WELTKUNST Flandern

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Eine Sonderveröffentlichung des ZEIT Weltkunstverlags

Visionär der Moderne Wie Flandern 2024 den Maler James Ensor feiert Februar 2024


JAMES ENSOR Für einen exzentrischen Sonderling, der sich früh der avantgardistischen Vereinnahmung entzog und unbeirrbar seine fratzenhaften Masken und Skelette, aber auch kuriose Stillleben malte, hat James Ensor (1860-1949) in den vergangenen Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebt. Große Ausstellungen, etwa in Paris oder New York, würdigten sein Schaffen und reihten ihn ein unter die Künstlerheroen des 20. Jahrhunderts. Seine Widersprüchlichkeit und Unfassbarkeit, sein schonungsloser und prophetischer Blick auf die Gesellschaft machen ihn einzigartig und interessant. Geradezu postmodern bediente er sich virtuos verschiedener Stile bis hin zur Karikatur und ahnte zugleich den Massenwahn seiner Epoche voraus.

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COVER: KMSKA/Hugo Maertens; Bild links: Mu.ZEE/Fonds Xavier Tricot; Bild rechts: Toerisme Oostende, Westtoer; Visit Antwerp

Flandern feiert 2024 das Ensor-Jahr Mit vielfältigen, über das ganze Jahr verteilten Ausstellungen begehen Oostende, Antwerpen und Brüssel den 75. Todestag von James Ensor. Sie präsentieren den großen belgischen Avantgardisten nicht nur als bekannten »Maler der Masken«, sondern in seiner ganzen schöpferischen Bandbreite, die spannende Anknüpfungspunkte bis in die Gegenwart bietet. Amsterdam

NORDSEE

ANTWERPEN

OOSTENDE

FLANDERN

GENT

Köln BRÜSSEL

Paris

OOSTENDE ist die Stadt, in der James Ensor lebte und arbeitete. Bewusst entschied er sich schon früh gegen die Verlockungen der Großstadt und hielt seinen Radius klein. Mit dem Ensorhaus und dem Kunstmuseum Mu.ZEE verfügt die Stadt an der Nordsee heute über zwei Orte, an denen sein Vermächtnis lebendig gehalten wird.

ANTWERPEN ist die Stadt, in der Ensor auf wohlhabende Liebhaber und offene Kuratoren traf. Ihnen ist es zu verdanken, dass das KMSKA heute die größte Ensor-Sammlung der Welt beherbergt. Aber auch für hippe Mode und Architektur (o. das Hafenhaus) ist die Stadt an der Schelde berühmt.

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Oostende

HEIMATSTADT AM MEER

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Wer Ensor besuchen wollte, musste zu ihm nach Oostende kommen. Seinem Geburtsort hielt er lebenslang die Treue, heute sind dort seine Spuren und Werke vielfältig präsent

Bild links: Museum voor Schone Kunsten Gent/Art in Flanders/Dominique Provost; Bilder rechts: Musée des Beaux-Arts, La Boverie, Luik/Gérald Micheels; Mu.ZEE/Hugo Maertens

Text Matthias Ehlert

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schmale Haus in der Vlanderenstraat erhalten, in dem James Ensor seit 1917 lebte und das nun ein Museum ist. Nur wenige Schritte von der Strandpromenade entfernt, taucht man dort ein in Ensors Welt. Wie in einer Zeitkapsel versammeln sich im Erdgeschoss die damals hier von seiner Familie verkauften Andenken: Segelschiffsmodelle, Muscheln, Chinoiserien und anderer Nippes, aber auch die zur Karnevalszeit beliebten Kostüme und Masken. Das gleicht einem Fundus der bekanntesten Motive des Malers und Ensor schien sich dessen bewusst zu sein: Er ließ den Laden zu seinen Lebzeiten unverändert. Im blauen Salon, ein Stockwerk über dem Geschäft, arbeitete der Künstler und empfing seine Gäste. Schwere Möbel und Teppiche, gemusterte Tapeten, darauf große und kleine Bilder, dazwischen Masken, chinesische Vasen und natürlich das Harmonium entfalten eine überbordende visuelle Fülle aus Formen, Farben und Ornamenten, die selbst wie ein dreidimensionales Ensor-Werk wirkt.

Verreist ist er nicht gern. Wann immer ihm ein Ortswechsel schmackhaft gemacht werden sollte, fand James Ensor schnell allerlei Gründe, die dagegensprachen. Am wohlsten fühlte er sich in seiner Heimatstadt Oostende, wo er 1860 geboren wurde und 1949 verstarb. Da er zudem ein eingefleischter Junggeselle war, der jahrzehntelang über dem Kuriositätenladen seines Onkels wohnte, hatte der Maler bald den Ruf eines sich verschanzenden Sonderlings weg. Seine eigenwilligen Bilder, die sich nur schwer in künstlerische Schubladen pressen lassen, festigten diesen Ruf. Wer Ensor treffen wollte (und das waren nicht wenige Künstler und Literaten ab den 1920er Jahren), musste zu ihm nach Oostende kommen. Doch bevor dort über Kunst gesprochen werden durfte, bekamen die Besucher erst einmal die Kompositionen des Hausherrn auf dem Harmonium zu hören. Ensor war es sehr wichtig, dass man ihn auch als Musiker ernst nahm. Auch heute nähert man sich diesem schrulligen Künstler am besten mit einem Besuch in seiner Heimatstadt. Oostende liegt an der Küste Westflanderns und verfügt als Naturgeschenk über einen endlos langen Strand. Der hatte erheblichen Anteil daran, dass der kleine Hafenort im 19. Jahrhundert zum mondänen Seebad aufstieg. Vom einstigen Glanz ist manches noch heute spürbar, vieles fiel allerdings dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Zum Glück blieb das

Das »Selbstporträt mit Blumenhut« o. re. von 1883 lässt Selbstironie und Rubens-Einflüsse erkennen. Oben li. die 1936 gemalten »Schelpen (Coquillages)«, ein Spätwerk als Hommage an Farbe und Licht. Li. Seite: »Die Badenden« von 1890, ein Wimmelbild, zu dem ihn Wandkritzeleien und Karikaturen inspirierten.

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OOSTENDE

Von seinem Atelier aus hielt James Ensor 1901 »Die Dächer von Oostende« fest. Die »Badehütte am Strand« malte er 1876 im Alter von 16 Jahren, neben dem malerischen Talent frappiert die Stimmung von Leere und Einsamkeit, der man später bei Edward Hopper wiederbegegnet. Rechte Seite: die »Chinoiserien« von 1907, eines der vielen Stilleben, die Ensor geschaffen hat.

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Lange Zeit war dieses schmale Haus, in das kaum zwanzig Leute passen, die einzige Erinnerungsstätte an den Maler in Oostende. Doch seit vier Jahren wird es durch ein benachbartes Erinnerungszentrum ergänzt, das im ehemaligen Hotel Providence Regina seinen Platz gefunden hat. Die Enge des eigentlichen Ensor-Hauses ist in den großzügigen, mit viel Geschick gestalteten Ausstellungsräumen schnell vergessen. Geradezu spielerisch wird man hier durch seine Lebensstationen geführt. Man erfährt, wie sehr ihn seine unmittelbare Umgebung prägte, ermittelt per Knopfdruck, wo überall auf der Welt seine Werke verstreut sind, oder wird informiert, welche Künstler besonders stark von ihm beeinflusst wurden. Im Entree sticht ein Bilderpaar ins Auge, ein Ensor und eine zeitgenössische Huldigung an ihn. Als Replika ist eines der berühm-

testen Bilder des Malers zu sehen, es zeigt den Strand von Oostende. Gesittet geht es da nicht gerade zu, je genauer man hinschaut, umso frivoler wird es: Umkleidekabinen dienen der käuflichen Liebe, ein Spanner zückt sein Fernrohr, zwei Männer tauschen einen Zungenkuss. Die Triebe siegen über die bürgerliche Fassade, der Mensch wird zur Karikatur seiner hehren Ideale. Das provokante Wimmelbild von 1890 hat der belgische Fotograf Athos Burez 2020 von Bewohnern der Stadt nachstellen lassen – ein hübscher Einfall, der den lässigen Umgang der Flamen mit ihrem jüngsten Kunstheiligen illustriert. Ensor steht hier nicht auf einen Sockel, sondern wird für seine Kreativität, Exzentrik und seinen manchmal etwas derben Humor geliebt. Was am jungen Ensor der 1880er und 1890er Jahre so fasziniert, ist neben seinem malerischen Können sein künstlerischer Wagemut.

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Er stößt dabei in Bereiche vor, aus denen später ganze Kunstströmungen hervorgehen. Während ein Seestück noch impressionistisch flimmert, experimentieren Stadtansichten schon mit den Möglichkeiten des Expressionismus und der Abstraktion. Das Wimmelbild der Badenden nimmt den Verismus der 1920er Jahre vorweg, ein einsamer Badewagen am Strand die Stimmung bei Edward-Hopper. Prägnant zeigt sich diese Innovationskraft auch in der aktuellen Ausstellung des »Kunstmuseum aan Zee«, kurz Mu.ZEE. Unter dem Titel »Rose, Rose, Rose à mes yeux« nimmt sie das Genre des Stilllebens bei Ensor und anderen belgischen Malern seiner Epoche in den Fokus. Da das Mu.ZEE über viele Werke des Künstlers verfügt, kann es mit mehr als 50 Ensor-Bildern aus dem Vollen schöpfen. James Ensor, den man oft auf den »Maler der Masken« reduziert, hat im Laufe seines Lebens hunderte Stillleben geschaffen und dabei das Genre radikal verändert. Es war in der bürgerlichen Salonkultur Ende des 19. Jahrhunderts immer noch sehr populär, jedoch künstlerisch erschlafft. Die aus dem Dunklen hervorleuchtenden Arrangements von Blumen, Obst, Vögeln, Wild und Krustentieren, aber auch Schmuck und kunstgewerblichen Objekten, hatten ihren ursprünglichen metaphorischen Gehalt verloren. Sie dienten nun rein dekorativen Zwecken, vor allem der Illustration des eigenen Wohlstands. Auch Ensor folgte zunächst den akademischen Regeln dieses Genres, setzte sie aber schon bald außer Kraft. Seine Palette hellte sich auf, die Farben wurden greller, die Objekte kurioser. Ein mit Zweideutigkeiten spielendes »Theater der Dinge« trat an die Stelle des Immergleichen. So verwandelt sich bei ihm ein auf einen Holzstock aufgespießter Rochen in eine märchenhafte Maske, während der gleiche Rochen im Zusammenspiel mit der rosa schimmernden Öffnung einer Muschel sexuelle Fantasien freisetzt. Dabei fällt auch hier Ensors visionäre stilistische Vielfalt ins Auge, die zwischen einem sich gerade etablierenden Symbolismus

und einem vorweggenommenen Surrealismus changiert. All das und sein traumwandlerisch virtuoser Umgang mit Licht und Farbe machen ihn zum Avantgardisten, ohne dass er sich mit Haut und Haar einer der künstlerisch vorpreschenden Bewegungen verschreiben musste. Wie einzigartig er war, erschließt sich im direkten Vergleich mit den anderen in Oostende gezeigten Malern. Der opulente Bilderreigen mit Werken u.a. von Hubert Bellis, Léon Spilliaert und Rik Wouters, aber auch zu Unrecht vergessenen Malerinnen wie Berthe Art, Anna Boch und Louise de Hem, ist dank der traditionell grundierten handwerklichen Könnerschaft ein pralles Sehvergnügen, lässt aber nur gelegentlich Individualität und Experimentierlust hervorblitzen. Erst am Ende der Ausstellung setzen zwei Stillleben von Magritte einen Ensor ebenbürtigen Schlusspunkt, der das Genre mehr oder weniger zum Implodieren bringt. Neben diesem Blockbuster bietet Oostende 2024 noch viel mehr, ja stellt sogar ein neunmonatiges Stadtfestival auf die Beine, das weitere interessante Ausstellungen umrahmt. Ab 21. April werden im Ensor-Haus die Selbstporträts des Malers gezeigt. Sie spielen in seinem Werk eine wichtige Rolle: Ob mit Blumenhut oder als Knochenmann im himmelblauen Anzug - Ensor präsentierte sich auf ganz unterschiedliche Weise und reflektierte dabei seine innere Befindlichkeit. Im Herbst folgt dort eine Ausstellung über »Satire, Parodie, Pastiche« bei Ensor. In den Venezianischen Galerien geht es ab Ende Juni um sein Verhältnis zur Stadt. Dort wird auch endgültig sein Eremiten-Mythos abgeräumt, denn am Stadtleben Oostendes beteiligte sich der Maler durchaus aktiv. Und im Fort Napoleon, das sich mit seinen Kinderausstellungen einen guten Ruf erarbeitet hat, wird eine interaktive Suchtour für die ganze Familie angeboten, der ein Kinderbuch über Ensor zugrunde liegt. Lauter gute Gründe also für einen Ausflug an die belgische Nordsee, um das Leben und die Werke eines ungewöhnlichen Künstlers kennenzulernen. ×

AUF DEN SPUREN ENSORS OOSTENDE ist eine Stadt, die sich kontinuierlich neu erfindet. Aus dem beschaulichen Hafenort wurde im 19. Jahrhundert die Königin der Seebäder, bevor die Zerstörungen des Krieges einen baulichen Neuanfang erzwangen, der sich bis heute fortsetzt. Nur der breite, kilometerlange Strand blieb immer gleich. Eine gute Gelegenheit

die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten zu erkunden bieten die Ostend City Walks, die man als Apps herunterladen kann. Diese Stadtrundgänge sind thematisch konzipiert, vom maritimen Spaziergang bis zum Street-Art-Parcours. Ein frisch gestalteter Rundgang verknüpft alle Ort, die für das Leben und Schaffen James

Ensors wichtig waren. Die Tour beginnt am Ensor-Haus (u. li. die Prunkfassade des früheren Hotels, u. re. der blaue Salon) und hat insgesamt 13 Stationen. Für jede wurde spezielles Audio- und Bildmaterial zusammengestellt, so dass man dem Künstler selbst dabei zuhören kann, wie er von seiner Stadt und ihrer Geschichte erzählt.

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Bilder vorige Doppelseite: Mu.ZEE/Adri Verburg; KMSKA/Rik Klein Gotink; Museum Dhondt-Dhaenens/Cedric Verhelst; Bilder links: Toerisme Oostende/James Ensorhuis/Nick Decombel; Bild rechts: KMSKA/Rik Klein Gotink

OOSTENDE


Antwerpen

MUSEUMSSTADT AN DER SCHELDE

Ensors »Austernesserin« löste 1882 Kopfschütteln aus. Wie konnte man ein so unbedeutendes Sujet so groß darstellen? Das Bild ist zugleich das erste impressionistische Gemälde Belgiens.


ANT WERPEN

Für die künstlerische Anerkennung Ensors spielte Antwerpen eine große Rolle. Hier saßen seine wichtigsten Sammler und legten das Fundament für die heute reichen Bestände des KMSKA Text Matthias Ehlert

Das gutgekleidete »Malende Skelett«, das hier an der Staffelei steht, ist James Ensor persönlich. Grundlage für das makabre Selbstbildnis war ein Foto.

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Bild links: KMSKA/Rik Klein Gotink; Bild rechts und nächste Doppelseite: KMSKA/Hugo Maertens; Bild S. 13: KMSKA/Karin Borghouts

Absolut modern erscheint in Ensors Gemälde »Maskerade« von 1888 die Auflösung des Sujets in Farbe und Licht.

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Es ist vielleicht das unheimlichste Hochzeitsbild der Kunstgeschichte. Ein Brautpaar, bedrängt von seltsamen Gestalten, entsprungen wie aus einem wüsten Traum. Aufgesetzt wirkt die Fröhlichkeit in ihren Gesichtern, so wie die Masken, die sie alle tragen. Eine Hochzeit ist ein Fest der Liebe und Treue, hier aber hat sie von Anfang an morbide Züge. Diese Ehe steht unter keinem glücklichen Stern. James Ensor malte »Die Intrige« wahrscheinlich im Jahr 1890, heute hängt sie zentral in einem der Ensor-Säle des KMSKA, des Königlichen Museums der Schönen Künste Antwerpen. Das Bild gehört zu den Highlights der Sammlung und übt noch immer eine seltsame Faszination aus. Man fühlt sich zugleich angezogen und abgestoßen, will den Geheimnissen dieser bizarren Gruppe auf die Spur kommen. Kunsthistoriker vermuten, dass Ensor hier die früh gescheiterte Ehe seiner Schwester Mitche mit einem chinesischen Geschäftsmann verarbeitete. Ist das der Grund, warum der Bräutigam eine Schweinemaske trägt und die Braut so naiv die Augen verdreht? Die Idee mit den Masken war Ensors Eintrittsbillett in den Kunstolymp. Inzwischen weiß man, wie viele andere Aspekte sein Werk noch bereithält, doch stets wird er der Maskenmaler bleiben.

Kein Künstler hat mehr gemalte, gezeichnete oder radierte Masken hinterlassen. Inspiriert vom Karnevalstreiben in seiner Heimatstadt Oostende entdeckte er sie früh als Motiv. Ihm gefiel ihre Ausdrucksfähigkeit und Vielfarbigkeit, er schätzte sie als Mittel der Distanz und Deutung. Die bürgerliche Gesellschaft war für Ensor reiner Mummenschanz, in dem der Schein das Sein verbarg. In seinen Bildern dreht er diesen Spieß um: Hier entlarven die Masken ihre Träger, sie zeigen ihr wahres Gesicht. Indem sie alles Scheinheilige, Bösartige, Hintertriebene demaskieren, üben sie Gesellschaftskritik. Masken begegnen einem auch auf den anderen 38 Ensor-Gemälden im KMSKA, aber es sind weniger, als man erwarten würde. Der hier versammelte, weltweit größte Bestand an Ensor-Bildern, den Kurator Herwig Todts eine »Goldgrube« nennt, erlaubt es den »ganzen Ensor« in den Blick zu nehmen. Das beginnt mit den noch sehr bräunlich gehaltenen Salonbildern ab 1880, die mit atmosphärischen Seestücken korrespondieren. Aus beidem entwickelt sich dann, ähnlich wie bei Van Gogh, innerhalb weniger Jahre eine ganz eigene Bildsprache bei Ensor, die viel freier mit Licht, Farbe und Form umgeht und sich oft um des Künstlers eigene Befindlichkeit dreht. Die Ab-

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Eines der im KMSKA ausgestellten Meisterwerke von Ensor ist »Die Intrige« aus dem Jahr 1890, die auf eine biografische Begebenheit anspielt.

lehnung, auf die er als Künstler stößt, führt zu einer Volte ins spöttisch Verzerrte bei den menschlichen Figuren, dafür leuchten die toten Gegenstände immer (farb)intensiver. Beschwert sich eine Frau, dass sie sich auf einem Ensor-Porträt nicht wiedererkennt, malt er sie mit Absicht noch hässlicher. Behandelt ein Richter ihn ungerecht oder zieht ein Kunstkritiker über ihn her, können beide sicher sein, dass sie als Lemuren auf seinen Bildern auftauchen. Ensors Abrechnung erfolgt mit dem Pinsel. So verwundert es nicht, dass seine Zeitgenossen sich zunächst mit ihm schwertun. Eine der wenigen Ausnahmen ist Emma Labotte. Die mit einem Arzt verheiratete Autorin erkennt in Ensor einen Seelenverwandten und kauft seine Bilder. Die großformatige »Austernesserin«, die man auch als präfeministische Darstellung einer unabhängig ihrer Lust frönenden Frau lesen kann, hängt sie ins Speisezimmer ihres Antwerpener Hauses. Andere Sammler der Stadt sehen sie dort, werden auf Ensor aufmerksam. 1921 organisiert der ortsansässige Kunstverein eine Retrospektive für ihn, mit der die künstlerische Anerkennung Ensors endgültig eingeläutet wird, die 1929 in der königlichen Verleihung des Adelstitels an ihn kulminiert.

Zwei Jahre zuvor hatte Emma Lambotte dem KMSKA sechs Werke von Ensor verkauft, damit war der Grundstein für die heutige Sammlung gelegt. Dank dieser Rezeptionsgeschichte nimmt Antwerpen einen wichtigen Platz im Leben des Künstlers ein und würdigt ihn im Ensor-Jahr gleich mit mehreren, parallel laufenden Ausstellungen. Die bedeutendste, mit dem Titel »Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus«, beginnt Ende September im KMSKA. Das Museum erntet dann die Früchte seiner großzügigen Leihtätigkeit in der Umbauzeit. Es hat in den vergangenen Jahren Ensor-Ausstellungen nach Los Angeles, Chicago, New York, Sevilla, Paris, London, Den Haag, Kopenhagen, Mannheim, Basel und Tokio gebracht und somit viel zum Weltruhm des Künstlers beigetragen. Nun leiht es selbst Bilder von hochkarätigen Künstlern wie Monet, Munch, Goya und Hieronymus Bosch, und setzt sie ins Verhältnis zu Ensors Werk. Kurator Hedwig Todts verspricht sich davon »interessante Vergleiche und ein tieferes Verständnis für Ensors kreativen Prozess«. Die Vorarbeit dafür leistet das am KMSKA beheimatete Ensor Research Project. Es untersucht in Zusammenarbeit mit der Universität Antwerpen die materialtechnischen Aspekte von Ensors kreati-

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ANT WERPEN

SCHATZKAMMER ANTWERPEN, die quirlige Hafen- und Handelsmetropole, besitzt mit dem 1890 eingeweihten Königlichen Museum der Schönen Künste, kurz KMSKA, einen der schönsten Kunsttempel Europas. Das vor zwei Jahren in neuem Glanz wiedereröffnete Museum erweiterte dank eines raffiniert integrierten Neubaus seine Ausstellungsfläche erheblich. Staunend läuft man durch die in klassischen Rottönen oder sattem Olivgrün gehaltenen Säle und kann sich an den spektakulär

ven Prozessen. Dabei kommen neueste Technologien zum Einsatz, die mit Hilfe von Tangential- und UV-Licht, Infrarot und Röntgen, Ensors Bilder im wahrsten Sinne des Wortes durchleuchten, um ihnen die letzten Geheimnisse zu entlocken. Ziel ist es, zunächst alle Gemälde Ensors in öffentlichen Sammlungen der Benelux-Länder zu dokumentieren und zu analysieren, um sie später so authentisch wie möglich zu restaurieren. Antwerpen verfügt aber noch über weitere interessante Museen, deren Besuch sich unbedingt lohnt. Das besonders beim jungen Publikum beliebte MoMu (Modemuseum) knüpft an die reiche Fashionhistorie der Stadt an und überzeugt mit smarten Gegenwartsdiagnosen und Crossover-Projekten zwischen Kunst und Mode. Zum Ensor-Jahr wird hier dessen Masken-Thema in die Gegenwart des Selfie-Zeitalters überführt: Vorgestellt werden u.a. international gefragte belgische Make-up-Künstler, die mit Modehäusern wie Chanel, Dior und Balenciaga zusammenarbeiten. Mit ihren Avantgarde-Konzepten haben sie in den vergangenen Jahrzehnten künstlerische Grenzen verschoben und vorherrschende Schönheitsideale herausgefordert. Ensors in jedem Bild spürbare Suche nach Identität hinter

inszenierten Schätzen kaum sattsehen - von Jan van Eyck über Peter Paul Rubens und Antonis van Dyck bis hin zu James Ensor und René Magritte. Auch in der Umgebung des Museums, im beliebten Viertel Het Zuid gibt es viel Neues zu entdecken. Das Quartier, das mit architektonischer Vielfalt überrascht, hat in jüngster Zeit einen zweiten Frühling erlebt und sich als Ausgehort etabliert. Zahlreiche Geschäfte, Cafés und Restaurants, Hotels und Galerien sind hier zu finden.

der alltäglichen Verstellung trifft hier auf die permanent geforderte Selbstoptimierung der Instagram-Generation. Um Mode und Masken dreht sich auch die Ausstellung im Fotomuseum FOMU. Unter dem Titel »Anti-Fashion« werden dort die wechselseitigen Beziehungen der renommierten amerikanischen Fotokünstlerin Cindy Sherman zur Modewelt thematisiert. Ensor ist zwar nicht direkt präsent, aber Shermans Lust an der Selbstdarstellung und Maskerade, ihre Kritik an gesellschaftlichen Rollenbildern machen sie zu einer Geistesverwandten des Meisters aus Oostende. Über dessen Schultern kann man ab Ende September im Museum Plantin-Moretus schauen. Das auf eine Druckerei aus dem 16. Jahrhundert zurückgehende Museum ist eine Oase für Liebhaber der Kunstgeschichte und Buchdruckkunst. Zum Ensor-Jahr lüftet man die Geheimnisse seiner grafischen Experimente, erfährt, wie Ensor selbst Drucke erstellte und welche Techniken er dabei anwendete. »Ensors Suche nach dem Licht« ist die Ausstellung betitelt, die sich anhand von Zeichnungen, Kupferplatten und Drucken auf seine Arbeiten auf Papier konzentriert. Inspiriert von den alten Meistern erweist sich Ensor auch auf diesem Feld als ausgesprochen kreativ. ×

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Ausstellungen

IM ENSOR-JAHR 2024 UND I N F OS MEHR INE AUF: TE RM 024.be e ns o r 2 c om / nder s . a fl it is v or2024 de/ens

Lust an der Maskerade: Cindy Sherman in einem Doppelselbstporträt von 2007/08

Antwerpen ENSORS KÜHNSTE TRÄUME. JENSEITS DES IMPRESSIONISMUS Ab Herbst zeigt das Königliche Museum der Schönen Künste Antwerpen (KMSKA) eine der größten belgischen Ausstellungen über Ensor seit vielen Jahren. Zu sehen ist hier nicht nur sein wundersames Universum aus wilden Visionen, Masken und Satire, sondern auch eine Auswahl bedeutender Werke von Künstlern, die Ensor

inspirierten und an denen er sich messen lassen wollte. Selbstzweifel plagten ihn nicht: Er sah sich auf einem Level mit Claude Monet und Edvard Munch, aber auch Hieronymus Bosch und Francisco Goya. KMSKA, 28. September 2024 bis 19. Januar 2025 MASKERADE, MAKE UP & ENSOR Im MoMu werden Ensors Ideen rund um Maskerade und Koketterie, das Groteske und Vergängliche in die Gegenwart transpo-

niert: Präsentiert werden Werke von Make-upKünstlern und Künstlern, die sich mit der Darstellung von Frauen, Gesichtsfiltern, Körperbildern und dem Ritual des Schminkens auseinandersetzen. ModeMuseum, 28. September 2024 bis 2. Februar 2025 CINDY SHERMAN: ANTIFASHION Die US-Fotokünstlerin Cindy Sherman ist wie Ensor bekannt für ihre kritischironischen Kommentare zu

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gesellschaftlichen Konventionen durch Maskeraden. Dabei zieht sich seit fast fünfzig Jahren das Thema Mode wie ein roter Faden durch ihr Werk. Anti-Fashion beleuchtet das Zusammenspiel von Mode und Kunst bei Sherman. Ihre Aufträge für Magazine und die Kollaboration mit Designern werden als Inspirationsquellen gewürdigt und zugleich Shermans Impulse für die Modewelt aufgezeigt. Fotomuseum, 28. September 2024 bis 2. Februar 2025

JAMES ENSORS SUCHE NACH LICHT: EXPERIMENTE AUF PAPIER Ensors grafische Experimente zeigen seine Suche nach einer richtigen Darstellung des Lichts und der Welt um ihn herum. Die Ausstellung beleuchtet die Art und Weise, wie Ensor Drucke erstellte, und seine besonderen technischen Experimente mit diesem Medium. Ein neuer Ansatz für den Umgang mit seinem grafischen Werk. Museum Plantin-Moretus, 28. September 2024 bis 5. Januar 2025


JAMES ENSOR. INSPIRED BY BRUSSELS Belgiens Hauptstadt spielte eine wesentliche Rolle in Ensors Leben. Drei Jahre besuchte er hier die »Koninklijke Academie«, später stellte er in Brüssel mehrfach aus und wohnte zeitweise dort. Mit rund 20 Gemälden, 30 Zeichnungen und 40 Radierungen wird eine große Anzahl an Originalwerken in einem einzigartigen historischen Rahmen präsentiert. KBR - Palais Charles de Lorrain, 22. Februar bis 2. Juni 2024

Bild links: Cindy Sherman; Bilder rechts: MRBAB/Vincent Everarts; Mu.ZEE/Fonds Xavier Tricot

JAMES ENSOR, MAESTRO Der Meister aus Oostende war mehr als nur ein Maler. Er war auch Schriftsteller, Komponist und Musikliebhaber. Die Schau konzen-

triert sich auf alle Facetten von Ensors vielfältigem Werk: Gemälde, Arbeiten auf Papier, Drucke, Manuskripte, Fotografien und handgeschriebene Partituren. Besonderes Augenmerk gilt der Theatralik in seinem Werk. Bozar Palast der schönen Künste, 29. Februar bis 23. Juni 2024

Oostende ROSE, ROSE, ROSE À MES YEUX Ensors von 1880 bis 1939 gemalte Stillleben verdeutlichen zugleich seine Stilentwicklung: von dunkel und klassisch bis bunt und ausdrucksstark, hell und ätherisch. Die Ausstellung führt vor, wie Ensor eine Brücke zwischen der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts und der mo-

Ausgeprägter Hang zur Introspektion: James Ensor als jüngerer Mann dernen Kunst schlägt. Eingebettet werden seine Stillleben in eine große Auswahl wenig bekannter und selten gezeigter akademischer Maler des 19. Jahrhunderts, wobei die Gruppe weiblicher Malerinnen besonders her-

vorsticht. Aber auch über Ensors Werk hinaus weist diese Schau, indem sie weitere Entwicklungslinien des 20. Jahrhunderts bis zu Brusselmans und Magritte präsentiert. Mu.ZEE, 16. Dezember 2023 bis 14. April 2024 GROSSE KUNST FÜR KLEINE KENNER In dieser Ausstellung lernen Familien und Schulen über eine Mitmach-Broschüre und Spiel- und Suchaufgaben den Künstler James Ensor und seine Gemälde besser kennen. Sie werden spielerisch zu Kunstexperten und begegnen den Menschen hinter den Masken. Fort Napoleon, 16. Dezember, 2023 bis 14. April 2024 SELBSTPORTRÄTS Das Selbstporträt genießt große Bedeutung bei Ensor und nimmt in seinem Werk einen hervorragenden Platz ein. Die ersten drei bekannten Selbstbildnisse von James Ensor stammen aus dem Jahr 1879, auch in den Folgejahren stand er sich immer wieder Modell. Sein ausgeprägter Hang zur Introspektion suchte sich verschiedene formale Mittel und Wege, am radikalsten wohl beim »Skelett mit Staffelei« von 1896, bei dem sich Ensor selbst in ein lebendiges Skelett transformierte. Ensor-Haus, 21. März bis 16. Juni 2024

Ensor-Highlight in Brüssel: »Die singulären Masken« von 1892

IMPRESSUM Herausgeber VISITFLANDERS Redaktion WELTKUNST Agentur Boxhagener Straße 18, 10245 Berlin Director Editorial Matthias Ehlert Artdirector Anja Büchner Redaktion Ralph Gerstenberg (frei) Corporate Publishing Lara Rath, lara.rath@weltkunst.de Produktion Jan Menssen Verlag ZEIT Verlag GmbH & Co KG, Speersort 1, 20095 Hamburg Litho twentyfour Seven Druck Frank Druck, Preetz

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OOSTENDE, ENSORS IMAGINÄRES PARADIES Oostende war der Ort, an dem Ensor lebte und arbeitete, sich aber auch am sozialen und kulturellen Leben beteiligte. Er nahm die Stadt als von der Modernität bedroht wahr und versuchte in seinen Stadtansichten ihre mythische Identität zu schützen. Eine internationale Auswahl von Gemälden, farbigen Radierungen, Fotos und anderen Dokumenten wirft ein genaues Licht auf die Aspekte von Ensors Beziehung zu seiner Heimatstadt. Venezianische Galerien, 29. Juni bis 27. Oktober 2024 SATIRE, PARODIE, PASTICHE Das Werk von James Ensor steckt voller Humor. Verschiedene Arbeiten zeugen von seinem Talent, Themen oder Schöpfungen anderer Künstler zu paraphrasieren. Einige Werke führen zu Parodien oder Pastiches und zeichnen sich durch Kritik und Karikaturen aus. Immer wieder prangerte er die zahlreichen Missstände in Belgien satirisch an, was seine scharfe Einsicht in die menschliche Natur bezeugt. Andere Arbeiten heben sich durch ihren eher »klassischen« Ansatz und die akribische Ausführung ab, und beziehen sich dabei auf alte Meister wie Bosch, Bruegel, Rubens und Watteau. Ensor-Haus, 19. September 2024 bis 12. Januar 2025 ER | ID-22071200

Brüssel


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