stelle keine Lautsprache mehr, denn die Gebärdenpoesie gelangt über die Augen und Stimmung zu ihren Zuschauern. Also: Augen auf, liebes bewertendes Publikum! Das ist Deaf Slam. »»Text: Hagen Brandt »»Model: NikxStock.deviantART.com
Bekanntlich schwappt alles früher oder später aus den USA zu uns herüber und oftmals erobern diese Neuheiten den europäischen Markt im Flug. Im Fall des Gehörlosen-Slams erkannte die größte private Förderorganisation Deutschlands im sozialen Bereich, Aktion Mensch, das Potenzial des Filmes „Deaf Jam“ und sah sich dazu verpflichtet, die Idee des Deaf Slams weiterzutragen. Aktion Mensch wollte den Dichterwettstreit aufnehmen, der es ermöglicht, Gehörlose und Hörende zusammenzubringen und so die Slam-Bühne zu einer Begegnungsstätte für Menschen mit und ohne Behinderung zu machen. Aus dieser Idee heraus entstand in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Gehörlosen-Bund und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland das Projekt „BÄÄM! Der Deaf Slam“. Die Slams fanden in mehreren Festivalstädten statt, in denen gehörlose sowie hörende Slammer gegeneinander antraten. Der Gehörlosen-Slam soll nun auch auf Magdeburger und Hallenser Bühnen ein Zuhause finden. Das theoretische Gerüst steht bereits, sodass das Konzept nur noch praktisch umgesetzt werden muss. Unterstützung erfährt das Projekt dabei von der Gehörlosen Vereinigung Magdeburg und dem Deutschen Gehörlosen-Bund. Youngspeech 23
Konventionen: Frühzeitig
Wildfang
erkennen und bekämpfen
Wie wird sich die Literatur verändern, wenn unsere Generation zu einem
Jung und wild in der Literatur? Was ist das für dich?
höheren Alter zählt, beispielsweise so um die 50 bis 60 Jahre? Ich habe immer das Gefühl, dass jung und wild so eine Art Oberbegriff, schon fast ein Stigma ist und dass Generationen oftmals versuchen jung,
Ich glaube, wir werden höchstens weiter weg gehen von Tabuthemen,
wild und aufsässig zu sein. Und auch, dass jung und wild immer als ein
von Sex. Es lässt sich ja beobachten: Tabuthemen schlagen in den Best-
alternatives Lebensbild verstanden wird. Das Leben muss anders angegan-
sellerlisten ein. Die Leute denken sich dann: »Literatur kann auch sol-
gen werden, als es die Eltern taten oder wie es die Gesellschaft vorgibt.
che Themen behandeln. Das ist ja interessant und verrückt.« Kann ich meistens nicht nachvollziehen, denn schon in den 60er und 70er Jah-
Was ich in zuletzt in der Literatur als „wirklich“ jung und wild wahrgenommen
ren gab es herausragende Romane, die das Thema Sex krass ausgeleuchtet
habe, war der Bruch in Richtung Popliteratur. Das ist allerdings schon in den
haben. Beispielsweise Ian McEwen, der in „Der Zementgarten“ über Inzest
90ern gewesen und damit ein bisschen länger her. Hier wurde aber umge-
geschrieben hat, oder Philip Roth mit seinem Werk „Portnoys Beschwerden“
setzt, was jung und wild für mich heißt: Nicht einfach blind etwas anders
über abnormale sexuelle Neigungen. So etwas gibt es also schon längst.
machen, UM es anders zu machen. Viel eher finde ich wichtig, seinen eigenen Weg zu finden. Zu sagen: ich kenne die Konventionen und weiß, wie man einen
Auf jeden Fall erscheinen trotzdem ständig „Skandalbücher“, aber irgend-
Roman schreibt, weiß wie Literatur „funktioniert“ und was heute angesagt
wann werden Tabuthemen kein Tabu mehr sein. Eher werden wir irgendwann
ist, aber das ist nicht die Form, in der ich mich ausdrücken möchte.
davon gelangweilt sein, eben weil wir so offen mit so etwas umgehen. Es ist
Ich möchte neue Facetten hinzufügen, die mich reizen und von denen ich
dann alles gesagt und alles gesehen und dann kommt die Rückbesinnung auf
sage, das ist MEINE Form mich auszudrücken. Literatur ist eine Form von
andere Themen. Denke ich.
Kunst und Kunst ist immer ein gewisser Ausdruck des Einzelnen. Das bedeutet „jung und wild“ ist eigentlich alt und eingesessen und nur Charlotte Roche und Feuchtgebiete haben gezeigt, dass man mit
durch die Möglichkeiten der heutigen Medienvielfalt neu in den Fokus
derartiger
gerückt?
Literatur
sehr
populär
werden
kann,
ande-
rerseits aber auch viele Menschen verschreckt. Glaubst du, dass „junge, wilde“ Autoren ganz andere Inhalte über eine ganz
Das würde ich sagen ja. Damals gab es eben ganz andere kulturelle Umstände.
andere Sprache vermitteln und damit klassische Formen von Inhalt und
Die Linien zwischen den Generationen war viel klarer gezogen, es war klar
Sprache verdrängen?
wo die Elterngeneration steht und wo die junge Generation steht. Heute gibt es eine Vielfalt an Subkulturen und Verwirklichungsmöglichkeiten.
Na gut, was heißt klassisch? Schaut man auf die Anfänge der Popliteratur,
Wir haben alle Freiheiten der Welt, sodass wir uns gar nicht auf eine
sieht man ja eine ganz andere sprachliche Herangehensweise. Liest du zum
„Revolution“ einigen und damit eine Massenkraft entwickeln können, die in
Beispiel Benjamin von Stuckrad-Barre, erkennst du, dass das ein ganz
eine bestimmte Richtung geht. Es kommen zwar immer noch Trends auf, aber
neuer Jargon und Wortwitz ist, als bei vorher Dagewesenem.
die werden immer sofort wieder stigmatisiert und dann wird sich schon dar-
Sprache ist generell eine einzige Entwicklung und entwickelt sich gerade
über lustig gemacht. Im Endeffekt ist das alles wahrscheinlich nichts langle-
jetzt durch die Medien ganz enorm. Durch Chatten und SMS unterliegen wir
biges, sondern nur kurze Trends.
einer Verknappung der Sprache und schränken unseren Wortschatz stärker ein, versuchen eine inhaltliche Verknappung zum Beispiel durch Synonyme aufzuwiegen. Da heißt es dann anstatt »geil« eben »dufte«, oder »knorke«. Eine Charlotte Roche überträgt dann in die Literatur genau das, was man auf der Straße oder im Fernsehen eben spricht - wie die Jugend spricht. Ich halte diesen Vorgang für einen Fortschritt und eine Art Spiegelbild der Gesellschaft, wie sie gerade funktioniert. Sprache und Ausdruck sind Teile davon. Bezieht sich auch auf Inhalte: Ich finde ich es nicht schlimm, wenn es in der Literatur dann auch um Dinge geht, die von vielen als Perversion angesehen werden. Wir leben eine enorme sexuelle Freiheit und werden damit ständig in der Gesellschaft konfrontiert. So etwas muss dann selbstverständlich auch thematisiert werden. Ich finde es übrigens Quatsch, wenn Kritiker oder Künstler einen festen Begriff von Kunst und Kultur bilden, der ja um Gottes Willen erhalten bleiben soll. Kunst und Kultur unterliegen einer ständigen Entwicklung. »» Foto: © photopunk.me »» Interview: Robert Meinel
24 Youngspeech
Dominik Grittner ≡ freier Journalist (Youngspeech, Dates, Pressestelle OvGU) ≡ freier Schriftsteller (veröffentlicht Kurzgeschichten) ≡ Blogger bei BetamindMusic ≡ Student der Dramaturgie und Drehbuchschreiben an der Filmhochschule Potsdam/Babelsberg
short
HilDEGaRd »Liebe Kerstin, hier ist Hildegard. Ich würde mich freuen, wenn du dich heute mal melden könntest. Ich weiß weder ein noch aus. Danke.« Nach
dem
Signalton:
Hildegard sieht fast nichts mehr. Sie wurde an den Augen operiert, das half aber nichts. Schon vor zwei Jahren kroch sie auf allen Vieren vor unseren Fernseher, wenn wir Urlaubsvideos schauten. Heute sieht sie nicht einmal mehr das Essen auf ihrem Teller. Es ekelt mich an, wie sie Hähnchenkeulen mit der bloßen Faust zwischen ihre Dritten schiebt. Das Fett läuft an ihrem Handgelenk herunter und tropft auf die Tischdecke. Sie schmatzt, als hätte sie mit ihrem Augenlicht auch sämtliche Manieren verloren. Meine Schwester redet, Hildegard unterbricht sie und spuckt ein paar Fleischkrümel in meine Richtung.
»Ist noch Bier da? Heike, hol mir mal noch eins.« Der Häuptling hat gesprochen. Der bemitleidenswerte, alte, in naher Zukunft verwitwete Häuptling. Und hält dabei eine Kartoffel in der Hand. Meine Mutter steht auf, füllt Krombacher Alkoholfrei* in ein Glas und drückt es Hildegard in die Hand. Die Familie senkt sofort den Blick, doch Hildegard navigiert das Glas unfallfrei zu ihren Lippen. Schwungvoll setzt sie es wieder ab. Meine Schwester setzt erneut zum Sprechen an, kommt aber nicht weit. Hildegard hat sich verschluckt, hustet, die Familie springt auf, haut ihr auf den Rücken und drückt ihr eine Serviette an den Mund. Ich traue mich nicht, ihr eine Postkarte zu schicken. Sie würde damit ewig unter ihrem Lesegerät herumfuchteln, sich ihrer Unselbstständigkeit bewusst und wütend werden. Und dann heulen wie ein kleines Kind. Und meinen Stiefvater, seine Exfrau Kerstin oder meine Mutter anrufen und ihnen erzählen, sie wisse weder ein noch aus. Und das nur, weil ich geschrieben hätte: «Liebe Hildegard. Schöne Grüße
aus Magdeburg. Ich weiß, es ist momentan nicht leicht, aber du schaffst das. Ich hab dich lieb.»
Das würde ich nicht schreiben, es wäre geheuchelt. Aber ich hoffe jeden Tag, dass diese so kalte und verzweifelte Frau endlich den Mut zum Leben findet. Ihr Mann, der 60 Jahre lang sowohl Zepter als auch Portemonnaie in der Hand hielt, liegt im Sterben. Das weiß sie, das weiß ich, jeder weiß es. Wenn er tot ist, wird sie entweder mit dem Leben anfangen oder sich umbringen. Jeder weiß es. Wenn Hildegard also weder ein noch aus weiß, dann ruft sie bei uns an. Kein Hallo, nur eine hohe, zittrige Stimme am anderen Ende der Leitung: »Ist Frank da?« Mein Stiefvater ist da, er ist immer für sie da. Und für seinen Vater, sein großes, schwindendes Vorbild, natürlich auch. Er ist immer da für sie beide und nur noch für sie und das macht ihn kaputt.
«Ach
was, heute war doch eh' kein schönes Wetter. Da kann man mal zuhause bleiben.»
Seine Stimme zittert auch, als er das sagt. Sie klingt dünn. Nach diesen Gesprächen stapft Frank wortlos die Treppe wieder hinauf. Meine Mutter und ich hören das Rauschen des Hometrainers oder Fetzen eines Hörspiels aus dem Schlafzimmer. Und manchmal, wenn wir mit ihm reden wollen, hören wir zittrige, scharfe Sätze, die uns zum Weinen bringen. Nach dem Essen erhebt sich Hildegard und verkündet: »Jetzt geh ich eine rauchen.« Die Familie erhebt sich ebenfalls, eilt durch den Raum und räumt Stühle und Stolperfallen beiseite. Ich muss an Curling denken. Die Oma gleitet in Richtung Balkontür. Auf halber Strecke zündet sie sich mit unfassbarer Präzision eine Kippe an. Draußen wird sie auf einen Plastikstuhl verfrachtet und sitzen gelassen. Die Familie zittert leicht und schweigt. »»Text: Susann Frömmer *Anmerkung des Layouters: Es gibt noch viele andere Sorten alkoholfreien Bieres: Paulaner, Beck's, Jever, Radeberger… Keines davon ist trinkenswert.
Youngspeech 25
Rezensionen
Hesperus Press, 9.90 €, 387 Seiten
Jonas Jonasson The HundredYear-Old Man Who Climbed Out of the Window and Disappeared In einem Altersheim in Malmköping hat sich die halbe Stadt versammelt, um den 100. Geburtstag von Allan Karlsson zu feiern. Der hat aber alles andere als Lust auf die Feierlichkeiten und entschließt sich deshalb kurzerhand aus dem Fenster zu klettern und die Flucht zu ergreifen. Am städtischen Bahnhof angekommen, stiehlt er ausgerechnet den Koffer eines Bandesmitglieds, der Drogengelder in Millionenhöhe beinhaltet. Für den ehemaligen Sprengstoffexperten beginnt damit eine Odyssee durch Schweden, begleitet von einem alternden Kleinkriminellen, einem Würstchenverkäufer und Sonya – einer reizenden Elefantendame. Parallel dazu wird Allans Lebensgeschichte erzählt, die so absurd erscheint, dass sie fast schon Realität sein könnte. Durch eine Verkettung skurriler Zufälle bewegt er sich irgendwo zwischen der versehentlichen Rettung des spanischen Diktators Franco und der Flucht durch China mit Mao Tse Tungs Frau. Jonas Jonasson erzählt hier eine Geschichte, die in jedem Kapitel mit einer neuen absurden Wendung überrascht und die durch makabertrockenen Humor besticht, der nur aus Skandinavien kommen kann. 26 Youngspeech
Rohwolt Verlag, 736 Seiten
Universal Pictures Germany, 2012 (98 Minuten)
Jonathan Franzen Freiheit
American Mary (DVD)
Aufstreben, jung und wild sein – eng damit verknüpft ist der Begriff von Freiheit. Und nirgends scheint die individuelle Erfüllung von Freiheit so leicht umsetzbar, wie heute in der westlichen Welt.
Legal, illegal, egal: Um ihr Medizinstudium nicht an den Nagel hängen zu müssen, sucht Mary nach dem schnellen Geld. Sie versucht sich erst als Stripperin, bekommt dann aber das Angebot, einen Body-Modification-Eingriff durchzuführen. Schon bald häufen sich die Aufträge. Die angehende Chirurgin baut sich einen Ruf auf, entfernt und verändert auf Wunsch ihrer Patienten deren Körperteile im Keller des Strip Clubs. Allerdings nutzt sie ihre Machtposition im Untergrund auch, um sich an ihrem ehemaligen Professor zu rächen – und bringt damit nicht nur die Polizei auf ihre Spur.
Hier setzt Jonathan Franzen an: Die Generationen übergreifende Handlung seines Romans erzählt die Geschichte der Berglunds. Frau Patty lebt ein Musterleben: Früh geheiratet, einen intelligenten Sohn, großes Haus im ruhigen Vorort. Sie hat alles richtig gemacht, sagt sie an einer Stelle. Aber sie ist unglücklich. Sie trauert verpassten Chancen in ihrem Leben hinterher, beginnt eine Affäre mit dem besten Freund ihres Mannes und fällt anschließend in eine Depression. Franzen nutzt ein langes, ausschweifendes Erzählen um innere Konflikte seiner Vorzeigefamilie aufzuzeigen – und bringt damit einen Zeitgeist auf den Punkt. Vielleicht sehnen wir uns ja doch nach Leitfäden, den die Generationen vor den Eltern unserer Eltern folgen konnten. Denn wenn wir absolute Freiheit haben, alles zu tun, wissen wir womöglich nicht, wo wir anfangen sollen.
Aus dem finanziellen Problem vieler Studenten erschaffen die kanadischen Soska-Schwestern die bizarre, aber originelle Horrorstory um Mary. Dabei betrachten sie das Thema BodyModification allerdings recht einseitig. Außerdem gibt es einige Logiklöcher in der Handlung. Hygiene im OP wird offensichtlich klein geschrieben: Mary läuft einen Großteil des Films leicht bekleidet herum. Wer auf knappe Klamotten, einen hohen Ekelfaktor und spritzendes Blut steht, wird aber auf seine Kosten kommen.
»»Texte (v.l.n.r.): Julia Baron, Dominik Grittner, Sarah Düvel
Betamind Queens of the Stoneage – …Like Clockwork
(StonerRock)
Musiktipp Matador Records
Blutig-verstörende Videos auf ihrer Homepage, Songintros mit Horror-Geräuschen - das untermauert den Sound der Queens of the Stone Age im Jahre 2013 perfekt. Ob nun der verschrobene Opener Keep your Eyes Peeled oder dem Poprock-Art-Stück Kalopsia. Sechs Jahre mussten die Fans auf Like Clockwork warten. Dabei offenbart das Album weniger Überraschungen, sondern eine konsequente Weiterentwicklung, die mit Lullabies to Paralyze ihren Anfang nahm: krude Synthies, psychedelische Gitarrensounds, hallender Josh-Homme-Gesang. Die Stonerrock-Tage ihres hitlastigen Meisterwerks Songs for the Deaf liegen weit zurück - und heraus kommt nun das zweitbeste Album ihrer Karriere.
Depeche Mode – Delta Machine
(SynthieRock/Pop)
Sony Music
Dave Gahan und Martin Gore bleiben sich ihrem Stil von Playing the Angels und Sounds of the Universe treu. Trotzdem klingt Delta Machine rauer und düsterer als die Vorgänger. Sehr stark fallen die Jazz Einflüsse auf, wie bei Slow. Bei dem Song fühlt man sich in eine rauchige Musikkneipe versetzt, wo die Herren für eine Handvoll Leute spielen. Aber dieses neue Gewand steht den nun schon seit 33 Jahren aktiven Musikern, ungemein und wirkt zu keiner Sekunde aufgesetzt. Depeche Mode sind mit der Zeit gegangen. Eines ihrer Markenzeichen sind Songs, die für die großen Bühnen dieser Welt geschrieben wurden, so auch Welcome to my World und Soothe my Soul. Alles in allem ein ruhiges aber trotzdem sehr starkes und auf angenehme Art verstörendes Album.
Parov Stelar– The Invisible Girl
(ElectroSwing)
Daily Records
Der Großmeister des Electro-Swing produziert für gewöhnlich im Alleingang seine jazzig-tanzbaren Electro-Songs oder holt sich verschiedene Künstler für Aufnahmen mit ins Boot. Vorzugsweise seine Frau und Sängerin Lilja Bloom. Parov Stelar ist zwar DJ, steht aber mit einer ganzen Band auf der Bühne und performed die Jazz Samples live. Für sein neues Album hat er sich nun mit zwei seiner Bandmusiker zusammengetan. Jerry De Monza an der Trompete und Max-the-Sax am Saxofon. Unter dem Namen Parov Stelar Trio erschien nun die Platte The Invisible Girl. Das Vorgängeralbum The Princess war geprägt von teils jazzigen Gesangsstücken, teils elektronischer Swing-Musik. Beim Unsichtbaren Mädchen wird auf Gesang verzichtet und es sticht stark der Jazz-Einfluss durch die beiden Bläser heraus. Auch hat die Platte erstmals eine smoothe Grundstimmung, anstatt der gesamten Jazz-Bandbreite. The Invisible Girl ist mit neun Tracks eher eine größere EP, man kann es aber auch als Nebenprojekt sehen.
Daft Punk - Random Access Memories
(FrenchHouse, ElectroFunk)
Sony Music
Bring me the Horizon – Sempiternal
(MelodicMetalCore)
»» Text: Philipp Kloss, Dominik Grittner
Vor dem neuen Album des French-House-Duos steht die Musikwelt wie die Kuh vorm Tor. Man fragt sich, ob es überhaupt die Musik von Daft Punk ist oder die der Kollaboranten. Namenhafte Gäste haben sie mit in ihr Raumschiff geholt. Den Sänger von The Strokes, Pharrell oder Giorgio Moroder aber auch viele kleinere Musiker. Unüberhörbar ist der Sound des 80er Disco-Funk versehen in einem modernen Gewand um Daft Punks Produktion. Aber die Frage bleibt: Ist das Album ein verkanntes Funk-Revival-Goldstück? Oder Next-Generation-Shit? Das darf diesmal dann wirklich jeder selbst entscheiden.
Sony Music
Die Metalcore/HC-Band aus England schließen sich dem Trend ihrer Kollegen von Parkway Drive oder Architects an und wenden sich immer mehr dem Melodi-Core/Melodic-Metalcore zu. Das macht ihre Musik nicht nur interessanter, sondern auch stilistisch, durch Einflüsse von Synthie-Sounds, Streichern oder Gang-Shouts, umfangreicher. Die Songs wirken klarer strukturiert und Sänger Oli Skyes ersetzt sein typisches Geschrei durch verständlicheren Gesang. Trotzdem bleibt es eine deftige, knüppelharte Hardcore-Platte, die zwischen dem blanken Metalgeschrammel manch anderer eine herrliche Abwechslung ist. Das Album kickt von Anfang an und am Ende erscheint Sempiternal mehr wie ein großes Gesamtwerk, als eine elf-Track-Konstellation. Youngspeech 27
Kolumne
DER DAS
WAGNER WASSER
UND »»Text: Valerie Schönian »»Foto: Privat
Das Elbehochwasser hat ganz Deutschland beschäftigt – für ausgerissene Magdeburger nur über die Medien zu beobachten. Valerie Schönian hatte von Berlin aus ein Auge auf ihre Heimatstadt. Einer der Vorteile an Berlin ist: Vom Hochwasser blieb es verschont. Keine Sandsäcke, keine Sirenen, keine Evakuierungen. Dabei liegt Berlin zum Teil näher am Meeresspiegel als Magdeburg. Außerdem fließt durch Magdeburg gerade einmal die Elbe, während sich in Berlin Spree, Havel und andere Bäche tummeln. Eigentlich ungerecht.
All diese Elbstadt-Entfernten werden unsere Hubbrücke wohl nicht kennen, die endlich wieder des nachts mit ihrem leuchtenden tiefsinnig-philosophischen Spruch beglückt: „Von so weit her bis hier hin". Spiegeln sich die Letter im sieben Meter hohen, dunklen Elbwasser, bekommt das Ganze einen völlig anderen Tiefsinn. Vor allem für den Magdeburger, der die Rückseite kennt: „Von hier aus noch viel weiter“. Na hoffentlich nicht! Damit es eben nicht noch „viel weiter geht“ mit dem Hochwasser, packten hunderte Menschen mit an. Die Volksstimme fasste zusammen: „Tausende junge Helfer schippen mit.“ Womit wir beim Thema wären. Wann ist man eigentlich jung? „Jung“ sagt nicht nur etwas über das Geburtsdatum aus. In dem Wort „jung“ schwingt das Potenzial mit, etwas bewegen zu können. Die Menschen in Griechenland, die auf die Straße gehen und keine Arbeit finden, sind jung. Die Demonstranten, die in Frankfurt gegen das Finanzsystem protestieren auch. Und eben die Magdeburger, die ihre Stadt nicht untergehen lassen wollen.
Das Einzige, woran die (mittlerweile zweite) Jahrhundertflut in Berlin spürbar wurde, war die blau-weiß blinkende Zuganzeige im Bahnhof, die einem verriet, dass man an diesem Tag nicht pünktlich zur Arbeit kommen würde (auch hier ist Berlin wieder Trendsetter – für Mainz): „Verspätungen und Ausfälle aufgrund des Elbehochwassers.“ Ach, und dann waren da noch die Absagen für die wohnungsinterne Party am Wochenende von Freunden aus der Elbstadt: „Meiner Oma säuft der Keller ab.“ Es ist seltsam, wenn die Heimatstadt absäuft und man selbst verfolgt das Ganze nur durch die monotone Stimme des ARD-Sprechers, der selbst wahrscheinlich noch nie einen Fuß auf die Elbtreppen gesetzt hat. Er kennt sie bestimmt nicht einmal, wie soll er auch, wenn sie unter Wasser stehen. „Kritische Lage in der Landeshauptstadt Magdeburg“, titelte die Tagesschau – damit auch ja alle, denen der Stadtname nichts sagt, wissen: Das ist berichtenswert! 28 Youngspeech
Von Berlin aus an dieser Stelle ein aufrichtiges: Wow. Natürlich nicht nur an die Jungen – sondern an die ganze Stadt, die mit ihrer Gruppendynamik und ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl, auch über Sachsen-Anhalt hinaus, imponierte. Sogar das Satire-Magazin „Titanic“ griff die Menschenketten an der Elbe auf. Mit einem Bild von schleppenden Helfern titelte es bissig: „Vollbeschäftigung in Ostdeutschland“.Öffentliche Medien, lokale Medien und Satiremagazine haben sich also mit Magdeburg beschäftigt. Da fehlt doch eigentlich nur noch die boulevardeske Presse, an der das Hochwasser natürlich auch nicht vorbei ging. So widmete Franz Josef Wagner, Chefkolumnist der Bildzeitung, einen seiner Artikel meiner lieben Heimatstadt: „Liebe Magdeburger, wir hatten hier in Berlin ein wunderbares Wochenende.“ Aha, denkt ihr? Keine Sorge, es wird noch genauer: „Die Straßencafés waren voll. Passantinnen, jung, blond, schlank wie Gerten, defilierten vorbei. In winzigen Röckchen, als würden sie Muscheln suchen.“ Nein, ich habe mir das nicht ausgedacht. Während Wagner am Kurfürstendamm Espresso schlürft, treibt ihn laut eigener Aussage eine Frage um: „Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich Espresso trinke, während andere Menschen um ihr Leben kämpfen?“ So plagt sich jeder mit den großen Fragen seines Lebens – oder seinen ganz eigenen Katastrophen. Berlin blieb von Wassermassen zum Glück verschont, nicht aber von Franz Josef Wagner.
Kolumne
DER SCHMETTERLINGSSCHLAG DER ERDE Schreib über die jungen Wilden, hatte mein Chefredakteur gesagt. Mein erster Gedanke dazu: Jung und wild ist wie Siegfried und Roy, wie Beyoncé und Jay-Z, wie Pommes rot-weiß. Es gehört einfach zusammen, ist Ying und ist Yang. Und ich bin weder das Eine noch das Andere, so viel steht fest. Aber ich kann mich noch gut dran erinnern, an die paar Jahre Unsterblichkeit, die oftmals so hart gelebt wurden, dass sie wie im Rausch vergangen sind. Aber war das wirklich jung und wild, oder einfach nur die Tatsache, neu auf der Welt zu sein und noch nicht zu wissen, wie der Hase wirklich läuft? Vielleicht ist es aber auch genau das Gefühl, sich überwiegend so zu fühlen, wie die Titanic vor ihrer Jungfernfahrt: unkaputtbar, unzerstörbar, ein Prototyp, auf den die Welt nur gewartet hat.
Man ging ohne Schal aus dem Haus, weil man noch keine Angst vor einer Erkältung hatte und abends ist man lange feiern gegangen und hat sich nicht ab 20.00 Uhr vor einem Fernseher versteckt, nur weil man am nächsten Tag früh raus muss. Das ist die Zeit des Erwachsenwerdens. Man bekommt zunehmend eine Ahnung davon, wer man ist. Was noch lange nicht heißt, dass man weiß, was man damit anstellen soll.
Gäbe es eine Zeit für die jungen Wilden, wäre es wohl die blaue Stunde, das Zwielicht, bevor der Tag anbricht oder die Nacht. Noch nicht angekommen sein, noch auf der Reise, noch ein Passagier, der die Erde erheblich mitdreht, denn seine Energie ist purer Antrieb, ist ein Schmetterlingsschlag der Erde. Ein bisschen naiv und unbeholfen, aber durchaus mächtig.
Denn auch wenn man beginnt die Welt zu kapieren, ist man noch nicht desillusioniert von den vielen Ungerechtigkeiten, die man später vielleicht mit der Floskel abtut „Die Welt ist eben ungerecht. So war es und wird es immer sein“. Man trägt (noch) diesen Funken Hoffnung in sich, dass man die Welt verändern kann und hält sich für die Ewigkeit. Es gibt noch nicht so viele No Go’s und man macht sich keine Platte über die Konsequenzen von ungeschütztem Sex, Pizza mit Formkäse und erhöhte Cholesterinwerte. Warum auch? Man geht lieber Blut spenden, um 20 Euro zu bekommen, weil es immer knapp ist, das Geld. Aber das macht nichts, weil einem eh die Welt gehört. Denn man ist die neueste und beste Ressource, die die Erde zu bieten hat.
Ein frischer Blick auf die Welt, den man einfrieren, konservieren möchte... Es gehört nämlich viel mehr dazu jung und wild zu sein, als sich tätowieren zu lassen oder Drogen zu nehmen. Es ist eher die Perspektive – die Perspektive einer kleinen, aber feinen Generation, die einen Blick auf die Welt zu haben scheint, der offenbar ehrlicher und freimütiger ist. Wo es noch echt ist, wenn die Band „Kraftklub“ singt „Ich will nicht nach Berlin“ und ich kurzzeitig wieder das Gefühl hat, einer Jugendbewegung anzugehören, wie damals, als unser „Kraftklub“ noch „Tocotronic“ hieß und jemand über uns sagte, dass wir jung und wild seien. »»Text: Angela Peltner »»Foto: Neo Sanchez Youngspeech 29
*Nich' nur‌
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Outro
One last thing…
Gibt es sie eigentlich noch, die Jungen Wilden?
Etwa in Afrika, wo bereits die debilen Botschafterinnen dieser Konglomerate am Werk sind, allein mit ihrer überflüssigen
Vielleicht in regelmäßigen Abständen beim Fußball, wenn
Anwesenheit die Gehirne der dort lebenden indigenen
es einer Mannschaft gelingt einen erfolgreichen Umbruch
Bevölkerung in etwas zu verwandeln, das in Sachen Kon-
in der Altersstruktur zu vollbringen und das Publikum die
sistenz und geistiger Leistungsfähigkeit stark an Butter-
neuen jungen Wilden feiert. Diese mischen dann die Liga
milch erinnert. Und verdammt, es funktioniert! Immerhin
auf, um nach der Saison wieder an alle Herren Länder
wurde dieses Vorgehen jahrelang mit durchschlagendem
für wahnwitzige Millionenbeträge, die jeglichen
Erfolg an der eigenen Bevölkerung getestet. Während das bei uns allerdings ein schleichender Pro-
Missständen auf unserem Globus spotten,
zess war, in dem Tiefpunkte stets neu
verkauft zu werden, um ein Leben in Saus und Braus zu führen. Mit
definiert werden mussten und wir die
fetten Karren und Kokshuren.
Möglichkeit hatten uns dem sinken-
Na klar, warum nicht. Das lässt
den Niveau entsprechend anzupas-
sich selbstverständlich auf viele
sen, werden diese armen Teufel in
Bereiche in Kunst, Kultur, Sport
Afrika ohne Vorwarnung mit diesem
und so weiter projizieren. Nur in
Horror konfrontiert. Zack… Voll in die
Sachen Politik und Gesellschaft
Fresse! Keiner kann einschätzen, wel-
wird es in letzter Zeit immer schwieriger.
che schrecklichen Konse-
Besonders bei uns - in einem Staat, in
quenzen das nach sich
dem, gemessen an den prekären Situati-
ziehen wird. Masai Diaries?
onen in anderen Ländern, beispielsweise
Timbuktu Tag und Nacht?
denen rund um das Mittelmeer, doch
Dschibuti sucht den Super-
alles recht bequem zu sein scheint. Keine
star? Der reinste Wahnsinn. Hier
einfachen Zeiten für potentielle Junge
sehen wir Chancen für ambitio-
Wilde. Spricht man ihnen doch einen gewis-
nierte Junge Wilde, neue Wege
sen revolutionären Geist zu, wenigstens
zu gehen. Dieser ganze Quatsch mit der Atomkraft, den Waffen-
für unser Verständnis.
exporten und der miserablen Tierhaltung… Das ist doch
Die Ruhe könnte jedoch bald ein jähes Ende nehmen. Denn es halten sich hartnäckige Gerüchte, nach denen
alles durchgenudelt und tot-
Mia
protestiert, darum scheren sich
rücksichtslose Medienkonglomerate planen, das Regierungsgeschäft an sich zu reißen. Hinweise darauflassen sich verstreut über den gesamten Erdball finden.
doch nur Nachwuchs-Hippies. Warum nicht mal Hundekacke in eine Papiertüte stecken, anzünden und vor dem Eingang von R*L deponieren?
Vielen Dank fürs Lesen und bis zur nächsten Ausgabe.
32 Youngspeech
Was für ein Spaß!
» Christian Geipel