Wie junge Hamburger ihre Stadt erleben, was sie sich von der Wahl erhoffen – und warum manche Kandidaten mit ihrem Beruf auf dem Stimmzettel tricksen IM
Gibt es eine Migrationspolitik der Mitte? Vielleicht doch
VON GIOVANNI DI LORENZO UND BERND ULRICH
Es wäre diesem Land so sehr zu wünschen, dass die vergiftete Debatte über Migration sich aus den üblichen Rechts-links-Mustern befreit. Dass nicht mehr mit Unterstellungen, Auslassungen, Vorurteilen oder Maximalforderungen zum gegenseitigen Schaden gearbeitet wird. Stattdessen zumindest ein politischer Minimalkonsens darüber geschaffen werden könnte, was die Tatsachen und Herausforderungen sind. Hierzu muss man feststellen: Deutschland ist inzwischen ein Einwanderungsland erster Ordnung. In keiner anderen Industrienation – außer den USA – leben so viele Menschen, die in einem anderen Land geboren wurden. Mit einem relativen Anteil von rund 20 Prozent an der Bevölkerung übertreffen wir die USA sogar. Allein in den letzten zehn Jahren sind weit mehr als drei Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, darunter knapp fünf Prozent der syrischen Bevölkerung und 1,24 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Diesen Zustrom begleiten viele schwer zu leugnende Probleme: eine Überlastung der sozialen Infrastruktur, des Bildungs- und des Gesundheitssystems. Ein Konkurrenzkampf auf dem Wohnungsmarkt. Und eben immer wieder auch Verbrechen, die das Land erschüttern –wie jetzt in Aschaffenburg. Es gibt also inzwischen ein ziemlich handfestes Integrationsproblem, für dessen Linderung man jede helfende Hand und jede pragmatische Maßnahme braucht. Aber das Reaktionsmuster – trotz der vielen bewundernswerten Menschen, die sich bis heute ehrenamtlich engagieren – ist entmutigend. Bei vielen Linken herrscht die Meinung, je weniger man über Schwierigkeiten redet, desto weniger beschäftige es die Menschen. Schon die Thematisierung sei Munition für rechte Stimmungsmache. Und wenn es zu Verbrechen kommt, wie in Mannheim, Magdeburg oder Solingen, dann sei Deutschland daran nicht unschuldig – weil es zum Beispiel zu wenig Therapeuten und Sozialarbeiter bereitstelle. Im Übrigen sei jeder Versuch der Regelung ein ungewisses Unterfangen, weil ihm europäisches und deutsches Recht entgegenstünden. Ende der Durchsage. Rechtsaußen wird jedes Migrationsproblem ausgeschlachtet, erst recht die Kriminalität, um Einwanderung zur Mutter aller Probleme zu erklären. Für die AfD ist der Kampf gegen Migration Daseins-
zweck, der feine Unterschied zwischen regulärer und irregulärer Einwanderung spielt da keine Rolle mehr. Wenn konservative Politiker sich des Themas bemächtigen (und nicht nur die), dann folgen auf große Worte, man müsse begrenzen und ganz anders abschieben, allenfalls kleine Taten – sodass es wie die bloße Inszenierung von Durchgreifen wirkt. Und irgendwo daneben und dazwischen steht eine konsternierte Bevölkerung, bei der sich offenbar der Eindruck festgesetzt hat, dass fast jeder, der es über die Grenze schafft, auch bleiben darf. Und dass auch viele Straftäter nicht abgeschoben werden. 82 Prozent der Menschen in Deutschland, so hat es kürzlich eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage ergeben, wünschen sich eine restriktivere Migrationspolitik (darunter selbst die Mehrheit der Grünen-Wählerinnen und -Wähler). Über 90 Prozent wollen die Ausweisung von ausländischen Straftätern. Zugleich aber: Menschen, die dem Krieg entfliehen oder politischer Verfolgung, will eine große Mehrheit weiterhin aufnehmen oder helfen. Der Verdacht liegt nahe, solange hier keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden, stellt sich kein gesellschaftlicher Friede ein.
In diese Gemengelage platzt nun der Vorstoß von Friedrich Merz. Wieder greifen die üblichen Reflexe. Das Vertrackte dabei ist: Die MerzKritiker haben recht, aber eben auch nicht. Wir kommen mit Pauschalurteilen nicht weiter, sondern nur mit einem klaren Blick auf eine ziemlich komplexe Realität. Die miteinander verwobenen Herausforderungen Flucht, Asyl und Migration werden – wie andere große Fragen – niemals vollständig zu bewältigen sein. Mindestens drei Grundwidersprüche gibt es. Gerade eine alternde Wirtschaftsnation wie Deutschland kann ohne Zuwanderung ihren Wohlstand nicht bewahren und fühlt diesen Wohlstand zugleich durch ungeregelte Zuwanderung bedroht. Der zweite Zielkonflikt liegt darin, dass Grenzen in einer globalisierten Wirtschaft maximal durchlässig sein müssen und an denselben Grenzen zugleich unkontrollierte Zuwanderung verhindert werden soll. Schließlich gibt es den schmerzvollen Gegensatz zwischen Humanität und Sicherheit. Dass diese fundamentalen Widersprüche existieren, kann allerdings nicht bedeuten, all die Missstände achselzuckend hinzunehmen. Ganz im Gegenteil: Gerade weil die Aufgabe bleibt, muss sie mit Bedacht und Entschiedenheit behandelt werden.
Und genau hier liegt der Fehler der scheidenden Bundesregierung. Sie hat den Eindruck erweckt, bei der Migration werde meist nur nach Morden und aus Angst vor der AfD gehandelt. Doch wenn die Mehrheit den politischen Willen nicht spürt, die Probleme ernsthaft anzugehen, dann verliert man irgendwann diese Mehrheit.
Dieses Irgendwann ist nun gekommen, und das hat Friedrich Merz womöglich gespürt. Bis zu seiner Ankündigung einer neuen Migrationspolitik von Tag eins seiner angestrebten Kanzlerschaft an hatte er im Kern recht, auch wenn da schon etwas trumpistischer Theaterdonner dabei war. Falsch wurde sein Asyl-Vorstoß, als er in Richtung von SPD und Grünen völlige Kompromisslosigkeit androhte und zugleich eine neue Flexibilität gegenüber einer mit ihm stimmenden AfD zeigte. Die politische Mitte aufzurütteln, ohne diese Mitte auseinanderfliegen zu lassen, dafür fehlen Merz bislang strategische Weitsicht und taktische Disziplin. Und so richtig das Argument ist, dass man sich nicht von der AfD oder einer anderen radikalen Partei vorschreiben lassen kann, welche Gesetzesentwürfe man in den Bundestag einbringt, so verstörend wäre es, wenn das Merzsche Paket am Ende dieser Woche mit Stimmen von AfD und BSW eine Mehrheit fände. Das schafft keine neue Einigkeit, sondern neue Polarisierung. Aber gibt es bei Asyl und Migration überhaupt einen Pfad der Mitte? Einen Masterplan für eine universelle Migrationspolitik kann niemand vorlegen. Doch einige gemeinsame Lehren aus den vergangenen zehn Jahren lassen sich ziehen. Eines der großen Defizite liegt darin, dass Delinquenz zu wenig bestraft und Integration zu wenig belohnt wird. Ausländische Straftäter müssen sich kaum vor Abschiebung fürchten. Wer aber schon integriert ist und hier arbeitet, der muss manchmal damit rechnen, auch nach Jahren noch abgeschoben zu werden. Beides muss sich ändern, denn besser behandelt man Straftäter mit Härte als Migranten wie Straftäter. Das aber würde bedeuten, dass sich Deutschland nicht länger vor dem Pull-Effekt fürchtet und sich von der Idee verabschiedet, die schon hier gelandeten, aufenthaltsberechtigten Flüchtlinge künftig möglichst abschreckend zu behandeln. Zumal diese Art von Abschreckung nicht nur auf potenzielle illegale Einwanderer wirkt, sondern auch auf jene, die dringend gebraucht werden.
Und das sind nicht nur Ärzte aus Indien, sondern auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte.
Wer aber auf eine konstruktive, integrierende Migrationspolitik setzt, der muss auf der anderen Seite den Zustrom besser kontrollieren können. Der muss Migration auch begrenzen können.
Natürlich widerspricht dieser Anspruch auf quantitative Begrenzung dem qualitativen Anspruch auf Schutz. Das wäre der vielleicht bitterste Teil einer neuen Migrationspolitik der politischen Mitte, dass dieses Menschenrecht nicht mehr ungeteilt garantiert werden kann. Allerdings hat man dessen formale Garantie bislang mit einer Fülle von Vollzugsdefiziten bezahlt, genauer: mit entleertem Recht. Die Verteilung von Flüchtlingen in Europa ist gesetzlich geregelt – und funktioniert nicht. Die Drittstaatenregelung gilt und wird nicht konsequent angewendet. Wer weder nach der Genfer Flüchtlingskonvention noch nach dem deutschen Asylrecht aufenthaltsberechtigt ist und obendrein nicht arbeitet – oder nicht arbeiten darf –, kann allzu oft nicht abgeschoben werden. Wenn jedoch ein Menschenrecht lauter Vollzugsdefizite nach sich zieht, dann werden Recht und Rechtsbewusstsein ausgehöhlt. Deutschland ist ein Einwanderungsland mit einer reichen Geschichte von Migration und Integration, auf die es eigentlich stolz sein könnte. Doch wegen der halb verleugneten Identität als Einwanderungsland hapert es auch bei der Migrationsinfrastruktur: Es gibt zu wenig Sprachschulen, zu wenig Psychologen mit entsprechenden Sprachkenntnissen, zu wenig Stellen in den Ausländerbehörden, zu wenig Polizisten und zu wenig Gefängniszellen. An dieser Stelle mischt sich die verleugnete Migrationserfahrung mit dem toxischen Abschreckungsgedanken: Je weniger wir für sie tun, desto weniger kommen. Nein, es ist umgekehrt, wer zu wenig tut, verschenkt die vielen Chancen der Einwanderung. Was gerade geschieht, ist natürlich Wahlkampf, und am Ende dieser Woche dürfte weder die Brandmauer gefallen noch eine Grenzmauer errichtet sein. Zugleich ist es auch ein Vorschein von etwas Größerem. Die politische Mitte wird sich in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik zusammenraufen müssen, disruptiv, aber nicht destruktiv, realistisch, aber nicht inhuman, mehrheitsorientiert und immer mit dem Leitgedanken: Da draußen vor den Grenzen stehen immer wieder Menschen in Not.
Ihr müsst nicht perfekt sein. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit
ZEITmagazin, S. 30 Entspannt euch, Eltern
Wie ein uraltes Wort Donald Trumps Machtlust bloßstellt Feuilleton, S. 43 Erbarmen!
Gegen den Trinkterror
Literweise Wasser? Und das jeden Tag? Ich bin doch kein Aquarium!
Charlotte Parnack im Entdecken, S. 53
PROMINENT IGNORIERT
Italienisch, wunderbare Sprache, allein so ein kraftvolles Wort wie putrefazione cerebrale, das der Papst jetzt grad gefunden hat, um zum Welttag der Kommunikation den sozialen Medien und deren Gläubigen ins Gewissen zu reden. »Hirnfäule« heißt das auf gut Deutsch. Wer zuckte da nicht zusammen? Aber das kommt eben vom unablässigen Scrollen. Lieber die Hände mal falten! USTO
Fotos (v.
1 von 1,9 Millionen
HAMBURG 1
Februar
Roswitha Rüdiger, 84, ist begeistert vom Klettern – weil sie sich dabei immer wieder überwinden muss
Beim Klettern passiert vieles im Kopf. Ich muss mich immer wieder überwinden, aus meiner Komfortzone rauszugehen. Das geschieht im Alltag ja nicht so oft. Vielleicht fühle ich mich deswegen nach dem Klettern so gut. Ich trainiere jeden Dienstag und Freitag in der Kletterhalle in Niendorf mit einer Seniorengruppe des Alpenvereins. Manche klettern schon lange, andere haben wie ich erst im Rentenalter angefangen. Der Älteste in unserer Gruppe ist 90 Jahre alt. Ich hatte im Januar meinen 84. Geburtstag. Dass manche finden, in meinem Alter sei man zu alt für diesen Sport, ist mir egal. Ich lebe heute, und ich tue, was ich kann, um meine Fähigkeiten zu erhalten. Aufgewachsen bin ich in Königswinter bei Bonn und in Schleswig. Nach dem Abitur habe ich in England ein Praktikum gemacht und dann in vier Städten Medizin studiert. Mit 26 kam ich nach Hamburg. Seitdem habe ich in verschiedenen Bereichen und Fachgebieten gearbeitet. Lange habe ich Betriebsärzte vertreten, bin in Hausarzt-
praxen von Borgfelde bis Buxtehude eingesprungen und für Landärzte in anderen Teilen Deutschlands. In den 1980ern habe ich eine eigene allgemeinmedizinische Praxis eröffnet. Seit über 15 Jahren bin ich nun in Rente, ich vertrete aber noch gelegentlich junge Kolleginnen und Kollegen. Das macht mir Spaß. Ich habe schon immer viel Bewegung gebraucht. Manche Ärzte würden mir vielleicht sogar Ritalin verschreiben, weil ich kaum still sitzen kann. Das Erste, was ich morgens im Bett mache, ist Gymnastik: alle Gelenke einmal mobilisieren, dazu ein paar Situps. 25 Jahre lang habe ich Standard und Latein getanzt – bis mein Tanzpartner verstarb. Noch vor vier Jahren bin ich jeden Sonntag Eiskunstlaufen gegangen. Doch nachdem ich mir bei zwei Stürzen die Schulter verletzte, riet mir mein Orthopäde, es bleiben zu lassen. Also haben sich meine Hobbys von allein dezimiert. Umso mehr Zeit blieb zum Klettern. Eigentlich hatte ich für Bergsport wie Klettern und Wandern ewig nichts übrig. Als Teenager musste ich manchmal mit meiner Tante, meinem Onkel und
meinem Cousin wandern. Das fand ich total bieder und blöd. Selbst später, als mein Mann klettern oder wandern ging, blieb ich zu Hause. Dann, vor etwa zehn Jahren, besuchte ich mit meinem Mann, meinem jüngsten Sohn und einigen Enkeln eine Kletterhalle. Ziemlich schnell war klar: Ich kann das ganz gut. Ich bin gelenkig, das hilft, wenn zwei Griffe weit auseinanderliegen. Und ich bin leicht, also brauche ich wenig Kraft, um weiterzukommen. Viele denken ja, beim Klettern braucht man kräftige Arme, aber vor allem kommt viel Kraft aus den Beinen. Mit denen drückt man sich hoch. Mir gefällt am Klettern das Gemeinschaftliche. Wir klettern immer in Zweierteams. Nachdem mein erster Kletterpartner verstorben ist, stehe ich nun meistens mit Manfred an der Wand. Er ist in meinem Alter. Ich bin vielleicht ein bisschen gelenkiger als er, aber Manfred ist der bessere Kletterer: Er denkt strategischer, guckt sich jede Route genau an, ehe er beginnt. Ich steige einfach hoch und wundere mich dann, warum es so schwierig ist.
Unter jeder Route steht, welchen Schwierigkeitsgrad sie hat. Drei bedeutet babyleicht, für die Anfänger. Der höchste Schwierigkeitsgrad ist elf. Manfred und ich klettern Vierer- und Fünfer-, manchmal Sechser-Routen. Wenn ich beim Klettern denke, ich komme nicht weiter, steht Manfred unten ganz stur und lässt mich noch mal überlegen. Nach ein paar Momenten entspannen sich meine Muskeln, und manchmal finde ich dann tatsächlich noch eine Lösung, um weiter aufzusteigen. Oder überwinde mich und nutze den winzigen Klettergriff, dem ich vorher nicht getraut habe. Ab und zu klettern auch mein Ehemann und ich zusammen. Ich habe ihn mit Anfang 20 auf einer Skireise während des Studiums kennengelernt. Vor 30 Jahren zog er für eine Professur von Hamburg nach Wien. Mir gefällt es im Norden besser. Also führen wir seitdem eine Fernbeziehung. Das funktioniert gut. Und die Kinder besuchen uns in beiden Städten: Wir haben drei Söhne und neun Enkelkinder. Für die will ich natürlich auch fit bleiben. Sie wollen ständig etwas mit mir unternehmen,
Ende Februar beispielsweise wieder Ski fahren. Mir ist klar, was das für ein Geschenk ist, dass ich noch so gesund bin, dass alle meine Probleme bislang mit Krankengymnastik und Mobilisierung verschwanden. Solange ich kann, möchte ich alles tun, was mir Spaß macht. Dass Klettern auch lebensgefährlich sein kann, vergesse ich nie. Einmal bin ich in der Halle abgestürzt. Mein Kletterpartner konnte mich zwar nach ein paar Metern mit dem Sicherungsseil abfangen, aber ich bin mit dem Rücken an den Griffen entlanggeratscht. Mein Shirt war aufgerissen, die Haut aufgeschrammt, und ich hatte natürlich einen ordentlichen Schreck bekommen. Aber ich bin sofort wieder hochgeklettert. Beim Arzt war ich nicht. Das heilt ja alles.« PROTOKOLL: VIOLA DIEM
In jeder Ausgabe stellt sich auf dieser Seite einer der 1,9 Millionen Menschen vor, die in Hamburg leben. Alle Folgen finden Sie unter zeit.de/1von1komma9millionen
Ahmed, 20, aus Dulsberg, jobbt als Postbote. Er will bald Sport und Deutsch auf Lehramt studieren
Ayda,
18, wohnt mit Mutter und Schwester in Fuhlsbüttel und bereitet sich auf ihr Abi vor
Titelgeschichte
Emma C., 21, aus Barmbek Nord, ist im ersten Ausbildungsjahr zur Erzieherin
Emma M., 16, aus der Schanze, macht noch bis Mai ein Auslandsjahr in Irland
Fabian, 19, aus Wandsbek, ist in der Ausbildung zum Industriekaufmann
»Ich will nicht resignieren«
Wer heute jung ist, wird die Entscheidungen der Politik am intensivsten spüren, am längsten zumal. Und doch sind es die jungen Hamburgerinnen und Hamburger, die nur wenig mitbestimmen können, denn es sind schlicht nicht besonders viele.
Rund 73.000 Menschen können am 2. März zum ersten Mal eine neue Bürgerschaft wählen, sie machen knapp sechs Prozent der Wahlberechtigten aus. Was prägt das Leben der Jungen dieser Stadt? Was sind ihre Sorgen, was macht sie glücklich? Und wie blicken sie auf die Wahl? Hier erzählen 18 Hamburgerinnen und Hamburger zwischen 16 und 22 Jahren, was sie umtreibt. Sie gehen auf Gymnasien, Stadtteilschulen, sind in Ausbildung oder im Studium, kommen aus reicheren und ärmeren Familien, aus Altona, Dulsberg, Jenfeld, Fuhlsbüttel – und vielen anderen Vierteln.
Wie läuft es zu Hause?
Mika: Ich wohne am Osterbekkanal und fühle mich dort wohl. In meinem Viertel gibt es viele Wiesen und grüne Innenhöfe. Ich bin naturverbunden, an meiner Schule bin ich einer der Umweltsprecher. Wenn jemand sagt: »Da, eine Ente!«, dann korrigiere ich oft: »Nee, das ist ein Blesshuhn!« Finn: Ich lebe mit meinen Eltern und meinem Bruder auf St. Pauli, mein ganzes Leben schon. Von unserem Balkon aus kann ich das Millerntorstadion sehen. Das ist echt schön. Ayda: Ich wohne mit meiner Mutter, meiner Schwester und unserem Hund in Fuhlsbüttel. Ich habe mein eigenes Zimmer, aber unser Leben ist eingeschränkt. Meine Schwester ist beeinträchtigt. Sie braucht Unterstützung, viel Hilfe und Zeit, meine Mutter ist alleinerziehend. Anna: Ich komme aus Jenfeld. Früher habe ich nicht gern über meinen Stadtteil gesprochen. Eine typische Frage war: »Und, wurdest du schon mal mit ’nem Messer bedroht?« Jenfeld ist vielschichtig: Es gibt triste Plattenbauten, aber auch Einfamilienhäuser mit Vorgärten. Es gibt wenige Begegnungsorte. Viele Teenager hängen auf dem Rewe-Parkplatz ab. Ich treffe meine Freunde lieber in anderen Stadtteilen.
Fühlst du dich dort sicher?
Manu: Letztens habe ich spätabends den Bus verpasst und musste durch mein Viertel laufen. Ich hatte eine neue Jacke an. Da hat mich eine Gruppe abgecheckt. Es ist aber nichts passiert. Philipp: Auf meinem Schulweg in Eilbek komme ich oft an Drogensüchtigen und Obdachlosen vorbei, die betteln. Man sieht, dass es immer mehr Armut in Hamburg gibt. Vor einiger Zeit wurde bei uns jemand erstochen, so was geschah nicht zum ersten Mal. Ich mag mich abends deswegen nicht mit Freunden verabreden. Am liebsten würde ich aus Hamburg weg. In Hannover, wo ein Teil meiner Familie wohnt, fühle ich mich wohler. Emma C.: Manchmal fehlen Lampen auf den Straßen in Barmbek. Das gibt mir nachts ein mulmiges Gefühl.
Niclas: Ich lebe bei meinen Eltern in Finkenwerder. Es ist wie ein kleines Fischerdorf. Hier passiert nicht viel, aber genau das finde ich schön.
Helena: Ich hatte oft unangenehme Begegnungen mit Männern, auch in meiner Nachbarschaft in Ottensen. Neulich wurden zwei Freundinnen und ich vor unserem Lieblingscafé am Tag von einem Mann bedrängt, der anzügliche Bemerkungen gemacht hat. Ayda: Wenn ich mit der U1 fahre, fühle ich mich oft unwohl, besonders wegen der Blicke. Im Sommer ziehe ich weite T-Shirts an, einen kurzen Rock würde ich nicht mehr in der U-Bahn tragen. Meinen Freundinnen geht es genauso. Unsere Gesellschaft ist frauenfeindlicher und sexistischer geworden. Ike: Einmal haben mich zwei Typen geschlagen, ich habe mich nicht gewehrt, bis sie von mir abgelassen haben. Prinzipiell kenne ich Leute, die ich bei so was um Hilfe bitten könnte. Ich
»In Dulsberg guckt dich niemand an, wenn du eine Jogginghose trägst oder zu laut lachst«
Ahmed, 20, aus Dulsberg
bin in Horn groß geworden, ich kenne Leute mit Waffen, die Schlimmes anrichten könnten. Aber ich will, dass Streit anders geklärt wird.
Hast du genug Geld?
Noah: Finanziell ist es ziemlich knapp. Von meinen Eltern bekomme ich 50 Euro Taschengeld pro Monat und handle nebenbei mit Kleidung. Ich spare auf den Führerschein, eine Doppelstunde kostet 132 Euro, fünf fehlen mir noch.
Manu: Seit mein Bruder ausgezogen ist, habe ich zum ersten Mal ein eigenes Zimmer. Ich spare auf einen Schreibtisch und den Führerschein. Mit dem Geld aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr und meinem Job am Wochenende ist es aber knapp. Meine Mutter ist alleinerziehend. Zu Hause kaufen wir selten etwas Neues, außer es ist kaputt. Zum Glück kann sie fast alles reparieren.
Torben: Ich hatte das Glück, eine Genossenschaftswohnung zu bekommen. Jetzt habe ich 32 Quadratmeter für 500 Euro Warmmiete. So bleibt mein Leben bezahlbar. Emma C.: Ich wohne in einer Zweier-WG in Barmbek-Nord auf 56 Quadratmetern. Ich lebe gerne dort, aber es war sehr schwierig, eine Wohnung zu finden. Meine Eltern helfen mir finanziell – das ist mein Glück.
Würdest du gerne umziehen?
Fabian: Ich wohne mit meiner Mutter in einer Zweizimmerwohnung in Wandsbek. Jeden Tag fahre ich quer durch die Stadt zu meiner Firma nach Harburg, ich mache eine Ausbildung zum
Industriekaufmann. Die Fahrerei nervt. Ich wünsche mir schon eine eigene Wohnung oder ein WG-Zimmer, aber mit meinem Ausbildungsgehalt ist das nicht machbar. Prinzipiell wohne ich aber gern bei meiner Mutter, wir stehen uns nah. Sie ist Altenpflegerin. Devrim: Meine Eltern sind geschieden, ich lebe mit meiner Mutter in einer Dreizimmerwohnung in Altona. Ich bin gerne zu Hause. Später würde ich gern Kriminalpsychologin werden. Während des Studiums möchte ich zu Hause wohnen bleiben, aber danach ausziehen. Bei dem Wohnungsmarkt aber macht mir Sorgen, wie das gehen soll. Ahmed: Ich bin 20 und träume davon, bei meinen Eltern auszuziehen. Ich jobbe als Postbote und möchte bald studieren. Mit meinem Budget finde ich kaum eine Einzimmerwohnung, nicht mal bei uns auf dem Dulsberg mit seinen vielen Sozialwohnungen.
Wie ist es in der Schule?
Devrim: Ich gehe gerne zur Schule. Ich mag unseren Klassenlehrer, der ist cool, auf Augenhöhe mit uns und hört uns zu. Aber der Lehrermangel fällt auf, viele Lehrer sind gestresst, und wir kommen mit dem Stoff nicht voran. Finn: Im Sommer 2023 habe ich mich als transgender geoutet und nenne mich jetzt Finn. In der Schule gab es keine negativen Kommentare zu meiner Veränderung, selbst von den älteren Lehrern nicht. Ich hatte Glück. Aber ich hätte mich gefreut, wenn man zu dem Thema was in der Schule lernen würde.
Ayda: Der Notendruck macht mir zu schaffen. Ich will Psychologie studieren, dafür brauche ich ein super Abi. Die Lehrer helfen nicht wirklich. Es scheint, als würden sie mündliche Noten willkürlich vergeben. Das ärgert mich sehr. Ich freue mich auf das Ende der Schule, auf den Moment, wenn der Stress nachlässt. Ich würde dann gern nach Australien oder Neuseeland gehen, wegen der Natur und der Menschen. Helena: Ich war auf einem Gymnasium im Hamburger Westen. Mit 14 haben viele meiner Mitschüler angefangen, exzessiv Alkohol zu trinken. Und schon mit zwölf Jahren schauten viele Jungs Pornos, sie haben abfällig und sexualisierend über meine Mitschülerinnen geredet und ihr Frauenbild auf unsere Körper projiziert. Ich habe lange nicht verstanden, warum ich als Mädchen so behandelt wurde. Als ich dann die ersten Theorien zur Rolle der Frau und ihrer Unterdrückung im Patriarchat kennengelernt habe, habe ich mich verstanden gefühlt.
Fühlst du dich als Hamburger?
Ahmed: Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich: »Ich bin Hamburger.« Doch in wohlhabenden Gegenden im Westen merke ich manchmal die Blicke der Menschen, die zu sagen scheinen: Was macht der denn hier? In Dulsberg guckt dich niemand an, wenn du eine Jogginghose trägst oder zu laut lachst.
Helin: Oft höre ich Sprüche wie: »Du sprichst aber gut Deutsch!« Das ist vielleicht nett gemeint, löst aber ein schlechtes Gefühl in mir aus. Deutsch ist meine Muttersprache, um mich zu beweisen, versuche ich trotzdem besonders deutlich zu sprechen. Auf der Straße wurde mir schon
hinterhergerufen: »Geh zurück in dein Land, du Schlampentürkin.« In der Schule sagten schon Lehrer, ich sähe »so kanakisch« aus. Das tut weh. Devrim: Rassismus ist an meiner Schule leider normal geworden. Immer wieder gibt es Kommentare, dass Schüler mit Migrationshintergrund abgeschoben werden sollten. Vielleicht als Scherz, aber ich finde das nicht okay. Anna: Im Restaurant, wo ich kellnere, höre ich oft Sprüche wie: »Endlich mal ein blondes, deutsches Mädel!« Manu: Ich bin irgendwie alles: Hamburger, Jenfelder und komme aus Ghana. Als ich in Ghana die Familie meiner Mutter besuchte, war ich der Deutsche. Hier bin ich der Ghanaer. Diese Kultur ist mir wichtig – ich liebe ghanaische Musik und das Essen, und meine Mutter hat mir die Sprache beigebracht. Obwohl ich hier geboren bin, war ich erst vor zwei Jahren zum ersten Mal am Hafen. Da habe ich erst mal 70 Fotos gemacht, das ist ja echt schön! Hamburg ist wirklich eine coole Stadt.
Bald sind Wahlen. Interessiert dich das?
Anna: Ich schaue Nachrichten und informiere mich auf Social Media über Politik, dort folge ich Nachrichtenseiten und Hamburger Politikerinnen und Politikern. Was mir auf TikTok in letzter Zeit auffällt: Immer wieder wird mir dort AfD-Content vorgespielt, obwohl ich denen gar nicht folge. Ich finde das gefährlich, ich sehe ja, wie viele junge Menschen leicht zu beeinflussen sind. Fabian: Ich fange jetzt an, mich zum ersten Mal mit Politik zu beschäftigen. Ich folge auf Tik-
»Das Erstarken der AfD ist für mich und meine Familie eine Katastrophe«
Helin, 17, aus Bergedorf
Tok ein paar Influencern, die sich für die AfD aussprechen. Dort wird erzählt, dass viele deutsche Firmen abwandern und Arbeitsstellen streichen. Oder dass ältere Menschen Pfandflaschen sammeln, um über die Runden zu kommen. Das finde ich krass, und es ist gut, dass jemand diese Probleme anspricht. Philipp: Ich will wählen gehen. Aber es gibt keine Partei, die sich wirklich für Randgruppen einsetzt, für Alleinerziehende, ihre Kinder oder Bürgergeldempfänger. Selbst würde ich nie in eine Partei eintreten, weil viele Leute da einfach nur wichtig sein wollen. Politiker haben riesige Egos! Helena: Ich habe nicht das Gefühl, dass meine Wahl einen Unterschied macht. Ich habe überhaupt wenig Vertrauen in unser politisches System und in den Kapitalismus. Trotzdem werde ich wählen, weil ich den erstarkenden Rechts-
Die stärksten Parteien
Bedenkt man, wie sehr sich die Welt seit der Bürgerschaftswahl im Februar 2020 verändert hat, deutet sich in der neuen Umfrage von ZEIT:Hamburg und Radio Hamburg im Stadtstaat ein bemerkenswertes Maß an Kontinuität an. Wirtschaftskrise, das Scheitern der Berliner Ampelkoalition, Erfolge rechter Populisten, Krieg und Pandemie – all das scheint an den Vorlieben der Wählerinnen und Wähler wenig geändert zu haben. Würde jetzt gewählt, könnte der rot-grüne Senat weiter regieren, auch das Kräfteverhältnis innerhalb der Koalition würde sich kaum ändern. Die CDU würde deutlich zulegen, was angesichts ihres außergewöhnlich schlechten Ergebnisses von 2020, als sie bloß 11,2 Prozent der Stimmen erhielt, als Normalisierung gelten kann.
Auf diesen Seiten lassen wir junge Wählerinnen und Wähler zu Wort kommen. Auf das Wahlergebnis hat diese Altersgruppe kaum Einfluss: Insgesamt stellen die 16- bis unter 21-Jährigen weniger als sechs Prozent der 1,3 Millionen Wahlberechtigten dar, kaum mehr als drei Jahrgänge der geburtenstarken Babyboomer aus den 1960er-Jahren. Allerdings scheinen sich die Jungen in ihren politischen Vorlieben nicht wesentlich von den Älteren zu unterscheiden. Vergleichsweise viele jüngere Beteiligte unserer Umfrage favorisieren jedoch die AfD, sie ist etwas stärker vertreten als im Durchschnitt. Zwei neue Parteien treten an, BSW und Volt, zwei alte, nämlich FDP und Linke,
müssen um ihren Einzug in die Bürgerschaft bangen. Ob die Ergebnisse der Kleinparteien die Regierungsbildung beeinflussen werden, ist fraglich, die gegenwärtigen Wahlabsichten versprechen sowohl einer rot-grünen als auch einen rot-schwarzen Koalition halbwegs stabile Mehrheiten. Nur wenn mehrere kleine Parteien überraschend gut abschneiden sollten, würden Zweierkoalitionen unmöglich. Unklar ist, ob es weiterhin eine linke Opposition in der Bürgerschaft geben wird – im Wettstreit von Linken, BSW und Volt könnten alle drei Parteien scheitern. Andererseits ist auch eine vielstimmige Opposition unter Beteiligung mehreren Kleinparteien denkbar.
ruck alarmierend finde und weil meine Stimme indirekt wichtig ist für die finanzielle Förderung von Stiftungen und Organisationen, die ich unterstützen möchte.
Manu: Als ich meine erste Wahlbescheinigung bekam, war das echt besonders. Ich bekomme sonst nicht viel Post, plötzlich war dieser Brief da. Irgendwie hat das für mich symbolisiert, dass ich jetzt erwachsen bin. Aber vor der Wahl muss ich mich erst noch informieren, so richtig kenne ich mich nicht aus. Finn: In meinem Freundeskreis freuen sich alle, dass wir in Hamburg schon ab 16 wählen dürfen. Ich würde aber noch gern mehr darüber erfahren, wer in Hamburg welches Wahlprogramm hat. Was macht dir Sorgen?
Ayda: Ich habe Angst vor dem dritten Weltkrieg, der immer näherzukommen scheint. Ich frage mich, wann es Deutschland trifft. Auch der Klimawandel lässt sich nicht mehr aufhalten. Die Flugzeuge fliegen weiter, und viele fahren mit dem Auto einkaufen, obwohl sie in der Nähe wohnen. Ich fühle mich da so machtlos.
Philipp: Mich bewegt der wachsende Hass. Zwischen Menschen und Ländern. Und mich bewegen Politiker, die nach Macht streben, statt sich um die Probleme der Menschen zu kümmern. Ich habe oft das Gefühl, dass Politiker vergessen, dass sie vom Volk gewählt worden sind. Emma M.: Bei den Fridays-for-Future-Demos fand ich es beeindruckend, wie viele sich engagierten. Aber ich merke an mir selbst, wie das Thema von anderem überlagert wird. Es gibt so viele Krisen auf der Welt, ich fühle mich davon manchmal überfordert. Noah: Alles ist teurer geworden. Der Döner kostet jetzt 8,50 Euro statt 6 Euro, ein Päckchen Durstlöscher fast einen Euro. Ahmed: Es belastet mich, wenn muslimische Extremisten Anschläge verüben, da ich mich dann oft mitverantwortlich gemacht fühle. In unserer Stadt sorgen mich religiöse Extremisten wie Hizb ut-Tahrir, die ähnlich wie Rechtsextreme spalten wollen – gesellschaftlich und religiös. Für sie gelten Muslime, die mit der Stadt zusammenarbeiten, als Verräter. Manchmal versuchen sie, vor unserer Moschee Mitglieder zu werben, wir verhindern das. Ich wünsche mir ein friedliches Miteinander mit Juden, Christen und Atheisten. Torben: Ich bin oft bei Fußballspielen meines kleinen Bruders. Ich erlebe da Jungs, die dem Schiedsrichter den Mittelfinger zeigen, die Gegenspieler und deren Eltern beschimpfen, aber sonst kein Wort Deutsch reden. Da frage ich mich schon, was schiefgelaufen ist. Devrim: Die politische Situation in Deutschland ist frustrierend. Beim Bruch der Koalition wurde deutlich, wie wenig zusammengearbeitet wird. Clemens: Mich beschäftigt derzeit am meisten, dass die AfD so an Popularität gewinnt. In Hamburg ist die Partei zum Glück noch nicht so stark wie in anderen Bundesländern. Aber sollte sie hier auch wachsen, braucht es noch mehr Gegenproteste wie vor ein paar Wochen am Rathaus, als Alice Weidel dort sprach. Dann wird die Stadt zwar unruhiger, aber das ist es wert. Helin: Ich bin in Hamburg geboren und die ersten Jahre meines Lebens in einem Flüchtlings-
Fortsetzung auf S. 4
Die Teilnehmer unserer Umfrage, die das Institut Trend Research durchgeführt hat, wurden auch nach ihren Wahlentscheidungen im Jahr 2020 gefragt. Für kleine Parteien lassen sich keine Aussagen treffen, beide Senatsparteien scheinen zwar Wähler und Wählerinnen an die Konservativen zu verlieren, aber kaum aneinander. Die CDU hingegen gewinnt zwar insgesamt, verliert aber zugleich an die AfD. Und wie alt sind die Anhänger und Anhängerinnen der unterschiedlichen Parteien? SPDWähler sind inzwischen deutlich älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wähler der Christdemokraten und der Grünen hingegen sind in den von uns untersuchten Altersgruppen recht gleichmäßig vertreten. FRANK DRIESCHNER
Finn, 16, Schüler auf St. Pauli, könnte sich vorstellen, Journalist zu werden
Was die Erstwähler bewegt
Helena, 20, aus Ottensen, studiert Kulturwissenschaften und Philosophie in Lüneburg
Helin, 17, aus Bergedorf, macht gerade ihr Fachabi und will Kriminalpsychologie studieren
Manu, 18, aus Jenfeld, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Schule
Devrim, 17, aus Altona, geht in eine Stadtteilschule und möchte nach dem Abitur Kriminalpsychologin werden. Das Bild wurde am Eidelstedter Markt aufgenommen
Clemens, 16, aus Niendorf, hier am Sportzentrum Sachsenweg, geht aufs Gymnasium und möchte später vielleicht Politikwissenschaft studieren
Mika, 18, Abiturient aus Barmbek
Sie freuen sich über Blesshühner, Baumkuchen und Eltern, die ihnen Halt geben. Und haben Angst vor Stress auf dem Schulweg, vor zu hohen Mieten und vor der AfD. Was bewegt die jungen Menschen dieser Stadt? Und was erhoffen sie sich von der Wahl?
INTERVIEW - COLLAGE VON MIRIAM AMRO, VIOLA DIEM, CHRISTOPH HEINEMANN, TOM KROLL, ANNIKA LASARZIK UND YANNICK RAMSEL
Was Wählerinnen und Wählern wichtig ist, lässt sich durch Umfragen leichter beantworten als die Frage, warum das so ist. In diesem Jahr beschäftigt vor allem der Wohnungsmarkt die Hamburgerinnen und Hamburger, gefolgt von innerer Sicherheit und Verkehrsproblemen. Die jungen Menschen, die an der neuen Umfrage von ZEIT:Hamburg und Radio Hamburg teilnahmen, denken da kaum anders als ältere, allenfalls beschäftigen Fragen der inneren Sicherheit sie wohl etwas weniger und die Bildung dafür mehr.
Dass die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt vielen wichtig und problematisch erscheinen, ist leicht zu erklären: Fast jeder dritte Hamburger würde gerne umziehen, kann es sich aber
Die größten Sorgen
nicht leisten, ergibt unsere Umfrage. Die Mieten steigen, die unsichere Lage der Wirtschaft bedroht die Erwerbsmöglichkeiten. Zugleich ist der Wohnungsbau fast zum Erliegen gekommen, und angesichts knapper Flächen und eines Mangels an Fachkräften gibt es wenig Hoffnung auf Besserung. Weniger besorgt als der Durchschnitt, sind in der Befragung tendenziell Anhängerinnen und Anhänger von CDU und FDP, die ihre Wähler häufig in wohlhabenden Stadtteilen finden, wo viele in eigenen Häusern oder Wohnungen leben. Die Sorge um die innere Sicherheit der Stadt beeinflusst die Wahlabsichten kaum weniger als der Wohnungsmarkt. In dieser Frage spielen subjektive Faktoren offensichtlich eine Rolle.
Ike, 17, aus Horn, jobbt in einer Zahnarztpraxis und wartet auf einen Ausbildungsplatz. Hier steht er auf der Horner Rennbahn
Anna, 16, aus Jenfeld, geht auf ein Gymnasium und jobbt nebenbei in einem Restaurant. Am Einkaufs zentrum Berliner Platz, wo sie fotografiert wurde, treffen sich oft Jugendliche
Fotos (Ausschnitte): Kathrin Spirk für DIE ZEIT
Kriminalstatistik weist keine Zunahme an Straftaten aus, im Gegenteil. Und obwohl alle Altersund Wählergruppen denselben Hauptbahnhof benutzen, fühlen sich jüngere Beteiligte unserer Umfrage dort stärker gefährdet als Ältere, und Anhänger von Konservativen und Rechtspopulisten mehr als Wählerinnen und Wähler der übrigen Parteien. Ähnlich verhält es sich mit dem Straßenverkehr. Vor zehn Jahren, als die Christdemokraten gegen die Modernisierung des Busverkehrs protestierten, war dies in den Augen der Hamburger das wichtigste Thema. 2020 hatte es erheblich an Bedeutung verloren, nun kommt es in der Dringlichkeitsrangfolge wieder auf Platz drei. Messwerte der automatischen Verkehrszählstellen und Angaben
der Verkehrsdatenunternehmen Inrix und TomTom legen nahe, dass Autos im Hamburg unserer Tage so gut oder schlecht vorankommen wie vor zehn Jahren und besser als in etlichen anderen Großstädten. Beim Blick durch die Windschutzscheiben scheint sich ein anderes Bild zu ergeben. Trotz aller subjektiven oder objektiven Mängel sind die Hamburgerinnen und Hamburger weit überwiegend zufrieden mit ihrer Stadt. 74 Prozent aller Befragten geben an, sie seien eher glücklich oder sehr glücklich, hier zu wohnen. Die Anhänger von SPD, Grünen, CDU und FDP zeigen sich in unserer Umfrage noch glücklicher, doch selbst unter den Anhängern des BSW, die ihre Stadt eher kritisch sehen, ist die Unzufriedenheit gering FRANK DRIESCHNER
Niclas, 20, ist gelernter Tischler und holt derzeit sein Fachabitur auf dem zweiten Bildungsweg nach
Noah, 17, geht auf eine Stadtteilschule in Bramfeld
Erstwähler
Philipp, 16, Gymnasiast, wohnt mit seiner Mutter und seinem Bruder in einer Neubauwohnung in Eilbek
Torben, 22, studiert an der Universität Hamburg
»Ich will nicht resignieren« Fortsetzung von S. 2
heim in Bergedorf aufgewachsen. Meine Mutter kommt aus Bulgarien, mein Vater aus der Türkei. Ich habe Angst, dass Menschen, die nicht »typisch deutsch« aussehen, noch stärker diskriminiert werden. Es schmerzt, zu sehen, wie sie die NS-Zeit relativieren und von »Remigration« sprechen. Das Erstarken der AfD ist für mich und meine Familie eine Katastrophe.
Was erhoffst du dir von der Politik?
Emma C.: Ich bekomme mit, dass es vielen Jugendlichen in Deutschland psychisch immer schlechter geht, es aber zu wenige Therapieplätze gibt. Das macht mich wütend. Ich wünsche mir, dass die Politik das ändert.
Ayda: Was sich in der Politik verändern muss, ist die Unterstützung von Müttern mit eingeschränkten Kindern. Meine Mutter muss immer mit Anträgen für meine Schwester kämpfen. Und ich finde, die Rente muss angehoben werden, es ist ungerecht, wie niedrig die ist, obwohl so viele Menschen hart gearbeitet haben.
Helena: Ich wünsche mir, dass die deutsche Politik die seit 2018 in Deutschland geltende IstanbulKonvention endlich umsetzt. Mit ihr hat sich der deutsche Staat verpflichtet, Frauen besser vor Gewalt zu schützen.
Finn: Ich überlege, eine Geschlechtsangleichung mit Testosteron zu machen, und möchte meinen Namen und den Geschlechtseintrag ändern.
Das neue Selbstbestimmungsgesetz erleichtert das, aber ich fürchte, dass es wieder erschwert werden könnte, wenn die CDU an die Macht kommt.
Niclas: In Finkenwerder ist die Anbindung an den ÖPNV schwierig. Ich sitze oft im Bus, der durch den Elbtunnel nach Altona fährt, und da sind eigentlich immer Baustellen und Stau. Es gibt Initiativen, um endlich eine S-Bahn-Station in der Nähe zu bekommen.
Was macht dich glücklich?
Emma C.: Nach dem Schulabschluss fühlte ich mich ein bisschen verloren, da habe ich mit Joggen angefangen. Ich liebe es und trainiere gerade für den Marathon in Hamburg. Das ist eine echte Herausforderung, aber am Ende, wenn ich das schaffe, kann ich stolz auf mich sein.
Clemens: Ich gehe regelmäßig essen. Italienische Küche ist das Beste, was es gibt. Ich bin in Deutschland geboren, aber bis zu meinem zehnten Lebensjahr in Rom aufgewachsen.
Emma M.: Ich verbringe gerade ein Austauschjahr in Irland. Hier wird mir erst richtig bewusst, was ich an meinem Leben in Hamburg alles schätze und vermisse. Die Radwege zum Beispiel! Normalerweise fahre ich fast jeden Tag mit meinem Rennrad durch die Gegend. Hier in Südirland ist die Infrastruktur für Radfahrer schlecht, die meisten Menschen fahren Auto.
Fabian: Als ich noch zur Schule ging, habe ich Speed gezogen, um auf Partys lange wach zu blei-
ben. Manchmal auch MDMA, aber der Kater danach war mir zu heftig. Inzwischen weiß ich, dass ich meinen Alltag nicht wuppe, wenn ich Drogen nehme. Und ich hatte auch ein schlechtes Gewissen
»Das Schönste am Tag ist es, nach Hause zu kommen. Meine Mutter zu sehen, mit ihr zu quatschen und auf dem Sofa Serien zu schauen«
Manu, 18, aus Jenfeld
meiner Mutter gegenüber, die sich ständig Sorgen um mich macht. Sport hat mir geholfen, davon loszukommen. Ich spiele Fußball, gehe mindestens zweimal pro Woche ins Gym oder treffe mich mit Freunden zum Laufen.
Philipp: Ich verstehe mich mit meinem kleinen Bruder richtig gut. Wir hören zusammen Hörspiele, meistens läuft Die drei ???. Und meine Mutter unterstützt mich in allem. Sie gibt mir viel Halt.
Ike: Mich macht eine Person glücklich, vielleicht ist sie bald meine richtige Freundin.
Manu: Ich liebe Fußball. Aber das Schönste an einem Tag ist es, nach Hause zu kommen. Meine Mutter zu sehen und mit ihr zu quatschen und auf dem Sofa Serien zu schauen. Von einem meiner Kollegen ist vor fünf Wochen die Mutter verstorben, das hat mir gezeigt, dass man wertschätzen sollte, dass alle noch gesund und am Leben sind. Uns geht es gut.
Helin: Mir gibt es Kraft, die Bilder von großen Demonstrationen gegen rechts zu sehen, so wie letztes Jahr im Januar, als in Hamburg Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Sicher, mit einer Demo verändert man nicht die Welt. Aber Menschen wie ich fühlen sich dadurch weniger allein.
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ike: Ich habe eine Ausbildung bei der Lufthansa angefangen, doch nach einem Monat wurde der Vertrag gekündigt. Das hat mich sehr zurückgeworfen. Ich hoffe, im Sommer wieder neu starten zu können.
Clemens: Mein Hobby ist das Backen. Ich backe alles, von Torten bis zu kleinem Gebäck. Letztens habe ich mich an Baumkuchen probiert. Ich überlege sogar, auf eine Konditor-Schule zu gehen.
Noah: Ich will Fußballprofi werden. Um besser zum Training zu kommen, mache ich gerade meinen Führerschein. Gerade bin ich mit Bus und Bahn unterwegs, das dauert manchmal eine Stunde. Mit dem Auto braucht man für die Strecke 20 Minuten. Niclas: In der zehnten Klasse hieß es noch, das Abi sei unrealistisch für mich. Handwerklich geschickt war ich auch nicht. Trotzdem habe ich eine Tischlerlehre abgeschlossen und hole jetzt das Fachabi nach. Ich überlege, danach Geschichte zu studieren. Manu: Viele in Jenfeld sind abgerutscht. Meine Mutter und meine Geschwister haben mir früh eingebläut: Geh nicht den Jenfelder Weg. Das hieß: Mach die Schule fertig, finde einen Job. Das ist mein Mindset. Vielleicht werde ich Versicherungskaufmann.
Mika: Wir brauchen Optimismus als Antrieb, den Glauben an das Gute. Ich glaube fest daran, dass unsere Demokratie widerstandsfähig ist, wenn wir sie schützen und dafür mindestens zur Wahl gehen. Ike: Ich war in der Schule leider faul, darum habe ich nur einen erweiterten Hauptschulabschluss. Ich glaube trotzdem, ich kann noch alles erreichen. Ich kann noch Fachabi machen, ich könnte noch Arzt werden. Ich will irgendwann eine Familie ernähren können. Meine Eltern träumen davon, irgendwann zurück nach Nigeria zu gehen, ihre Heimat. Das würde ich ihnen gerne erfüllen.
Anna: Ich will nicht resignieren – gerade weil ich hier aufgewachsen bin, liegen mir die Leute am Herzen. Wir dürfen nicht aufhören, miteinander zu reden, und dürfen den Rechten nicht das Feld überlassen.
Drogen, Träume, Liebe – von den 18 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen wir in verschiedenen Interviews gesprochen haben, erzählten einige sehr private Dinge. Wir haben deshalb beschlossen, alle Beteiligten zu ihrem Schutz nur beim Vornamen zu nennen. Ein Interviewter, Torben, wollte seine Geschichte lieber komplett anonym berichten. Er heißt eigentlich anders.
BIS ZUM 28.02.2025
Schnell sein lohnt sich: jetzt Monatsbeiträge und Aufnahmegebühr geschenkt.*
Politik
Wählen Sie mich, ich bin Imker
Aber stimmt das auch? Am 2. März ist Bürgerschaftswahl. Wir haben die Berufe auf den Stimmzetteln überprüft – und so einige Flunkereien gefunden VON CHRISTOPH HEINEMANN UND TOM KROLL
Da wäre etwa Marcel Klose, SPD-Kandidat für einen Sitz in der Hamburgischen Bürgerschaft aus dem Wahlkreis Wandsbek. Auf dem Wahlzettel hat ihm seine Partei den Platz drei der Wahlkreisliste eingeräumt. Klose ist, bei allem Respekt, bislang keine Größe in der Hamburger Politik, doch das könnte sich bald ändern, denn er steht mit einem durchaus wohlklingenden Beruf auf dem Wahlzettel: »Notfallseelsorger«. Tatsächlich arbeitet Klose als Verwaltungsangestellter in der Innenbehörde. In der Seelsorge ist er, so schreibt er es selbst auf der Website der SPD, ehrenamtlich tätig.
Bisher hindert ihn kaum etwas daran, diese »Berufs«-Angabe auf dem Wahlzettel zu machen – vermeintlich um die Gunst und damit die Stimmen der Wähler buhlend. Und mit dieser kleinen Trickserei ist Klose beileibe nicht der Einzige. Die ZEIT hat bei allen Kandidaten, deren Parteien es nach Umfragen über die Fünfprozenthürde schaffen könnten, die Berufe überprüft, und so viel sei vorweggenommen: Bei allen finden sich Unstimmigkeiten, schon in diesen Listen ließen 52 Berufsangaben mindestens eine gewisse Verwunderung zu. Manche können wohl als kleine Verschönerung des eigenen tatsächlichen Berufs angesehen werden, einige Zweifel ließen sich auf Nachfrage klären, andere nicht – und mindestens ein Fall könnte sogar eine Straftat sein. Marcel Klose gibt auf Nachfrage ebenso an, er habe neben seinem Job in der Innenbehörde noch weitere bezahlte Tätigkeiten. Er habe sich aber für die Angabe »Notfallseelsorger« nicht entschieden, weil er mehr Stimmen bekommen möchte, sondern um »das Ehrenamt bekannter zu machen«. Er verfüge über alle nötigen Qualifikationen für einen Notfallseelsorger, und sei durch die »Bereitschaftszeiten zeitlich höher beansprucht« als mit seinen anderen Tätigkeiten. Bei manchen liegt der Verdacht der Schönfärberei aber noch näher. Bei der AfD etwa stehen zwei Offiziere auf der Landesliste. Einer von ihnen, Benjamin Mennerich, gab schon 2017 seine hauptberufliche Tätigkeit bei der Bundeswehr auf und ist derzeit Reserveoffizier. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, offenbar bei der AfD-Fraktion. Ein Offiziersrang aber eignet sich besser, könnte man vermuten, um Direktstimmen von AfD-Wählern zu bekommen. Mennerich äußert sich dazu nicht, ein Sprecher aber schreibt: Mennerich sei über ein Jahrzehnt als Offizier aktiv gewesen. Die Bezeichnung »wissenschaftlicher Mitarbeiter« könnte bei einigen Wählern den »fälschlichen Eindruck erwecken, dass er als Wissenschaftler tätig sei«. Bei den Grünen stößt man auf Ingo Schreep, er sitzt bereits als Abgeordneter in der Bezirksversammlung und ist Schatzmeister seines Kreisverbands. Nun kandidiert er für die Bürgerschaft, angegebener Beruf: Imker. Auf der Grünen-Website steht zu lesen, er sei DiplomKaufmann und imkere lediglich in seiner Freizeit. Auf Anfrage der ZEIT schreibt Schreep, er arbeite inzwischen hauptsächlich als Imker. Fragt man ihn am Telefon, ob das denn auskömmlich sei, sagt er: »Das reicht zum Leben.« Eine Sprecherin des Deutschen Berufs- und Erwerbsimkerbundes e. V. sagt: Die meisten ihrer Mitglieder, die nebenher imkern, hätten mindestens 30 Bienenvölker, ab dieser Anzahl müsse man seine Tätigkeit auch beim Finanzamt anmelden. Damit ein Imker von seinem Honig für ein Dasein genug verdient, »braucht es mindestens 100 Bienenvölker«. Die meisten hätten eher 300. Ingo Schreep hat neun Bienenvölker, sagt er auf weitere Nachfrage. Als die ZEIT über den Beruf von Lars Boettger stolpert – Mitglied im Landesvorstand der Grünen, der auf Platz 36 der Landesliste als »Climate-Change-Manager« antritt – und ihn danach fragt, schickt der Politiker ein langes Schreiben. Zusammengefasst geht daraus hervor, dass Boettger als Geschäftsführer einer international operierenden Beratungsfirma für Immobilienunternehmen arbeitet. Er habe aber neben seiner »kaufmännisch geschäftsführenden Funktion« auch eine als Climate Change Manager, schließlich analysiere er die »wesentlichen Eck-
daten der Energieeffizienz der Gebäude und von Quartieren«. Boettgers Firma heißt: Gesellschaft zur Förderung der Eigenvermarktung mbH. Im Hamburger Wahlgesetz ist die Berufsangabe in Paragraf 24 geregelt. Dort steht, dass sich die Kandidaten für die Wahlen »zu ihrem Beruf und Wohnortstadtteil zu erklären« haben, wie genau, ist nicht ausgeführt. Zustande kommen die Angaben jedoch immer über ein ähnliches, ebenfalls im Gesetz vorgeschriebenes Prozedere. Bei Aufstellungsversammlungen, also Parteitagen und Sitzungen der Bezirksverbände, nominieren die Parteien ihre Kandidaten und schicken die Liste mit weiteren Unterlagen an das Landeswahlamt, das im Gebäude der Innenbehörde am Johanniswall sitzt. Dort ist Oliver Rudolf seit 14 Jahren als Landeswahlleiter dafür verantwortlich, dass die Wahlen ordnungsgemäß ablaufen.
Kandidaten haben solche Verschönerungen aber nicht. »Nein, eine Sanktion im Sinne eines Ordnungswidrigkeiten- oder Straftatbestands ist für eine unzutreffende Berufsbezeichnung gesetzlich nicht bestimmt«, sagt der Landeswahlleiter. Dabei waren die Regeln nach einem Fall im Jahr 2015 bereits verschärft worden. Damals stellte sich der Wandsbeker SPD-Politiker Hauke Wagner als Rettungssanitäter zur Wahl. Der Volkswirt arbeitete für einen Anbieter großer Werbeplakate, vor der Bürgerschaftswahl aber belegte er schnell noch einen 48-stündigen Sanitäterkurs und machte dann diese Angabe. »Als ich wusste, dass ich kandidieren werde, habe ich mich informiert, welche Berufe das höchste Ansehen genießen«, erklärte Wagner damals gegenüber der Welt. »Nach Feuerwehrmann steht Sanitäter auf Platz zwei.«
seit rund 20 Jahren als Schausteller tätig. Er betreibt Crêpes-Stände, mit denen er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zieht. Michael Weinreich sagt, »als Kind aus Wilhelmsburg war es nicht einfach«. Er sei stolz, dass er ein anspruchsvolles Studium abgeschlossen habe. Je länger man die Wahllisten durchsucht, desto mehr ergibt sich ein Muster: Viele Kandidaten geben nicht an, was sie sind, sondern was sie einmal waren. So arbeitet Parteikollegin Kirsten Martens, die sich ihren Wählerinnen und Wählern als Kinderkrankenschwester vorstellt, bereits seit fast einem Jahrzehnt als Verwaltungsangestellte in einer Grundschule in Duvenstedt. Sie habe ihren Lehrberuf auf den Wahlzettel geschrieben, weil sie »keine Möglichkeit« gehabt habe, den ausgeübten Beruf »zusätzlich« anzugeben, teilt sie auf Nachfrage mit. Anderen gelang das durchaus: Bürgermeister Peter Tschentscher
Im Gespräch mit der ZEIT wird deutlich, dass Rudolf diese Form der Trickserei bei der Wahl nicht unbekannt ist – doch verhindern kann er sie nicht. Wenn die Listen nach den Versammlungen bei ihm ankommen, so sagt er, überprüfe er die Namen und Adressen der Kandidierenden anhand von Meldedaten. Rudolf will nichts dazu sagen, aber auch hier gibt es Schummelversuche: Manch ein Bewerber schrieb seinen Namen in einem Wahlkreis mit vermeintlich besseren Aussichten auf die Liste. Ob die Berufe stimmen, prüft sein Amt nicht regelhaft. »Es gibt gesetzlich keine vorzulegenden Nachweise, anhand derer eine solche Prüfung durchgeführt werden könnte«, sagt Rudolf. Um alle Angaben zu hinterfragen, hätte das Landeswahlamt wohl auch weder genug Zeit noch Personal. Nach eigenen Angaben fragt Rudolf immerhin regelmäßig bei Parteien nach, wenn eine Berufsangabe ihm zweifelhaft erscheine – »etwa wenn es den Anschein hat, als wäre ein Ehrenamt als Beruf angegeben worden«. Konsequenzen für die
Als die Trickserei bekannt wurde, beschloss die Bürgerschaft, dass die Kandidierenden bei der Aufstellungsversammlung zu ihren beruflichen Verhältnissen befragt werden müssen. Danach muss ein Parteimitglied gegenüber dem Landeswahlleiter an Eides statt versichern, dass seine Angaben stimmen. Dafür garantieren, dass die Berufe korrekt sind, müssen also die Parteien. Aber was bedeutet eine richtige Berufsangabe? SPD, Grüne und CDU schreiben auf Anfrage jeweils das Gleiche: Kandidaten sei es gestattet, neben ihrer aktuellen Tätigkeit auch eine frühere Tätigkeit oder beispielsweise den Lehrberuf anzugeben. Das »Selbstverständnis« zähle, teilt eine Sprecherin der Grünen mit.
In den Listen zur Wahl finden sich aber auch zahlreiche Staatswissenschaftler und Soziologen, die offenbar weder im Wissenschaftsbetrieb arbeiten noch wissenschaftliche Publikationen herausgebracht haben. Und der Historiker Michael Weinreich, SPD-Bürgerschaftsabgeordneter, hat zwar einst Geschichte studiert, ist aber
steht, um nur ein Beispiel zu nennen, als »Erster Bürgermeister, Arzt« auf dem Wahlzettel. Martens wird es am 2. März helfen, das ist keine besonders gewagte Prognose. »Mit dem richtigen Beruf überholen Kandidaten bis zu zehn andere Kandidierende, die vor ihnen auf einer Liste stehen«, sagt Mario Mechtel, Professor an der Leuphana-Universität in Lüneburg. 2014 hat Mechtel die Ergebnisse einer badenwürttembergischen Kommunalwahl analysiert. Bäcker und Metzger katapultierte ihr Beruf um durchschnittlich elf Listenplätze nach oben, fand Mechtel heraus, Landwirte um zehn, Polizisten um neun und Krankenpfleger um sieben. Für Unternehmensberater, Beamte oder Kaufleute ging es hingegen bergab. Verkäufer verloren am stärksten. Ähnlich wie in Hamburg, konnten die Wählenden auch in BadenWürttemberg mehrere Stimmen auf Kandidaten unterschiedlicher Parteien verteilen. In Hamburg ist es möglich, zehn unterschiedlichen Personen je eine Stimme zu geben. »In Parlamenten, in denen Wähler ihre Kandidaten
Von 815 Menschen, die zur Bürgerschaftswahl antreten, wurden diese Berufe am häufigsten genannt
nicht kennen, zieht der Beruf enorm«, sagt Mechtel. Sicherlich, so vermutet Mechtel, seien im ländlich und konservativ geprägten Flächenland Baden-Württemberg andere Berufe angesehener als in der Großstadt Hamburg. Wie sich die Berufsangabe hier auswirken kann, hat Stephanie Faust-Weik-Roßnagel von den Hamburger Grünen erlebt. Bei der Wahl zur Bezirksversammlung im Sommer 2024 war sie besonders ehrlich. Sie gab im Bezirk Altona 4 die etwas sperrige Berufsbezeichnung »Erstorientierungskurs-Leiterin« an. »Darunter konnte sich wohl kaum jemand etwas vorstellen«, sagt sie heute. Hinter der Berufsbezeichnung verbirgt sich eine Projektleitung, die bei einem Bildungsträger Kurse für Geflüchtete anbietet. Damals erreichte sie trotz Listenplatz eins nur knapp 7.000 Direktstimmen – zu wenige für ein Mandat. Fünf Jahre zuvor, 2019, war sie noch als »Erziehungswissenschaftlerin M. A.« angetreten und bekam knapp 9.000 Stimmen. Faust-Weik-Roßnagel ist eine engagierte Wahlkämpferin und Kommunalpolitikerin. Man sah sie an »Zuhörständen« in Fußgängerzonen, im Parlament setzte sie sich vehement für die Rechte von Fußgängern ein. Am Ende nahm eine Newcomerin ihren sicher geglaubten Platz in der Bezirksversammlung ein, gestartet war diese auf dem eigentlich chancenlosen Listenplatz drei, doch sie erhielt knapp 500 Stimmen mehr. Ihr Beruf: »Gesundheits- und Krankenpflegerin«. »Wenn das der Wählerwille ist, dann muss ich das akzeptieren«, sagt FaustWeik-Roßnagel dazu. Kleine Tricksereien sind das eine, falsche Behauptungen das andere. Ein Kandidat hat einen streng geschützten Berufstitel angegeben. Bei Baris Önes, Spitzenkandidat für die SPD in Billstedt, steht auf dem Stimmzettel »Rechtsanwalt«, doch eine Zulassung besitzt er nicht. Oder noch nicht: Auf Anfrage räumt der Volljurist Önes seinen Fehler ein und stellt in mehreren E-Mails seinen Fall dar. Im Oktober vergangenen Jahres habe er einen Antrag auf Zulassung gestellt. Seine Anwaltschaft hänge noch an einer Auskunft der Rentenversicherung, wie ein von ihm mitgeschicktes Schreiben der Anwaltskammer belegen soll. Am Telefon sagt er, er hoffe darauf, dass er pünktlich zur Bürgerschaftswahl in die Anwaltskammer aufgenommen werde. Bernd Heinrich findet die Funde auch aus strafrechtlicher Perspektive »spannend«, wie er per E-Mail schreibt. Heinrich ist Rechtswissenschaftler und Professor an der Uni Tübingen. In »Einzelfällen«, so schreibt er, könne man bei Falschangaben unter Umständen zu einer Strafbarkeit kommen, denn es könnte sich um Wählertäuschung handeln. Die sei erfüllt, wenn ein Kandidat »durch Täuschung bewirkt, dass jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt«. Es komme darauf an, schreibt Heinrich, ob der Wähler eventuell einen Kandidaten nur gewählt habe, weil er einen bestimmten Beruf ausübe, und später feststelle, der arbeite etwas anderes. Ob die Angabe eines Hobbys oder eines Ehrenamtes strafbar sein könnte? Dazu tendiert der Strafrechtler. Wenn Kandidaten ihren alten Lehrberuf auf den Stimmzettel notieren ließen, bedeute das dagegen eher keine Straftat. Obwohl solche Angaben dem Schutzzweck der Norm widersprächen, »da Wähler eher an der aktuellen Tätigkeit interessiert sind«. Fest steht: Wer der Wählertäuschung überführt wird, dem droht eine Geldstrafe, so steht es in Paragraf 108a des Strafgesetzbuches, theoretisch kann sogar eine Haft von bis zu zwei Jahren verhängt werden. Zur Bürgerschaftswahl nun ist die Liste der Ungereimtheiten lang: In der CDU gibt es einen Politikwissenschaftler, der eine Umschulung zum Tourismuskaufmann absolviert, und einen Sales-Consultant, der sich als »Manager« betitelt. Ein FDP-Abgeordneter hat sich einen neuen Beruf erfunden, Vorstand a. D. – eigentlich ist er Beamter, stand aber bis Ende 2023 der gemeinsamen Glücksspielbehörde der Länder vor. Bei all den Tricksereien muss man ebenso erwähnen: Zur Wahl am 2. März treten auch eine Barfrau an und eine Friseurin, mehrere Mitglieder der Bürgerschaft und Rentner – Angehörige einer im Wahlvolk wenig angesehenen Gruppe. Einen Vorteil haben diese Angaben: Sehr wahrscheinlich treffen sie zu.
Wie viele Bienenvölker braucht man wohl, um damit Geld zu verdienen?
Kommentare
HSV-Fans mit Bengalos beim Spiel gegen den 1. FC Köln
Jetzt nicht kuschen!
Die Gewaltorgien von Hamburger Fußballfans müssen ein Ende haben. Dafür sorgen kann nur der HSV VON DANIEL JOVANOV
Der Hamburger SV hat ein Problem mit seinen Fans. Vor dem Spiel gegen den 1. FC Köln am 18. Januar überfiel eine Gruppe von rund 150 HSV-Anhängern GästeFans vor einer Kneipe auf St. Pauli –unter den Opfern waren auch Frauen und ältere Menschen. In Schwarz gekleidete, teils maskierte Männer stürmten auf die Kölner zu, schlugen mit Fäusten auf Köpfe und prügelten hemmungslos auf alles ein, was nicht rechtzeitig Schutz in der Kneipe fand. Dies ist keineswegs ein Einzelfall, immer wieder sind in den vergangenen Jahren kleinere, gewaltbereite Fangruppen des HSV auffällig geworden – durch Auseinandersetzungen mit Anhängern gegnerischer Clubs und sogar durch Übergriffe im eigenen Lager. Im August 2023 etwa attackierten rund 30 Männer an der S-Bahn-Haltestelle Stellingen einen 23-Jährigen, seinen Vater und seinen 73-jährigen Großvater, allesamt HSV-Fans.
Im März 2024 eskalierte ein Konflikt mit der Polizei, als während eines Heimspiels gegen den VfL Osnabrück ein Polizei-Uniformhemd in der Fankurve verbrannt wurde. Dort, wo sich normalerweise die Ultras aufhalten, also diejenigen, die für Stimmung auf den Rängen sorgen. Ob man die Gewalttäter nun zur Gruppe der Ultras zählt oder sie Hooligans nennt, ist zweitrangig. Denn über all diese Vorfälle kann es keine zwei Meinungen geben: Sie sind abscheulich und erfordern entschlossenes Handeln. Aber was bedeutet das konkret?
Womöglich wird die Polizei nur einen Bruchteil der Täter ermitteln können. Die Führung des HSV sollte dann, wenn die Namen übermittelt sind, umgehend Stadionverbote aussprechen. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) hat recht, wenn er fordert, dass auf die Entschuldigung der HSV-Verantwortlichen »Taten folgen müssen«. Zu häufig würden »Verbote gar nicht ausgespro-
chen, gleich wieder aufgehoben oder zur Bewährung ausgesetzt«.
Das wirft die Frage auf, wieso das so ist. Der Clubvorstand muss jetzt klären: Wie weit wirkt der gewaltbereite Teil der Fanszene in den Club hinein, in die Sicherheitsdienste und in die Fanbetreuung? Und inwieweit sorgen die personellen Strukturen dafür, dass gewalttätige Fans möglicherweise gedeckt werden?
Zwar kann der HSV nicht die Verantwortung für all jene übernehmen, die sich selbst zu seinen Fans zählen, aber er darf nicht vor randalierenden Gruppen kuschen. Er kann deutlich mehr tun als bisher, durch konsequente Sanktionen etwa oder vorbeugende Maßnahmen und direktes Zugehen auf die Fangruppen. Es braucht eine klare Ausgrenzung von Schlägertruppen. Denn die Mehrheit der Zuschauer im Stadion ist friedlich – und ihre Sicherheit muss oberste Priorität haben.
Strahlentherapie 2.0
Mit Hightech-Medizin und Herz im Kampf gegen den Krebs
Mit einer Präzision von unter einem Millimeter lassen sich einige Tumoren und Metastasen heutzutage, ohne Operation, alleinig durch die Strahlentherapie, behandeln“, erklärt Prof. Dr med. Fabian Fehlauer, Gründer des Strahlenzentrum Hamburg MVZ (SZHH).
Als eines der führenden Versorgungszentren für Strahlenmedizin, Radiochirurgie und Schmerztherapie und einzige ärztlich geleitete, zertifizierte ambulante Einrichtung in Deutschland – mit den Therapieoptionen am Cyberknife und der modernsten Hochpräzisionsbestrahlung, sowie der neuartigen Vision RT – ist hier die Wahl des optimalen Verfahrens und individuellen Therapieplans stets gewährleistet. Mitte letzten Jahres wurde hier ein neuer hochmoderner Linearbeschleuniger der neusten Generation eingeweiht, im Oktober wurde der erste Patient mit einem weiteren dieser neuesten Bestrahlungsgeräte in der Strahlentherapie Elmshorn behandelt. Dies garantiert ab sofort eine qualitative Verbesserung der ambulanten Patientenversorgung – nicht nur im Hamburger Norden.
In Deutschland erkranken jährlich mehr als 500.000 Menschen an Krebs, Tendenz steigend. Dank des medizinischen Fortschritts ist die Strahlentherapie (Radiotherapie) mittlerweile eine der zentralen Säulen der Therapie: Bei jedem zweiten Krebspatienten kommt sie im Laufe seiner Erkrankung zum Einsatz.
„Eine Mehrzahl der Krebsleiden können wir sehr schonend heilen!“
Die Strahlentherapie kann als alleinige Behandlungsmethode einige Krebsarten heilen, sie kann aber auch in Kombination mit einer Chemotherapie (Radiochemotherapie) und nach oder vor einer Operation eingesetzt werden. Die häufigste Krebserkrankung des
Mannes ist das Prostatakarzinom. Oft wird nur die radikale Operation empfohlen, wenngleich eine bestens verträgliche und schonende Methode die Strahlentherapie darstellt, was klinische Studien beweisen. Darüber hinaus kann eine Bestrahlung in der Krebsbehandlung auch eingesetzt werden, um Beschwerden zu lindern oder ihnen vorzubeugen.
Markerless Awardin ganz Norddeutschland nur für das Strahlenzentrum Hamburg
In der Planungsphase erhalten die Patienten permanente Filzstift-Markierungen auf der Körper- bzw Hautregion, die bestrahlt werden soll. Diese sollen sicherstellen, dass der Patient bei jeder Behandlungseinheit in identischer Position liegt. Während der Bestrahlungsserie dürfen die Patienten normalerweise nicht duschen und keinen Sport treiben, damit diese Markierungen nicht „verrutschen“ In englischsprachigen Ländern erfolgt hierfür sogar eine Tätowierung Mit diesen Hautmarkierungen assoziieren viele Patienten deshalb negative Gefühle, der Blick in den Spiegel erinnert zudem täglich an den Krebs und die Therapie. Das Strahlenzentrum Hamburg kann dank seiner neuen – in ganz Norddeutschland einmaligen – zukunftweisenden technischen Innovation, der oberflächengesteuerten SGRT (Surface Guided Radiation Therapie), nun komplett auf Hautmarkierungen verzichten. „Unsere Patienten können jetzt – trotz ihrer Therapie – duschen oder ein Bad nehmen“, erklärt Dr Exner, ärztlicher Leiter
Die Bezahlkarte ist wie eine Bankkarte – mit stark eingeschränkter Nutzbarkeit
Nichts als Schikane
Seit einem Jahr gibt es statt Bargeld eine Bezahlkarte für Asylsuchende. Sie gehört abgeschafft VON CHRISTOPH TWICKEL
Die Entrechtung von Migrantinnen und Migranten hat Konjunktur –nicht nur in den USA unter Trump und in der Rhetorik der AfD, sondern auch im deutschen Behördenhandeln. Vor einem Jahr hat Hamburg als erstes Bundesland die Bezahlkarte eingeführt. Asylsuchende bekommen seither Sozialleistungen als Guthaben auf einem Stück Plastik ausgezahlt. Über dieses Guthaben – bei Eltern, die zusammen wohnen, sind es 154,50 Euro pro Person – verfügen sie nicht frei. Sie dürfen damit nur in bestimmten Geschäften einkaufen. Sie können maximal 50 Euro Bargeld monatlich abheben, bei Minderjährigen sind es 10 Euro. Bisher galt die Bezahlkarte für Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen, im Laufe des ersten Quartals 2025 soll sie auch für Folgeeinrichtungen kommen. Die Bundesregierung begründet die Bezahlkarte mit einer Vereinfachung des Verfahrens, weiterhin wie zuvor Bargeld
auszuhändigen, sei zu umständlich. In Wahrheit ist der Verwaltungsaufwand kafkaesk hoch, denn mit der Karte können keine Überweisungen getätigt werden. Die Behörden müssen deshalb jede Mietzahlung, jeden Schulausflug, jeden Sportvereinsbeitrag prüfen und einzeln auf die Karte buchen – was für die Betroffenen langwierig und entwürdigend ist.
Eine Hamburger Geflüchtetenfamilie hat Klage erhoben, mit guten Argumenten: Die Bargeldbeschränkung mache es unmöglich, zum Beispiel einen gebrauchten Kinderwagen zu kaufen. In Hamburg sollen nun auch Überweisungen und Lastschriftmandate möglich sein, aber nur bei »autorisierten« Zahlungsempfängern. Die Bundesregierung begründet die Gängelei damit, dass Geld auf der Bezahlkarte »nur im Inland« ausgegeben werden könne, Überweisungen an Schlepper oder in das Herkunftsland seien so nicht möglich. Darüber, dass Geflüchtete ihre Sozialleistungen bisher an Schlepper oder Verwandte geschickt
hätten, gibt es aber weder in Hamburg noch beim Bund Erkenntnisse. Die Bezahlkarte folgt schlicht einer Verdachtslogik, die dem rassistischen AfDGerede von »Asylmissbrauch« und »Einwanderung in unsere Sozialsysteme« entspricht. Das ist schändlich, zumal für eine Stadt, die »Tor zur Welt« sein will. Die Bezahlkarte gehört abgeschafft und durch eine Debitkarte ohne Bargeld- und Überweisungsbeschränkung ersetzt. Denn selbst wenn es zutrifft, dass sich Asylsuchende ein paar Euro für zu Hause abknapsen, ist das ein »Beitrag zur Armutsbekämpfung und zur wirtschaftlichen Resilienz« in den Herkunftsländern. So steht es in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in der es weiter heißt, solche Geldtransfers seien »häufig wirkungsvoller als Finanzmittel aus der Entwicklungszusammenarbeit, da sie die Bedürftigen ohne Verluste durch Bürokratie oder Korruption direkt erreichen«. Dagegen können eigentlich nur Rechtsradikale etwas haben.
Prof. Dr Fabian Fehlauer mit seinen Ärztlichen Leitern Dr Sebastian Exner und Dr Felix Behrens. Prof. Dr Fabian Fehlauer hat das Strahlenzentrum 2007 gegründet. Der Professor gilt nicht nur als Impulsgeber für moderne, innovative Technologien in der Landschaft der Strahlentherapie, sondern stellt auch höchste Ansprüche – an die fachliche Kompetenz und die menschliche Zuwendung in persönlicher Atmosphäre.
des SZHH, „Denn deren Körper wird nun während der Behandlung mit einer reinen und absolut unschädlichen Lichtquelle quasi abgetastet und überwacht. 20.000 feine Lichtpunkte analysieren die Körperoberfläche vor und während der Bestrahlung mit 3-D-Kameras digital im Submillimeter-Bereich, was die Sicherheit und den Komfort für die Patienten immens erhöht. Der Patient ist jetzt quasi seine eigene individuelle Markierung’. Neben der Hochpräzisionsbestrahlung kommt im Strahlenzentrum bereits seit 2011 die nach wie vor fortschrittlichste Therapie für Tumorpatienten zum Einsatz: das CyberKnife. Hierbei handelt es sich um eine submillimetergenaue, ro-
botergeführte Photonenbehandlung: Ein virtuelles Skalpell zerstört hochpräzise krankhaftes Gewebe, während das gesunde Gewebe verschont bleibt. In einmaliger Weise können damit bestimmte schwierigste Krebsarten behandelt werden –ambulant, ohne operativen Eingrif, ohne Narkose und Schmerzen. Und meist sogar in nur einer Therapiesitzung
Submillimetergenaue Therapie mit dem CyberKnife, ambulant, ohne OP, ohne Narkose und Schmerzen
Mit dem CyberKnife kann bspw ein klei-
nes Prostatakarzinom mit nur fünf Anwendungen kuriert werden, ambulant –und ohne wesentliche Veränderungen der Lebensqualität. Kleinste Absiedlungen, sogenannten Metastasen, können mit nur einer Anwendung eliminiert werden, wodurch sogar eine medikamentöse Therapie vermieden werden kann. „Auch in schwerwiegenden Fällen oder chronischer Erkrankungssituation erreichen wir eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität“, unterstreicht Dr Fehlauer, der auch ausgebildeter Palliativmediziner ist. „Wir lindern Schmerzen und können einen vorübergehenden Stillstand der Erkrankung erzielen, um wertvolle Lebenszeit hinzuzugewinnen.“
Nach 200 Jahren kehren die Biber zurück nach Hamburg. Ein Erfolg für den Artenschutz – doch mit ihm kommen die Konflikte VON MAGDALENA HAMM
Am Ufer der Gose-Elbe beugt sich Frederik Landwehr über ein Gebilde aus Ästen und Schlamm. Und horcht. »Wenn man ganz leise ist«, sagt er, »hört man die Biber manchmal schnarchen.« Landwehr ist Hamburgs oberster Biberexperte und das Bauwerk die Behausung einer Familie dieser Tiere. Doch an diesem grauen Novembertag dringt kein Geräusch durch die Zweige, die Bewohner schlafen wohl anderswo. Pro Revier legen Biber zwei bis drei solcher Burgen an. Solange die Ufer bewachsen sind, bleiben die Nager und ihre Bauten für Spaziergänger fast unsichtbar. Jetzt im Winter kann man ihre Spuren finden – und für Frederik Landwehr beginnt die Saison des Zählens. Seit sich 2010 die ersten Biber in Borghorst an der östlichen Stadtgrenze niedergelassen haben, wächst die Population langsam an. Landwehr schätzt sie auf etwa 50 Tiere, verteilt auf zehn bis zwölf Reviere. Die meisten befinden sich im Bezirk Bergedorf, entlang der Dove- und der Gose-Elbe und in Angelteichen und Tümpeln in den Vier- und Marschlanden. Die Rückkehr der Biber gilt unter Naturschützern als großer Erfolg, denn sie stehen auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten und sind in Norddeutschland stark gefährdet. Biber in einer Großstadt wie Hamburg, das ist eine kleine Sensation. Wegen ihres Fleisches und des dichten Pelzes wurden Biber jahrhundertelang gejagt. »Ein dritter Grund war das Bibergeil«, erzählt Landwehr. Gemeint ist ein moschusartig riechendes Sekret aus der Analdrüse, das der vormodernen Medizin als Wundermittel galt. Tatsächlich hat das Sekret eine leicht schmerzlindernde Wirkung, denn der Aspirin-Wirkstoff Salicylsäure steckt auch in der Weidenrinde, die Biber gern fressen. Die starke Bejagung hat dazu geführt, dass der Europäische Biber zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast überall in Deutschland ausgerottet war. Nun ist er also zurück. Noch ist der Bestand in Hamburg zwar nicht so groß, dass er gegen Krankheiten oder Überschwemmungen gewappnet wäre, regelmäßig werden Jungbiber auch bei ihren Wanderungen von Autos überfahren oder in Kämpfen mit Artgenossen um geeignete Reviere getötet. Einer Richtlinie des Bundesamts für Naturschutz zufolge braucht es für eine stabile Biber-Population mindestens 90 davon. »Es ist fraglich, ob ein Stadtstaat wie Hamburg überhaupt so viele Reviere bieten kann«, sagt Landwehr. Eine andere Frage ist, wie viele Biber die Stadtbevölkerung aushält. Denn mit den Nagern kommen auch Konflikte: Biber graben sich in Uferbefestigungen und ziehen mitunter neue Gräben, um Gewässer miteinander zu verbinden. So ersparen sie sich den Weg über Land. Erscheint ihnen ein Gewässer zu flach oder fließt es ihnen zu schnell, bauen sie Dämme und stauen das Wasser auf. In einer Landschaft wie den Vierund Marschlanden, die von unzähligen Entwässerungsgräben durchzogen ist, kann das zum Problem werden, Gärten und Gemüseanbauflächen droht Gefahr. Und Biber fällen Bäume. »Da vorne leuchtet was«, sagt Landwehr und deutet auf das helle Holz spitz zulaufender schmaler Baumstümpfe. Drum herum liegen frische Späne, die Bäumchen wurden offenbar erst kürzlich gefällt. Im Frühling und Sommer ernähren sich Biber hauptsächlich von Gräsern und Kräutern, doch in der kargen Jahreszeit bleiben ihnen nur Baumrinden junger Triebe. Weil sie nicht klettern können, knabbern die Nager meist junge Stämme durch, um an die frischen Zweige in der Baumkrone zu gelangen. »Aktuell bauen die Biber hier noch keine Dämme, und auch sonst halten sich die Schäden in Grenzen«, sagt Frederik Landwehr. Trotzdem gehört Konfliktmanagement schon jetzt zu seinen Hauptaufgaben. In Fünfhausen etwa, einem Ortsteil von
Hamburg-Kirchwerder, ist Anfang des Jahres ein Uferweg abgesackt, nachdem ein Biber begonnen hatte, dort einen unterirdischen Bau zu graben. »Der Weg führt zu einem Privatgrundstück, und da war beim Besitzer die Sorge groß, dass er da nicht mehr mit dem Auto hinkommt.« Landwehr konnte ihn beruhigen. Zwar verbietet es das Naturschutzrecht, Biber zu stören oder ihre Bauten zu entfernen, aber die Wegesicherheit ging in diesem Fall vor, und so wurde die Uferbefestigung aufgefüllt, der Biber zog weiter. Wenn Biber sich an Obstbäumen vergreifen, sind solch rigorose Maßnahmen nicht erlaubt. Frederik Landwehr rät stattdessen zu weißer Schälschutzfarbe oder Drahtgittern um die Stämme. »Oder Sie stellen für ein paar Wochen einen Elektrozaun auf. Biber lernen schnell. Wenn sie einmal einen Schlag abbekommen haben, kommen sie nicht wieder.« Solches Wissen versucht der Biberschützer auch in Schulen, unter Anwohnern, Jägern und Anglern zu verbreiten. Inzwischen hat Landwehr zehn Ehrenamtliche um sich geschart, die regelmäßig wie er in den Biberrevieren unterwegs sind und ebenfalls in ihrem Umfeld aufklären und um Verständnis werben. In Bergedorf etwa überwiegen derzeit noch Wohlwollen und Interesse an den Bibern. Eine andere Tierart mit ähnlichem Lebensstil steht dagegen in weitaus schlechterem Ruf. Nutrias sind ebenfalls amphibisch lebende Nagetiere, auch sie graben Erdhöhlen in den Uferbereich und ernähren sich hauptsächlich pflanzlich. Ein Unterschied ist, dass sie sich ganzjährig vermehren und dies seit Jahren fleißig tun. 20.000 bis 40.000 dieser Tiere sollen schon im Stadtgebiet leben, es mehren sich die Beschwerden über beschädigte Deichanlagen, Maisfelder und Blumenplantagen. Da Nutrias ursprünglich aus Südamerika stammen, gelten sie als invasive Art, die man am liebsten wieder loswerden würde. Zeitweilig zahlte die Umweltbehörde sogar eine Prämie an Jäger, die Nutrias erlegten. Frederik Landwehr sieht das skeptisch. Aus Naturschutzsicht gebe es keinen Grund, Nutrias zu bekämpfen. »Auf unseren Wildtierkameras sehen wir immer wieder, wie Nutrias und Biber nebeneinandersitzen und fressen.« Zwischen den Arten gebe es wenig Konkurrenz, die Biber seien nicht in Gefahr. Allerdings: »Wenn man ehrlich ist, geben uns die Nutrias einen Vorgeschmack auf unsere Zukunft mit den Bibern«, sagt Landwehr. »Die können alles, was Nutrias können – nur dass sie zusätzlich noch Bäume fällen und Dämme bauen.«
Was die Zukunft bringen kann, zeigt auch ein Blick nach Bayern: Dort wurden Mitte der 1960er-Jahre Biber ausgewildert. Heute leben etwa 25.000 Tiere in dem Bundesland, sie haben fast jedes Gewässer erobert und sind sogar auf der Münchner Museumsinsel anzutreffen. Viele Landwirte in Bayern sehen das kritisch, weil infolge des Biberdammbaus regelmäßig Äcker und Wiesen überschwemmt werden und sich manche der Tiere gleich selbst an den Feldfrüchten gütlich tun. Etwa 600.000 Euro im Jahr bezahlt das Umweltministerium an Ausgleichszahlungen, doch decken sie nur etwa 70 Prozent der tatsächlich verursachten Schäden ab. Etwa 3.000 Biber pro Jahr werden in Bayern inzwischen mit einer Sondergenehmigung geschossen.
Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Hamburger Biber auch ins Alte Land und in die Alster vordringen. Wenn erst mal Obstplantagen oder die Gärten wohlhabender Wassergrundstücksbesitzer leiden, werde der Aufschrei laut sein, da ist sich Landwehr sicher. Dann wird man auch in Hamburg nach Ausgleichszahlungen und Abschussgenehmigungen rufen. »Bringt nur nichts«, sagt der Biberschützer und zuckt mit den Achseln. Auch das zeige das bayerische Beispiel. »Wenn ein Biber abgeschossen wurde und das Revier ist gut, kommt einfach der nächste.«
Natur
Anfang des 19. Jahrhunderts galt der Biber fast in ganz Deutschland als ausgerottet. In Hamburg ist er nun zurück
Mehr Platz, mehr Wasser, mehr Urlaubsglück!
Kahle Eichen begrenzen das Grabfeld in Öjendorf, weit im Hamburger Osten vor der Autobahn 1. Vier Tage vor Weihnachten stehen hier mehr als 100 Männer im Wind. Einige von ihnen haben Eldin B. im Leichentuch getragen, er wurde nur 20 Jahre alt.
8. Dezember 2024, Hammerbrook: Unbekannte schießen an der Friesenstraße auf einen 49 Jahre alten Vater und seinen 18 Jahre alten Sohn. Die beiden können sich in einen Hauseingang retten. 15. Dezember, Wilstorf: Am Abend nach dem Tod von Eldin B. fallen Schüsse vor einer Bar. Ein Mann wird schwer verletzt.
Warum geriet er vor den Lauf einer Pistole? In einem Jugendtreff um die Ecke sagen viele: Wenn man das wissen wolle, müsse man mit Kaisa Natron sprechen, einem Gangster-Rapper aus der Gegend, seine Songs haben bis zu vier Millionen Aufrufe bei Spotify. Er wisse hier alles und kenne jeden. Sein Künstlername ist vom Backpulver entliehen, mit dem oft Kokain ge-
In Hamburg häufen sich seit Monaten Angri ffe mit Schusswa ffen und Messern, auch Teenager sind beteiligt. Polizeibeamte warnen: Die Politik müsste längst
»Jeder hat jetzt einen Ballermann«
Ein Prediger ruft über die farblose Wiese: »Das Streben nach mehr lenkt euch ab, bis ihr die Gräber besucht.« Er wiederholt es, lauter: »Bis ihr die Gräber besucht.« Der Tod von Eldin B. soll eine Mahnung sein. Ein Video der Beerdigung wird bei TikTok und Instagram geteilt, auch von Islamisten, die diese Trauer für sich nutzen wollen. Eldin B. starb durch einen Pistolenschuss. Es war der 14. Dezember 2024, ein später Samstagabend. Der Tatort liegt in der Siedlung Mümmelmannsberg in Billstedt, vor einem Spielplatz. Dort, so heißt es im Viertel, habe Eldin B. bloß einem Freund bei einem Streit mit einem Drogendealer helfen wollen. Was wirklich geschah, ermittelt nun die Polizei. Ein 19 Jahre alter Verdächtiger hat sich bereits gestellt. Die Beamten kannten ihn weder als großen Drogenhändler noch als Gewalttäter. Genau deshalb sind einige Ermittler besorgt: Seit Monaten folgt einer rätselhaften Tat mit Schusswaffen in Hamburg die nächste. 20. Oktober 2024, Neustadt: Der junge Unternehmer Florian B., 31, wird im Treppenhaus vor seiner Wohnung am Herrengraben nahe der Hauptkirche St. Michaelis erschossen. Der Täter entkommt.
26. Oktober 2024, Billstedt und Rahlstedt: Am Nachmittag wird auf einen 34-Jährigen geschossen, er verstirbt. Ein weiterer Mann wird schwer verletzt. Kurz vor Mitternacht lauern Täter einem 23-Jährigen mit einer Pistole auf. Er überlebt schwer verletzt.
12. Januar 2025, St. Georg: Ein 15 Jahre alter Jugendlicher betritt ein Lokal und feuert auf einen 49-jährigen Russen. Auch der Junge wird angeschossen, bevor die Polizei eintrifft. Das waren nur die vergangenen Monate. Schon zwischen Januar und September 2024 war in Hamburg 20-mal scharf geschossen worden, auf Menschen oder Gegenstände. So steht es in einer internen Auflistung der Polizei. Zudem stachen Täter in jenem Zeitraum allein in Billstedt, St. Georg, St. Pauli, Wilhelmsburg und Harburg in 128 Fällen mit einem Messer auf andere ein – fast so oft wie im gesamten Jahr 2023. Was steckt hinter all der Gewalt? Nimmt sie wirklich zu? Und wenn ja, wie stoppt man diese Spirale?
Billstedt Vor einer Tankstelle an der Kandinskyallee rauschen Autos vorbei. Hier hat Eldin B. gearbeitet. Am Tresen steht ein Foto von ihm über den Schokoriegeln, eine Kerze flackert. In Mümmelmannsberg, einem Viertel mit vielen armen Familien und wenig Perspektiven, scheint es, als hätte jeder Einzelne der 20.000 Bewohner ihn gekannt. »Er sagte mir vor ein paar Tagen noch, ich soll meine Mama grüßen«, sagt ein junger Mann, der mit Eldin B. öfter Fußball spielte. Eine Freundin sagt: »Er war der freundlichste Junge.« Ein Kindergartenfreund, der seiner Familie nahesteht: »Wenn es Stress gab, hat er gesagt: Lass das mal.«
streckt wird. »Business mit Schnuff, Schnuff« nennt er das in seinen Texten. Er ist 31. »Die Jüngeren haben den Verstand verloren«, sagt Kaisa Natron, er stapft an einem Montag im Januar in Louis-Vuitton-Sneakern die Kandinskyallee entlang, zündet sich am Sportplatz einen Joint an. Jeder komme hier einfach an einen Kiloblock Kokain. Und: »Jeder hat jetzt einen Ballermann«, eine Pistole. Oft sehe er 15, 16 Jahre alte Jungen aus dem Viertel, die in Treppenhäusern sitzen, sich ungeschnittene Videos von Gang-Kriegen in Schweden ansehen und bei Kopfschüssen johlen: »Alter, hat er den erwischt.« Vier andere junge Männer aus dem Viertel, mit denen die ZEIT länger für diesen Text sprach, reden gar von einer »ganz anderen Generation«, obwohl sie selbst erst Anfang 20 sind.
Zahlreiche Studien von Soziologen sagen: Wer Gewalt erlebt, bewaffnet sich eher. Und diese ereignet sich häufiger in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit, mit Armut und Enge. Beobachtet wird aber auch ein anderes Phänomen: Es ist in Mode gekommen, eine Waffe zu tragen, in der Fachliteratur ist von »Gefühlen von Macht, Durchsetzungskraft und Sicherheit« durch Waffen die Rede sowie einer »symbolischen und praktischen Bedeutung«. Was das in Billstedt, Wilhelmsburg oder Harburg heißt, schildert ein Drogenfahnder so: Junge Männer beschafften sich nicht nur eine Pistole, sondern trügen sie ständig bei sich. Als Statussymbol. Und auch, um sie einzusetzen.
Kaisa Natron sagt, ein »Kodex« – niemanden abzustechen oder gar zu erschießen, dessen Eltern man täglich sehe – gelte nicht mehr. Er ist in »Mümmel« aufgewachsen, und er war selbst mal hart drauf, sagt er. Das passiere hier von selbst. Seine Lehre zum Friseur hätte er aus Leidenschaft begonnen, aber seine paar Hundert Euro seien seiner alleinerziehenden Mutter von der Sozialhilfe abgezogen worden. Sie habe so viel geweint. Und er sei so wütend gewesen. Bald war im Drogenmilieu aktiv. »Irgendwann sitzt der Kollege neben dir, ihr chillt, und er hat eine Tüte aus dem Alsterhaus, neue Klamotten für 1.000, 2.000 Euro. Das willst du dann auch.« Der Rapper möchte die elterliche Wohnung zeigen, aber hält inne, als er den schmalen Pflasterweg an der U-Bahn-Station betritt. Darauf leuchten frische Blumen, Fotos von Eldin B. mit seiner Schwester, mit seinen Eltern, mit Freunden. Am Abend des 14. Dezember 2024, so lässt es sich rekonstruieren, trafen sich hier etwa sechs Jugendliche. Eldin B. hatte mehrere Bekannte, die im Drogenmilieu aktiv sein sollen. Ob er mit einem von ihnen unterwegs war oder dazukam, ist offen. Gegen 22.45 Uhr begann der Streit. Womöglich ging es nicht einmal um Gras oder Kokain, sondern um eine Lappalie. Aber beide Seiten waren bewaffnet. Die einen mit mindestens einem Messer und Pfefferspray. Die anderen mit einer Pistole. Sie gingen aufeinander los, Schüsse knallten. Eine Kugel traf den Freund von Eldin B., dem er helfen wollte, eine den 20-Jährigen selbst. Sie durchbohrte sein Bein, später fanden die Ermittler ein Projektil im Beton einer Hauswand. Eldin B. verblutete. Kaisa Natron hat einen elf Jahre alten Sohn, um den er sich sorgt. »Dass wirklich geschossen wird, ist eine ganz neue Sache.« Andere Jungs im Viertel sagen, was man hier sonst selten hört: »Wir hoffen auf die Polizei.«
Alsterdorf
Im Polizeipräsidium an der Hindenburgstraße sagen die Ermittler, der Fall Eldin B. sei typisch. Seine Begleiter schweigen gegenüber der Polizei. Anwälte haben ihnen dazu geraten. So gehe es ihnen häufig, erzählen die Beamten: Erst knallt es, dann ist es quälend still.
konnten seit 2020 mehr als 300 Mitglieder der Drogenmafia in Hamburg identifiziert, mehr als 200 von ihnen angeklagt und viele nach einem Schuldspruch ins Gefängnis gebracht werden. Dass nach so einer Erschütterung in der Welt des Drogenhandels auch mit Gewalt um Geschäftsanteile gestritten wird, verwundert keinen Kriminologen. Mehrere Beamte in
Kriminalität
Der LKA-Chef Jan Hieber sagt zwar, man sei auf einem »guten Weg«, die kriminellen Netzwerke weiter zu durchdringen. Zerschlagen wird die Polizei die Banden aber sicherlich nicht so schnell. Und sie zu entwaffnen, ist auch keine echte Option: Wie viele illegale Pistolen und Gewehre im
nicht her. Die Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2024 wird erst noch vorgestellt, aber Grote verrät schon, was für ihn der Kernpunkt sein wird: vier Prozent weniger Straftaten als im Vorjahr. Beim ersten Triell der Spitzenkandidaten vor der Bürgerschaftswahl bilanzierte auch Bürgermeister
von Hells Angels und Mongols seinen Höhepunkt. Auch später, im Jahr 2019, gab es eine kleinere Häufung von Angriffen mit Schusswaffen. Insgesamt ging die Gewaltkriminalität in Hamburg aber stetig zurück. Nach dem Ende der Coronapandemie stieg sie jedoch wieder deutlich an, im Jahr 2023 um rund elf Prozent.
Der 19-jährige Verdächtige soll die Schüsse auf Eldin B. gestanden haben, er sitzt nun in Untersuchungshaft. Bei der Bewertung dieser Tat sind die Beamten aber noch vorsichtig. Auch Eldin B. war polizeibekannt, wegen einfacher Drogendelikte; seine Bekannten könnten den 19-Jährigen zuerst angegriffen haben. Dann wäre sogar Notwehr denkbar, ihm würde keine lange Haftstrafe drohen. Beamte sagen, die Taten der vergangenen Monate seien in zwei Kategorien einzuteilen: Die erste sind spontane Streitigkeiten ohne tief liegendes Motiv. Bei einer Schießerei in Billstedt am 26. Oktober soll ein 37-Jähriger seinen drei Jahre jüngeren Cousin erschossen haben, nachdem sie sich bei Renovierungsarbeiten entzweiten.
Zur zweiten Kategorie gehören offene Rechnungen zwischen Kriminellen. Sie können weitere Rachetaten nach sich ziehen.
Ob die Gewaltschwelle zu solchen Taten absinke? Das will der Chef des Hamburger Landeskriminalamtes an der Hindenburgstraße, Jan Hieber, nicht bewerten. Er betont, dass »nahezu immer eine Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer« bestehe. Andersherum heißt das: Wer nichts mit Bewaffneten zu tun habe, müsse keine Angst haben. »Die Wahrscheinlichkeit, als Unbeteiligter Opfer zu werden, ist außerordentlich gering«, sagt Hieber. Viel spricht aber dafür, dass geplante Erschießungen häufiger werden. Der Staat hat, ironischerweise, wohl selbst dazu beigetragen. Anhand entschlüsselter Chats von Kriminellen auf Kryptohandys der Anbieter Encrochat und Sky-ECC
Hiebers Apparat ebenso wenig. Sie sagen aber auch: Je länger geschossen werde, desto mehr komme die Frage auf, ob sich etwas zusammenbraut, das sie noch nicht ganz durchschauen. Besonders zeigt das die jüngste Tat.
St. Georg Eine Videokamera filmte den Jungen am 12. Januar 2025. Der 15-Jährige sitzt schwarz gekleidet in einem Lokal am Hansaplatz, zwei Polizisten stellen ihn mit gezückter Dienstwaffe. Einige Minuten zuvor hatte er am Steindamm auf einen 49-jährigen Russen gefeuert, in einem türkischen Restaurant. Er traf den Mann ins Bein, der nahm mit sechs Begleitern die Verfolgung auf. Sie schlugen den 15-Jährigen und verpassten ihm selbst eine Kugel. Dann gingen sie. Der Junge kommt aus den Niederlanden, er wurde offenbar angeheuert. Hamburger Tageszeitungen schrieben, die Tat sei ein Indiz, dass die sogenannte Mocro-Mafia in der Stadt nach der Macht greife. Der Junge und der Mann sitzen beide in Untersuchungshaft. Auch hier wird in Polizeikreisen geraten, die Ermittlungen abzuwarten. Bislang gibt es kaum belastbare Indizien. Doch den Beamten fällt auf: Die Täter schießen auch mitten in der Stadt. Kriminologen sagen, die Schützen beweisen so in der Szene ihre Furchtlosigkeit. Und sie setzen ein Signal. Die Ermittler können noch nicht sagen, ob der Junge in St. Georg den Mann töten wollte, es könnte nur eine Warnung gewesen sein.
Umlauf
sind, weiß niemand. Bekannt ist lediglich, dass Schusswaffen aus den Balkankriegen der 1990er-Jahre noch heute verbreitet sind. Dass Schreckschusswaffen durch Umbauten scharf gemacht werden. Dass, wer größere Kaliber braucht, auch die in Hamburg leicht findet. Und dass Händler eher selten geschnappt werden.
Das Problem sei der Stadt entglitten, sagt der Gewerkschafter Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK). »Am meisten besorgt mich, dass die Politik gar keine Strategie hat«, sagt Reinecke. »Die Antwort kann doch nicht sein, nur zu hoffen: Wann hört das auf?«
Neustadt
Innensenator Andy Grote (SPD) hält das offensichtlich für Schwarzmalerei. Auf einen Fragenkatalog der ZEIT, was er gegen die Messerangriffe und Taten mit Schusswaffen unternehme, antwortet seine Behörde mit einer längeren Auflistung: Waffenverbotszonen, eine aufgestockte Waffenbehörde zur Kontrolle legaler Waffenbesitzer, mehr Personal im LKA, eine Allianz gegen das Kokain. Ein allzu großes Problem sieht der Senat in den Schießereien jedoch nicht, schon am Wort »Häufung« stört man sich. Die Zahlen gäben das gar
Peter Tschentscher (SPD): »Wir haben die Kriminalitätsbekämpfung gut hinbekommen.« Zu hören ist, dass die Zahl der Tötungsdelikte im Jahr 2024 besonders stark abgenommen habe. Aber die Kriminalstatistik hat Tücken: Nicht jeder Pistolenschuss wird als Tötungsdelikt gewertet. Und die Fälle gehen erst in die Statistik ein, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, das kann bisweilen ein Jahr später sein. Fast alle schweren Taten mit Schusswaffen seit dem Herbst werden in den neuen Daten für das Jahr 2024 gar nicht vorkommen.
Handelt es sich also um eine zufällige Serie oder um einen Trend? Darauf gibt es noch keine klare Antwort. Das letzte Mal, dass eine Serie von Schießereien in Hamburg für viel Unruhe sorgte, liegt länger zurück: Im Jahr 2016 erreichte der Rockerkrieg
An einem Punkt will Andy Grote nachschärfen: Die Handyauswertung von Kriminellen soll »schneller und effektiver werden«, dazu gibt es Pläne. »Wir erhöhen den Druck«, versichert er.
Hoheluft-West
In seinem Studio in einer Kellerwohnung an der Hoheluftchaussee sagt Kaisa Natron, es gehe hier nicht um Gewalt, sondern um Chancen: »Wenn du die Potenziale der Leute nicht nutzt, werden sie verzweifelt und dann aggressiv.« Allein in Mümmelmannsberg könne er sich Besseres für viele Menschen vorstellen. »Meinetwegen als Influencer«, sagt er, »klingt dumm, sie brauchen nur einen Weg raus.« In Billstedt gibt es mehrere Jugendzentren. Aber eines hat ein Sturm beschädigt, ein anderes ist geschlossen. Sozialarbeiter und Verwaltungsmitarbeiter sagen, es brauche einen Plan für Viertel wie dieses, mit Geld unterlegt. Das gibt es bisher nicht einmal zur Beseitigung der Sturmschäden. Bevor Kaisa Natron einen Track aufnimmt, sagt er: »Du kannst jetzt nach Mümmel fahren. Versprich den Leuten, dass du sie reich machst, und sie machen alles für dich. Sie wollen es dir glauben.«
Sie setzen auf die Nachspielzeit
Wenn mehr Senioren arbeiten würden, glaubt der Unternehmer Tom Yamaoka, wären viele Probleme behoben. Sie sind seltener krank und hoch motiviert. Nur wie bringt man sie in den Dienst? VON ANNE KLESSE
Für Annette Tadeja, 66, kam der Ruhestand sehr plötzlich. 45 Jahre lang hat die gelernte Verlagskauffrau und studierte Kommunikationswirtin gearbeitet, zuletzt als Senior-Marketingmanagerin eines großen Konzerns. Im Jahr 2020 ging sie in Rente –und saß bald einfach nur zu Hause. Zwei
Monate ging das so, erzählt sie. »Dann habe ich gemerkt, dass ich weiter aktiv sein möchte.«
Tadeja jobbte zunächst als Komparsin in Filmproduktionen, dann im Service eines Autohauses. Über eine Stellenanzeige landete sie schließlich in einer PR-Agentur in der Hamburger Innenstadt. Hier bereitet sie nun Belege für die Buchhaltung vor, bestellt Büromaterial und stimmt Dinge mit Behörden ab – an zwei Tagen pro Woche, jeweils fünf Stunden lang. »Die Aufgabe tut mir gut und hält mich lebendig«, sagt Tadeja. »Mein Kopf hat zu tun, denn ich lerne regelmäßig neue Dinge, muss mich zum Beispiel in Software reinfuchsen. Das gibt mir einen Wochenrhythmus und macht mir Freude.«
Eingestellt hat Annette Tadeja der Unternehmer Tom Yamaoka. Er ist selbst 60 Jahre alt, und als Tadeja sich bei ihm bewarb, habe er schon länger einen Gedanken im Kopf gehabt, erzählt er: »Ich wohne in Winterhude und musste mitansehen, wie dort ein Geschäft nach dem anderen zumacht, weil einfach kein Personal zu finden war.« Gleichzeitig falle ihm immer häufiger auf, wie gepflegt aussehende ältere Menschen in Mülleimern nach Leergut suchten. »Dass das ganz normale Senioren waren, die offenbar mit Altersarmut zu kämpfen haben, hat mich erschreckt«, sagt Yamaoka.
Das Bewerbungsgespräch mit Annette Tadeja gab ihm schließlich den Anstoß, eine lose Idee in ein durchkalkuliertes Geschäftsmodell zu verwandeln: 2023 gründete Tom Yamaoka das Portal rentejobs.de, spezialisiert auf die Vermittlung von offenen Stellen an Rentnerinnen und Rentner. Die stehen auf diese Weise auf dem angespannten Arbeitsmarkt weiter zur Verfügung – und können ihre Rente aufbessern. Eine Winwin-Situation, glaubt Yamaoka.
mal gelernt oder in ihrem vorigen Berufsleben gemacht haben.«
Gleich im ersten Monat registrierten sich laut Yamaoka mehr als 500 Bewerberinnen und Bewerber. Mehr als 70 Hamburger Rentnerinnen und Rentner hat er so schon vermittelt, als Hausmeister, Empfangsmitarbeiter und im Verkauf. Der Älteste von ihnen sei 80 Jahre alt gewesen, der Anteil von Frauen und Männern halte sich in etwa die Waage.
gingen nicht in Elternzeit und seien häufig auch an Wochenenden einsatzbereit. Der Hauptantrieb vieler Rentner, weiter zu arbeiten, liegt aber weniger im Zeitvertreib als beim Geld. Nach den aktuellsten Zahlen des Statistischen Landesamtes aus dem Jahr 2023 beziehen in Hamburg 329.000 Menschen Rentenleistungen. Im Durchschnitt beträgt die jährliche Rente hier 17.700 Euro und liegt damit unter dem Bundesdurchschnitt von
»60-Jährige sind heute so fit wie früher 50-Jährige«
Tom Yamaoka, Gründer des Hamburger Portals rentejobs.de
Bei rentejobs.de können sich nun Unternehmen registrieren und eine Stellenanzeige schalten, die bis zu drei Monate lang sichtbar ist. Aktuell werden auf dem Portal zum Beispiel Kassierer, Reinigungskräfte und Hausmeister sowie Servicekräfte für die Gastronomie, Unterstützung im Vertrieb, Betreuer für Golf-Events, Fahrer und Nachtportiers gesucht. Um lange Anfahrtswege zu vermeiden, können Interessierte per Postleitzahl nach passenden Jobs suchen. »Die Branchen filtern wir nicht«, sagt Yamaoka, »weil sich gezeigt hat, dass viele Jobsuchende sich alles Mögliche vorstellen können – unabhängig davon, was sie
Aufgrund der Kosten für Programmierung, Akquise und Werbung hat Yamaoka noch keinen Gewinn gemacht. Für 2026 soll sich sein Geschäftsmodell tragen. Bisher ist die RentnerJobbörse auch auf Hamburg begrenzt, im Laufe des Jahres will Yamaoka den Einzugsbereich auf Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Teile Mecklenburg-Vorpommerns erweitern. »Für Arbeitgeber ist die ältere Generation total wertvoll«, findet Yamaoka. »Ich bekomme viele Rückmeldungen und kann das auch von eigenen Mitarbeitenden sagen: Sie sind seltener krank, hoch motiviert, loyal und zuverlässig.« Und: Sie hätten kaum mehr Karrierewünsche,
18.300 Euro. Dabei erhalten Frauen im Schnitt 13 Prozent weniger als Männer. Für fast 33.000 Hamburgerinnen und Hamburger über 65 Jahren reicht die Rente derzeit nicht zum Leben aus, warnt Klaus Wicher, Vorsitzender des Sozialverbands Deutschland in Hamburg. Der demografische Wandel werde dazu führen, dass 2030 ein Drittel der Menschen in Hamburg älter als 65 Jahre sein wird. »Viele werden weiter arbeiten müssen, weil die Rente für ein Leben in einer Großstadt wie Hamburg nicht reicht.« Auch Tom Yamaoka glaubt: »Da braut sich ein riesiges Problem zusammen.«
Tadeja sei nun mit Abstand die Büroälteste, erzählt sie, aber dennoch gut in der PR-Agentur aufgenommen worden. »Ich habe nicht das Gefühl, dass mein Alter eine Hürde ist«, sagt sie. Gesetzlich geregelt ist: Wer Altersrente bezieht, darf unbegrenzt viel dazuverdienen. Für diejenigen, die die sogenannte Regelaltersgrenze noch nicht erreicht haben, gilt die Rentenversicherungspflicht. Wer bereits im Rentenalter ist, muss dort nicht mehr einzahlen, kann das aber freiwillig tun. Mindestlohn gilt für alle, auch für Rentnerinnen und Rentner.
Annette Tadeja verdient in ihrem Midijob 867 Euro brutto pro Monat. Davon gehen Krankenkasse, Renten- und Arbeitslosenversicherung ab, ein Zuschuss für das HVV-Ticket kommt noch dazu. »Unterm Strich verdiene ich im Monat 820 Euro netto zu meiner Rente dazu«, rechnet sie vor. Eine »super Summe«, findet sie, von der sie sich schöne Dinge wie Reisen erlauben kann, ohne ihre finanziellen Reserven anzubrechen.
Auch ihr Mann arbeite weiterhin. Der 78-Jährige begleitet als sogenannter Onboard-Kurier dringende Transporte auf Linienflügen weltweit – also beispielsweise spezielle Ersatzteile von Maschinen, die innerhalb von 24 Stunden von Deutschland in die USA geflogen und am Zielort dem Kunden direkt übergeben werden müssen. Annette Tadeja findet: »Das Arbeiten tut uns beiden gut, so haben wir uns immer viel zu erzählen und trotzdem noch genügend Zeit für unsere Interessen und Sport.« Wie lange sie noch weiterjobben will, hält sich Tadeja offen. »Ich kann mir vorstellen, noch bis 70 zu arbeiten. Je nachdem, wie fit mein Mann und ich dann noch sind«, sagt sie. »Wir gucken von Jahr zu Jahr.«
Mein Testament hilft in Hamburg
Menschen, die in Armut und Not geraten sind. G u t e s h i n t e r l a s s e n . W i r u n t e r s t ü t z e n S i e d a b e i . Te l . 0 4 0 3 0 6 2 0 - 2 9 0 | w w w. d i a k o n i e - t e s t a m e n t . d e
Bereits mit einem Anteil Ihres Testaments können Sie nachhaltig Gutes tun und Menschen in Not unterstützen.
Fachkräftemangel
Ullas Wadhwa, hier in der Hapag-Lloyd-Zentrale am Ballindamm, arbeitet als Kundenzufriedenheitsmanager
Hereinspaziert durchs Nadelöhr
Die Reederei Hapag-Lloyd gilt als Vorbild, wenn es darum geht, Fachkräfte nach Deutschland zu holen.
Doch die Geschichte des Inders Ullas Wadhwa zeigt: Einfach ist es trotzdem nicht VON KRISTINA LÄSKER
Wenn Ullas Wadhwa seinen Freunden zu Hause erklären will, wie die Deutschen so ticken, empfiehlt er das Buch German Men Sit Down to Pee. Auf 160 Seiten liefert es Einblicke in die deutsche Kultur und erklärt informelle Regeln. Wie die, dass sich deutsche Männer zum Pinkeln hinsetzen, dass Gruppen im Restaurant oft die Rechnung teilen oder dass man leise sein muss, wenn man sonntags draußen mit dem Kind tobt. »Das Buch hilft mir im Alltag«, sagt Wadhwa. Der 42-Jährige stammt aus der Nähe von Delhi in Indien. Im Sommer 2023 ist der Ingenieur für einen Job nach Hamburg gezogen, zusammen mit seiner Frau Sugandha, 41, und dem Sohn Viraansh, 7. »Ich möchte, dass Hamburg meine Heimat wird«, sagt er. Doch das ist oft schwierig. Das amüsant geschriebene Buch mache ihm Mut. Denn Wadhwa denkt, dass er als Einwanderer nie den Humor verlieren darf. Auch dann nicht, wenn er oder seine Frau mal wieder an den Behörden, dem Papierkram oder der Sprache verzweifeln könnten. Wadhwa arbeitet als Kundenzufriedenheitsmanager bei Hapag-Lloyd und leitet ein Team. Zehn Jahre ist er schon bei der Reederei beschäftigt. Er hat für den Hamburger Konzern in Indien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Australien gearbeitet. Dann wurde er gefragt, ob er nach Deutschland kommen will. Die Logistikfirma beschäftigt mehr als 100 Inder und Inderinnen in der Zentrale an der Binnenalster. Inder sind neben den Deutschen die größte Gruppe in der Firma, und das aus gutem Grund: Hapag-Lloyd ist die fünftgrößte Reederei der Welt, sie verdankt das auch ihrem boomenden Geschäft in Indien und den 14 Niederlassungen im Land. »Indien ist für uns ein riesiger Wachstumsmarkt«, sagt Christoph Korthues. Er kümmert sich als Personalmanager am Hamburger Standort um die Fachkräfte aus dem Ausland, die Expats. Korthues hat gut zu tun, denn der Reederei fällt die Suche nach fitten Leuten zunehmend schwer. »Wir können nicht mehr nur am deutschen Markt rekrutieren«, sagt er. Daher sucht die Reederei auch auf anderen Kontinenten nach Akademikern.
Inder wie Ullas Wadhwa werden gezielt umworben, intern oder extern. Der Grund: Sie seien oft »exzellent qualifiziert«. Und sie können sofort loslegen, weil in der Reederei Englisch gesprochen wird, die weltweite Sprache der Seefahrer. Hapag-Lloyd stemmt sich damit gegen einen Trend: In Deutschland werden die Arbeitskräfte knapp. Im Jahr 2040 werden allein in Hamburg etwa 200.000 Fachkräfte fehlen, schätzt das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Schon heute sind viele Stellen unbesetzt: Es fehlen Schiffsführer für Hafenfähren, Pflegeheime schließen aus Personalnot, Dachdecker und Augenoptiker sind rar. Künftig werde sich der Mangel verschärfen, sagt HWWI-Chef Michael Berlemann: »Uns gehen nach und nach auch die Akademiker aus.«
Die Lage verunsichert auch die Arbeitgeber, das zeigen Umfragen der Handelskammer Hamburg: Die Firmen halten den Fachkräftemangel für eines der größten Geschäftsrisiken. Die Kammer fordert ein Einschreiten der Politik. Sie plädiert dafür, das Rentenalter hochzusetzen und Rentnern das Jobben zu erleichtern (siehe Artikel auf der vorangehenden Seite). Der Staat müsse zudem die Zuwanderung von Fachkräften fördern und die Hürden beseitigen. Wie die Staus bei der VisaVergabe oder den Mangel an Wohnungen.
Bis zu 30.000 Euro, damit eine Fachkraft in Hamburg klarkommt
An einem eisigen Abend im Januar hat Ullas Wadhwa in seine Wohnung in Fuhlsbüttel eingeladen. Im Wohnzimmer stehen Schüsseln auf dem Tisch, aus denen es duftet: Kartoffeln mit Blumenkohl, Kichererbsen in gelb-oranger Sauce und Paneer-Käse: Sugandha Wadhwa hat indisch gekocht. Wie ihr Mann stammt die 41-Jährige aus Nordindien. Er ist Ingenieur, sie Zahnärztin, beide haben einen Master in Business Administration. Kennengelernt hätten sie sich, weil die Mütter ein Date arrangierten, erzählt er. 2010 kam die Hochzeit, danach folgten die Umzüge, fast alle drei Jahre einer. Ullas Wadhwa arbeitet seit 17 Jahren in der Reedereibranche, schon fünfmal ist die Familie für den Job umgezogen. Erst wechselten sie von Ludhiana nach Delhi, dann nach Mumbai. Danach wagten sie den Sprung ins Ausland.
Zunächst lebten Ullas und Sugandha Wadhwa in Dubai, später in Sydney. 2023 kam das Jobangebot aus Hamburg. Die Entscheidung sei nicht einfach gewesen, sagt Wadhwa. Sie hätten eine hohe Meinung von Deutschland gehabt. Wegen des Bildungssystems und wegen bekannter Marken wie BMW oder Siemens. Aber keiner von beiden sprach Deutsch. Schließlich überwog die Lust auf einen Karriereschritt: »Europa ist das Zentrum für Schifffahrt«, sagt Wadhwa. Er wollte in die Zentrale. Dorthin, wo die Strategien entwickelt werden. Sein Job mache ihm Spaß, sagt Wadhwa. Aber privat läuft es nicht rund. Das Einleben dauere länger als in Sydney oder Dubai. »Es gibt eine Menge Bürokratie hier.« Im Juni 2023 waren laut Arbeitsagentur etwa 6.200 Inder in Hamburg sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die meisten von ihnen waren Akademiker, im Schnitt verdienten sie 4.994 Euro Brutto im Monat. Es könnten viel mehr Inder hier sein, wären da nicht die Schwierigkeiten im Alltag. Auch das zeigt das Beispiel Hapag-Lloyd. Die Reederei hat allein drei Dienstleister engagiert, die dafür sorgen sollen, dass die ausländischen Kollegen in Hamburg halbwegs klarkommen. Sie helfen beim Beschaffen der Arbeitserlaubnis, bei der Wohnungssuche, bei der Steuererklärung. Pro Fachkraft gibt der Konzern dafür bis zu 30.000 Euro aus, sagt der Manager Christoph Korthues. Das ist viel – und es ist so außergewöhnlich, dass der Konzern im Sommer 2024 sogar Besuch aus Berlin bekam. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil verbrachte mehrere Stunden in der Reederei. Er wollte verstehen, wie Hapag-Lloyd es schafft, so viele Leute aus dem Ausland zu holen. Gerne würde auch der Sozialdemokrat offene Stellen im Land mit Akademikern aus Indien besetzen. Theoretisch wäre das möglich: Deutschland hat heute ein sehr liberales Einwanderungsgesetz. Doch bei der Umsetzung in die Praxis holpert es. Einer der Helfer von Hapag-Lloyd ist Holger Guse von der Kanzlei Dr. Wrage & Guse. Seit 2017 kümmert sich der Anwalt für die Reederei um die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen von Fachkräften aus Drittstaaten. Manchmal treffe er seine Mandanten auf der Straße: »Mister Holger, how are you?«, grüßen sie ihn dann. Viele seien dankbar, dass Guse sie durch den Behördendschungel gelotst hat.
Auch Wadhwas hat er betreut, die Akte ist dick, obwohl der Fall vergleichsweise einfach war. Zu Beginn bereitete Guse das Paar auf den Gang zur Botschaft in Sydney vor. Dort musste Ullas Wadhwa persönlich für das Arbeitsvisum vorsprechen. Bei der Deutschen Botschaft im Ausland einen Termin zu bekommen und alle Papiere wie gefordert vorzulegen, sei »die erste große Klippe«, sagt Guse. In Hamburg gingen Ullas Wadhwa und er dann gemeinsam zur Ausländerbehörde, um eine Blue Card zu beantragen. Das ist eine spezielle Aufenthaltserlaubnis für Akademiker aus Nicht-EU-Staaten. Der Vorteil: Ehepartner von Blue-Card-Besitzern dürfen einreisen, ohne Deutschkenntnisse nachzuweisen. In Hamburg stellt das Welcome Center diese Blue Cards aus. »Das ist ein großes Nadelöhr«, sagt Guse. Nach einer Terminbitte warte er manchmal vier Monate auf eine Reaktion. Die Behörde sei »unterbesetzt und wahnsinnig überlastet«, sagt Guse. Wenn sich das Verfahren mal wieder zieht, muss der Jurist den Ausländern oft auch mental beistehen. Die Wadhwas musste er beruhigen und ihnen erklären, warum das mit deutschen Behörden so verdammt lange dauert.
Eine Agentur sucht nach Wohnung und Schule und hilft beim Papierkram
Am Abendbrotstisch in Fuhlsbüttel wird es unruhig. Der siebenjährige Sohn Viraansh springt auf und holt sein liebstes Kuscheltier zum Zeigen: ein Äffchen namens Hanuman, benannt nach dem hinduistischen Affengott. Dann schreibt er »Raube Nimersat« in Krakelschrift, er mag das Kinderbuch, wo eine unscheinbare Raupe zum bunten Schmetterling wird. Seit Herbst besucht Viraansh die Grundschule Eschenweg in Fuhlsbüttel. Zur Einschulung kamen die Eltern von Sugandha Wadhwa aus Indien geflogen, Viraansh war selig. Er plapperte Englisch mit den Eltern, Hindi mit den Großeltern und Deutsch mit den Kindern. Er liebe seine Schule, sagt Viraansh. »Sport und Mathe habe ich am liebsten.« Die Firma Progedo hat den Indern geholfen, diese Schule zu finden. Die Agentur ist auf »Relocation« spezialisiert, auf das Umsiedeln von Fachkräften und ihren Familien. Seit 15 Jahren arbeite Progedo mit Hapag-Lloyd zusammen, sagt Geschäftsführerin Agata Seget.
Für die Wadhwas mietete Progedo zuerst ein Apartment in Wandsbek an, für den Übergang. Dann fanden sie gemeinsam mit der Familie deren heutige Wohnung im Norden Hamburgs und kümmerten sich um den Papierkram: Wohnsitz anmelden, Konto eröffnen, Internet einrichten, Gas, Strom und Wasser bestellen. Die Formulare dafür gibt es oft nur auf Deutsch, ohne die Übersetzer von Progedo wären die Wadhwas aufgeschmissen gewesen. »Umzüge aus dem Ausland sind mit das Stressigste im Leben«, sagt Agata Seget. »Wir wollen ein Ruhepol sein.« Der Agentur begegnen dabei auch Ressentiments. Manche Vermieter täten sich schwer mit den Erwerbsmigranten, sagt Agata Seget. »Es gibt Vorurteile über Menschen aus dem asiatischen Raum.« Darum sei die Agentur auch bei der Wohnungsübergabe dabei. Die Progedo-Leute machen dann Fotos und erklären Familien wie den Wadhwas, wie man in deutschen Wohnungen lüften soll, um Schimmel zu vermeiden. Sugandha Wadhwa ist der Agentur dankbar. »Progedo hat uns geholfen«, sagt sie. Mit dem Leben in Hamburg tut sie sich trotzdem schwer, und das liegt an der Jobsituation. Früher hat die Inderin im Gesundheitssektor gearbeitet, in Dubai war sie Marketingmanagerin in einer Krankenhauskette. In Hamburg sei es kaum möglich, an ähnliche Jobs zu kommen, sagt sie. Mehr als zehn Monate habe sie nach einer Stelle gesucht. Schuld daran seien auch die fehlenden Deutschkenntnisse, glaubt die Inderin. »Die Sprache ist die größte Hürde.« Im November trat sie eine Stelle in einer kleinen Beratung für den Gesundheitsbereich an. Die Arbeit sei mehrere Klassen unter ihrem Niveau gewesen, sagt sie. Im Januar reichte sie die Kündigung ein. Es habe einfach nicht gepasst. Tatsächlich ist das ein Schwachpunkt im System: Viele Partner von Blue-Card-Besitzern sind hoch qualifiziert, doch sie finden in Deutschland nur schwer einen guten Job. In Hamburg möchten die Wadhwas trotzdem bleiben, und das für länger. Weil es dem Sohn in der Schule gut geht und Ullas Wadhwa im Job. Sugandha Wadhwa hat neulich mal wieder Gäste zum Essen eingeladen. Das macht sie gerne und oft, um ihr Netzwerk zu pflegen. Und wer weiß, vielleicht hilft das ja auch bei der Jobsuche.
Kultur
Von der Vinylversessenheit
Jetzt preisgekrönt: Der Groove City Recordstore zählt zu den zehn besten Plattenläden Deutschlands. Ein Plausch, ein Preisvergleich und eine haarige Überraschung im Hinterzimmer VON ULRICH STOCK
Länger nicht »bei Marga« gewesen, aber jetzt gibt es einen schönen Anlass: Ihr Groove City Recordstore in der Marktstraße hat im Dezember den Deutschen Preis für Schallplattenfachgeschäfte gewonnen, den Emil, benannt nach Emil Berliner, dem Erfinder des Grammofons. Einer der zehn besten Plattenläden des Landes, amtlich beglaubigt von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und einer neunköpfigen Jury. Der hanseatischen Vinylgemeinde ist das keine Überraschung, eher eine Bestätigung, denn wer in der Stadt Besonderes sucht fürs Ohr, schaut seit eh und je »bei Marga« vorbei. Der Laden ist zunächst einmal sie. Marga Glanz, einst als Arzthelferin ins Berufsleben gestartet, weiß, wie man den Schmerz lindert, der durch das Habenwollen einer gut klingenden Neuerscheinung entsteht: durch Erwerb! An den Wänden steht Cover an Cover, eines schöner als das andere, und das Auge hört ja mit. Wer zugreift, fühlt sich durchs Besitzen sofort befreit. Der Schmerz ist jetzt allenfalls noch in der Brieftasche zu spüren. Platten sind so teuer geworden. Damit beginnt unser Gespräch auf den schweren, abgewetzten Ledersesseln im hinteren Teil des kleinen Ladens. Gleich stößt noch Anja Knupper auf eine Tasse Kräutertee hinzu, ihre Angestellte und irgendwann Nachfolgerin. Marga kriegt ja jetzt Rente, mit 66, Anja noch lange nicht, next generation. Vinyl, so ist der Plan, soll weitergehen.
Hip-Hop, Soul und Jazz führen sie, dazu viel Afrikanisches und was zurzeit im Fokus ist: Musik aus dem Mittleren Osten, Iran, Irak, Libanon, aus Ägypten und der Türkei. Was wir hören, während wir reden, klingt aber völlig anders: sanfte Gitarrenklänge, die anbranden und verebben, mit Besen getupftes Schlagzeug, eine charmante Basslinie, sehr entspannt. Was ist das? »Löwenzahnhonig«, sagt Anja. Sie reicht mir das Cover, gelb-grün-orangefarbene Psychedelik, die eine gemalte Biene im Zentrum umwölkt. Das sei eine Lieblingsband von ihnen, »ein musikalisches Allheilmittel. Lieblich, aber nicht flach«. Aus der Schweiz. Was die Scheibe kostet, steht drauf: 26,90 Euro. Ist dies das aktuelle Preisniveau? »Wenn man Glück hat«, sagt Marga. Das Doppelalbum Bambule der Beginner, erschienen 1998, hätten sie immer für 25 Euro verkaufen können, jetzt müsse es 42,90 Euro kosten. Nach Corona habe »die Industrie« einfach mal ordentlich was auf den Einkaufspreis draufgeschlagen. Die würden glauben, die Kundschaft seien »Idioten, die alles bezahlen«. Na klar, es werde gesagt, die Energie, das Herstellungsmaterial, alles teurer ... aber die beiden Plattenhändlerinnen sind sich einig: Was zu viel ist, ist zu viel. Ja, und wie reagieren die Kunden? »Die kaufen statt zwei oder drei Platten nur noch eine Platte.« Im Zuge dessen gebe es auch eine »Vermainstreamung«. Gerade Jüngere, die geschmacklich noch nicht so sicher seien, griffen dann zu Bekanntem, im HipHop eher zu Kendrick Lamar oder Kanye
West als zu den Roots. Warum kaufen sich Jüngere überhaupt eine Platte, wenn sie bei Spotify für 10,99 Euro im Monat alle Platten hören können? Die Antwort: Plattenspieler und Platten seien cool, immer noch und immer wieder. »Die Platte ist was Bewusstes, weg vom Gedudel aus dem Netz.« Schon den Kauf würden viele Jüngere als Erlebnis gestalten. Oft kämen sie zu zweit oder in Gruppen, manche aus Kiel oder Lübeck, und dann überlege einer laut vor sich hin: »Ich hab nur 30 Euro. Wollen wir die zusammen kaufen?«
Das Gemeinschaftliche habe es immer gegeben, neu sei das Generationenübergreifende: »Da kommt ein Vater mit seiner Tochter, jeder kauft eine Platte, und dann wird darüber gesprochen, welche und warum.« Kulturelle Entscheidungsfindung am tönenden Objekt. Marga erzählt vom zwölf Jahre alten DJ Cool, der all sein Taschengeld in Platten stecke, da komme vor Geburtstagen oder Weihnachten die ganze Familie, »da heißt es: Ja, ich bin die Tante, oder: Ich bin die Cousine«, und dann werde dem Jungen was gekauft. Im Pacific, einer Bar am Neuen Pferdemarkt, würde er gelegentlich Hip-Hop auflegen zu kindgerechter Stunde. Und wer kommt da, um ihn zu hören? »Das sind Erwachsene.«
Als Marga Glanz Groove City 2005 übernahm, dachte sie, dass sie älter werden würde mit ihren Kunden, dass sie zusammen in Rente gingen. »Das ist nicht so«, sagt sie heute. Zudem lasse es ihre Rente nicht zu, dass sie mit dem Arbeiten aufhöre, und sie habe immer noch Freude daran.
Natürlich denkt auch sie ans Morgen, ans große Später. Sie hat keine Kinder, was wird dann aus ihrer eigenen Sammlung? »Manchmal suche ich zu Hause ein paar Platten aus und nehme sie mit in den Laden, um sie zu verkaufen. Und dann schleppe ich die Hälfte wieder zurück, weil ich mich von ihnen nicht trennen kann.« Aber das gehöre nicht in die Öffentlichkeit, findet sie. Sorry, liebe Marga, dass es trotzdem hier steht, weil es so schön vom Kern der Vinylversessenheit erzählt, der ein ziemlich harter Kern ist. Um selbst nicht zurückzustehen: Ich war früher oft »bei Marga« und zog, als die Platten noch erschwinglicher waren, immer mit ein, zwei prallen Taschen davon. Bald füllten sie bei mir zu Hause eine Wand, und nun zähle ich zu jenen, die in Margas Worten »schwer an ihren Platten tragen«. Dann muss man eine Kaufpause machen. Die Löwenzahnhonig werde ich mir trotzdem mitnehmen. Der Vorhang hinter unserer Sitzecke geht auf, und Krischa tritt heraus. Sie stellt sich vor als Inhaberin des Salons Hering im Hinterzimmer von Groove City, eine Untermieterin. Krischa, die ich nach ihrem Nachnamen zu fragen ganz vergessen habe, ist Friseurin. Ob ich mal schauen wolle? Nur zu gern. Durch einen kleinen Flur erreichen wir das Salönchen. Ein Stuhl. Gerade hat sie einer Kundin eine Packung gelegt. Schneidet sie auch Herren die Haare? »Aber ja.« Und warum Salon Hering? Sie lacht. »Hairing« sei ihr einfach zu blöd gewesen.
Anja Knupper, links, und Marga Glanz hinter dem Tresen des Groove City Recordstore
Das Glück liegt um die Ecke
Philipp Schultz leitet den »Raum für Illustration« auf St. Pauli – und zeichnet nun eine Kolumne auf dieser Seite. Begegnung mit einem Freigeist VON OSKAR PIEGSA
Es ist der erste Arbeitstag im neuen Jahr, ein dunkler, nasskalter Montagmorgen. In den Straßen von St. Pauli liegen Plastikbecher, Böllerreste und alte Weihnachtsbäume. Katerstimmung hängt über dem Viertel, doch Philipp Schultz ist bestens gelaunt. »Ich freue mich so, dass ich wieder hier bin«, sagt er, »ich habe meinen Laden vermisst!« Philipps Laden, das ist der »Raum für Illustration« in der Paul-Roosen-Straße 4, ein experimenteller Betrieb, in dem man Druckgrafiken, Bügelbilder, T-Shirts und andere kleine Schätze kaufen kann, gestaltet von lokalen und internationalen Zeichnerinnen und Zeichnern. Und Philipp, das sollte ich gleich zu Beginn dieses Artikels offenlegen, ist ein alter Bekannter von mir. Ich treffe ihn heute, um ihn als neuen Kolumnisten der ZEIT:Hamburg vorzustellen. Ab sofort wird er für jede Ausgabe eine Zeichnung beisteuern, sie wird immer unten auf dieser Seite erscheinen. »Philipps Ecke« zeigt jedes Mal eine Szene, die an einer Straßenecke spielt. Erstmals begegnet bin ich Philipp vor mehr als zehn Jahren bei ZEIT Campus, dem Studierendenmagazin der ZEIT. Philipp war dort als Grafikdesigner für die Gestaltung tätig, ich schrieb Texte. Die Zeiten in der Medienbranche waren nicht rosig, links und rechts von uns stellten Verlage ihre Magazine für junge Leserinnen und Leser ein – NZZ Campus, Intro, Neon –, aber gemessen am Branchentrend lief es bei uns gut. Deshalb überraschte es mich, als Philipp eines Tages zusammen mit einer Kollegin erklärte, sie würden ihre Anstellungen für ein Jahr pausieren. Er wünsche sich schon länger mehr Raum für Illustration, erläuterte Philipp, jetzt habe er ein Ladenlokal aufgetan, das werde sein – Achtung! – »Raum für Illustration«. Er wolle dort junge Zeichnerinnen und Zeichner ausstellen und sie für Aufträge an Unternehmen vermitteln. Also eine Galerie betreiben, die zugleich eine Agentur ist. HeinKöllisch-Platz, Souterrain, komm vorbei! Das war 2019. Ehrlich gesagt kam mir das vor wie eine Entscheidung aus Hans im Glück, dem Märchen über einen Handwerksgesellen, der als Lohn für seine Arbeit einen Goldklumpen bekommt, den er gegen ein Pferd tauscht, dann das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein und so weiter, bis er mit leeren Händen dasteht. Echt, dachte ich, du opferst eine ordentlich bezahlte Festanstellung für eine ungewisse Selbstständigkeit? Aber nun, es war ja nur für ein Sabbatical.
Philipp Schultz, 41, Einzelhändler und Zeichner ANZEIGE
Heute frage ich Philipp, ob sein Plan damals aufgegangen sei. »Natürlich nicht!«, sagt er vergnügt und ohne zu zögern: »Wenn man eine Agentur sein will, muss man auch auftreten wie eine Agentur, nicht wie zwei Leute im Sabbatical, die in einem Keller sitzen.« Statt der erhofften großen Aufträge aus der Wirtschaft seien nur kleine aus dem Freundeskreis gekommen. Nach Ablauf des Jahres kehrte die Kollegin in ihre Anstellung zurück. Philipp aber zog mit dem Raum für Illustration in die Paul-RoosenStraße. Bessere Lage, schönere Räume, neue Idee: Aus der Agentur wurde ein Laden. Er hatte kaum den Mietvertrag unterschrieben, da kam der erste Coronalockdown. Hans im Glück. Doch seit er den Laden habe, sagt Philipp, bleibe ihm mehr Zeit, um selbst zu illustrieren. »Ich habe schon immer gezeichnet«, erzählt er, und für die Zeit, die wir uns kennen, kann ich das bestätigen. Wenn Philipp morgens ins Redaktionsbüro kam, hatte er oft sein Skizzenbuch unter dem Arm. Darin: seitenweise Menschen, die er im Bus oder in der U-Bahn gesehen und deren Besonderheiten er festgehalten hatte. Eine Körperhaltung, einen Gesichtsausdruck, manchmal auch nur einen Kopf mit linkem Ohr, schräg von hinten betrachtet. Philipp zeichnete das mit schnellem, schwarzem Strich oder, wie er selbst sagt, »mit so wenig Strichen wie möglich«. Es sind Bilder wie Notizen, spontan, unveredelt und dicht am Leben. Im November hat Philipp zu einer Einzelausstellung in der Millerntorwache eingeladen, dieses weiße Häuschen am Ende der Reeperbahn mit den antik anmutenden Säulen. Weil man dort keine Nägel in die Wände schlagen darf, kam Philipp auf die Idee, seine Bilder zu projizieren. Bald saß er nicht mehr mit einem Skizzenbuch im Bus, sondern mit einer Diabox. Er zeichnete nun mit Edding direkt auf Hunderte leere Dias, die er – wie auch die Projektoren –über eBay Kleinanzeigen bekommen hatte. Geister nannte er diese Ausstellung der flüchtigen Bilder. Typisch Philipp Schultz: Erst kommt ein Einfall. Und dann? Einfach mal machen! Den Raum für Illustration gibt es inzwischen im siebten Jahr, er hat sich mehrmals verwandelt, doch eines ist gleich geblieben: Er ist eine Anlaufstelle für Illustration und für Menschen, die sie lieben. Ein letztes Mal denke ich an das Märchen Hans im Glück, das trotz all der scheinbar schlechten Tauschgeschäfte in einem Happy End mündet. Es hilft, sich nicht an Dinge zu klammern, wenn man das Glück sucht. »Mein Team und ich arbeiten uns den Arsch ab, aber es ist so schön«, sagt Philipp. »Ich war nie freier.«
PHILIPPS ECKE
Wintertage mit Raureif und Sonne kann man nicht nur an der Alster oder der Elbe genießen, sondern auch in diesem Park. Wissen Sie, wo er ist? Raten Sie mit in unserer Fotokolumne »Fundort«. Die Auflösung finden Sie rechts neben dem Bild.
Er folg ist ... entscheide selbst , wie die Balance z wischen Beruf und Privatleben aussieht.
Schüt ze deine kostbarste Ressource – Zeit Flexible Büroräume von Regus bieten dir einen Arbeitsplat z in deiner Nähe, damit du all das tun kannst , was dir wichtig ist Entdecke das Büro, das dir wer t volle Zeit zurückgibt
Teil des IWG-Netzwerks
Büros Coworking Konferenzräume regus com
»Mir fliegen Songs in gewisser Weise zu« Kultur
Achim Reichels Wohnhaus in Hummelsbüttel schmiegt sich weiß getüncht und reetgedeckt in die Landschaft an. Winkend wartet der Musiker vor der mintgrünen Eingangstür. In Mokassins und Cordhose weist Reichel den Weg zu seinem Studio – einem Anbau, der früher einmal ein Schwimmbad war. Auf einen schmalen Flur folgt ein mit bunten Teppichen in allerlei Mustern ausgelegter Raum, etwas größer als ein Wohnzimmer. Mitten im Studio: Ein Schreibtisch mit mehreren Ebenen, auf ihm stehen Keyboard und Mischpult für die nächsten Einfälle des Musikers parat. In einem weiteren Raum stehen und hängen Reichels Gitarren – und überall an den Wänden befinden sich Poster aus seiner jahrzehntelangen Musikkarriere. Auf einem Foto hat Paul McCartney den Arm um Reichel gelegt, sie lächeln einander an. Achim Reichel geht zu einer Sitzecke, lässt sich in einen Sessel fallen, auf dem Glastisch vor ihm flackert eine Kerze.
DIE ZEIT: Herr Reichel, vergangenes Jahr haben Sie Ihren 80. Geburtstag gefeiert und ein Livealbum mit dem Untertitel Das Abschiedskonzert herausgebracht. Sie wollten damals aufhören. Wie gut ist Ihnen das Nichtstun denn bisher so gelungen?
Achim Reichel: Wenn man 80 wird, fängt man an, über seine Karriere nachzudenken. Während unserer letzten Konzerte habe ich immer wieder gedacht: Man, du hast so viel ausprobiert und vieles hat geklappt. Nach sechzig Jahren Musikkarriere hätte ich also auch sagen können: So, jetzt ist es genug. Nur ist das leichter gesagt als getan. Wenn du das so lange machst, dann ist das ein Teil von dir. Das lässt sich von deinem Wesen nicht mehr trennen.
ZEIT: Machen Sie also doch wieder Musik?
Reichel: Am letzten Tag unserer Tour in Köln sagte mein Bassmann zu mir: »Achim, Du weißt, was jetzt kommt, oder?« Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Er meinte dann: »Ist doch klar –Aloha Heja He – das Musical.« Da hab ich erst mal nur drüber gelacht, aber wenig später dachte ich dann: So verkehrt ist das gar nicht.
ZEIT: Sie schreiben ein Musical?
Reichel: Na ja. Die Songs hab ich ja schon alle, jetzt braucht es nur eine Rahmenhandlung. Da denke ich jetzt zumindest ein bisschen drauf rum.
ZEIT: Wollen Sie denn auch wieder auf Tour gehen?
Reichel: Meine Devise ist: Befreie dich von jeglichem Zeitdruck. Den will ich gar nicht mehr haben. Und dann – mal gucken, was kommt. Ich müsste nichts mehr machen, ich habe zum Glück keine Geldprobleme. Meine Songs gehören ja mir, die Lizenz- oder Vertriebsgebühren bekomme ich also sowieso. Und wenn dann noch so irre Sachen wie in China passieren
ZEIT: Sie meinen, als ihr Song Aloha Heja He dort vor drei Jahren zum TikTok-Hit wurde und dann plötzlich auf Platz eins der ShazamCharts stand.
Reichel: Genau, das macht sich dann auch auf dem Konto bemerkbar. Wenn auch nicht so, wie man sich das beim ersten Nummer-einsHit seiner Karriere wünschen würde, denn in China gibt es so etwas wie die GEMA nicht. Aber nachdem mein deutscher Vertriebspartner BMG einen Direktvertrag mit dem dort größten Streamingdienst abgeschlossen hatte, kam wirklich Freude auf.
ZEIT: Arbeiten Sie auch wieder an neuen Songs?
Reichel: Früher habe ich sogar beim Fernsehgucken geklampft. Die Finger müssen ja locker
Feryal bereitet denHamburger Flughafen aufCO2-emissionsfreieFlüge vor. Dank Menschen wieihr empfängt Hamburg Airpor t2026den ersten Passagierflieger mitWasserstoff AlsersterFlughafen in Deut schland.
Achim Reichel, 81, im Studio mit seinem Hund Junek
Musik
Achim Reichel gilt als Ur-Vater des deutschen Rock, Lieder wie »Aloha Heja He« wurden international zum Hit. Vor einem Jahr wollte er aufhören – so ganz scheint das nur nicht zu klappen. Ein Hausbesuch
bleiben, dachte ich mir. Jetzt ist es eher so, dass ich spiele, wenn sich in mir etwas regt. Mir fliegen neue Songs in gewisser Weise zu. Mal ist es ein Satzfetzen, mal eine Melodie.
Im Raum steht ein weiterer Schreibtisch, übersät mit Papieren. Hinter ihm steht eine Art Handwerkerschrank mit diversen Schubladen. Darin, sagt Reichel, bewahrt er Blöcke mit Textzeilen auf, die ihm irgendwann einmal »zugeflogen« seien.
Reichel: Aber ich genieße es, nicht mehr in einer Abgabeverpflichtung zu sein. Ich kann machen, worauf ich Lust habe.
ZEIT: Wie vertreiben Sie sich denn die Zeit?
Reichel: Ich sitze häufig hier im Studio und denke über dieses oder jenes Projekt nach. Das Musical habe ich erwähnt, mal sehen, ob da was draus wird. Gerade sitze ich mit einem Lehrer zusammen, mit dem ich mein Album Regenballade didaktisch aufarbeiten will.
ZEIT: Wie kam es denn dazu?
Reichel: Ich werde immer wieder von Schülern und Lehrern angeschrieben, die mit dem Album an die großen Dichter und ihre Balladen herangeführt werden, Herr von Ribbeck oder John Maynard beispielsweise. Die Idee, das mal aufzuarbeiten ist nicht neu. Den Lehrer habe ich angeschrieben, weil sich ein paar seiner Schüler vorher bei mir gemeldet hatten. Als ich festgestellt habe, dass alle Bundesländer unterschiedliche Lehrpläne haben, dachte ich mir: Um das alleine zu machen, bin ich viel zu flatterig. Ich brauche Unterstützung. Gerade letzte Woche schrieb mir der besagte Lehrer, dass er einen Schulbuchverlag gefunden hätte. Vielleicht wird das wirklich was. Und dann spukt mir noch im Kopf herum, vielleicht doch noch einen Roman zu schreiben.
ZEIT: Einen Roman auch noch?
Reichel: Ja, das hätte ich früher nie gedacht. Aber ich hab mir auch nie vorstellen können, eine 400 Seiten dicke Autobiografie zu schreiben. Als die sich dann auf der Spiegel-Bestsellerliste wiederfand und mir verschiedene Leute sagten, dass sie meine Art zu schreiben gut fanden, da war mir der Floh ins Ohr gesetzt. In meiner Karriere war es überhaupt oft so, dass andere zu mir sagten, wir könnten doch mal dies oder das machen. Häufig wollten die einem nur Honig um den Bart schmieren. Aber inzwischen denke ich mir: Wenn irgendwo eine Tür aufgeht, kannst du auch hindurchgehen. Es sieht also danach aus, als ob da noch was kommen sollte.
ZEIT: Das klingt nun alles nicht gerade nach Ruhestand.
Reichel: Manchmal denke ich schon: Junge, vergiss nicht, wie alt du bist. Man versucht das wegzuschieben, aber es gelingt einem nie wirklich. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen fatalistisch, aber ich denke: Wenn’s sein soll, soll’s sein. Die Kreativität meldet sich ja so oder so. Deshalb bin ich froh, dass ich hier mein Reich habe und meiner Familie sagen kann: Kinder, ich bin mal drüben. Wenn ich ganz allein sein will, ziehe ich hier auch die Vorhänge zu und brüte das aus, was ich im Sinn habe.
Reichel sitzt mit dem Rücken zum Fenster, durch das man auf den akkurat zurechtgemachten Garten blicken kann. Die Rasenfläche wirkt beinahe englisch gepflegt, die vielen immergrünen Büsche rahmen das Grundstück ein, es ist von hohen Bäumen abgeschlossen. Das Schwimmbad-Studio ist etwas abgesenkt, die Fenster beginnen also auf Kniehöhe und lassen sich mit orangefarbenen Gardinen abdunkeln. Jetzt, wo das Tageslicht langsam versiegt, erhellen nur noch die flackernde Kerze und eine Lichter kette, die wild über ein Notenpult neben dem Musiktisch drapiert ist, den Raum.
ZEIT: In Ihrer Autobiografie schildern Sie Ihr Aufwachsen auf St. Pauli. Ihr Vater war Seemann und starb früh an den Folgen eines Herzinfarkts, ihre Mutter arbeitete aushilfsweise in einer Wäscherei. Wie haben Sie damals zur Musik gefunden?
Reichel: Ich hatte als Kind ein Zimmer ohne Fenster, mein Spielplatz war draußen vor der Tür. Wenn man über die Reeperbahn ging, gab’s da Schaukästen, in denen die Damen an den entsprechenden Stellen mit Sichtblenden geschützt wurden, als kleiner Junge lief ich da zwar eigent-
lich nur so vorbei, aber dem Personal des Vergnügungsbetriebs St. Pauli konntest du natürlich trotzdem nicht entgehen. Bei uns im Haus zum Beispiel, da wohnte Frau Helmer. Wenn man heute den Hans-Albers-Film Große Freiheit Nr. 7 ganz genau anschaut, dann kann man Frau Helmer in der Gaststätte erkennen. Die war dort Kellnerin. Als mein Vater starb, hat meine Mutter untervermietet. Alle Untermieter stammten aus dem Umfeld des Allotria-Varietés und wechselten ständig. Ich habe das Gefühl, durch sie erstmals mit so etwas wie Künstlertum konfrontiert worden zu sein.
ZEIT: Inwiefern?
Reichel: Irgendwann gab’s da einen, der sich aus mir unerfindlichen Gründen dazu berufen fühlte, mich in die Welt des Jazz einzuführen. Benny Goodman, Humphrey Lyttelton und so weiter. Ich hab mir das angehört und fand dieses Gedudel erst mal fürchterlich. Und wie man dazu tanzte – na ja. Aber das ist meine erste konkrete Erinnerung daran, mit Musik konfrontiert worden zu sein. Und die hat mich seither nicht mehr losgelassen.
ZEIT: Wie kamen Sie zu Ihrer ersten Gitarre?
Reichel: Im Radio spielte Chris Howland damals die Nummer-eins-Hits der USA und Großbritanniens. Als ich da zum ersten Mal Little Richard gehört hab, hat mich das elektrisiert. Für mich war diese Musik, Rock ’n’ Roll, eine Reaktion auf die Lebensphase, in der ich mich damals befand – frühe Pubertät. Irgendwann habe ich mir eine E-Gitarre gewünscht. Meine Mutter meinte, wenn du dir die Hälfte selbst verdienst, gebe ich dir die andere Hälfte dazu. Ich habe mit 15 eine Kellnerlehre begonnen, denn eigentlich wollte ich ja wie mein Vater und mein Großvater zur See fahren. Das Lehrlingsgehalt reichte für die Gitarre nicht, deshalb habe ich noch Auslieferungen für den Fischmarkt gemacht. Irgendwann hatte ich das Geld für meine erste E-Gitarre dann beisammen – so ging’s los. ZEIT: Mit Ihrer ersten Band The Rattles haben Sie 1963 einen Bandcontest im legendären Hamburger Star-Club gewonnen. Sie wurden danach nicht nur in Deutschland gefeiert, sondern auch in England. 1964 sind sie dort mit den noch unbekannten Rolling Stones getourt. Sie hatten sogar einen englischen Fanclub. Warum sind Sie nicht dorthin gezogen? In England schlug doch damals das Herz der Beat- und der Popmusik? Reichel: Wir hatten tatsächlich ein solches Angebot. Die ganze Band sollte irgendwo in England in einer Art Villa untergebracht und von der Plattenfirma Decca unter Vertrag genommen werden. Aber irgendwas von St. Pauli hatte offenbar doch
auf mich abgefärbt, denn ich bin schon mit 17 das erste Mal Vater geworden. Ein kleines Kind alleine lassen, das hätte ich nicht gekonnt. Na ja und dann funkte auch ziemlich schnell die Bundeswehr dazwischen, und ich musste meinen Wehrdienst leisten. Ich dachte: Das war’s jetzt also mit deiner Musikerkarriere.
ZEIT: Stattdessen haben Sie nach dem Wehrdienst die Gruppe Wonderland gegründet, machten im Anschluss mit A.R. & Machines elektronische Musik und Krautrock, experimentierten mit Volksliedern und Balladen, arbeiteten mit Lyrikern der Gegenwart zusammen Reichel: Ja, mein Zickzackkurs hat manche natürlich dazu veranlasst zu fragen, ob ich eigentlich weiß, was ich will.
ZEIT: Wussten Sie denn immer, was Sie wollten? Reichel: Ich würde sagen: Meine ganze Karriere seit den Siebzigerjahren war ein einziger Selbsterfahrungstrip. Egal ob ich Volkslieder vertont habe, neue Lyriker wie Jörg Fauser oder alte Dichter. Das verbindende Element war in erster Linie eine rockmusikalische Auffassung. Es ging um Rhythmus. Da ist das krasseste Beispiel sicher die Grüne Reise. In einer Zeit, als das Loopen noch gar nicht erfunden war, hab ich mit EchoWiederholungen experimentiert. Und nun sagte mir jemand: Du hast doch diese Balladenvertonungen – hast du schon mal daran gedacht, die mit einem Symphonieorchester aufzunehmen?
ZEIT: Und, haben Sie?
Reichel: Ich bin ja Autodidakt und kann das selbst gar nicht arrangieren. Aber meine Heine und Goethe-Interpretationen, die ja grooven sollen, mit Orchester? Könnte sein, dass das noch passiert. Sie sehen: Die Ideen kommen nicht nur, weil man sie ruft. Vieles wird einem zugetragen. Und man denkt dann unweigerlich darüber nach.
Das Gespräch führte Tobias Lentzler
Hier schreibt Reichel neue Lieder. Wenn sie zu ihm kommen
Geschichte
Sie kam, um die Wahrheit zu sagen
In der frühen Bundesrepublik sprach man nicht gerne über die NS-Vergangenheit.
Dann wurde 1959 der Hamburger Lessing-Preis verliehen – ausgerechnet an Hannah Arendt VON RAINER NICOLAYSEN
Als Hannah Arendt am späten Abend des 24. September 1959 mit dem Lufthansa-Flug 141 in Hamburg eintraf, um hier den Lessing-Preis entgegenzunehmen, einen der wichtigsten Kulturpreise der Bundesrepublik, wurde sie von Behörden- und Medienvertretern am Flughafen Fuhlsbüttel empfangen. Die politische Theoretikerin (den Begriff »Philosophin« lehnte Arendt für sich ab) besaß damals noch nicht die Berühmtheit, die sie bis zu ihrem Tod 1975 erlangte, und noch war sie nicht der Star, der sie posthum werden und bis heute bleiben sollte. Bekannt war sie aber schon: 1955 war die deutsche Fassung ihres Hauptwerks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erschienen, und 1958 hatte sie durch die Laudatio auf ihren akademischen Lehrer Karl Jaspers bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein bundesweites Publikum erreicht. In Hamburg wurde die jüdische Emigrantin mit Spannung und in Anspannung erwartet. Gern wollte man sich mit dem illustren Gast aus New York schmücken, fürchtete aber auch Misstöne. Mehrmals hatte Kultursenator Hans Harder Biermann-Ratjen (FDP) intern betont, wie »kühn« die Entscheidung für Arendt als Preisträgerin sei: Denn erstens sei sie die erste Frau, die den Lessing-Preis erhalte, zweitens eine in der NS-Zeit Verfolgte, drittens eine streitbare Denkerin im Grenzgebiet zwischen Politik und Kultur. Tatsächlich kam Hannah Arendt nach Hamburg, um unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Unbekannt ist bis heute, dass Arendt ursprünglich für diese Ehrung gar nicht vorgesehen war und erst nach einigen Wendungen überhaupt dafür ins Gespräch kam. Zuständig für den alle drei Jahre vergebenen Preis war ein jeweils vom Hamburger Senat berufenes Preisrichterkollegium, das aus sieben Mitgliedern bestand, die in Hamburg ansässig oder mit seinem »geistigen Leben« eng verbunden sein sollten. Das Kollegium für die Preisvergabe von 1959, wie stets ein reines Männergremium, bestand neben Kultursenator Biermann-Ratjen, der den Vorsitz übernahm, aus dem Schriftsteller Martin BeheimSchwarzbach, dem ZEIT-Redakteur René Drommert, dem Verleger und Antiquar Ernst Hauswedell, dem Pädagogikprofessor Walther Merck, dem Buchhändler Kurt Saucke und dem Redakteur des sozialdemokratischen Hamburger Echos Rudolf Stobbe. In der ersten Sitzung im August 1958 wurde eine Kandidatenliste mit neun Namen aufgestellt, Anfang November kam es zu einer engeren Auswahl. Hannah Arendt stand auf keiner dieser Listen. Eine Probeabstimmung favorisierte den damals 35-jährigen Altphilologen und Schriftsteller Walter Jens, ein Beschluss wurde aber vertagt. Bald darauf teilte BeheimSchwarzbach seinem Duzfreund Biermann-Ratjen mit, er verlasse die Kommission; in deren Zusammensetzung liege zu wenig Kompetenz. Derweil hatte der Auswahlprozess eine unerwartete Wendung genommen: Hans Stock, ein Mitarbeiter der Kulturbehörde, legte dem Senator einen Vermerk vor, in dem er die Schriften von Walter Jens kritisch beurteilte und zu dem Schluss kam: »Wenn die Zeit nicht schon so weit vorgeschritten wäre, würde ich empfehlen, das Steuer radikal herumzuwerfen und Hannah Arendt vorzuschlagen. Es gibt auch eine politische Essayistik, und vielleicht ist sie
Hannah Arendt mit Bürgermeister Max Brauer im Hamburger Rathaus
zeitgemäßer als eine literarische. Kennen Sie die 6 Essays von ihr? Eine großartige Frau und zum ersten Mal bekäme eine Frau den Preis.« Arendts Name war in den Kollegiumssitzungen nur einmal kurz erwähnt, aber nicht protokolliert worden. Stock, der Arendt während einer USA-Reise persönlich kennengelernt hatte, brachte sie erst richtig ins Spiel und wurde zum zwar inoffiziellen, aber maßgeblichen Stichwortgeber. Nach Stocks Intervention fanden im Laufe des Dezembers noch drei weitere, so nicht geplante Sitzungen statt, in denen darüber gestritten wurde, ob man Arendt den Preis zusprechen sollte. Hauswedell, Stobbe und Merck plädierten dafür. Letzterer berief sich dabei auch auf seinen Kollegen aus der Politikwissenschaft Siegfried Landshut, einen der wenigen jüdischen Remigranten an der Universität Hamburg, der von Arendts Werk sehr angetan sei. Vorbehalte gegen Arendt äußerten Saucke, der erklärte, man begäbe sich damit zu sehr auf das Gebiet des Politischen, und Drommert, der Arendts Stil bemängelte. Biermann-Ratjen stand Arendt zwar »sympathisch« gegenüber, schlug aber zugleich als neuen Kandidaten den Kunsthistoriker Werner Haftmann vor. Es lief auf eine Entscheidung zwischen ihm und Arendt hinaus, die nach längerem Ringen einstimmig zugunsten Arendts ausfiel. Haftmann erhielt 1962 den nächsten Lessing-Preis, seine nicht unerhebliche NSBelastung wurde erst Jahrzehnte später zum Thema. Per Luftpostbrief vom 30. Dezember 1958 informierte der Kultursenator Arendt über den Beschluss und bat um ein rasches Telegramm mit ihrer Zusage. Die Zeit drängte, da am 22. Januar, Lessings Geburtstag, der Name der Preisträgerin bekannt gegeben werden sollte. Der Senator betonte den hohen Rang des 1929 gestifteten Preises, ließ aber unerwähnt, dass er im »Dritten Reich« weitergeführt und an NSkonforme Autoren vergeben worden war. Arendt telegrafierte aus New York: »I feel greatly honored indeed and accept most gratefully – letter follows.« Arendt kannte Hamburg, denn hier hatten die Eltern ihres ersten Ehemannes Günther Anders, die Psychologen Clara und William Stern, gelebt, bevor sie 1933 als Juden vertrieben wurden. Hier hatte Arendt auch Station gemacht, als sie 1949 das erste Mal nach dem »Dritten Reich« von New York nach Deutschland reiste, um als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction danach zu forschen, welche jüdischen Kulturgüter die NS-Diktatur überdauert hatten. Dass sie die Ehrung annahm, war keineswegs selbstverständlich. Als Karl Jaspers ihr zu dem Preis gratulierte, antwortete Arendt, ihr sei »blümerant« zumute, und sie denke lieber nicht daran. In den nächsten Monaten ging es in Arendts Briefwechsel mit der Kulturbehörde um den Termin der Preisverleihung und das Thema ihrer Rede. Dieses solle sie völlig frei wählen, teilte ihr der Kultursenator im Januar 1959 mit: »Je mehr Ihr Thema in der Gegenwart wurzelt, um so lieber ist es uns; auch sollte es nicht bedächtig historisch, sondern so bestimmt und aggressiv sein wie Ihr Vortrag über die Erziehung« (den Arendt 1958 in Bremen gehalten hatte). Arendt dankte für diese Freiheit, die sie richtig nutzen wolle, und was das Aggressive angehe, müsse er keine Angst haben: »Ich kriege es fertig, auch dann noch aggressiv zu wirken, wenn ich mir einbilde, ganz bedächtig und historisch gewesen zu sein.« Mehrmals ging es in der folgenden Korrespondenz um den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Im Mai erwähnte Arendt einen Artikel auf der Titelseite der
New York Times, dem zufolge 90 Prozent der 15- bis 17-jährigen Schulkinder in der Bundesrepublik praktisch nichts über Adolf Hitler und die Judenvernichtung wüssten. Sie schrieb: »Nun, über die Juden zu sprechen anlässlich des Lessingpreises liegt ja doch sehr nahe. Was meinen Sie dazu?«
Die feierliche Preisverleihung fand schließlich am 28. September 1959 im Kaisersaal des Rathauses statt. Rund 150 Gäste aus Politik, Kultur und Wissenschaft hatten sich versammelt, hinzu kamen Medienvertreter. Die Preisträgerin hatte ihren Platz in der ersten Reihe neben Bürgermeister Max Brauer, der ebenso in den USA im Exil gewesen war wie Finanzsenator Herbert Weichmann, der wenige Plätze entfernt saß. Aber abgesehen von diesen als Sozialdemokraten – Weichmann auch als Jude – vormals verfolgten Politikern: Wie musste Arendt das Publikum mit all den Honoratioren vorkommen, wohl wissend, dass frühere Nationalsozialisten in der Bundesrepublik wieder in höchste Ämter gelangt waren? Zumindest potenziell hatte sie es in Deutschland überall mit NS-belasteten Menschen zu tun. Selbst beim wohlmeinenden Kultursenator hätte man nach seinen Kompromissen im »Dritten Reich« und den Umständen seiner NSDAP-Mitgliedschaft fragen können. In seiner Laudatio sprach Biermann-Ratjen von »unseren unermessbar großen moralischen Schulden bei unseren jüdischen Mitbürgern«, versuchte aber zugleich, die Preisträgerin als »die Unsrige« zu reklamieren. Das lag Arendt fern. Weder sah sie sich als Deutsche, noch hielt sie Versöhnlerisches für angebracht. Ihre anschließende, inzwischen berühmte Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten –Gedanken zu Lessing hatte es in sich. Nach einem nur scheinbaren Umweg über Lessing sprach sie über die in Deutschland »nur zu verbreitete Neigung, so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben«. Scharf wandte sich Arendt auch gegen die Ansicht, man müsse die Vergangenheit »bewältigen«. Dies könne man vermutlich mit keiner Vergangenheit, »sicher aber nicht mit dieser«. Das Höchste, was man erreichen könne, sei zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen sei. Arendt hatte sich entschieden, den LessingPreis anzunehmen. Sie tat dies, indem sie bei der Feierstunde im Rathaus ausdrücklich als Jüdin sprach. Das war Ende der 1950er-Jahre ein ungewöhnlicher, ein mutiger Akt. Die Rede, auch dramaturgisch eine Meisterleistung, wurde anschließend von der Kulturbehörde gedruckt und ist seither in vielen Ausgaben neu aufgelegt worden. Die öffentlichen Reaktionen waren damals positiv, meist aber ohne auf den Kern der Rede einzugehen. Widerspruch, der vorhanden war, wurde eher hinter vorgehaltener Hand geäußert. Arendt selbst dürfte erleichtert gewesen sein, ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Es war auch eine Genugtuung, in dem Land, das sie als Jüdin vertrieben hatte, in dieser Weise geehrt zu werden. Viel Aufhebens wollte sie darum aber nicht machen. Ihren Mann Heinrich Blücher informierte sie knapp: »In Hamburg großer Erfolg. Mehr später.« Am 30. September 1959 reiste Arendt weiter nach Berlin. Eine kritische Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit hatte in der Bundesrepublik gerade erst begonnen. Rainer Nicolaysen ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Er arbeitet an einem Buch über Hannah Arendt in Hamburg
Wer soll Hamburg künftig gestalten? Und wer Bürgermeister dieser Stadt sein – oder Bürgermeisterin?
Am 2. März wird in Hamburg eine neue Bürgerschaft gewählt. Die ZEIT:Hamburg lädt Sie gemeinsam mit Radio Hamburg zu einer großen politischen Diskussion ein.
Auf dem Podium stehen der amtierende Erste Bürgermeister Hamburgs Peter Tschentscher (SPD), die amtierende Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Die Grünen) und der CDU-Landesvorsitzende Dennis Thering. Sie werden den Moderatoren Florian Zinnecker (ZEIT:Hamburg) und Carolina Koplin (Radio Hamburg) Rede und Antwort zu den brennendsten Themen der Stadt stehen –und nehmen dabei auch Ihre Fragen mit.
Livestream auf www.zeit.de/triell
Beginn: 19.30 Uhr
Folgen Sie uns: @zeit_veranstaltungen
Eine Veranstaltung von:
Gerade ist ein Teller zerbrochen, da wurde es kurz still im Restaurant. Und jetzt auch noch das: Es gibt keinen Fufu mehr. Louis-Lord Larbi, der Küchenchef, schaut in seiner weißen Kochjacke vom Bon zur Uhr. Vor einer halben Stunde hat Tisch 17 bestellt. Spätestens jetzt sollte der Fufu – ein Kloß aus Yamswurzel und Kochbananen – serviert werden. Die Zubereitung dauert rund 20 Minuten. Es ist kurz vor acht, Donnerstag, der Laden ist voll. Ein Kellner haut mit der Faust auf den Edelstahl. »Weil einer nicht aufmerksam war, leiden alle, leidet das ganze Restaurant!«, sagt Larbi verärgert. »Deshalb sind wir noch nicht so weit!«
Was Larbi damit meint: Der 37-Jährige möchte in den nächsten Jahren einen Michelin-Stern erkochen – mit seinem Restaurant Afrofusion, das im Oktober in der HafenCity eröffnet hat. Larbi ist Autodidakt, er hat sich das Kochen selbst beigebracht. Zudem serviert er hauptsächlich westafrikanische Speisen, er selbst stammt aus Ghana. Und bis heute gibt es weltweit nur wenige Restaurants mit afrikanischer Küche, die einen Michelin-Stern haben. Das liege nicht an den Testern, sagt Larbi –»wenn es kein Angebot gibt, kann Michelin auch nichts testen«.
Zurzeit, das weiß er, stehen die Chancen für Restaurants abseits des Mainstreams so gut wie nie. Der Guide Michelin, dessen Anerkennung noch immer ein Ritterschlag ist, zeichnet längst nicht mehr nur Restaurants mit französischer oder japanischer Küche
aus. Vergangenes Jahr bekamen ein TacoImbiss in Mexiko und ein Restaurant in der New Yorker U-Bahn einen Stern, auch zwei westafrikanische Restaurants in London wurden ausgezeichnet. In diesen edlen Kreis will Larbi irgendwann aufgenommen werden. Für viele Restaurants ist es ein langer Weg, sie arbeiten Jahre darauf hin, und doch zählt jeder Moment. Die Michelin-Tester kommen unangemeldet und geben sich nicht zu erkennen. Wenn einer da ist, darf kein Fehler passieren. In Larbis Küche hängt ein Schild über der Uhr, es ist eine Erinnerung an sein Team und auch für ihn selbst: Every second counts – jede Sekunde zählt. Einige Stunden zuvor kommt LouisLord Larbi aus dem Fitnessstudio und steigt in seinen zerbeulten VW Lupo. Gerade hat er Gewichte gestemmt und sich einen Proteinshake am Automaten gezogen. Die Zeit seit der Restauranteröffnung war stressig, er will wieder mehr auf sich achten. Nun fährt Larbi ins Büro, Servier wagen bestellen, dann ins Bauhaus in Wandsbek, kauft eine Sackkarre, anschließend steuert er einen Lebensmittelgroßhändler in Altona an. Auf seiner Speisekarte stehen westafrikanische Klassiker: Fufu mit ErdnussHühner-Suppe und tomatenlastiger JollofReis mit Kochbananen. Weil Larbi Fusionsküche anbietet, hat er den meisten Gerichten eine weitere Note hinzugefügt. Zum Jollof-Reis gibt es auf dem Teller etwa einen Klecks Hummus in einem Ring aus Schnittlauchöl. Andere Gerichte interpretiert Larbi westafrikanisch. Trüffel-Gnocchi zum Beispiel, die bei ihm aus Fufu-Masse geformt und mit Erdnuss-Sahne-Sauce serviert
Jollof-Reis mit Kochbananen – eines der Gerichte, die im Restaurant Afrofusion von Louis-Lord Larbi, 37, auf der Speisekarte stehen
Vorsicht, heiß (auf den Stern)
Nur wenige Restaurants mit afrikanischer Küche tragen einen Michelin-Stern. Das Afrofusion des Hamburgers Louis-Lord Larbi möchte eines Tages dazugehören VON YANNICK RAMSEL
werden. Beim Großhändler sucht Larbi nach Rucola – der beim Afroburger auf die Kochbananen drapiert wird. Larbi weiß, dass Kreativität und Einzigartigkeit zu den wichtigsten Merkmalen der Sterneküche gehören. Nur hat er selten Zeit dafür – Larbi ist nicht nur Küchenchef, sondern auch Geschäftsführer. Eine Person für den Papierkram hat er schon eingestellt, zum Sortieren der Bons und Öffnen der Briefe. »Kleine Zeitfresser, die ich versuche zu vermeiden«, sagt er. Gerade ist er auf der Suche nach einer Vertretung für die Küche. »Mir kommen Ideen, wenn ich nicht im operativen Geschäft bin«, sagt er. Er schaut dann YouTube-Videos, assoziiert frei, lässt die Gedanken schweifen. Zu Jahresbeginn war er in London. Restaurants testen, Inspiration sammeln. Geboren ist Larbi in der ghanaischen Stadt Kumasi. Als Fünfjähriger kam er nach Deutschland. Mit seinen Eltern und der Schwester wuchs er in Barmbek-Süd auf. Zu Hause, erinnert sich Larbi, habe er den Duft aus der Küche seiner Mutter immer schon auf der Straße gerochen. Sie nannte ihn Foodian, eine Mischung aus Food und Ghanaian; jemand, der Essen liebt. Sein Antrieb heute, sagt er, sei, dass Menschen sich in seinem Restaurant so fühlen wie er damals, als seine Mutter für ihn kochte. Deren Jollof-Reis fanden seine Kumpels so lecker, dass sie Tupperdosen mitbrachten, um die Reste mitzunehmen. »Sie bekamen das nur bei uns. Und ich wusste selbst nicht, in welche Restaurants ich für westafrikanisches Essen hätte gehen sollen – es gab keine.«
Nach der Schule begann er eine Kochausbildung, brach sie jedoch nach einem
Monat ab. Von 8 bis 23 Uhr in einer geschlossenen Küche stehen, und das bei einem mickrigen Lehrlingsgehalt? »Ich dachte: Okay, vielleicht ist es doch nur ein Hobby.« Larbi wurde Versicherungskaufmann. Seine Leidenschaft verfolgte er nebenbei. Kam bei der Fernsehshow Masterchef unter die letzten elf, lernte, wie man ein perfektes Omelett zubereitet, wie man einen Hummer zerlegt und Desserts kreiert. Kochte beim Perfekten Dinner auf Vox ein Püree aus Yams, Sellerie und Kokos mit grünem Spargel und einer Rotweinreduktion. Lange Zeit wusste Larbi nicht, wie man Trüffel wäscht. Er erkundigte sich dann einfach bei seinem Trüffellieferanten. Larbi ist kein kulinarisches Wunderkind, er macht einen Schritt nach dem anderen.
Als Larbi nachmittags an seinem Restaurant in der Nähe der Elbbrücken ankommt, stapft er durch Erde und Sand und Kieselsteine. In diesem Teil der HafenCity ist gerade noch nichts fertig, und vielleicht passt Larbis Restaurant auch deshalb gut hierhin. Es gehe gerade erst los, so sieht Larbi das.
Fragen, die er sich in dieser frühen Phase seines Restaurants stellt:
Wie kann er Gäste, die mit der westafrikanischen Küche aufgewachsen sind, zufriedenstellen und gleichzeitig auch andere anlocken – Stichwort Schärfe?
Wie kreativ kann er mit Rezepten sein, bis sie aufhören, authentisch zu sein?
Will er ein Gänge-Menü anbieten, wie in vielen Sternerestaurants üblich?
Drinnen haben seine vier Köche ihre Stationen vorbereitet. Sie haben Zwiebeln geschnitten, das Öl in die Fritteusen ge-
lassen, die Erdnuss-Hühner-Suppe aufgesetzt. Keiner in Larbis Küche hat eine klassische Kochausbildung durchlaufen. Kevin, der die Burger zubereitet, ist wie Larbi Autodidakt, zuletzt arbeitete er in einem Burgerrestaurant. Steven, zuständig für Fufu und die Fritteusen, hat Hauswirtschaft gelernt und im Fischrestaurant seiner Tante ausgeholfen. Larbi selbst ging 2022 für drei Monate nach London, um in der Küche des Stork, eines westafrikanischen Restaurants, zu hospitieren. »Ich habe dort gelernt, wie man unsere Küche auf hohem Niveau auf dem Teller präsentiert. Ich habe auch die Ernsthaftigkeit des Berufs erkannt. Dass jeder Schritt und jeder Handgriff eine große Bedeutung hat«, sagt Larbi. Im Afrofusion hat er deshalb Regeln für das Personal eingeführt: Bewegt man sich hinter dem Rücken einer anderen Person, weist man sie darauf hin, indem man »Back« sagt. Alle tragen das gleiche Outfit, schwarz, nur Larbi trägt Weiß. Gibt Larbi eine Anweisung, antwortet man: »Yes, Chef.« Er will Ordnung und Struktur in seiner Küche, eine Basis. Als die ersten Gäste in den Laden kommen und in der Küche die Konzentration steigt, beginnt es langsam nach Erdnuss zu riechen, nach Frittierfett, Fleisch, Trüffel, immer wieder ist da auch der erdige Geruch der Kochbanane. Larbi öffnet Spotify, klickt auf die Playlist Ghana Top Hits – Afrobeats 2025. Gegen 19 Uhr sind alle Tische belegt, es wird hektischer. An den Fritteusen piepen Stoppuhren, der Dampfgarer zischt. Worte auf Englisch, Deutsch und Twi, das man in Ghana spricht, fliegen durch den
Raum. Aus der hell erleuchteten Küche wirken die Gäste im gedimmten Licht des Restaurants wie die Kulisse eines Theaterstücks. Arme greifen übereinander, Larbi gibt seine Anweisungen: »Okay guys, please start with table 72.« »Ich brauche euch jetzt einmal, alle!« »Ihr müsst miteinander reden.« Das Schild mit dem Spruch Every second counts, das im Afrofusion an der Wand hängt, stammt aus Larbis Lieblingsserie The Bear. Darin geht es um einen jungen Gourmetkoch, der das strauchelnde Sandwich-Restaurant seines gestorbenen Bruders in Chicago übernimmt und versucht, es zum Erfolg zu führen. Auch dort hängt das Schild an der Wand. Larbi fasziniert die Geschichte. »Am Anfang können die nicht schneiden, nicht kochen, aber alle Mitarbeiter gehen auf Schulungen, kommen besser zurück, und so wächst das Team«, sagt Larbi. »Sie werden eine Familie.« Es wirkt, als sei es sein Wunsch, etwas Ähnliches mit seinem Team zu schaffen. Larbi hat dem Küchenchef des Londoner Akara, dessen Schwesterrestaurant Akoko vergangenes Jahr einen Stern bekam, bei Instagram geschrieben. Dort will er als Nächstes hospitieren. Er selbst hat noch nie in einem Sternerestaurant gegessen, auch das will er bald nachholen, im The Table von Kevin Fehling in der HafenCity. Letztens hat Larbi aus der Küche heraus einen Mann beobachtet. Er sei allein gekommen, habe einen Platz bezogen, von dem aus er in die Küche blicken konnte, und Notizen gemacht. Larbi ist sich nicht sicher, aber er glaubt, es könnte ein Michelin-Tester gewesen sein.