ZEIT WISSEN 01/24

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NR. 01 Januar / Februar 2024

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EDITORIAL

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FACHWISSEN SEIT 1974

EIN ECHTER SIEGERTYP Es geht darum, den Vater zu schlagen. Wieder einmal geht es darum. Der 15-Jährige hat das Schachbrett aufgebaut, seine Figuren sind die weißen. Der Vater ist der stärkere Spieler. Schon während des ganzen Urlaubs spielen – oder besser: kämpfen – sie miteinander, jeden Tag eine Partie. An diesem Abend gruppieren sich Zuschauer um die beiden, dort im Foyer eines Hotels in Sarajevo. Sie stehen um die Ledersessel, und je mehr sie werden, desto stiller wird die Luft über dem Brett. Als der Sohn (ich) die Hand nach der Figur des Läufers ausstreckt, fängt er den Blick eines Mannes auf, der hinter dem Vater steht. Der Blick sagt: Nimm nicht den Läufer. Der Mann hat die ruhigen Augen und den Schnurrbart eines guten Schachspielers. Später sagt sein Blick: Ja, den Turm. Ich weiß es noch wie heute: ein heißes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, als ich den heimlichen Anweisungen dieses Mannes folgte, eine heiße Mischung aus Schuld und Sieg­chance. Ich konzentrierte mich mehr darauf als auf die Figuren. Aber dann erkannte ich plötzlich einen gefährlichen Angriff meines Vaters. Und jetzt erreichten mich keine Zeichen mehr, die ruhigen Augen starrten vor sich hin, und als ich das nächste Mal aufblickte, war der Mann verschwunden. Liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Heft lernen wir, dass Vertrauen die Grundlage für gute Entscheidungen ist, aber auch, dass blindes Vertrauen dumm ist (Seite 52). Und eine schöne Geschichte über Schachspieler haben wir auch im Heft (Seite 58). Die Partie in Sarajevo habe ich natürlich krachend verloren. Der Mann war eine echte Pflaume.

Sollte, müsste, hätte … hat jetzt Pause

Titelillustration: Xuan Loc Xuan; Fotos (v. o.): Volker Wenzlawski, privat

Andreas Lebert, Chefredakteur

AUS DER REDAKTION Johanna Michaels hat Herrenschneiderin gelernt und dann Philosophie und Physik studiert. Nebenher stieg sie in den Journalismus ein. Ihre größte Herausforderung bisher war ein Nebenjob für eine Agentur. Die Aufgabe: deutsche Behördensprache vereinfachen. Worauf es dabei ankommt, beschreibt sie ab S. 50.

Xuan Loc Xuan liebt Blumen, Regen und Felder seit ihrer Kindheit. Man sieht es ihren Illustrationen an, die sie für Zeitschriften in aller Welt anfertigt. Für ZEIT WISSEN hat sie das Cover und die Titelgeschichte ­ illustriert (ab S. 20). Sie lebt in Ho-Chi-Minh-Stadt und ist unter @xuanlocxuan auf Instagram zu finden.

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INHALT

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Spring! Wie Psychologie und Spieltheorie bei Lebensentscheidungen helfen können Was lernen wir von der Musik für den Alltag? Das große Gespräch mit Michael Barenboim

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AM ANFANG DREI FRAGEN 1. Warum wollen wir so sein wie die anderen? 2. Welche Rolle spielt die Farbe Weiß in der Natur? 3. Kann ein Abstieg auch befreiend sein?

32 SCHLAF GUT? SCHLAF BESSER! Sieben Tipps für gesunden Schlaf

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ENDLICH AUFGEKLÄRT Apps verbessern die sexuelle Bildung

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JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN Sasha ­Tandogan (14) und Reinhold Messner (79) über das Eis

44 RUNTER VON DEN BARRIKADEN! Wie Menschen mit Behinderungen die Mobilitätswende erleben

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KLEINE POLITISCHE WELTKUNDE Wer Israel das Existenzrecht abspricht, kennt die Geschichte nicht

42 GEORDNETE VERHÄLTNISSE Unsere Infografiken, diesmal: Pakete

50 NIEMAND VERSTEHT EUCH Entbürokratisiert die Sprache! 58 DAME, KÖNIG, POLITIK Sind Schachspieler bessere Politiker? Ein Spielbericht von drei Begegnungen

Abb. (v. l.): Mark Long; Julia Steinigeweg; Xuan Loc Xuan

Extraheft: Neue Immuntherapien können Krebs zielgenau zerstören. Wie funktionieren sie, und wie geht es weiter? Sollte das Heft fehlen, schreiben Sie bitte an redaktion@zeit-wissen.de


5 Neue Serie: DIE NACHT Nachts ist der Mensch wie verwandelt. Warum wir dann anders denken, anders fühlen und anders funktionieren

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66 DER SCHAFFNER WECKT DICH Wie geht es mit Europas Nachtzügen weiter? Eine Expedition in drei Abteilen 72 IN ZEHN ZÜGEN ZUM RAUSCH Eine Anleitung zum Winterschwimmen 75 DIE ZUMUTUNG: GOTT Erst gab es Götter. Dann Gott. Und bei den Christen die Dreifaltigkeit. Schöne Bescherung für die Religionsphilosophie 81

BLEISTIFT UND HANDSCHRIFT Einblicke in die General Pencil Company und eine Frage an die Kriminalpolizei: Was verrät die Handschrift über uns?

90 »UNABHÄNGIGKEIT IST EINE ILLUSION« Die Mistel im Interview 94 SO ERKENNT MAN QUALITÄT Diesmal: Der Weihnachtsbaum 96 IHR KRIEGT AMERIKA, WIR ASIEN 7. Juni 1494 – die Welt wird aufgeteilt 100 DAS FEST DER LIEBE Tipps für Bücher, Filme und Digitales 104 IMPRESSUM / BESTE FRAGE 106 VON TIEREN LERNEN Diesmal: Männliche Selbsteinschätzung


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AM ANFANG DREI FRAGEN

1. Warum wollen wir so sein wie die anderen? Obwohl wir so gern einzigartig wären... Die Antwort darauf liegt irgendwo zwischen Angebot und Nachfrage Text Luisa Stamenkovic

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Foto Pelle Cass, Place Vendome

n Hamburg-Eppendorf sind es die Steppjackenträgerinnen, die mit coffee to go und Dackel die Alster entlangspazieren. In Berlin-Kreuzberg die Secondhand-Einkäufer, mit Mützen, die nicht über die Ohren reichen. Und in Düsseldorf-Eller tragen die Leute vor allem Leggings und Jogginghosen. Was verbindet diese Menschen mit­ein­an­der? Dass sie alle das tun, was die jeweils anderen um sie herum tun, »soziale Anpassung« nennt man das. Die meisten von uns machen das, ständig – und merken es oft gar nicht. So streichen Menschen zum Beispiel ihr Zimmer creme­far­ben und glauben, es sei Zufall, dass ihr Geschmack sich mit dem in Einrichtungsmagazinen deckt. Erich Fromm schrieb 1956 in Die Kunst des Liebens dazu: »Im Konsensus aller sehen die Menschen den Beweis für die Richtigkeit ihrer ­Ideen.« Auch wenn wir uns, laut dem Psychoanalytiker, unseres Bedürfnisses nach Konformität nicht bewusst sind: Wir fühlen uns wohl, wenn wir uns in anderen wiederfinden. Nur, wer sind diese »anderen« eigentlich? Nach Erich Fromm ist das eine »anonyme Autorität«, die in Form von »gesundem Menschenverstand« und »öffentlicher Meinung« auftritt. Im Mittelalter waren es Kirchenvertreter und Standesordnungen, die vorgaben, wonach sich die Menschen besser richteten. Heute sind es eher heimliche Einflüsterer: Influencerinnen erklären, wie sie ihre innere Mitte durch frühes Aufstehen und Morgenyoga finden, Möbelmarken versprechen Lebensqualität durch samtige Sofas, und der Business-Coach fragt, ob wir nicht auch lieber von unterwegs aus Geld verdienen wollen, als im Büro zu sitzen. Wir springen auf den Zug auf, der aufdringlich hupt, und am Ende sind wir vieles – nur nicht individuell. Unser Wirtschaftssystem hat uns das Prinzip von Angebot und Nachfrage gelehrt. Wir haben verinnerlicht: Je mehr Menschen etwas

wollen, desto mehr Wert hat es. Erich Fromm übertrug dieses Prinzip 1973 in Anatomie der menschlichen Destruktivität auch auf den Charakter, er schrieb: »Für den Marketing-Charakter verwandelt sich alles in Konsumware – nicht nur die Dinge, sondern auch der Mensch selbst, seine physische Energie, seine Fertigkeiten, sein Wissen, seine Meinungen, seine Gefühle, ja sogar sein Lächeln.« Wir passen uns an, um mit dem gesamten Auftreten der Nachfrage zu entsprechen. Der Antrieb dahinter ist Angst, die Angst vor sozialer Isolation. Laut der pain overlap theory von Naomi Eisenberger und Matthew Lieberman – beides Professoren an der University of California – empfinden wir soziale Ablehnung wie körperlichen Schmerz. Um den zu vermeiden, nutzen wir einen Trick: Wir ahmen nach und stellen so Nähe her. Wissenschaftler vom MaxPlanck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben untersucht, wie es sich auswirkt, wenn Kinder imitiert werden. Das Ergebnis: Schon die ganz Kleinen vertrauten denjenigen Menschen, von denen sie nachgeahmt wurden, mehr als anderen. Sich an­ein­an­der anzupassen verbindet also offensichtlich. Ein Grundbedürfnis des Menschen wird so gestillt. Hans Peter Erb weiß noch einen Grund, warum wir uns anpassen. In seinem You­Tube-­Kanal spricht der Professor für Sozialpsychologie an der Universität der Bundeswehr in Hamburg darüber, wie die Orien­tie­rung am Umfeld Energie spart. Mit einem Beispiel aus seinem Alltag: »Ich erinnere mich an Gelegenheiten, in denen ich aus einem Zug steige, die Schilder nicht lese, einfach den anderen hinterherlaufe und am Ende da lande, wo ich hinwollte: am Ausgang.« Man könnte es auch so sagen: Die Suche nach Individualität entspannt sich, wenn wir einsehen, dass in jedem von uns immer auch ein Spießer steckt.


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AM ANFANG DREI FRAGEN

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2. Welche Rolle spielt die Farbe Weiß in der Natur? Weiß kann Tarnung sein oder ein Signal oder ein Gendefekt. Der Klimawandel stürzt die Farbe in eine Identitätskrise – und andere mit ihr Text Nina Lennartz

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Foto Steinbrener/Dempf & Huber

eiß ist Ansichtssache. Entweder ist es gar keine Farbe, wie manche Kunstlehrer schlau­ meiern, oder aber die bunteste Farbe, die der Mensch wahrnehmen kann. Scheint die Sonne beispielsweise auf ein Blatt, reflektiert dieses überwiegend grünes Licht und absorbiert die Lichtstrahlen anderer Wellenlängen. Je mehr Licht unterschiedlicher Wellenlängen ein Objekt reflektiert, desto heller ist es. In Wahrheit ist Weiß also die Kombination sämtlicher Farben. Aber Weiß ist nicht gleich Weiß: Kein Objekt der Erde spiegelt Sonnenlicht perfekt zurück. Frisch gefallener Schnee kommt allerdings nah dran: Er wirft bis zu 90 Prozent der Sonnenstrahlen zurück. Das liegt an den Millionen Eiskristallen, aus denen er sich zusammensetzt. Sie haben un­ter­schied­ liche Oberflächen und reflektieren daher verschiedene Lichtwellenlängen. Die Folge: gleißende Helligkeit. Dadurch schmilzt der Schnee langsamer, denn je weniger Lichtenergie ein Objekt aufnimmt, desto langsamer erhitzt es sich. Es mischen sich allerdings auch dunklere Partikel unter die Eiskristalle, etwa Ruß und Mikroplastik. Das Eis wird dunkler, absorbiert mehr Sonnenstrahlen und kann so schneller schmelzen. Für weiße Tiere ist das ein Problem. Nicht nur der Eisbär ist auf seine weiße Umgebung angewiesen. Mehr als 20 Vogel- und Säugetierarten wechseln im Winter von braunem zu weißem Fell oder Gefieder, darunter Schneeschuhhasen, Polarfüchse und Hermeline. Spielt Weiß im Winter nicht mehr die Hauptrolle, wird ihnen ihre einstige Tarnung zum Verhängnis: Im schneefreien Gehölz werden sie schneller von Feinden entdeckt und gefressen – die Population schrumpft. Aber es gibt Hoffnung: Dieselben evolutionären Prozesse, die einst dafür sorgten, dass die Tiere sich im Winter weiß färben,

könnten ihnen helfen, im schneefreien Winter braun zu bleiben. Eine Forschungsgruppe um den Wildtierbiologen Scott Mills hat winterweiße Tierarten in 60 verschiedenen Ländern untersucht, unter anderem den Schneeschuhhasen. Der heißt so, weil er immer weiße Pfoten hat – auch im Sommer, wenn der Rest seines Fells braun ist. Sein Lebensraum ist stark geschrumpft. Doch schon jetzt gibt es Regionen, in denen einige Schneeschuhhasen auch im Winter braun bleiben. Dort haben die Hasen die größte ­Chance, sich dem Klima weiter anzupassen. Dafür sorgt die natürliche Auslese. Genetik spielt auch bei Albino-Tieren eine entscheidende Rolle. Albinismus (von lateinisch albus für »weiß«) wird rezessiv vererbt, also nur, wenn das entsprechende Gen bei beiden Elternteilen defekt ist. Betroffene Tiere können den Farbstoff Melanin nicht produzieren. Ihr helles Fell macht sie zu leichter Beute und unbeliebten Kandidaten bei der Partnerwahl. Außerdem sind sie anfällig für Hautkrebs. Selbst Eisbären können Albinismus haben, man erkennt sie dann an ihren roten Augen: Ohne den Farbstoff Melanin schimmert das Blut durch die durchsichtige Iris. Einen kleinen Vorteil haben Albino-Tiere gegenüber ihren Artgenossen allerdings: Ihr weißes Fell zieht weniger Bremsen an und damit auch weniger Krankheitserreger. Für Tiere ist es von Vorteil, sich Insekten vom Leib zu halten. Pflanzen hingegen haschen um deren Aufmerksamkeit und locken mit knallig bunten Blütenfarben ... Moment mal: Die häufigste Blütenfarbe in Deutschland ist Weiß. Wie passt das zusammen? Ganz einfach: Die meisten Blüten, die uns weiß erscheinen, sind es für Bestäuber wie Bienen nicht. Denn die können, anders als Menschen, ultraviolettes Licht sehen. Vermeintlich weiße Blüten müssten Bienen daher blaugrün erscheinen. Weiß? Ansichtssache!


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AM ANFANG DREI FRAGEN

3. Kann ein Abstieg auch befreiend sein? Viele wollen immer höher, weiter, schneller. Das ist durchaus mit Opfern verbunden. Was, wenn man da nicht mehr mitmacht?

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einhold Messner antwortete einmal überraschend auf die Frage, was für ihn die größte Erfüllung beim Bergsteigen sei: »mehr oder weniger das Unten-Ankommen«. Nicht der Moment, in dem er den höchsten Punkt des Berges erreicht hat, sondern das »In-Sicherheit-zurück-Sein«. »Der Gipfel ist im Grunde nur ein Umkehrpunkt«, sagt Messner in Interviews. »Das Glücksgefühl kommt, wenn man wieder unten ist.« Wer hält es schon auf Dauer ganz oben aus, möchte ihm heute mancher beipflichten. Der englische Begriff vom downshifting, dem Absteigen oder Runterklettern, geistert als Schlagwort auch durch die Arbeitsmarkttrends. Downshifter verzichten auf die klassische Karriereleiter, bei der es immer um die nächsthöhere Stufe geht. Sie entscheiden sich, beruflich kürzerzutreten, und kehren nach dem Aufstieg wieder um. Um von dort aus einen anderen Weg zu gehen. Ein Abstieg bedeute keineswegs, die eigenen Ambitionen über Bord zu werfen, schreibt Dorie Clark, Professorin der Columbia Business School, in einem Beitrag für die Harvard Business Review. Was nach einem Rückschritt aussehe, könne auch Energie und Klarheit geben, um in Zukunft effektiver voranzukommen. Geprägt hat den Begriff vom downshifting ­Charles Handy, Wirtschaftsphilosoph und Mitbegründer der London Business School, bereits in den Neunzigerjahren, als mit der Arbeitsverdichtung das Reden von übermäßigem Stress und Burn-out immer lauter wurde. Heute strengen Arbeitsbedingungen, Multitasking und Digitalisierung die Menschen umso mehr an. Der »Karriereaufstieg ähnelt Hochleistungssport«, sagt Julia Gruhlich, Arbeitssoziologin an der Georg-­August-­Uni­ver­si­tät Göttingen, »eigene Grenzen überschreiten, ständig Höchstleistung bringen,

Foto Jade Stephens

kontinuierliche Anstrengung«. Für eine qualitative Studie hat sie durch 23 Tiefeninterviews erfahren, dass Verzicht für die Befragten Vorteile bedeutet: mehr Erholung, mehr Zeit für Freunde und für Hobbys oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Einfach weniger Stress. Der berufliche Abstieg, sagten ihr die Studienteilnehmer, bringe die Erleichterung, nicht immer funktionieren zu müssen. Gruhlich kann von dem Manager eines großen Versicherungsunternehmens berichten, der in Teilzeit und den Außendienst wechselte, um weniger Stress und direkten Kontakt mit Menschen zu haben. Oder von einer Projektleiterin eines großen Dienstleistungsunternehmens, die ins Callcenter wechselte, um geregelte Arbeitszeiten zu haben. Eine verbeamtete Professorin hatte gekündigt, um selbstständig als spiritueller Coach und damit selbstbestimmter und sinnstiftender zu arbeiten. In der Untersuchungsgruppe waren es nicht nur die ­Frauen mit Kindern, sondern auch Männer, die ihr Arbeitspensum reduzierten oder Führungsaufgaben gegen solche mit weniger Pres­tige tauschten. Downshiftern geht es auch um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Aber nicht nur. Es geht ihnen viel grundsätzlicher darum, runterzuschalten, um neue Kraft zu tanken. Sie wollen nicht komplett aussteigen, sondern nur den Fokus ändern, um sich zu besinnen. Den Gipfel des Mount Everest genießt Reinhold Messner nicht, dort sei alles zu eng: der Platz zum Stehen, die Luft zum Schnaufen, die Zeit zum Bleiben. Dorie Clark, die Professorin der Columbia Business School, meint, wir, die schuftenden Menschen, sollten insgesamt »gnädiger« mit uns sein. Die sogenannte Karriere ist selten linear. Wir sollten anerkennen, dass es Hochs und Tiefs gibt. Die Abstiege sind zum Verschnaufen und Träumen da. Wie es dann weitergeht, kann man ganz neu bestimmen.

Foto: Jade Stephens/Stills

Text Silke Weber



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OPTIMIST Screenshots von »Knowbody«, einer Aufklärungs-App für Kinder und Jugendliche ab der sechsten Klasse

Endlich besser aufgeklärt Apps zu sexueller Bildung entstauben den Sexualkundeunterricht

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ine Kiste mit Holzpenissen und Kondomen. Im Biobuch eine falsche Abbildung der Klitoris. Der Lehrplan aus dem Jahr 2011 und ein Lehrer, der nicht gelernt hat, offen über Sex zu sprechen. So sieht der klassische Sexualkundeunterricht an vielen deutschen Schulen aus. Die Folge: viel Schamgefühl und noch viel mehr Wissenslücken. Sexualkunde ist hierzulande Pflicht, womit wir anderen Ländern schon mal einen Schritt voraus sind. Ausruhen sollten wir uns auf diesem Vorsprung aber nicht. Laut der Studie »Jugendsexualität« von 2022 holen sich mittlerweile 59 Prozent der Jugendlichen ihre sexuelle Aufklärung aus dem Internet. Dort stoßen sie häufig auf Falschinformationen und verunsichernde Inhalte. Um besser aufzuklären, muss der Sexualkundeunterricht moderner werden. Die Lösung: Internet und soziale Medien nicht als Gegner sehen, sondern damit ar-

beiten. Genau das haben Aufklärungs-Apps vor. In Deutschland gibt es ein gutes Dutzend – jetzt halten sie Einzug in die Klassen. Weit oben im Ranking steht beispielsweise die App »Knowbody«. Carolin Strehmel und Vanessa Meyer entwickelten sie aus der Frustration heraus, wie wenig sie selbst über ihren Körper und Beziehungen wussten. In der Lerneinheit »Sexualität und Medien« zum Beispiel thematisiert die App den Unterschied zwischen I­ deal und Realität. Die Jugendlichen lernen, wie Werbung ihre Körperbilder beeinflusst. In einer anderen Lerneinheit erzählen Menschen in Videos von verschiedenen Beziehungsformen und erklären, dass es hinsichtlich der sexuellen Orien­tie­rung kein Richtig oder Falsch gibt. Auch über Grenzerfahrungen wird mithilfe von Identifikationsfiguren gesprochen. Weitere Inhalte sind die sexuelle Selbstbestimmung, Familienplanung, Geschlecht, Körper und Sexualität.

Das Ziel ist nicht, dass die Jugendlichen noch mehr am Handy sitzen und für sich allein mit der App lernen. Sondern sie diskutieren über die Inhalte in der Klasse und lernen, offen über Sexualität zu sprechen – so die Hoffnung. Die Erwachsenen sind schon überzeugt: Die Senatorin für Bildung in Bremen kaufte eine Landeslizenz für alle weiterführenden Schulen. Laut der Behörde sei dies die »beste Materialsammlung zur sexuellen Bildung – ein menschenrechtsbasiertes, diskriminierungsreflektiertes und vielfaltsbewusstes Konzept«. Anderswo haben Schulen Lizenzen bestellt, und auch Eltern können die App für ein paar Euro im Jahr für ihre Kinder (oder sich selbst) lizenzieren. Es muss nicht genau diese App sein, wichtig ist nur: Wer die Jugendlichen erreichen möchte, muss ihre Sprache sprechen. Denn auch wenn Sexualität nicht prüfungsrelevant ist, so ist sie doch relevant für unser gesamtes Leben.

Weiterlesen: Die Studie »Jugendsexualität« sowie E-Books zur sexuellen Bildung stellt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter sexualaufklaerung.de bereit. Ein App-Vergleich ist unter doi.org/k5r5 abrufbar

Abbildung: Knowbody App

Text Luisa Stamenkovic


iX5 T

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H Y D R O G E N

Mehr erfahren Der BMW iX5 Hydrogen ist ein reines Konzeptfahrzeug, das nicht käuflich erhältlich ist.


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JUNGES WISSEN

ÜBER DAS EIS

Aufgezeichnet von Luisa Stamenkovic Foto Ilkay Karakurt

Unsere Expertin: Sasha Tandogan, 14, ist deutsche Nachwuchsmeis­terin im Eiskunstlaufen und bereits bei »Holiday on Ice« aufgetreten. ­Sie wird von ihrer Mutter Anuschka trainiert, einer Eiskunstläuferin

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uf dem Eis fühle ich mich, als ob ich schwebe. Ich spüre das Gleiten im ganzen Körper, ein bisschen wie in der Achterbahn. Mein Körper, die Schlittschuhe und das Eis – alles verbindet sich zu einem Gefühl. Ich bin dann ganz bei mir. Das erste Mal stand ich mit 20 Monaten auf dem Eis. Ich wollte bei meiner Mutter sein, und die hatte als erfolgreiche Eiskunstläuferin ständig Training und hat mich mit in die Eishalle genommen. Mit zweieinhalb Jahren habe ich dann selbst mit dem Eislaufen angefangen. Meine Füße waren noch so klein, dass ich ganz dicke Socken anziehen musste, damit sie in die Schlittschuhe passten. Und ich habe anfangs einen Stuhl vor mir hergeschoben, um mich festzuhalten. Eislaufen ist wie Ballett – nur auf dem Eis. Für mich ist Tanzen auf dem Eis viel

leichter. Das Eis unter den Füßen gibt mir ein cooles Gefühl – das spüre ich beim normalen Laufen auf der Erde gar nicht so sehr. Wie diese Leichtigkeit physikalisch zustande kommt, das habe ich noch nie verstanden. Aber sie gibt uns den nötigen Schwung für die Sprünge und Pirouetten. Ich mag diesen Flow, der dabei entsteht. Das kommt auch dadurch, dass wir beim Eiskunstlaufen die Muskeln dynamisch einsetzen, beim Ballett ist das eher statisch. Eiskunstlaufen ist gefährlicher als Ballett. Es kann passieren, dass wir bei einem Sprung aus fast einem Meter Höhe aufs Eis stürzen, das tut sehr weh. Nichts schützt uns, wenn wir stürzen. Einmal bin ich ganz blöd auf den Kopf gefallen, ein andermal habe ich die Kufe einer anderen Läuferin ans Kinn gekriegt. Aber eine ernste Verletzung hatte ich zum Glück noch nie. Es gibt mir ein gutes

Gefühl, dass ich eine gefährliche Sportart beherrsche und die Gefahren meistere. Das macht mich stolz. Wenn ich beim Training mal für mich bin, dann zeichne ich mit meinen Kufen Muster aufs Eis; auch wenn ich eigentlich trainieren sollte, aber ich finde es lustig. Ich male Smileys oder einen perfekten Kreis, manchmal schreibe ich auch meinen Namen oder kratze ein Herz ins Eis. Wenn die Kufen auf dem Eis knirschen, ist das in meinen Ohren ein tolles Geräusch. Hat das Eis dir schon mal geholfen? Ja, das Eis zeigt mir sofort, ob ich einen Schritt sauber und ordentlich gelaufen bin. Man kann das anhand der Spur erkennen, die man auf dem Eis hinterlässt. Wärme oder Kälte? Die Kälte ist das Einzige, was ich am Eis nicht mag. Ich mag den Sommer viel lieber.


Du siehst DNA?

Professorin Karikó sah, wie sie zur Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen beitragen konnte.

Professor Katalin Karikó

L’Oréal Deutschland und die Deutsche UNESCOKommission fördern ab 2024 jährlich vier herausragende Naturwissenschaftlerinnen in der Doc- und Post-Doc-Phase mit je 25.000 Euro. Alle Informationen zum Programm: www.fwis-programm.de DIE WELT BRAUCHT WISSENSCHAFT UND DIE WISSENSCHAFT BRAUCHT FRAUEN.

Biochemikerin, USA

2022 ausgezeichnet im internationalen L’Oréal-UNESCO-Förderprogramm For Women in Science 2023 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Medizin


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ALTES WISSEN

ÜBER DAS EIS

Aufgezeichnet von Luisa Stamenkovic Foto Anna Aicher

Unser Experte: Reinhold Messner, 79, hat als erster Mensch den Gipfel des Mount Everest ohne Sauerstoff erreicht. 1989/90 durchquerte er die Antarktis über den Südpol und legte in drei Monaten 2800 Kilometer zurück

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ls ich fünf Jahre alt war, habe ich das erste Mal einen Gletscher gesehen. Ich bin mit meinen Eltern und meinem älteren Bruder auf den Sass Rigais gestiegen, den Hauptgipfel der Geislergruppe in Südtirol. Nahe dem Einstieg in die Kletterroute gab es einen Gletscher. Er fing damals schon an zu schrumpfen. Nur auf Schuhen sind wir abgefahren. Heute ist dieser Gletscher verschwunden. Das könnte auch mit der Eisdecke der Arktis passieren. Sie ist in den letzten Jahrzehnten mächtig geschrumpft. Wenn sie verschwindet, verändert sich das Klima in Europa. Die globale Erwärmung ist eine Tatsache, sie ist zum großen Teil menschengemacht. Die »Letzte Generation« wirft meiner Ge­ne­ra­tion vor, dass wir mutwillig die Erde kaputt gemacht haben. Das stimmt nicht. So ein Vorwurf

bringt nur eine zerstrittene Welt mit sich. Ich will mich da nicht verteidigen müssen. Das Eis lehrt uns, dass niemand es aufhalten kann. Es schmilzt, und es wächst. Diese Rhythmen sind ganz langsam. Das Eis ist absichtslos. Das Eis ist nur da. Ich kann nicht sagen, dass ich es liebe. Aber ich schätze es. Mehr als zwei Drittel des Süßwassers auf der Erde sind in Eis und Schnee gespeichert – ein Großteil davon in der Antarktis. Das Leben auf der Erde hängt auch von diesem Eis ab. Ich habe die Antarktis 1989 mit Arved Fuchs durchquert. Es gibt nichts Schöneres als diesen Kontinent, das Leben dort ist so intensiv wie sonst nirgends – eine halbe Million Pinguine leben auf einer einzigen Schneefläche. Wir sind 92 Tage durch diese Eiswildnis gegangen und waren wie auf einem anderen Stern. Der Eiskuchen, der die

Landmasse der Antarktis bedeckt, ist in seiner Mitte vier Kilometer dick. Die Arktis dagegen ist eine Eisdecke auf dem O ­ zean. Das ist alles Packeis – Eis, das nicht mit Land verbunden ist. Packeis ist unberechenbar. Wenn es durch die Stürme verschoben wird und in Bewegung kommt, dann herrscht absolutes ­Chaos. Die Eismassen stauen sich und bilden hohe Barrieren. Sie mahlen und stampfen. Ich bin mal in so eine Eispressung am Nordpol geraten. Das ist so laut wie in einer Metallfabrik. Dort ist mir klar geworden, dass wir sterblich sind. Hat das Eis Sie mal gerettet? Am Nanga Parbat wäre ich gestorben, wenn ich nicht das Eis, das die Sonne zu Wasser geschmolzen hat, getrunken hätte. Kälte oder Wärme? Als junger Mann mochte ich die Kälte lieber. Heute will ich nicht mehr frieren.


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Kleine politische Weltkunde Wer Israel das Existenzrecht abspricht, kennt entweder die Geschichte nicht – oder er ist ein Antisemit. Ein Standpunkt

S

eit dem 7. Oktober ist die Weltöffentlichkeit in Aufruhr. Dem Massaker der Hamas im Süden Israels – das man als nichts anderes als ein Pogrom bezeichnen kann – folgte der Einmarsch israelischer Truppen im Gaza­ strei­ fen. Der Schuldige in diesem Krieg ist für allzu viele klar: Israel. Eine Welle des Anti­ semi­ tis­ mus geht um den Erdball, wie man es seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Was mich besonders erschüttert hat: diese Kühle, diese seltsame Teilnahmslosigkeit, mit der viele auf das Pogrom reagiert haben. Gerade auch bei der politischen Linken, die sich eigentlich dem Kampf gegen Anti­semi­tis­mus und Faschismus verschrieben hatte. Statt Anteilnahme war wieder einmal zu hören, der Staat Israel habe eigentlich keine Berechtigung zu existieren. Wie konnte es dazu kommen? Reden wir über Anfänge. Nicht über 1948, das immer als Beginn des Nahostkonflikts gilt. Gehen wir drei Jahrzehnte weiter zurück. Die linke der beiden Karten zeigt die verschiedenen Provinzen des Osmanischen Reichs kurz vor dem Ersten Welt-

krieg. Welche heutigen Staaten lassen sich darin erkennen? Keine? Richtig. Knapp 400 Jahre zuvor wurde das Gebiet von den Osmanen erobert. Vier Jahrhunderte lang lebten dort Muslime, Juden und Christen mit­ein­an­der. Die Grenzziehungen der damaligen Verwaltungseinheiten und Bezirke, der sogenannten Vilayets und Mutesarriflik, haben mit den Staaten des späteren 20. und des frühen 21. Jahrhunderts nicht zu tun. Es gab kein Jordanien, kein Syrien, keinen Libanon, kein Israel, kein Palästina, keinen Irak, kein SaudiArabien, wie sie auf der rechten, aktuellen Karte zu sehen sind. Das Osmanische Reich verliert all diese Gebiete infolge des von den Briten unterstützten Arabischen Aufstands bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Welche Staaten werden entstehen? Alles Mögliche ist denkbar, seit Jahrtausenden sind Großreiche in kleinere Staaten zerfallen. Denkbar ist etwa ein lang gezogener arabischer Staat, der im Wesentlichen die Vilayets Damaskus und Hedschas mit­ein­an­der verbindet. Aus dem Küstenstreifen westlich dieses Staates könnte

ein eigener Staat werden, zum Beispiel ein jüdischer Staat – 1918 leben rund 66.000 Jüdinnen und Juden vor allem im Küstengebiet der Region Palästina. Zwei derartige Staaten schweben Faisal I., Emir des Hedschas, und Chaim Weizmann, dem späteren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, vor. Am 3. Januar 1919 unterzeichnen die beiden ein entsprechendes Abkommen – »mindful of the racial kin­ship and ancient bonds existing be­tween the Arabs and the J­ewish people«. Große Worte. Von Anti­semi­tis­mus als Staatsräson keine Spur. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hätte hier einen friedlichen Abzweig nehmen können. Nimmt sie aber nicht: 1920 werden auf der Konferenz von San Remo die Völkerbund-Mandate Palästina, Mesopotamien (beide unter britischer Verwaltung) sowie Libanon und Syrien (unter französischer Verwaltung) beschlossen. Die Trennlinie zwischen britischer und französischer Verwaltung – die vier Jahre zuvor geheim vereinbarte Sykes-­Picot-­Linie – führt mitten durch die Vilayets Beirut und Damaskus

Foto: Lisa Morgenstern

Text Niels Boeing Infografik Michael Vestner


19 Beide Karten zeigen den Nahen Osten: Auf dieser Seite die heutige Aufteilung, links die osmanischen Provinzen bis 1914

hindurch. Reine Willkür. Darin sind die Kolonialmächte immer gut gewesen. Die Briten teilen wieder ein paar Jahre später, 1923, ihr Mandatsgebiet, indem sie das halb autonome Emirat Transjordanien gründen. Ein Name kolonialer Bürokraten. Die Franzosen entlassen am 22. November 1943 einen Küstenstreifen ihres Mandatsgebiets als neuen Staat Libanon in die Unabhängigkeit, am 17. April 1946 dann das restliche Gebiet als weiteren Staat, Syrien. Rund einen Monat später wird aus dem halb autonomen Emirat Transjordanien der unabhängige Staat Jordanien. Für den Rest des britischen Mandatsgebiets nehmen die neu gegründeten UN am 29. November 1947 den von einer Kommission vorgeschlagenen Plan an, einen Staat namens Israel und einen Staat namens Palästina in die Unabhängigkeit zu entlassen. Israel konstituiert sich daraufhin, nach Abzug der Briten am 14. Mai 1948, als vierter Staat der Region. Doch der fünfte Staat konstituiert sich nicht – sondern wird teilweise von der jordanischen, teilweise von der ägyptischen

Armee besetzt. Die arabischen Bruderstaaten besetzen das, was Palästina hätte werden sollen: den Gazastreifen und das Westjordanland. Sie bleiben fast 20 Jahre. Palästina entsteht nicht. Die Begründung für den Einmarsch? Israel habe kein Existenzrecht. Eine abenteuerliche Begründung. Selbstverständlich hat Israel das gleiche Existenzrecht wie Jordanien, Syrien, der Libanon – denn sie alle sind Zufallsprodukte des Kolonialismus. Erstaunlicherweise hört man diese Begründung auch von Kritikern des Kolonialismus, die sonst Migranten und Flüchtende, die über das Mittelmeer nach Norden wollen, unterstützen. Sie sollten eigentlich wissen: Israel ist selbst das Ergebnis einer enormen Fluchtwelle über das Mittelmeer, nur in umgekehrter Richtung, von Norden nach Süden. Viele Jüdinnen und Juden, die erst in den osmanischen Provinzen, dann im britischen Mandatsgebiet ankommen, sind Flüchtende. Keine kolonialen Siedler. Sie fliehen vor dem anti­semi­ti­schen Wahn, der Europa seit dem 19. Jahrhundert erfasst

hat, vor Pogromen, Massenmord und alltäglichen Drangsalierungen. Wo sie ankommen, haben immer schon Jüdinnen und Juden gelebt. Die Geflüchteten kaufen arabischen Großgrundbesitzern oft genug trockenes, unfruchtbares Land ab. Die alten und neuen jüdischen Menschen im Mandatsgebiet sind eine Minderheit, sicher. Aber ist das der Grund, warum ihnen rückblickend keine Legitimation für eine Staatsgründung zugesprochen wird? Ist dies allen Ernstes eine Frage der Zahl? Und wollen diejenigen, die Israel als Kolonialmacht darstellen, sagen, man hätte diese jüdische Flucht übers Mittelmeer nicht zulassen sollen? Ich hoffe, nicht. Denn der einzige Grund, ausgerechnet diese Fluchtbewegung als illegitim zu bezeichnen, könnte dann ja nur sein, dass es sich um eine Flucht jüdischer Menschen handelt. Das aber wäre für mich reiner Anti­semi­tis­mus. Afrika war später so klug, die Grenzen der neu entstandenen Nationalstaaten – ebenfalls weitgehend Zufallsprodukte des Kolonialismus – zu akzeptieren. Die Unverletzlichkeit der Grenzen wurde eines der Grundprinzipien der Organisation für Afrikanische Einheit. Sie infrage zu stellen würde die Büchse der Pandora öffnen. Im Nahen Osten ist die Büchse der Pandora am 15. Mai 1948 geöffnet worden, als Armeen aus fünf arabischen Ländern den einen Tag zuvor konstituierten Staat Israel angriffen. Nicht umgekehrt: Israel hat nicht die anderen angegriffen. Warum ist das so schwer zu verstehen? So manche jüdischen und arabischen Israelis und Palästinenser sind da viel weiter. Sie haben ihre Gemeinsamkeit, die 1919 beschworenen ancient bonds, nicht vergessen und treten seit Langem für Frieden und Verständigung ein. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie eines Tages Erfolg damit haben werden. Niels Boeing reiste durch Syrien, den Libanon, Jordanien und Israel, beeindruckt von der Freundlichkeit der Leute. Diese Länder und ein künftiges Palästina haben nur gemeinsam eine Zukunft.


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Die neue Serie

DIE NACHT

Die Nacht verwandelt den Menschen. Er ­feiert, als gäbe es kein Morgen, brütet düstere Gedanken aus, träumt verrücktes Zeug. Warum wir nachts anders denken, anders fühlen und anders funktionieren. Text Horst Güntheroth

Illustrationen Xuan Loc Xuan


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E

inen Schlafsack und eine dünne Isomatte hatte er mitgenommen, auch eine Plane zum Schutz gegen möglichen Regen. Als es zu dämmern anfing an diesem warmen Juliabend, hockte er sich oberhalb eines Berghanges an den Waldrand. Hinter ihm ragten Gipfel der Alpen in die Höhe, vor ihm lag ein fernes Tal mit ein paar Dörfern. Bald verabschiedete sich die Sonne mit einem prächtigen Farbenspiel am Himmel. Hier im schweizerischen Tessin, westlich des Lago Maggiore, wollte Christoph Blank die Nacht erleben – im Freien, in der Natur, allein. Möglichst weit weg von der Zivilisation. Weder Uhr noch Handy hatte er dabei. »Mir war ziemlich mulmig«, erzählt der 50-Jährige, der normalerweise als Kardiologe in Köln arbeitet. Er war ins Tessin gereist, weil er eine Auszeit brauchte. »Ich hatte Angst, was im Finstern passieren würde.« Zunächst nervten Blank die Mücken, ganze Wolken umschwirrten seinen Lagerplatz, zigmal stachen sie zu. Zu späterer Stunde hörte er Geräusche, Äste knackten, es raschelte im Gras und in den Büschen. Manchmal kam das Unheimliche näher, und dann entfernte es sich wieder. Und nun Tippelschritte. »Plötzlich liefen zwei Gämsen an mir vorbei«, erinnert sich der Kölner, »eigentlich war immer was los.« Nachdem er sich ein wenig an alles gewöhnt hatte, kroch er in den Schlafsack und nickte ein. Doch schon bald wurde er wieder wach, weil er pinkeln musste. Erst als der Druck auf die Blase unerträglich wurde, kroch er aus seiner schützenden Hülle. »Ich wollte im Dunkeln auf keinen Fall in Brennnesseln und Dornen treten.« Zudem hätte er einer Schlange begegnen können. »Es gab da viele«, sagt er, »aber Gott sei Dank keine richtig gefährlichen.« Am Himmel leuchteten die Sterne. Ein grandioses Schauspiel. Wohin man auch guckte: Sterne, Sterne, Sterne. Zu Abertausenden funkelten sie. Und mittendrin glitzerte das Band der Milchstraße, Sternschnuppen schossen durch den Weltraum und verglühten. »Es war unglaublich schön«, schwärmt Blank. Stundenlang hat er da gesessen, gestarrt und gestaunt. »Ich habe tief in mir gefühlt, Teil der Natur zu sein, Teil von etwas ganz Großem. Ich saß da auf dem Planeten Erde, einer winzigen Kugel, die um die Sonne rast, die mit Milliarden

anderen Sonnen eine riesige Galaxie bildet. Und die ist wiederum nur eine in einem unvorstellbar großen Haufen von Galaxien. Mir wurde klar: Ich bin nicht mehr als ein Staubkorn im Universum, das aber immerhin die Fähigkeit hat, das bewusst zu erleben.« Wie hypnotisiert war er. Dann fragte er sich: »Wer bin ich noch, wenn alles Alltägliche wegfällt? Der Job und meine Patienten, die mein Leben mit Sinn füllen. Meine Freunde und meine Frau, die mir Zuneigung und Liebe geben.« Die gefühlte Bedeutungslosigkeit in der Weite des Weltalls machte ihm plötzlich Angst: »Ich bekam Panik, es war ein Sturz ins Bodenlose.« Nach einer Weile sei es ihm gelungen, sich zu beruhigen. »Ich habe mich auf die Angst eingelassen, und das hat mich von ihr befreit. Ich spürte, dass ich zwar klein, aber nicht verloren war. Ich habe Halt in der Natur gefunden. Es war ein mystisches Erleben.« Die unmittelbare Begegnung mit der Nacht – ein mutiges Experiment und ein intimes Abenteuer, eine aufregende Reise in die Innenwelt. Unseren Ahnen vor vielen Tausend Jahren waren solche Momente unterm Firmament vertraut. In einer von der Natur entfremdeten Kultur sind sie Rarität oder sogar fremd. Millionen Menschen ziehen sich heute während der dunklen Stunden des Tages in ihre Häuser zurück, lassen sich von Serien oder Computerspielen berauschen und kriechen ins gemütliche Bett. Doch ob wir bei der Familie daheim nach dem Job entspannen, in der Eckkneipe noch ein Bier trinken, im Liegewagen über die Bahngleise rasen, im Schichtdienst bei der Feuerwehr wachen, beim Mondschein auf Fotosafari um die Häuser pirschen oder ähnlich wie Christoph Blank im Rahmen eines Selbsterkenntnis-Seminars im Freien nächtigen – was immer wir auch tun in dieser Zeit: Die Nacht hat uns alle im Griff. In der Dunkelheit ist der Mensch ein anderer als am Tag. Er durchlebt eine Metamorphose. Sein Körper, seine Organe funktionieren dann anders. Seine Gefühle und seine Gedanken sind andere als am Tag. Homo sapiens verwandelt sich nach Sonnenuntergang in ein Wesen, dessen rationale Kräfte verblassen, dessen Seelenwelt sich weit öffnet. Die Nacht ist die Kehrseite des Tages – die Rota­tion unseres Planeten um seine Achse erzeugt sie stets aufs Neue. Während die Erde eine Seite der Sonne zudreht,

Eine Nacht im Freien zu verbringen hat eine eigene Magie. In der Dunkelheit durchlebt der Mensch eine Metamorphose


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24 liegt die andere im Finstern. Dort herrscht Nacht. Sie dauert, je nach geografischer Breite und Jahreszeit, unterschiedlich lang, verursacht durch die Neigung der Erdachse in Bezug auf die Umlaufbahn um die Sonne. Nur am Äquator ist die Phase der Düsternis das ganze Jahr über konstant, genau zwölf Stunden sind es dort. An den stetigen Hell-Dunkel-Wechsel hat sich das Leben im Laufe der Evolution angepasst, Rhythmen entwickelt und Nischen besetzt. Pflanzen etwa stellen nachts ihre Fotosynthese ein; anstatt Kohlendioxid zu verbrauchen, produzieren sie das Gas jetzt. Sie schließen ihre Blüten und schützen das empfindliche Innere, denn nun fliegen keine Bienen und wenig weitere Insekten. Andere jedoch wie die krautige »Nachtkerze« öffnen erst nach Sonnenuntergang ihre Kelche, freilich gibt es auch nachtaktive Bestäuber. Die »Königin der Nacht«, ein rankender Kaktus, blüht nur in einer einzigen Sommernacht. Tiere nutzen die Dunkelheit für ihre Zwecke: Die tagsüber schlafenden Waschbären gehen mit ihrem sensiblen Tastsinn auf Beutesuche. Fledermäuse jagen mithilfe von Ultraschall-Echo-Ortung vielerlei Falter. Glühwürmchen schwirren auf Partnersuche durch die Luft. Fast zwei Drittel aller Tierarten, so schätzen Biologen, sind dämmerungs- oder nachtaktiv. Der Mensch hingegen ist ein tagaktives Wesen, das ist in seinen Genen so programmiert. Die Welt ohne Sonnenlicht ist ihm geheimnisvoll und suspekt, sie kann in seiner regen Fantasie sogar sehr beklemmend und ganz fürchterlich werden. So haben zahlreiche Kulturen die Nacht mit Mythen und Dämonen besiedelt. Der »Fürst der Finsternis«, das ist der Boss der Hölle, der Teufel. Die Gestalten von Horrorgeschichten werden erst so richtig gruselig, wenn es duster ist. Speziell um Mitternacht schlägt die Stunde des Spuks und der Schlossgeister. Dracula ist ein Schattenwesen, der Vampir beißt nur im Dunkeln zu. Und in der Walpurgisnacht reiten Hexen auf Besen zum Harz, tanzen und feiern wild auf dem Blocksberg. So amüsiert wir heute auch sein mögen von solchen Schauerstorys und sosehr wir auch an das täglich wiederkehrende Verlöschen des Tageslichts gewöhnt sind – das Beklemmende der Nacht sitzt tief in uns. Ihr Potenzial, unser Inneres zu berühren, Urängste wachzurütteln,

zeigt sich überdeutlich, wenn sie einmal außerhalb der Reihe kommt: bei einer Sonnenfinsternis, wenn sich der Mond zwischen Erde und Sonne schiebt und der Himmel plötzlich schwarz wird. Wie am frühen Morgen des 8. Juli 1842 in Wien. Zu den zahlreichen Schaulustigen, die sich in der österreichischen Hauptstadt versammelt hatten, um das Spektakel über ihren Köpfen zu erleben, gehörte der Schriftsteller und Maler Adalbert Stifter. Ihm ist eine eindrucksvolle Schilderung des Erlebten zu verdanken. Kurz vor sechs Uhr war es so weit: Das Rund des Mondes war Richtung Sonne gewandert und überdeckte sie nun mehr und mehr, sogleich wurde es für wenige Augenblicke Nacht. Das Tageslicht– ausgeknipst. Die Umstehenden reagierten wie in Trance. »Ein einstimmiges ›Ah‹ aus aller Munde, und dann Totenstille«, notierte Stifter. Er und die anderen waren überwältigt und geradezu gelähmt. »Es war die Ohnmacht eines Riesenkörpers, unserer Erde«, schrieb der Schriftsteller. »Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten, es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen, und ich hätte es verstanden.« Nicht nur tiefe Ehrfurcht empfinden Menschen angesichts eines solchen kosmischen Dramas, das sich hierzulande erst am 3. September 2081 wieder zeigen wird. Immer wieder sehen sie darin auch einen Boten für Verderben und Vernichtung. Der französische Modeschöpfer und Hobby-Astrologe Paco Rabanne etwa hatte zur Sonnenfinsternis am 11. August 1999 über Mitteleuropa die Zerstörung von Paris prophezeit: Die russische Raumstation Mir würde auf die Stadt stürzen. Und die Anhänger einer Sekte mit dem Namen »Universal and Human Energy« erwarteten sogar den Weltuntergang in Gestalt einer verheerenden Sintflut. Um zu überleben, hatten sie einen Bunker auf einer Anhöhe nahe der spanischen Küstenstadt Tarragona gebaut. Immerhin hatte Furcht vorm Schwinden des Tageshells in ferner Zeit durchaus ihre Berechtigung und gehört zu unserem Erbe. Denn als Homo sapiens mit glimmenden Holzscheiten oder Fackeln gerade mal ein paar Meter weit seine Umgebung bescheinen konnte, lauerten in der Nacht reale Gefahren: Er konnte über


25 Steine und Äste auf dem Boden stürzen, von wilden Tieren angefallen oder von Wegelagerern attackiert werden. Zwar ist das Risiko körperlicher Blessuren inzwischen weitgehend gebannt, doch die Einschränkung unseres Sehsinnes bei abnehmendem Sonnenlicht wiegt noch immer schwer. Er ist unsere wichtigste Hilfe beim Zurechtfinden im Leben, liefert 80 Prozent aller Informationen aus der Umwelt. »Das Auge ist das Organ der Weltanschauung«, schrieb der Naturforscher Alexander von Humboldt. Wenn dann in der Dunkelheit Botschaften von der Netzhaut ans Hirn ausbleiben, verlieren wir Orientierung und Kontrolle. Das beunruhigt und verunsichert, nimmt Vertrauen. Was im Untergrund der Psyche gärt, steigt nach oben. »Nachts werden die Menschen dünnhäutiger«, sagt Ulrike Dahme von der katholischen Telefonseelsorge in München. Die Theologin sitzt seit elf Jahren an der Hotline, deren Nummer jeder in Krisen wählen kann, wenn ihm Sorgen über den Kopf wachsen und er verzweifelt. Es melden sich Frauen und Männer jeden Alters, die Rat und Trost suchen. Da geht es um den Verlust des Arbeitsplatzes, eine schlimme medizinische Diagnose, die Trennung vom Partner, das Unfassbare des Todes eines geliebten Menschen, um Ängste, Depressionen und Psychosen. Wenn man in solchen Momenten allein ist, wird vieles unerträglich. »Akute Krisen werden in der Nacht heftiger erlebt als am Tage«, sagt Dahme. »Wir überlegen, wie die Anruferin oder der Anrufer gut durch die Nacht kommt. Manchmal helfen schon das Gespräch und ein paar Entspannungsübungen. Am nächsten Morgen gilt es, eine Lösung zu erarbeiten.« Nicht nur die Bedrückten und Verzagten seien in den späten Stunden sensibler und empfindlicher als am Tage. »Auch ich und meine Kolleginnen und Kollegen sind dann dünnhäutiger, da rückt vieles näher an uns ran. Da muss man auf eigene Grenzen achten, rechtzeitig Pausen machen.« Unterschwellig, aber mit voller Wucht kann das tägliche Dunkel ins Gemüt kommen. Alle Schattierungen sind möglich. So entwickeln selbst in unserer aufgeklärten Welt manche Menschen eine dermaßen ausgeprägte Furcht vor der Nacht, dass sie panisch werden. Achluophobie oder Nyktophobie heißt das bei Psychologen. Wer davon betroffen ist, meidet bereits die

Dämmerung im Freien und verlässt am Abend nicht das Haus. Da werden die Vorhänge zugezogen und die Rollos heruntergelassen, um nicht die Düsternis draußen wahrnehmen zu müssen. Der Weg in den Keller ist kaum möglich. Zudem brennt in der Wohnung immer Licht. Der Albtraum: Stromausfall, eine Störung im Elektrizitätsnetz, die das tröstende Hell plötzlich ausknipsen könnte. Aus Scham reden Betroffene meist nicht mit anderen über ihre Not. Dabei verschlimmert sich oft alles. Die Phobie hat weitreichende Folgen, denn sie schließt Leidende von großen Teilen des gesellschaftlichen Miteinanders aus. Wer sich dazu durchringt, professionelle Hilfe zu suchen, dem kann meist eine Verhaltenstherapie die lähmende Angst lindern oder sogar ganz nehmen. Jeder von uns erlebt in der Zeit zwischen Abend und Morgen höchst Merkwürdiges. Der Körper erschlafft, wie gelähmt werden unsere Muskeln. Wir verlieren das Bewusstsein. Die Wahrnehmung der Außenwelt ist abgeschaltet. Innerlich und äußerlich sind wir verletzbar. Doch das Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Dabei produziert es allerlei schräge Gedanken und Bilder, unsere Gefühlswelt öffnet ihre schillerndsten Seiten – und oft auch ihre bedrückten. »Schlaf« nennen wir diesen bizarren Zustand, in den Nacht für Nacht Milliarden Zweibeiner auf dem Globus fallen. Und dessen Funktion Wissenschaftler noch immer nicht genau durchschauen. »Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird von unserer inneren Uhr gesteuert«, sagt der Biochemiker Achim Kramer, Leiter der Abteilung Chronobiologie an der Charité in Berlin. Er ergründet mit seinem Team, wie Taktgeber, die in den Zellen und Organen des menschlichen Körpers arbeiten, zusammenwirken und ihn durch den 24-Stunden-Tag steuern. »Sie koordinieren in Abhängigkeit von Änderungen in der Umwelt die physiologischen Abläufe und unser Verhalten«, erklärt der Forscher. »Synchronisiert werden all die inneren Uhren von außen stets aufs Neue durch den LichtDunkel-Zyklus auf dem Planeten.« Die Chronometer im Leib senken nachts etwa Blutdruck und Körpertemperatur, zudem verändern sie die Hormonproduktion. Insbesondere führen sie Regie bei der abendlichen Müdigkeit, dem Schlaf mit seinen unterschiedlichen Phasen und beim morgendlichen Er-

Nachts sind die Menschen dünnhäutiger. Im Extremfall entwickeln sie eine Nyktophobie, Angst vor der Nacht. Dann bleibt das Licht an


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27 wachen. Wenn in unseren Augen das Licht ausbleibt, bekommt die wichtigste innere Uhr, der stecknadelkopfgroße »suprachiasmatische Kern« im Gehirn, ein Signal. Von dort wiederum erhält daraufhin die etwas weiter hinten liegende Zirbeldrüse die Anweisung, das am Tage gebildete »Wohlfühlhormon« Serotonin in Melatonin umzuwandeln. Dieses Hormon verlangsamt die Reaktionszeit, verringert die Aufmerksamkeit und stellt den Organismus aufs Schlummern ein. Kaum sind wir eingenickt, startet unser Kopfkino sein absurdes Programm. Die Neuronen im Hirn feuern und kreieren ein Potpourri von Bildern mit uns als Hauptdarsteller in seltsamen Kulissen. Wir träumen. Wir können fliegen, wir begegnen dem Nachbarn in der Sauna, schreiben eine Mathearbeit und bekommen das Bundesverdienstkreuz. Eine »Magical Mystery Tour« mit keineswegs nur angenehmen Momenten. Da stürzen wir in einen Abgrund, fallen uns die Zähne aus, werden wir von Raubkatzen gehetzt, stirbt der geliebte Partner. Albträume erschüttern uns. Die Angst wird groß und unaushaltbar – einzig sicherer Ausweg: aufwachen. Plötzlich aus dem Schlaf gerissen, sind wir gerädert und verwirrt und müssen uns allmählich in die tröstende Realität zurückdenken. Oft passiert das, wenn im Alltag die seelische Belastung groß ist, und meist verschwinden die grässlichen Bilder wieder, wenn es uns besser geht. Als Fenster ins Unbewusste nutzte Sigmund Freud die Träume und erforschte mit ihrer Hilfe die Psycholeiden seiner Patienten, die geheimen Seiten des Ichs. Besondere Empfindsamkeit zeigt sich auch in den Morgenstunden. So kennt fast jeder den Moment, in dem er gegen drei oder vier Uhr aufwacht und nicht mehr einschlafen kann, weil ihm Gedanken kommen, die ihn quälen. Eigentlich vollkommen Harmloses: das Knöllchen wegen Falschparken, der frische Kratzer im Parkett, die Bemerkung der Freundin über die neue Frisur. Doch alles andere als harmlos ist es plötzlich fürs Gemüt des Erwachten. Seine Fantasie macht aus den Kleinigkeiten Monströses, das Harmlose wird zur existenziellen Bedrohung. Und keinerlei Lösung und Rettung sind in Sicht. Einsam und verzweifelt wälzt man sich in den Laken, und anstatt wieder einzuschlafen, wird man immer wacher. Das Karussell der marternden Grübeleien dreht sich von Neuem. Dabei täte noch ein

wenig Schlummern so gut, anderenfalls dräut der Durchhänger am nächsten Tag. Doch dieser Gedanke wiederum macht es nur noch schlimmer. Ausgelöst wird die Folter in der Frühe durch Hormone. »Die innere Uhr regelt dann schon Stresshormone hoch, bereitet langsam das Aufwachen und die Tagesaktivität vor«, sagt der Chronobiologe Achim Kramer. Zudem ist in dieser Phase die Durchblutung des Gehirns zum Teil gedrosselt. Wenn nun noch seelische Belastung hinzukommt, passiert es. »Manchmal hilft es, am Mittag oder Nachmittag länger Licht zu tanken, dann regelt die innere Uhr besser nach, und man kann zu dieser Zeit besser wieder einschlafen«, erklärt der Forscher. »Vielleicht ist man aber einfach nur ein früher Chronotyp, weiß es aber nicht.« Da wäre es segensreich, früh zu Bett zu gehen und nach dem Aufwachen aufzustehen, anstatt krampfhaft wieder einschlafen zu wollen. Ein früher Chronotyp ist ein Mensch, dessen innere Uhr den Schlaf-Wach-Rhythmus zeitlich nach vorn verschoben hat. Er wird »Lerche« genannt – nach dem Vogel, der bereits in der Morgendämmerung jubiliert. Entsprechend gibt es »Eulen«, bei denen der Rhythmus auf eine spätere Zeit verschoben ist, ähnlich wie bei den nachtaktiven Käuzen. Und es gibt alle möglichen Formen dazwischen. Zu welchem Typus man gehört, ist meist genetisch geprägt. Eulen jedenfalls geben nach Sonnenuntergang noch mal richtig Gas. Vor allem sie können der Nacht viel Schönes und Bereicherndes abgewinnen. Denn die Finsternis auf unserem Planeten hat auch sehr inspirierende und verlockende Seiten. Im Dunkeln blühen mancherlei Charakterzüge des Menschen auf wie die Nachtkerze im Pflanzenreich.

DIE NEUE SERIE IN ZEIT WISSEN

DIE NACHT – WIE SIE UNS VERWANDELT 1. TEIL: DAS NÄCHTLICHE ICH (in dieser Ausgabe) 2. TEIL: WENDEPUNKT MITTERNACHT Lebensfreude und Lebensmüdigkeit drehen auf (erscheint am 16. Februar) 3. TEIL: DIE IDEEN DER NACHT Wie die Dunkelheit Kreativität freisetzt (erscheint am 26. April)


28 Der bayerische Märchenkönig König Ludwig II. etwa war der Überlieferung zufolge eine Eule, ein ausgesprochener Nachtarbeiter, weil er nachts die größte Ruhe fand. Er ging meist morgens zu Bett und schlief bis in den Abend. Auch Charles Darwin, Albert Einstein und Barack Obama wird nachgesagt, dass sie einen Großteil ihres Schaffens zu vorgerückter Stunde erledigten. Eulen sind verbreitet. In beinah jeder Straße leuchtet sehr lange oft noch ein Fenster, hinter dem eine Studentin fürs Examen paukt oder ein Rentner Schiffsmodelle bastelt. »Unter medizinischen Aspekten ist das kein Problem, wenn man ausschlafen kann«, sagt Achim Kramer. Doch wenn in der Früh der Wecker so jemanden ständig aus dem Schlaf wirft, ist das nicht gesund. Studien zeigen, dass solche Menschen häufiger krank werden als ausgeruhte Aufsteher. Insbesondere wer in immer wiederkehrenden Nachtschichten seiner Alltagsbeschäftigung nachgehen muss, beispielsweise als Pflegekraft, Lokführer oder Sicherheitsbediensteter, leidet häufig unter körperlichen und psychischen Beschwerden. »Wer regelmäßig gegen seine innere Uhr lebt, ist gefährdet«, warnt Kramer. Dabei kann Arbeit im Dämmerlicht sehr inspirierend sein, wenn es einen Raum gemütlich macht. »Dann fühlen sich Menschen freier und sind weniger gehemmt«, sagt Anna Steidle. Sie ist Psychologin und Professorin für Personalmanagement und Führung an der Ludwigsburger Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen. In einer Studie hat sie untersucht, wie Menschen bei verschiedener Beleuchtung denken. Dazu mussten die Teilnehmenden in unterschiedlich hellen Räumen diverse Aufgaben lösen, formal-logische und eine, bei der Kreativität gefordert war: Sie sollten sich vorstellen, dass sie auf einem fernen Planeten einen Alien treffen, und skizzieren, wie der wohl aussehen könnte. »Die Teilnehmer, die bei gedimmten Lichtverhältnissen gearbeitet haben, malten sehr viel fantasievollere Außerirdische als die Probanden, die sich im Hellen solche Gestalten ausgedacht haben«, sagt Steidle. »Letztere allerdings haben bei den formal-logischen Aufgaben besser abgeschnitten.« Entfaltung braucht entspannte Atmosphäre. Da wird das Vorstellungsvermögen angeregt, werden ungewöhnliche Assoziationen wach.

Die dunkle Zeit ist eben auch ein Geschenk. Entrückt von Alltagszwängen wird sie zum Reich zahlreicher Verheißungen. So spielt im christlichen Glauben bekanntlich die »Heilige Nacht« eine zentrale Rolle. Da wurde der Weihnachtsgeschichte zufolge Jesus in einem Stall bei Bethlehem geboren – der Sohn Gottes, der keine geringere Aufgabe hatte, als der Menschheit Auferstehung und Unsterblichkeit zu schenken. Die Finsternis ist zudem Freiraum für Andersdenkende und Grenzüberschreitungen. Im Schutz des Dunkels entwickeln sich Liebesgeschichten jeglicher Art. Vor allem in der Romantik, jener kulturgeschichtliche Epoche vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, wurde die Nacht regelrecht verklärt als besondere Chance für den Blick nach innen und die Bewunderung der Natur. So verzauberte etwa Caspar David Friedrich in seinem Gemälde Küstenlandschaft im Mondschein profane Fischernetze mit dem fahlen Licht des Mondes in ein Idyll. Auch Poeten und Musiker huldigten der Kehrseite des Tages. Rainer Maria Rilke schmachtete 1899: »Du Dunkelheit, aus der ich stamme, ich liebe dich mehr als die Flamme, welche die Welt begrenzt.« Richard Wagner verherrlichte die Nacht in seiner Oper Tristan und Isolde als Reich der wahren Liebe. Und das Schwärmen ist keineswegs von gestern: Helene Fischers Ohrwurm Atemlos durch die Nacht hielt sich unglaubliche 117 Wochen in den deutschen Charts. Längst gibt es – nachdem künstliches Licht den Globus erhellt hat – eine ausgesprochene Kultur des Nachtlebens. »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da« trällerte schon 1938 der Schauspieler und Sänger Gustaf Gründgens. In den Konzert- und Kinosälen gehen meist in den späten Stunden erst die Vorhänge auf. Theater und Museen, Galerien und Literaturhäuser locken mit einer »Langen Nacht« in ihre Hallen. Und viele von uns zieht es regelmäßig in Restaurants, Bars und Clubs. Orte, die den Besucher von der Monotonie des Alltags befreien und Abenteuerliches verheißen. Auf den Amüsiermeilen der Großstädte herrscht zwischen Abend und Morgen mehr Betrieb als am Tag. Besonders an den Wochenenden drängen sich dort die meist jugendlichen Nachtschwärmer. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe der Citys haben ihre Fahrpläne an das Treiben

Charles Darwin und Albert Einstein waren nachts hochproduktiv. Aber ist es gesund, so spät noch wach zu sein?


29 der Partygänger angepasst, die oft erst nach Mitternacht von zu Hause losziehen. Da wird gefeiert und ausgeflippt, getanzt bis zur Erschöpfung. Man lässt die Sau raus. Das Triebhafte ist entfesselt, der Mensch enthemmt. Es wird geflirtet, geknutscht und gefummelt. Das Geschäft der Bordelle blüht. Bis die Sonne wieder aufgeht. Die Nacht macht freier als der Tag. Wir verlieren nicht nur die Kontrolle über die Umwelt, wir verlieren auch die Kontrolle über uns selbst. Mit Nebenwirkungen allerdings. Von einigen weiß Michael Gauda zu berichten, ein Polizeihauptkommissar, der in Hamburg in der Wache an der Mundsburg regelmäßig Nachtdienst hat. Er und sein Schichtteam müssen bei Ruhestörungen durch lärmende Nachbarn eingreifen und Autofahrer, die alkoholisiert Schlangenlinien fahren, aus dem Verkehr ziehen. »Freitag und Samstag, meist gegen vier Uhr morgens, werden wir häufig gerufen, weil es zu Streitereien und Schlägereien kommt«, sagt er. »Leider auch immer wieder zu schweren Verkehrsunfällen, Autofahrer rasen an der Kreuzung gegen den Ampelmast.« Und neulich, erzählt Gauda, sei in der Früh um vier Uhr ein Mann auf der Wache erschienen, »der war mit Handschellen gefesselt«. Er habe rumgedruckst und erzählt, dass er mit seiner Freundin etwas ausprobieren wollte. »Blöderweise hat er die Schlüssel für die Fesseln nicht wiederfinden können.« Genauer wollten die Wachhabenden es gar nicht wissen. Gauda: »Da es sich bei den Handschellen um eine Billigmarke handelte, konnten wir ihn mit einem Bolzenschneider schnell befreien.« Faszination und Furcht, Befreiung und Beklemmung, Ekstase und Erschütterung – die Nacht hat zwei sehr unterschiedliche Gesichter. Und hütet noch viele Geheimnisse. Noch wissen wir nur Bruchstückhaftes über die düstere Seite des Tages und ihre vielfältigen Auswirkungen auf das irdische Leben. Zu lange haben Forscher die Augen vor der Finsternis verschlossen, diese Zeit lieber im Bett verbracht. »Unsere ganze Geschichte ist bloß die Geschichte des wachenden Menschen. An die Geschichte des schlafenden hat noch nie jemand gedacht«, klagte im 18. Jahrhundert der Göttinger Naturforscher Georg Christoph Lichtenberg. Das scheint in vieler Hinsicht auch heute noch so. In unseren Tagen sagt der Physiker Christopher Kyba vom Geografischen

Institut der Ruhr-Universität Bochum: »Wir wissen zu wenig über die Nacht, wir brauchen ein interdisziplinäres Institut zu ihrer Erforschung.« Es gehe darum, das komplexe physikalische, chemische und ökologische Geschehen während der Düsterheit besser zu verstehen. »Und vor allem, was die Nacht für uns Menschen bedeutet.« Soziologische, medizinische, neurowissenschaftliche und psychologische Aspekte sollten dort untersucht werden, schlägt Kyba vor. Sein eigener Forschungsschwerpunkt ist die nächtliche Lichtverschmutzung auf Erden. Gerade die macht dem Leben zunehmend zu schaffen. Durch all die Lampen auf Straßen und Flugplätzen, in Gebäuden und Schaufenstern, vor Denkmälern und in Sportstadien wird es auf dem Globus nur noch an wenigen Orten richtig dunkel. Ein weiteres Drama neben Klimawandel und Artensterben, dank denen unsere erdgeschichtliche Epoche den Namen »Anthropozän« trägt, das Zeitalter, in dem der Mensch den Planeten rigoros umgestaltet. Unter dem Dauerlicht leiden Flora und Fauna. Und der Mensch. Durch Aufhellung des Himmels sind vielerorts nur noch wenige Sterne zu erahnen. In Europa können 60 Prozent der Bevölkerung von ihrem Wohnort aus selbst bei wolkenloser Nacht die Milchstraße nicht mehr erblicken. So wie sie der Kölner Kardiologe Christoph Blank im Tessin erlebte, tief ergriffen von der funkelnden Pracht des uferlosen Sternenmeeres. Irgendwann schlief er dann doch ein; als es am Morgen klamm und feucht wurde, erhob er sich von seinem Lager. Es roch moderig. Käfer und Spinnen krabbelten über seinen Schlafsack. Langsam dämmerte es, die graue Landschaft färbte sich, die Sonne kroch hinter den Bäumen hervor. »Es waren bewegende Stunden, die sich mir dauerhaft eingeprägt haben«, erzählt Blank. »Was ich in dieser Nacht gefühlt habe, hat mich enorm gestärkt, gibt mir in meinem Selbstverständnis, aber auch im Alltag und bei meiner Arbeit als Arzt eine Menge neue Kraft und Inspiration. Davon werden sogar meine Patienten profitieren.« Horst Güntheroth liebt Nachtspaziergänge am Strand. Mit Glück leuchtet dann das Meer: Der Einzeller Noctiluca scintillans sendet Blitze, wenn er durch Wasserbewegung gereizt wird


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GUTE NACHT, WIR KOMMEN! IDEEN FÜR AUSFLÜGE IN DIE DUNKELHEIT

Hier geht’s zur Milchstraße Die Gegend um das Dorf Gülpe in Brandenburg, 160 Einwohner, 100 Kilometer westlich von Berlin, gilt als dunkelster Ort in Deutschland. Hier ist die nächtliche Lichtverschmutzung am geringsten. Ein Mekka für Sternengucker mit oder ohne Teleskop: Es funkelt prächtig am Nachthimmel, wenn er wolkenlos ist. Auch die Milchstraße ist dann zu sehen. Zusammen mit dem Naturpark Westhavelland wurde Gülpe von der International Dark Sky Association der Titel »Sternenpark« verliehen. Handybildschirm abdunkeln! sternenpark-westhavelland.de Schlafen im Freien Wildcampen, also das Übernachten im Zelt oder im Wohnmobil in der freien Natur, ist in Deutschland verboten – mit Ausnahmen. Im Detail entscheiden die Bundesländer, und im Zweifel sollte man die zuständige Forstbehörde oder den Grundstücksbesitzer

fragen. Schlafen unter freiem Himmel ohne Zelt, beispielsweise in einem Schlafsack oder in einer Hängematte, ist möglich. In vielen Bundesländern wurden zudem Trekkingplätze angelegt: eine Lichtung oder Wiese mit Toilettenhäuschen und Feuerstelle. t1p.de/8sji1 Die Nacht als Selbsterfahrung Der Theaterwissenschaftler Hans-Marcus Röver organisiert in mehrtägigen Seminaren ­ Begegnungen mit der Nacht als »Visionssuche«. Die Teilnehmenden verbringen viel Zeit in der Natur und absolvieren verschiedene Rituale und Aufgaben, um ihrer inneren Natur auf die Spur zu kommen. Höhepunkt ist dann ein mindestens 24-stündiger Solo-Aufenthalt im Freien, inklusive einer Nacht oder sogar mehrerer Nächte. »Ein tiefes Erleben mit dem Selbst« verspricht der Coach. Nach dem Verlassen der ­Komfortzone beginne die ­ Magie. marcusroever.com

Finde die Fledermaus Vielerorts bieten Naturschutzverbände nächtliche Exkursionen zu Tieren an, die erst im Finstern lebhaft werden. Vor allem Fledermaus-Ausflüge sind beliebt. Jedes Jahr am letzten Wochenende im August kann man während der »Batnight« bundesweit mit fachkundigen Expertinnen und Experten die fliegenden Säuger beobachten und viel über die 25 Arten erfahren, die in Deutschland leben. Gelegentlich öffnen auch Wildparks und Zoos ihre Türen für eine nächtliche Safari. Ins Watt (aber nicht allein!) Entdeckungstouren zum Leben im Dunkeln gibt es auch im Watt. Auf abendlichen Wanderungen am Küstensaum lernen Touristen, dass die berühmte Nordseekrabbe tagsüber eingegraben im Boden ruht und nachts als gefräßiger Räuber auf Beutezug geht. wattwanderzentrum-ostfriesland.de


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SCHLAF GUT! Das wünschen wir uns jeden Abend, aber es klappt nicht immer. 7 Tipps für eine gesunde Nachtruhe Text Tobias Hürter

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eder Mensch schläft mal schlecht. Das ist ganz normal und meistens harmlos. Auf die Dauer jedoch dämpft schlechter Schlaf die Lebensqualität – und guter Schlaf erhöht sie. Für fast jeden Menschen gibt es ein paar einfache Dinge, die sie oder er tun kann, um besser zu schlafen. Es lohnt sich, denn Schlaf fördert die emotionale Balance, das Gedächtnis und die kognitive Leistung. Er regeneriert den Bewegungsapparat, das Herz und das Immunsystem. Schlaf ist keine verlorene Lebenszeit. Eine Einschränkung zu diesen Tipps: Wenn Sie an einer Schlafstörung leiden, zum Beispiel an chronischer Schlaflosigkeit oder Schlaf­ apnoe, sprechen Sie bitte zunächst mit Ihrem Arzt. WECKER ZUM EINSCHLAFEN

Gehen Sie stets zur gleichen Zeit ins Bett, und stehen Sie zur gleichen Zeit auf. Ob Werktag oder Wochenende, ob Sie die Nacht zuvor gut oder schlecht geschlafen haben, ob es eine späte oder eine frühe Zeit ist: Hauptsache, sie bleibt gleich. Das Gehirn ist ein Gewohnheitsorgan. Eine 24-Stunden-Uhr tief in seinem Inneren bestimmt seine Aktivität. Es erwartet Regelmäßigkeit und fühlt sich dabei am wohlsten – das gilt auch für die Steuerung des Schlaf-wach-Rhythmus. Viele Menschen benutzen einen Wecker, um aufzuwachen. Funktionieren Sie ihn einfach mal um und lassen Sie sich vom Wecker daran erinnern, ins Bett zu gehen. ­Ideal wäre, ihn nur abends zu benutzen und morgens von allein aufzuwachen.

Illustration Xuan Xuan Loc

ALLES ROUTINE

Ein vollgestopfter Kalender, durchgetaktete Tage und Action bis zum späten Abend. Dann ins Bett fallen, Licht ausschalten und schlafen, so sollte es sein. So ist es aber nicht. Einschlafen ist nicht dasselbe, wie einen Schalter umzulegen. Der physiologische Prozess des Einschlafens gleicht eher der sanften Landung eines Flugzeugs. Er braucht Zeit. In der letzten Stunde oder halben Stunde vor dem Zubettgehen ist Action fehl am Platz. Legen Sie die blinkenden und bimmelnden Geräte weg. Wenn die Schlafenszeit naht, ist es auch besser, die sozialen Interaktionen zu reduzieren, zumindest in der Stunde davor. Das gilt auch für Nachrichten, die viele Menschen gerade in dieser Zeit konsumieren. Tun Sie etwas Entspannendes – was immer das für Sie ist. Auch morgens hilft eine Routine, um gut aus den Federn zu kommen. Leichte Aktivität, etwas Gymnastik oder Yoga, bringt den Körper in Schwung. Soziale Interaktion stellt die innere Uhr auf »wach«. KÜHL BLEIBEN

Gehirn und Körper müssen ihre Kerntemperatur um rund ein Grad Celsius absenken, um einzuschlafen und nicht wieder gleich aufzuwachen. Ein Abfall der Körpertemperatur ist ein sehr starkes Schlafsignal. Er macht müde. Deshalb fällt es leichter, in einem Zimmer einzuschlafen, das einen Tick zu kalt ist, als in einem etwas zu warmen Raum. Die derzeitige wissenschaftliche Empfehlung für die Schlafzimmertemperatur liegt bei zwischen 13 und 18 Grad Celsius – das ist merklich kühler als die übliche Lufttemperatur in Wohnräumen. Also

drehen Sie den Thermostat runter! Das spart Heizkosten und lindert Schlafprobleme. Ein weiterer Vorteil kühlerer Luft ist, dass sie die Atemwege weniger austrocknet und auf diese Weise Erkältungen vorbeugt. Ein Trick zur Reduktion der Körperwärme ist paradoxerweise, vor dem Schlafen eine warme Dusche zu nehmen. Dadurch weiten sich die Blutgefäße. Die Kernwärme des Körpers wird nach außen befördert und verdunstet dort. ROLLOS RUNTER

Im Dunkeln schläft es sich besser. Das mag wie eine Plattitüde klingen, gerät aber manchmal in Vergessenheit in einer dauerbeleuchteten Welt. Echte Dunkelheit ist selten geworden. Überall strahlen LEDLampen, Fernseher und Smart­ phones. Menschen brauchen Licht zum Leben. Aber sie brauchen auch Dunkelheit, vor allem abends, um die Ausschüttung des Hormons Melatonin auszulösen, das bei der Regulierung eines gesunden Schlafrhythmus hilft. In der letzten Stunde vor dem Ins-Bett-Gehen ist es besser, sich von Computerbildschirmen, Tab­lets und Handys fernzuhalten und die Zimmerbeleuchtung etwas zu dimmen. Der Effekt: Man wird deutlich schläfriger. Rollos, dichte Vorhänge oder eine Augenmaske können zusätzlich helfen, den Melatoninpegel zur rechten Zeit zu erhöhen. Blaufilter an Displays helfen übrigens nur wenig. Es gab mal die Vermutung, dass diese Blaufilter die Wachwirkung des Lichts zumindest graduell dämpfen. Aber dann zeigte sich, dass die Zellen, die Helligkeitssignale ans Gehirn übertragen, nicht nur empfindlich für


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Der Wind in den Lindenblättern, Regentropfen, die aufs Dachfenster fallen: »White Noise«, das weiße Rauschen, führt uns wie ein sanftes Wiegenlied in den Schlaf grünes und blaues Licht sind, sondern auch für Rotlicht. Besser ist es also, alles helle Licht zur Einschlafzeit zu meiden. Morgens hingegen hilft sehr helles Licht, um wach zu werden und die innere Uhr zu justieren. Am besten draußen. Das Licht in einem hell erleuchteten Raum hat höchstens ein paar Hundert Lux. Das Licht draußen an einem sonnigen Tag hat Zehntausende Lux. Wir nehmen diesen großen Unterschied zwar nicht bewusst wahr, weil unser Sehsinn über einen weiten Helligkeitsbereich funktioniert. Doch der Unterschied beeinflusst die innere Uhr. Es ist daher eine gute Idee, morgens rauszugehen. Das muss nicht sofort nach dem Aufwachen sein. Es kann schon helfen, am Fenster zu frühstücken statt irgendwo im Halbdunkeln. Manche Menschen reagieren empfindlicher auf Lichtreize, manche weniger. Achten Sie darauf, was Ihnen guttut. RUHE, BITTE

Akustische Störfaktoren wie Verkehrslärm, Getrampel im Treppenhaus und schnarchende Partner mindern die Schlafqualität. Gut sitzende Ohrstöpsel können dann für Ruhe sorgen. Aber nicht alle Menschen schlafen bei absoluter Ruhe am besten ein. Für manche ist eine Geräuschkulisse aus neutralem Rauschen, genannt ­ »White­ Noise«, besser. Es gibt Apps dafür, aber manchmal tut es auch der Regen draußen, den man fallen hört. Weißes Rauschen wirkt einschläfernd, das bestätigen Schlafforscher. Der genaue Effekt ist allerdings noch nicht ganz geklärt. Vermutlich bindet das weiße Rauschen die Aufmerksamkeit und übertönt außerdem Störgeräusche.

WACH GEHEN STATT WACH LIEGEN

Bleiben Sie nicht zu lange schlaflos im Bett liegen. Die 25-Minuten-Regel ist eine gute Orien­ tie­ rung: Wer 25 Minuten im Bett liegt, ohne einschlafen zu können, oder aufwacht und 25 Minuten wach liegt, sollte aufstehen und etwas anderes tun, empfehlen Wissenschaftler. Der Grund: Das Gehirn denkt assoziativ. Wenn es gelernt hat, das Bett mit Wachheit zu verbinden, ist es wichtig, diese Assoziation zu durchbrechen. Das gelingt, indem man aufsteht, etwas anderes tut und erst zurück ins Bett geht, wenn man sich schläfrig fühlt. Auf diese Weise kann das Gehirn lernen, das Bett mit Schlaf zu assoziieren. Das Bett selbst spielt übrigens keine so große Rolle, wie es uns die Hersteller spezieller Kissen oder Matratzen manchmal glauben machen wollen. Der Körper ist gut darin, sich verschiedenen Kissen oder Matratzen anzupassen – selbst wenn die Matratze hart ist. Nur wer sich beim Aufwachen regelmäßig unwohl fühlt, zum Beispiel Schmerzen im Nacken hat oder ein Taubheitsgefühl, sollte etwas Neues ausprobieren. Wer gut einschläft und sich wohlfühlt, sollte alles so lassen. Kontinuität ist günstig, Veränderung ungünstig. VORSICHT BEI ...

Koffein ist ein Wachmacher, Alkohol ein Rauschmittel – kein Wunder, dass sie gesundem Schlaf eher abträglich sind. Aber völlige Enthaltsamkeit muss nicht unbedingt sein. Eine gute Faustregel ist, nachmittags und abends auf koffeinhaltige Getränke wie Tee, Kaffee und Cola zu verzichten und nicht mit einem Trunkenheitsgefühl ins Bett zu gehen.


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»DIE MUSIK IST MINDESTENS DOPPELT

SO SCHNELL WIE EIN GESPRÄCH«


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DAS ZEIT WISSEN GESPRÄCH Michael Barenboim Der Geiger erklärt, warum ein Streichquartett einem Doppelkopf-Spiel unter Freunden ähnelt, warum Talkshows anders ablaufen sollten – und was wir sonst noch von Beethoven, Bach und Janáček fürs Leben lernen könnten Interview Andreas Lebert und Christine Lemke-Matwey

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in warmer Nachmittag im Oktober in Berlin-Mitte, vor der Barenboim-Said Akademie stehen Studierende, reden und rauchen. Michael Barenboims Büro liegt im dritten Stock des Gebäudes, das auch den Boulez-Saal beherbergt, einen modernen Konzertsaal mit knapp 700 Plätzen. Auf dem Weg nach oben hört man es aus vielen Zimmern üben. Barenboim wartet schon, fester Händedruck, tiefe Stimme. Es gibt Wasser und Kaffee, auch ein Schuss Milch wird rasch organisiert.

Fotos Julia Steinigeweg

Herr Barenboim, Sie sind mit Musik aufgewachsen, Sie sind Musiker, Sie lehren Musik, und neben alldem führen Sie auch noch ein normales Leben ... So normal ein solches Leben sein kann, ja. Lassen Sie uns gleich mit der Tür ins Haus fallen: Was kann man aus der Musik fürs Leben lernen? Eine ganze Menge! Nehmen wir unser Gespräch hier. In der Musik fänden Ihre Fragen und meine Antworten gleichzeitig statt, nicht, wie unter zivilisierten Leuten üblich, nach­ein­an­der. Ein Musiker oder ein Musikhörer sollte in der Lage sein, mehrere

Stimmen auf einmal wahrzunehmen und zu verstehen. Beim Komponieren nennt man das den Kontrapunkt: Es wird etwas gesagt – und gleichzeitig wird etwas anderes gesagt, das dagegensteht. Das Note-gegen-Note-Prinzip. Genau. Das funktioniert schon bei zwei Stimmen. Die Musik ist also mindestens doppelt so schnell wie jedes Gespräch. Was ich damit sagen möchte: Musik ist komplex. In der Aus­ein­an­der­set­zung mit Musik kann ich den Umgang mit komplexen Zusammenhängen üben. Das ist hilfreich, das kann mich auch im Leben weiterbringen.


36 Heißt das, Sie sitzen im Wirtshaus, alle reden laut durch­ein­an­der – und Sie können gar nicht anders, als verstehen zu wollen, was jeder Einzelne sagt? Nein, so funktioniert das nicht. Ein gutes Gespräch verlangt, dass man sich nicht ständig ins Wort fällt. Die Unterbrechungs-Forschung, die es übrigens wirklich gibt, ist da anderer Ansicht. Sie sagt, Unterbrechungen gehören zu einem Gespräch dazu, sonst wird es langweilig. Ist das Sich-ins-Wort-Fallen so etwas wie der Kontrapunkt des mensch­ lichen Gesprächs? Ich würde es allgemeiner formulieren: Ich denke etwas – und denke das Gegenteil immer mit. Das ist wichtig. Und das kann man aus der Musik wirklich sehr gut lernen. Selbst die simpelste Melodie besitzt ein gegenläufiges Potenzial, man kann sie umkehren oder spiegeln, man kann ihr Tempo halbieren oder verdoppeln, ihr einen anderen Rhythmus geben, eine andere Tonart und vieles mehr. Hat dieses Mitdenken des Gegenteils auch Auswirkungen auf den Menschen Michael Barenboim? Sind Sie ein guter Moderator, jemand, der Gegensätze eher versöhnen will und am Ende Harmonie braucht? Ich denke schon, dass ich gewisse Situationen moderieren kann. Nehmen Sie eine Kammermusik-Probe, das ist für Ihre Frage das ideale Labor. Es gibt Leute, die sind in ihrer künstlerischen Meinung sehr energisch und auch vehement im Durchsetzen dieser Meinung. Es gibt andere, die fügen sich, und es gibt wieder andere, die hinterfragen vieles. Ein guter Musiker sollte alle drei Positionen einnehmen können. Der Zweifel ist immer der erste Schritt: Kann eine Sache nur so und nicht anders sein? Natürlich nicht! Gleichzeitig braucht Musik Flexibilität, die Fähigkeit, sich anzupassen. Bestünde ein Streichquartett nur aus Leuten, die permanent mit der Faust auf den Tisch hauen, und aus solchen, die alles hinterfragen, käme keine Musik dabei heraus. Das klänge einfach nicht gut. Gilt das, was Sie sagen, auch für den Musikhörer? Haut der unweigerlich auf den Tisch, hinterfragt oder fügt sich, während er Beethoven hört? Interessanterweise gibt es da verschiedene Herangehensweisen und Erwartungen. Die einen wollen, dass alles klingt wie aus einem

Guss, also homogen; und die anderen sind mehr auf Reibung aus, auf innere Dissonanzen. Stellen Sie sich ein Streichquartett vor, die Königsdisziplin aller Königsdisziplinen in der Kammermusik – da ist es ja ganz oft so, dass zwei gegen einen arbeiten oder drei gegen einen oder zwei gegen zwei oder zwei gegen einen gegen noch einen. Und diese Gegensätze möchte ich natürlich hören, denn sie scheinen die Idee des Stücks zu sein. Ob sie und wie sie sich auflösen, ist eine andere Frage. Manchmal bleiben Gegensätze auch bestehen. Ein guter Abend unter vier Freunden läuft ganz ähnlich ab ... ... ja, beim Doppelkopf zum Beispiel. Spielen Sie Doppelkopf? Nein, nur Skat. Es wäre also ein Abend zu dritt, ein Trio, aber das ist auch okay. Eine Skat- oder Doppelkopfrunde kann im Streit aus­ein­an­der­ge­hen. Gibt es das in der Musik, das unversöhnliche Ende? Es gibt Komponisten, die lassen einen als Hörer disparat zurück. In der deutschen Klassik und Romantik ist das weniger der Fall, da wird meist versucht, die Fragen, die aufgeworfen werden, auch zu beantworten und ein großes Ganzes zu entwerfen. Bei Beethoven, bei Brahms, überall. Bei Janáček ist das anders, seine Musik ist emotional sehr direkt, da wird nichts abgerundet, nett gemacht oder beschönigt. Und das kennen wir aus dem Leben. Manchmal müht man sich ab – und erreicht sein Ziel trotzdem nicht. Dann sollte man das Nichterreichen, die Nähe des Scheiterns, die Reibung als bestmögliches Resultat akzeptieren. Können Sie das als professioneller Musiker besser als Menschen, die nichts mit Musik zu tun haben? Halten Sie denn Reibungen gut aus? Ich hoffe, dass ich das kann. Aber das schützt mich nicht davor, Dinge zu vermasseln. Rechtzeitig zu erkennen, wann es keinen Sinn mehr macht, sich zu engagieren, wann man loslassen sollte, dafür braucht es wahrscheinlich ein ganzes Leben. Wir haben über das Ende gesprochen – doch was ist mit dem Anfang? Wie fangen Sie etwas an, im Alltag, in der Musik? In der Musik gibt es unzählige Varianten, anzufangen. Beethovens Fünfte etwa, das berühmte Ta ta ta taa, beginnt mit einer Achtelpause auf dem schwachen Schlag. Die Musik unterbricht die Stille, als würde

man, hoppla, einen Schreck kriegen. Erst Stille, dann das Schicksalsmotiv im Fortissimo, also da ist gleich eine kolossale Unruhe mit im Spiel. Irgendetwas stimmt nicht, und genau diese Unsicherheit will Beethoven schüren. Bei der Eroica hingegen, seiner dritten Sinfonie, stehen zwei starke, vertikale Akkorde am Beginn. Die sagen ganz klar, jetzt fangen wir an. Aber es gibt auch Anfänge, die fangen an, ohne richtig anzufangen. Bruckners Neunte zum Beispiel mit diesem wabernden d-Moll im Pianissimo, zwei, drei Minuten lang, aus dem sich nichts zu entwickeln scheint. Oder das Vorspiel zu Wagners Rheingold mit einem supertiefen Es-Dur-Akkord, der sich dann langsam auffächert und immer lichter und heller wird, wie ein Sonnenaufgang. Aber unterbricht nicht letztlich jede Musik die Stille wie Beethovens »Fünfte«? Doch, aber in der Fünften komponiert Beethoven diese Stille mit, absolut genial. Jeder Anfang steht im Verhältnis zur Stille, die vorher war. Komme ich aus der Stille, unterbreche ich sie, gehe ich wieder zurück in die Stille ... Das sind essenzielle Fragen. Aber nicht nur für Komponisten wie Beethoven, sondern auch für Sie als Interpreten. Wie betreten Sie ein Konzertpodium, wie gehen Sie mit einem Publikum um, das vielleicht mal bessere, mal schlechtere Laune hat, mal konzentrierter ist oder mal mehr stört? Was man aus der Musik auf jeden Fall lernen kann, ist gutes Timing. Das müssen wir Musiker können. Und natürlich ist es meine Aufgabe, am Abend genau zu erspüren: Was sind das für Leute, die da vor mir sitzen? Ich kenne die ja nicht. Und selbst wenn ich sie kennen würde, es würde mir nicht helfen. Im klassischen Konzert sind die Abläufe streng ritualisiert. Man geht raus, es gibt Applaus, man verbeugt sich, der Applaus ebbt ab – und ab jetzt entscheidet es sich: Was nun? Vor allem als junger Musiker hat man oft nicht den Mut und die Erfahrung, noch etwas zu warten, bevor man anfängt. Vor den meisten Anfängen muss es still sein, ganz kurz. Wobei es auch Stücke gibt, die haut man so in den Applaus hinein. Aber selbst das ist jedes Mal anders, jedes Mal. Wenn der Anfang nicht sitzt, wenn zu Beginn etwas schiefläuft, lässt sich das korrigieren, oder ist der Abend dann hinüber?


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Das nennt er »allein-allein«: Michael Barenboim im Berliner Boulez-Saal

Das kommt darauf an, was schiefgelaufen ist! Es gibt Fehler, die sind nicht der Rede wert, und es gibt solche, die sind unverzeihlich. Und dazwischen gibt es unendlich viele Varianten. Denken Sie am Anfang eigentlich an das Ende? So wie der Schriftsteller John Irving einen Roman erst beginnt, wenn er den letzten Satz kennt? Wenn der Roman oder die Musik so teleologisch aufgebaut sind: ja. Das gilt musikalisch vor allem für die deutsche Romantik, wie gesagt. Aber es gibt wunderbare Stücke, die funktionieren ganz anders. Da entdecke ich zusammen mit dem Publikum andauernd neue Dinge, jetzt entdecken wir das und danach jenes und dann noch etwas ganz anderes. Da bringt es nichts, ans Ende zu denken, es wäre geradezu ein Fehler und würde die Freude an der Entdeckung schmälern. Wie geht dieses gemeinsame Entdecken? Meistens wissen wir doch immer alles. Sie kennen die Stücke, die Sie spielen, Teile des Publikums tun das auch, man kennt seinen Ehepartner, seine Ehepartnerin, den Weg zum Bäcker, seinen Beruf – wie

kann es da gelingen, mit anderen zusammen etwas wirklich neu zu entdecken? Es macht einen Unterschied in der Musik, ob ich etwas Bekanntes spiele oder etwas Unbekanntes. Das Bekannte soll neu klingen und das Unbekannte vertraut. Damit das Publikum das Gefühl hat, dass etwas Besonderes passiert und wir alle einen kreativen, besonderen Moment erleben. Deswegen beschäftigen wir uns mit Kunst. Aber ich finde es auch okay, ein unbekanntes Stück noch zu erkunden. Natürlich habe ich mich mit den Noten beschäftigt, natürlich habe ich geübt. Aber ich weiß nicht, wie die Musik sich in der Öffentlichkeit verhält, wie ich mich verhalte, wie die Leute reagieren. Diese Offenheit ist wichtig. Gelingt Ihnen das auch bei Menschen? Begegnen Sie Leuten, die Sie lange und gut kennen, immer wieder neu, bringen Sie Unbekannten Offenheit entgegen? Ich hoffe es! Vielleicht ist das etwas, das wir Musiker anderen tatsächlich etwas voraushaben. Bei uns gleicht kaum ein Tag dem anderen. Es gibt Routine und Routinen, aber der Montag ist nie wie der Dienstag wie der Mittwoch und so weiter, das gibt es

einfach nicht. Wir leben ein unstetes Leben, der neue Blick nährt uns. Wie gehen Sie mit bekannten Stücken um? Wie geht das Neue, wenn die Spatzen das Alte von den Dächern pfeifen? Früher, wenn ich etwas viel gespielt habe und dann länger nicht und wenn ich es mir dann wieder vorgenommen habe – dann habe ich mir neue Noten gekauft. So geht man von vorneherein anders an die Sache heran. Am besten, man kauft eine andere Ausgabe der Noten, mit einem anderen Notenbild. Schon entdecke ich etwas! Wie bitte, was, das ist mir ja noch nie aufgefallen! Das hilft. Die Routine wird gebrochen. Eine Interpretation darf nie wie aus der Mikrowelle klingen, das hört man sofort. So toll sie ist, sie darf nicht dieselbe sein wie vor 30 Jahren oder vor drei Tagen oder drei Stunden. Ich würde sogar sagen, bei aller Professionalität kann sie gar nicht dieselbe sein! Kennen Sie so etwas wie Originalitätsdruck? Ich muss die erste Bach-Partita so originell spielen wie niemand zuvor? Ich kenne das, ja, aber von meinem musikalischen Naturell her gehe ich eher vom Stück aus. Ich traue mir auch zu, völlig un-


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Michael Barenboim wurde 1985 in Paris geboren, als Sohn des Dirigenten Daniel Barenboim und der Pianistin Elena Bashkirova. Er studierte Geige und ist seit 2003 Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra. An der

Barenboim-Said Akademie, deren Dekan er ist, unterrichtet er Violine und Ensemblespiel. Michael Barenboim ist mit einer Pianistin verheiratet, die beiden haben zwei Kinder.


39 originell zu sein, wenn ich meine, dass es korrekt ist. Es ist sinnvoll, Traditionen zu hinterfragen, um als Künstler zu sich selbst zu kommen; andererseits gibt es auch gute Gründe, warum eine Sache 200 Jahre so und nicht anders gemacht wurde. Nur dagegen zu sein ist noch keine Interpretation. Davor würde ich immer warnen. Schreiben Sie eigentlich viel rein in Ihre Noten? »Hier vierte Lage!«, »Da dieser oder jener Fingersatz«, solche Dinge? Das hat sich stark verändert. Als ich jung war, habe ich sehr viel in die Noten reingeschrieben. Dann gab es eine eher puristische Phase, da sahen meine Noten fast jungfräulich aus. Und mittlerweile praktiziere ich so ein Mittelding. Außerdem kommt es darauf an, was ich spiele. Bei einer Uraufführung steht mehr drin als bei einer Bach-Partita, klar. Notizen in den Noten sind nichts anderes als visual cues, Ausrufezeichen. Gibt es Stücke, die für Sie früher sehr enge Freunde waren und es heute nicht mehr sind, und umgekehrt? Natürlich! Heute spiele ich viel französische Musik, ­Belle ­Époque und so etwas. Ich finde das genial! Diese Musik ist so reich, an Farben, an Inhalten! Das konnte ich früher überhaupt nicht schätzen. Woher wissen Sie eigentlich über die Jahre, wann Sie was spielen? Wachen Sie eines Morgens auf und denken, hey, was ist eigentlich mit der B ­ elle ­ Époque? Oder: Lange keinen Mozart mehr geübt? Aus meinem Konzertkalender, da steht lange im Voraus alles drin! Dieser Kalender beruht auf gegenseitigen Vorschlägen. Mal habe ich eine Idee, mal wollen die Veranstalter etwas Bestimmtes. Oder es gibt Programmschwerpunkte, zu denen man eingeladen wird. Oder Komponisten-Jubiläen. Woher ich weiß, was ich spiele, so innerlich, meinen Sie? Ganz ehrlich: keine Ahnung. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass das Musikmachen quer steht zu der Zeit, in der wir leben? Als »normaler« Mensch kriegt man dauernd suggeriert, dass man sich mehr um sich selbst kümmern solle. Hierfür gibt es dieses Produkt, dafür braucht es Achtsamkeit, und wenn du deinen Körper nicht ständig optimierst, bist du eh out. Und jetzt kommt die Musik und sagt: Bei mir kannst du von dir selbst absehen. Bei mir gibt es etwas Wichtigeres

als dich selbst, nämlich das Stück. Dem muss ich mich widmen, mit allem, was ich habe. Die Musik erreicht, dass ich von mir weggehe und gleichzeitig ganz bei mir bin. Ist das nicht eine Gnade? In der Musik ist es ganz stark so, dieses von sich absehen und bei sich sein, schon weil sie eine zeitliche Dimension hat. Während ich spiele, übe oder zuhöre, kann ich nichts anderes tun. Sicher erfahre ich auch im Museum etwas über mich, wenn ich ein Bild betrachte, oder zu Hause, wenn ich einen Roman lese. Auch das braucht Zeit, auch das »macht etwas mit mir«. Der Fehler ist doch, dass viele sich immerzu selbst entdecken wollen. Dabei entdeckt man sich selbst erst, indem man das andere entdeckt. Sherlock ­Holmes löst seinen Fall ganz und gar ohne mich, aber bestimmt lerne ich als sein Leser etwas über menschliche Verhaltensweisen – und insofern auch über mich. Sind Sie Ihrem Vater eigentlich dankbar für die Musik? Nicht nur meinem Vater! Ich bin auch meiner Mutter dankbar und meiner Großmutter. Meine ganze Familie besteht aus Musikern. Und das Wichtigste, was ich von allen lernen konnte, ist die Liebe zur Musik, zur Kunst. Vor die Liebe hat die Musik das Üben gesetzt. Woher rührt die Hingabe, täglich stundenlang an technischen und musikalischen Details zu feilen? Niemand hat immer Lust zu üben, daher wäre ich mit dem Begriff »Hingabe« vorsichtig. Üben kostet oft Überwindung. Da geht es definitiv nicht um Selbstfindung, sondern ums Optimieren der Sache. Wenn ich ein neues Stück spielen soll und es noch nicht kann, muss ich es so lange üben, bis ich es kann. Das Ich kommt dann später wieder dran. Und die Liebe auch. Was ist mit der Selbstfindung der Menschen, die zuhören? Das Konzert ist ein gesellschaftliches Ereignis, es will und muss als solches empfunden werden. Das ist die große Lehre aus der Pandemie für uns Künstler. Vorher dachte man, ich spiele einfach so gut, wie ich spielen kann, und das ist dann das Konzert. Nein, ist es nicht! Das kannst du zu Hause machen. Auch das Publikum ist sich seiner aktiven Rolle im Grunde erst bewusst geworden, als es nicht mehr Publikum sein konnte. Indem ich aktiv zuhöre, trage ich

zum Musikereignis bei. Die Pandemie hat uns alle verändert. Ich hätte niemals gesagt, dass ich diese Dinge vorher nicht genug wertgeschätzt habe, aber ich muss leider sagen: Ich habe sie nicht genug wertgeschätzt! Heute denke ich anders über Musik nach als vor der Pandemie, definitiv. Das war ein echter Bruch. Verändert sich Ihr Verhältnis zum Publikum mit dem Repertoire, das Sie spielen? Ob mit, ob ohne Orchester, ob solo oder mit einem Pianisten? Das sind ganz unterschiedliche Rollen! Bin ich allein-allein, bin ich allein mit Orchester oder bin ich gar nicht allein, nämlich Teil eines Orchesters oder eines Kammermusikensembles. Entsprechend verändert sich die soziale Interaktion. Vor der Pandemie habe ich viele Solo-Recitals gespielt, das ist immer eine Extremsituation. Alles konzentriert sich auf diese eine Person und ihre vier Saiten. Alles steht und fällt mit ihr. Ein bisschen wie ein Bergsteiger ohne Sauer­stoff­vor­rat am Nanga Parbat, in der Todeszone. Wenn Sie so wollen, ja. Im Vergleich dazu ist die Kammermusik ein Gespräch oder Streitgespräch. Berühmtes Goethe-Wort über das Streichquartett: »Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennenzulernen.« Heute nennt sich das Talkshow. Mehr oder weniger. In der Kammermusik wird die Kooperation zwischen Individuen vorgelebt. Im Orchester arbeitet man als Gruppe mit anderen Gruppen zusammen. Das ist wieder etwas völlig anderes. Schauen Sie Talkshows? Macht Sie das als Musiker nicht wahnsinnig, was da so unter gesellschaftlicher Verständigung läuft? Was mich insbesondere verrückt macht, ist die Tatsache, dass alle, die zu einer solchen Show eingeladen werden, einem Skript folgen. Die Gäste sind mehr Schauspieler, die ihrem Text folgen, als irgendetwas anderes. Niemand wird das Skript einer Sendung je ändern. Egal, was die anderen sagen. Und die Partitur eines Beethoven-Streichquartetts ist kein Skript? Doch, total! Auch die Partitur weist den Interpreten ihre Rollen zu. Aber die Rollen und Perspektiven ändern sich ständig, was im Fernsehen, denke ich, nicht der Fall ist.


40 Die Musik entwickelt sich, sie geht einen Weg. Auch das passiert in Talkshows ausgesprochen selten. Leider. Wäre das nicht ein toller Tipp Richtung Fernsehmacher oder Politiker: Nehmt euch mal ein Beispiel an Beethoven oder Schubert, seid doch mal flexibel, zeigt mehrere Facetten eures Seins, bekennt euch zu euren multiplen Identitäten? Wäre dann nicht weniger Müdigkeit, Langeweile und Verdrossenheit in der Welt? Ich glaube schon. In jedem Fall sollte am Ende einer Talkshow, wie bei einem Streichquartettabend, etwas anderes stehen als am Anfang. Bringt Dinge in Bewegung! Welche Rolle spielt im sozialen Miteinander der Dirigent? In einem Online-Forum war unlängst die Frage zu lesen, wozu es den Dirigenten überhaupt brauche – die Musiker hätten doch ihre Noten vor sich, und da stehe alles drin! Berechtigte Frage! Das Niveau ist heute so hoch, dass ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker die vier Brahms-Sinfonien auch problemlos ohne Dirigenten spielen könnte. Aber darum geht es nicht. Es geht um die Einheitlichkeit der Interpretation, um die musikalische Idee. Das klappt nicht ohne Führung und Inspiration. Der Dirigent ist also in besonderer Weise für den magischen Moment verantwortlich, den wir in einem Konzert suchen? Der Dirigent steht in der Pflicht, ja. Dirigieren ist in erster Linie Timing. Die Gestaltung der Zeit. Der Dirigent spielt zwar selbst kein Instrument, er bringt keine Töne hervor, aber er ist der Meister über die Zeit. Liegt dem nicht ein ziemlich anachronistisches Gesellschaftsmodell zugrunde? Eine Person steht oben auf der Kiste und sagt den anderen, wo es langgeht?

Mag sein, aber solche Strukturen kennen wir auch aus der Wirtschaft, von Unternehmen, wir kennen sie aus den Medien und aus der Politik. Am Ende muss jemand die Verantwortung übernehmen. Wenn es heißt, die Rolle des Dirigenten sei altmodisch, dann müsste man all diese Strukturen überdenken: Sind die noch zeitgemäß? Gute Frage. Bislang haben wir noch keinen Weg gefunden, solche Prozesse voranzutreiben, ohne dass am Ende eine Entscheidung getroffen werden muss. Musik hat nicht nur mit Hierarchie zu tun, sondern auch viel mit Energie und damit, wie sich diese Energie entfaltet und wie sie weitergegeben wird. Aber wer ist letztlich abhängiger? Diejenigen, die den Klang produzieren, oder der­ jeni­ge, der vorn mit dem Stöckchen wedelt? Natürlich gibt der Dirigent eine Richtung vor, eine musikalische, philosophische, geistige, aber er ist ganz wesentlich davon abhängig, ob die Kollegen das auch so spielen. Das ist nicht immer der Fall, wie uns die Musik- und Rezeptionsgeschichte lehrt. Wäre es nicht hilfreich, wenn Bundeskanzler oder Talkmaster regelmäßig bei Dirigenten Workshops buchen würden? Das sind sehr unterschiedliche Rollen, mit Verlaub. Aber die Fragen sind die gleichen. Wann setze ich welche Stimmen in ihr Recht? Was ist meine Idee des großen Ganzen? Oder auch: Was bedeutet eine Wiederholung? Doch nicht, etwas zu reproduzieren, sondern es zu variieren. Nur so erregt man Aufmerksamkeit! Nichts in der Musik wird wiederholt der Wiederholung wegen, da haben Sie recht. Es wird wiederholt, um einer Sache Nachdruck zu verleihen oder weil sich in der

Zwischenzeit der Kontext verändert hat – und damit auch die Sache selbst. Alles verändert sich permanent und immerzu, mit­ ein­ an­ der. Deshalb hat auch die Pause, anderes Beispiel, so viel Macht. Es gibt ein Violinkonzert von Jörg Widmann, sein erstes. Dieses Konzert dauert eine halbe Stunde, und die Geige ist pausenlos im Einsatz, kaum dass man als Interpret mal Atem holen kann – bis auf eine Stelle. Da hören alle für ein paar Sekunden auf zu spielen, der Solist, das Orchester, wie im ­Freeze. Plötzlich ist es komplett still. Das ist der stärkste Moment des Abends. Diese angespannte Stille. Dieses kollektive Innehalten. Vielleicht eine gute Idee für die Politik? Manchmal würde man es sich wünschen. Musizieren und Geist, diese Verbindung liegt nahe. Musizieren und Körper, wie steht es damit? Gerade für Geiger ist das ein großes Thema. Es ist zwar besser geworden, doch selbst heute ist es immer noch so, dass man sein Instrument zur Hand nimmt – und losspielt. Verrückt! Dabei ist das, was wir machen, Leistungssport. Kein Sprinter käme auf die Idee, aus dem Stand 100 Meter zu laufen! Kein Fußballer geht auf den Platz und schießt Tore. Vor ein paar Jahren hatten wir beim West-Eastern Divan Orchestra einen Physiotherapeuten, der hat die SportFrage gestellt. Jeder Athlet wärmt sich auf, Musiker machen das nie, sagte er. Nichts für den Rücken, nichts für die Schultern, die Arme – warum nicht? Und er hatte recht! Fünf Minuten genügen, oft drei Minuten. Seither praktiziere ich das. Ich muss meine Muskulatur in die Lage versetzen, den extremen Belastungen des Geigespielens standzuhalten. Und je älter ich werde, desto wichtiger wird das. Wie der blöde

»DAS BEKANNTE SOLL NEU KLINGEN UND DAS UNBEKANNTE VERTRAUT. DAMIT DAS PUBLIKUM DAS GEFÜHL HAT, DASS ETWAS BESONDERES PASSIERT, UND WIR ALLE EINEN KREATIVEN MOMENT ERLEBEN.«


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Michael Barenboim spielt hauptsächlich Geige, manchmal aber auch Bratsche

Witz, ich komme in ein knackiges Alter, es knackt mal hier, es knackt mal da ... Am besten wäre es natürlich, man würde sich zusammen aufwärmen. Im Sport tun das selbst potenzielle Gegner mit­ein­an­der, Tennisspieler zum Beispiel. Diese Kultur haben wir Musiker noch nicht. Wo hört die Vergleichbarkeit von Musik und Sport auf? Sie hört da auf, wo es nicht mehr allein um Bewegungsprozesse geht, sondern eine geistige, eine mentale, eine spirituelle Komponente dazukommt. Eben jenes besondere kreative Erlebnis. Da würden Ihnen Pep Guardiola und an­ dere aber vehement widersprechen! Ja, ja, aber in solchen Fällen sprechen wir doch von Kunst: von Fußball als Kunst. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich spiele Snooker, leider viel zu selten. Die Bewegungsabläufe, die ich dafür brauche, kann ich trainieren. Wenn ich hingegen auf der Geige übe, mache ich noch etwas anderes. Ich arbeite auch an der musikalischen Idee, an der Stilistik, an vielen Fragen. Der reine Bewegungsablauf ist von der Musik oft nicht zu trennen. Ich will damit nicht sagen, Kunst sei besser als Sport oder so, nein! Es

geht um die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten. Die Haltung des Billardspielers ist genauso einseitig wie die des Geigers, sie ist nur anders ungesund. Es gibt SnookerÜbungen, da fragt sich jeder Außenstehende, wozu brauchen die das? Ohne Kugel zum Beispiel. Und es gibt Tonleitern. Die C-Dur-Tonleiter habe ich bestimmt 10.000-mal in meinem Leben gespielt – und ich muss sie immer wieder spielen. Es geht nicht ohne. Sind Tonleitern schön? Schön wie Musik? Was ist schön? Schön ist nicht hübsch, würde ich sagen. Und hübsch ist nicht schön. In der Musik gibt es viele Dinge, die sind im eigentlichen Sinne schön, aber nicht im alltäglichen Sinn. Tonleitern würde ich nicht unbedingt dazuzählen. Kann man aus der Musik auch Schönheit lernen? Kleidung, Stil, gutes Design? Es geht nicht darum, wie etwas aussieht oder wie ich mich kleide, billig oder teuer, schick oder casual, es geht um die Frage: Habe ich darüber nachgedacht? Musik handelt von Farben, Klängen, Rhythmen, und natürlich habe ich mir vor unserer Begegnung überlegt, welchen Eindruck ich bei Ihnen erwecken will mit meinem Outfit ...

Wahrscheinlich einen seriösen: Tweed­ jackett, Weste, Wildlederschuhe. Jedenfalls kann ich nicht keinen Eindruck erwecken! Männermode ist gern 08/15, ich muss also einen gewissen Aufwand treiben, wenn ich damit etwas ausdrücken möchte. Ich glaube, wer in der Musik Schönheit erfahren hat, wird sie immer wieder suchen, wird sie immer wieder neu erleben wollen. Das ist auch die Antwort auf die Frage, wie begeistere ich Menschen für Musik, die damit nie in Berührung gekommen sind? Indem ich ihnen höchste Qualität biete – und das Maximum an Schönheit, wenn sie sich denn ereignet. Das Streben nach Schönheit verändert unser Leben, davon bin ich überzeugt, und, wer weiß, vielleicht drückt es sich auch in Kleidung aus oder in Autos oder in Möbeln. Besondere kreative Momente findet man auch im Alltag, klar, dafür muss ich nicht ins Konzert gehen oder in die Oper. Aber es ist wahrscheinlich schwieriger, sie nicht zu verpassen. Andreas Lebert und Christine Lemke-Matwey kamen in verspäteten Zügen gerade noch rechtzeitig zum Gespräch. Sollten sich Bahnmanager mal mit Musikern über gutes Timing unterhalten?


GEORDNETE VERHÄLTNISSE

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Geschenke zu Weihnachten, die Online-Bestellung von gestern: Wenn der Zusteller klingelt, steigt die Vorfreude. Hier kommen ein paar gut verpackte Fakten

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Indien

19 7

Brasilien

Schweden

Frankreich

64 50 34

Kanada

Deutschland

73

Japan

USA

76

Großbritannien

78

China

Versandte Pakete pro Kopf im Jahr 2022. 5102 Pakete werden weltweit pro Sekunde verschickt

Infografik Mirko Merkel Quellen BALM, Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V., DHL, Die Papierindustrie e. V., Guinness Book of World Records, Hallmark, Pitney Bowes, Statista, Toll Collect * nicht exakt 100 Prozent durch Rundungen

Pakete


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1917

China

erfinden die Brüder Hall in Kansas City, USA, das Geschenkpapier, wie wir es heute kennen. Später ­werden die beiden mit Grußkarten Millionäre

Anderes 26 %

7% 7%

Hygiene­ papiere

31 %

28 %

USA

Papier, Karton und Pappe für Verpackungs­ zwecke

22 % Grafische Papiere

17 % Großbritannien

FedEx/TNT 6% GLS 8% 11 %

DPD

13 % 49 %

Deutschland

12 %

UPS

Hermes

Produktion von Papiersorten in Deutschland, 2022. »Grafische ­­ Pa­pie­re« werden zum Beispiel in der Presse oder für Kataloge verwendet*

16 %

DHL

59 %

14 % Drohnen Roboter

10 %

13 %

Marktanteile der Paketdienste in Deutschland (nach Volumen, 2022). Nur sechs Prozent der Sendungen waren privat versandte Pakete*

34 %

Zukunft der Paketzustellung: »Welche Zustellmethode ­ würden Sie am ehesten nutzen?« (Umfrage unter Online-Kunden in ausgewählten Ländern)

Bekleidung 20 % Schuhe 11 % Taschen & Accessoires

12.500

45 %

21 JAHRE

keine Rücksendung in den vergangenen 12 Monaten

Lieferzeit eines Pakets, das seit 1977 in Großbritannien ­ unterwegs war – Weltrekord!

N NW

2023

Packstationen von DHL in Deutschland. An­zahl der Paket­ fächer in den Stationen gesamt: mehr als eine Million

NW

NO

O

SW

24 2013

N

W

2500

2003

6% 5% 4%

Online-Käufe: »Was schicken Sie zurück?« (Deutschland, 2023)

SO S

Sonntag

6% 5% 4%

NO

W

O

SW

SO S

Samstag

Von Ost nach West nach Ost: Fahrtrichtungen von Lkw auf den Autobahnen. Nach Ende des Sonntagsfahrverbots um 22 Uhr beginnt die Arbeitswoche, die meisten Lkw fahren nach Westen – samstags fahren die meisten wieder nach Osten. Rund 1,5 Mio. mautpflichtige Lkw sind auf den Autobahnen unterwegs


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BIS HIERHIN ...

Runter von den Barrikaden! Die Verkehrswende soll die Mobilität revolutionieren. Aber die Revolution ist nicht für jeden gleich. Unterwegs mit Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder blind sind

Text Max Rauner

Infografiken Carsten Raffel


ABER WIE WEITER ?

Technik kann helfen. Links: Ein Tricycle aus dem 19. Jahrhundert. Oben: Ein Auto mit Roboterarm für den Rollstuhl. Aber viele Barrieren sind nicht mit besserer Technik zu überwinden, sondern mit besserer Politik

Fotos: Getty Images (2x)

N

eulich haben Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen Deutschland unter die Lupe genommen. Sie wollten wissen, wie Menschen mit Behinderung hierzulande klarkommen. Deren Rechte sind inzwischen nämlich an oberster Stelle festgeschrieben: in der UN-Behindertenrechtskonvention, ratifiziert von fast allen Staaten der Welt, in Kraft getreten 2008. Seither treffen sich zweimal im Jahr 18 Expertinnen und Experten mit Behinderung in der Genfer UN-Zentrale und bewerten den Fortschritt einzelner Länder. Nun also Deutschland, das viertreichste Land der Welt. Das Urteil der Fachleute, veröffentlicht am Tag der Deutschen Einheit 2023, fällt wenig schmeichelhaft aus. Zwar habe Deutschland Initiativen gestartet, um Diskriminierung und Barrieren abzubauen, zuletzt die

Bundesinitiative Barrierefreiheit, die den öffentlichen Nahverkehr zugänglicher machen soll. Auch der Koalitionsvertrag wird lobend erwähnt. Darin verspricht die Ampelregierung mehr Teilhabe und Inklusion. Aber dann folgt ein langes Kapitel mit Ermahnungen und Kritik. Zum Thema Mobilität schreiben die Menschenrechtler: »Der Ausschuss ist besorgt über die weit verbreitete Unzugänglichkeit öffentlicher Verkehrsmittel.« Für Deutschland ist das eine Blamage. Wenn man auf zwei Beinen und mit fünf funktionierenden Sinnen durch die Gegend läuft, klingt das Urteil vielleicht etwas negativ. Werden nicht allerorten Fahrstühle gebaut, um Menschen mit Rollatoren und Rollstühlen das Leben zu erleichtern? Haben nicht immer mehr Gehwege und Bahnsteige diese geriffelten und genoppten Streifen, mit denen Sehbehinderte den

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46 Weg finden? Und die vielen Blindenampeln und Behindertenklos – wo ist eigentlich das Problem? Zum Beispiel in Stelle, Niedersachsen, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Eine Gemeinde mit 11.000 Einwohnern. Edina Müller wartet mit ihrem vierjährigen Sohn auf der Straße im Auto. Auf der Rückbank steht ihr Rollstuhl, daneben ist noch ein Platz frei. »Sie haben gesehen, diesen Bahnhof kann ich nicht benutzen«, sagt sie und gibt mit der linken Hand Gas. Ja, stimmt. Wer im Rollstuhl mit der Bahn anreist, kommt zwar aus dem Zug raus. Der vordere Wagen hat eine ausklappbare Rampe. Aber draußen stünde man vor einer kleinen Treppe. Kein stufenloser Weg führt drumherum. Deshalb fährt Edina Müller mit dem Auto zur Arbeit nach Hamburg. Als sie noch in der Stadt wohnte, war ihr Auto mal für eine Woche kaputt. »Das war schlimm«, sagt sie, »denn irgendetwas ist immer.« Sie meint den öffentlichen Personennahverkehr. Einmal stand sie unten in der U-Bahn vor einem defekten Aufzug. Die Servicezentrale gab ihr den Rat: eine Station weiterfahren, dort funktioniert der Fahrstuhl, und dann mit dem Bus zurückkommen. Müller hat einen durchgetakteten Terminplan. Sie sagt: »So kann ich meinen Alltag nicht normal bestreiten. Ohne Auto hätte ich nach drei Wochen Magengeschwüre.« Stelle ist überall. Nach Angaben der Bahn haben zwar von rund 5400 Bahnhöfen 81 Prozent stufenfrei erreichbare Bahnsteige. Es gibt hier aber einen kleinen Streit um Zahlen und Begriffe. Der Bundesrechnungshof nannte die Darstellung der Bahn in einem Anfang 2023 veröffentlichten Gutachten »euphemistisch«, weil Stufenfreiheit eben nicht alles ist. Zur Barrierefreiheit zählen noch weitere Kriterien, darunter Lautsprecherdurchsagen und taktile Handlaufschriften für Sehbehinderte. Legt man diese Kriterien zugrunde, sind erst 40 Prozent der Bahnsteige weitgehend barrierefrei. Der Bundesrechnungshof schreibt: »Das Bundesverkehrsministerium ist dem eigenen und gesellschaftlichen Anspruch an einen möglichst barrierefreien Schienenverkehr nicht gerecht geworden.« Das spiegelt sich in Umfragen wider. Hierzulande sind zehn Prozent der Bevölkerung in ihrer Mobilität eingeschränkt, etwa weil sie auf einen Rollator oder Rollstuhl angewiesen oder weil sie blind sind. Von ihnen traut sich ein Drittel nicht zu, allein im Alltag unterwegs zu sein oder zu reisen, ergab eine Umfrage der Aktion Mensch. Ebenso viele werden regelmäßig durch defekte Fahrstühle ausgebremst. Schön, wenn blinde Menschen an Bahnhöfen am Geländer ertasten können, dass es etwa nach links zu GLEIS 14 und nach rechts zur KIRCHENALLEE geht. Dumm nur, wenn Teile fehlen, sodass da nur noch, Beispiel Hamburg, »ENALLEE« steht und aus der 14 eine 1 geworden ist. Es braucht nicht nur Barrierefreiheit, sondern auch jemanden, der sie in Schuss hält.

Barrieren im Alltag

Anteil der Menschen mit Behinderung (in Prozent), die sich jeweils »eingeschränkt« oder »sehr eingeschränkt« fühlen

Edina Müller ist querschnittgelähmt, seit sie 16 ist. Damals hatte sie nach einem Volleyballspiel Rückenschmerzen. Ein Orthopäde renkte sie stümperhaft ein. Plötzlich fühlte sie ihre Beine nicht mehr. Sie hätte sofort operiert werden müssen, aber im Krankenhaus war kein Neurochirurg im Dienst, der das erkannt hätte. Man gab ihr Spritzen, am nächsten Morgen war es zu spät. Heute ist Müller 40 Jahre alt und unsere Frau für Olympia. Silbermedaille im Rollstuhlbasketball bei den Paralympics in Peking 2008, Gold 2012 in London, dann Wechsel zum Kajakfahren, Silber 2016 in Rio, Gold 2021 in Tokio, nächstes Ziel: Paris 2024. Müller ist mobiler als die meisten Menschen ohne Behinderung. Sechs Tage pro Woche trainiert sie. Zu Weltmeisterschaften und den Paralympics fliegt sie um die halbe Welt. Mit einem Vorspannbike für den Rollstuhl macht sie Radtouren. Sie hat einen ausrangierten Krankenwagen zum Camper umbauen lassen und verbrachte damit den Sommerurlaub in Holland. Halbtags arbeitet sie als Sporttherapeutin in einer Hamburger Unfallklinik – unter anderem mit Menschen, die nach einem Unfall einen Rollstuhl brauchen. Den Bungalow in Stelle renoviert sie mit ihrem Lebensgefährten Zimmer für Zimmer. Edina Müller ist die Mobilitätswende in Person, aber schon vier Treppenstufen bei der Hautärztin oder am Bahnhof zwingen sie zum Stillstand.


47 In ihrem Wohnzimmer hängt ein Bild von Marilyn Monroe mit einem Zitat: »Nothing lasts forever, so ­live it up, drink it down, laugh it off, avoid the bullshit and ­never ­have any regrets.« Müller setzt einen Kaffee auf und erzählt von Amerika. Sie hat von 2006 bis 2008 an der University of Illinois studiert und dort Rollstuhlbasketball gespielt. »Da drüben machst du dir gar keine Gedanken«, sagt sie, »weil einfach alles rollstuhlgerecht ist.« Geschäfte, Restaurants, Behörden, Schulen, Flughäfen. Mietwagen mit Handsteuerung bekommt man bei allen großen Anbietern ohne Aufpreis. In Deutschland haben Sixt, Europcar und Hertz kein einziges Fahrzeug dieser Art im Angebot. Am 13. März 1990 protestierten in Washington rund tausend Menschen mit Behinderung für ihre Rechte. Am Parlament angekommen, ließen einige von ihnen ihre Rollstühle stehen und robbten die Prachttreppe zum Kapitol hinauf. Der Protest ging als »Capitol Crawl« in die Geschichte ein. Ein paar Wochen später verabschiedete der Kongress den Americans with Disabilities Act (ADA), der sogar Privatunternehmen zur Barrierefreiheit verpflichtet – und die Angelegenheit sehr amerikanisch regelt: Betroffene können vor Gericht einklagen, dass beispielsweise Restaurants, Kinos und Geschäfte Rampen oder Aufzüge für Rollstuhlfahrer sowie barrierefreie WCs installieren. Menschen mit Behinderung erfahren in den USA auch deshalb Respekt, weil so viele Kriegsveteranen unter ihnen sind.

Die USA haben zwar die Behindertenrechtskonvention der UN nicht ratifiziert und befinden sich damit in Gesellschaft von Tadschikistan, dem Südsudan, Bhutan, Eritrea, dem Libanon, Liechtenstein und dem Vatikanstaat. Aber das ADA-Gesetz ist ein scharfes Schwert. Die New York ­Times porträtierte einen 71-Jährigen mit Muskeldystrophie, der in Kalifornien mehr als 180 Klagen angestrengt hat. Und in New York ist gerade eine Sammelklage anhängig, weil die Stadt bei der Sanierung einer U-Bahn-Station in der Bronx keinen Aufzug eingebaut hat. Denn auch in den USA gibt es noch Baustellen. Nur ein Viertel der New Yorker U-Bahn-Stationen ist barrierefrei. Hierzulande hat die Bundesregierung im Personenbeförderungsgesetz von 2013 das Ziel festgeschrieben, dass der öffentliche Nahverkehr bis 2022 barrierefrei sein soll. Hat nicht geklappt. Und jetzt? Liegt halt ein neues Eckpunktepapier der Regierung vor, dem zufolge die im Gesetz erlaubten Ausnahmen bis Ende 2026 gestrichen werden sollen. Es gibt immer einen Plan, aber nie eine Sanktion, das ist das Problem. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist bislang nur ein Drittel der Haus- und Facharztpraxen teilweise barrierefrei. Medizinische Einrichtungen also, an denen Barrierefreiheit höchste Priorität haben müsste. Wie kann das sein? »Die Grundeinstellung bei uns ist eigenartig«, sagt Anieke Fimmen vom Sozialverband Deutschland, einer

So sinkt die Mobilität mit dem Alter

Anteil der Personen, die aus gesundheitlichen Gründen in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Von einer barrierefreien Umwelt profitieren nicht nur sie, sondern auch: Eltern mit Kinderwagen, Schwangere, Kinder, Menschen mit Koffern oder Hunden


48 Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen. »Barrierefreiheit wird bei uns noch zu sehr aus einer sozialrechtlichen Perspektive betrachtet, nach dem Motto: Wir kümmern uns um euch.« Es fehle die Menschenrechtsperspektive: »Wir sind Teil der Gesellschaft und haben genau die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen.« Das ist das Prinzip einer inklusiven Gesellschaft. Anieke Fimmen hatte während der Geburt einen Atemstillstand. Der führte zu Nervenschäden, sodass sie seit der Kindheit nicht gehen kann. Sie hat in den USA Jura studiert und dort ähnliche Erfahrungen gemacht wie Edina Müller. Früher war sie beim Behindertenbeauftragten der Bundesregierung angestellt, und vor Kurzem war sie in Genf als Expertin geladen, als Deutschlands Fortschritte in Sachen Barrierefreiheit begutachtet wurden. Wenn Anieke Fimmen mit der Bahn verreist, muss sie einen Tag vorher anmelden, wohin sie fahren möchte. Am Bahnsteig kommen dann die Leute mit dem Hublift und heben sie mit deutscher Präzisionstechnik in den ICE. »Das bindet Personal, dauert lange und nervt die Wartenden«, sagt Fimmen. In Österreich hat sie erlebt, wie es besser geht. Dort sind die Lifts in vielen Zügen integriert und werden vom Zugpersonal bedient, wenn Fahrgäste mit Rollstuhl mitfahren möchten. Im deutschen Fernverkehr sollten die ICEs der dritten und vierten Generation das eigentlich auch können, aber die Technik war störanfällig und zu kompliziert. Nun

ruht die Hoffnung auf dem ICE-L. Das L steht für »Low Floor«, Niederflur. Die Bahn hat 79 Züge bestellt, die ab Oktober 2024 in Betrieb gehen sollen. Man rollt vom Bahnsteig stufenlos in den Zug – jedenfalls an den großen Fernbahnhöfen. Das Problem im Nahverkehr: Je nach Bahnhof und Gleis sind Deutschlands Bahnsteige entweder 38, 55, 76, 85, 96 oder 103 Zentimeter hoch. Seit 1904 gilt zwar 76 Zentimeter als Regelhöhe, aber irgendwie kam es anders. Gut möglich, dass man am Startbahnhof stufenlos in den Zug rollt und am Ziel nicht herausrollen kann. Außerdem bestelle die Bahn weiterhin zahlreiche Fernverkehrszüge mit Stufen, rügt der Bundesrechnungshof: »Der insgesamt unbefriedigende Zustand wird auf Jahrzehnte hinaus verfestigt.« Hier ein paar gute Nachrichten: Initiativen, Unternehmen, Städte und Gemeinden sowie Privatpersonen treiben die barrierefreie Mobilität voran. In Überlingen am Bodensee hat ein 92-Jähriger einen geländegängigen Rollator mit Elektroantrieb erfunden. »Ich wollte kein alter Mann sein, der Kreuzworträtsel löst und die Sportschau anschaut, anstatt sich zu bewegen«, sagte Gerhard Wissel dem SWR. Seinen Wessel-Alpin-Rollator hat er nun in Kleinserie auf den Markt gebracht – mit Schneeketten-Option. In Berlin zeigt die Graswurzelinitiative brokenlifts.org, welche Aufzüge im ÖPNV defekt sind. In Erfurt haben die Straßenbahnen Außenlautsprecher, sodass sehbehinderte Menschen erfahren, welche Bahn

Anteil der Bahnhöfe mit stufenlos erreichbaren Gleisen 1. Schleswig-Holstein 98% (+1%)

7. Baden-Württemberg 83% (+4%)

13. Thüringen 76 % (+ 3 %)

2. Berlin 92% (0%)

8. Sachsen-Anhalt 82 % (+4%)

14. Rheinland-Pfalz 74 % (+2 %)

3. Mecklenburg-Vorpommern 9. Bremen 81 % (+ 6%) 90% (+ 2%) 4. Niedersachsen 89% (+2%)

10. Sachsen 81 % (+ 5%)

5. Brandenburg 89% (+2%)

11. Nordrhein-Westfalen 79% (+ 3%)

6. Hamburg 84% (+ 5%)

12. Bayern 76% (+3%)

1 9 4

2 5

8

15. Hessen 73 % (+7%) 16. Saarland 60 % (+ 4 %)

3

6

11 15

13

10

14 16

12 7

Bundesdurchschnitt 81 % (+ 4 %)

In Schleswig-Holstein erreichen Rollstuhlfahrer an fast jedem Bahnhof stufenlos die Züge. Das Saarland ist das Schlusslicht (2021, Veränderung zu 2017 in Klammern). Pro Jahr werden 100 von rund 1000 verbleibenden Bahnhöfen barrierefrei umgebaut


49 vor ihnen steht. Anderswo gibt es entsprechende Ansagen an Bushaltestellen. München, Wismar und andere Städte bieten Pläne an, in denen barrierefreie Wege verzeichnet sind. In vielen Regionen sind Taxis unterwegs, die einen Rollstuhl mitnehmen können. Wird die Verkehrswende eine Wende für alle? Robert Follmer hat Zweifel. Er ist Bereichsleiter für Mobilität beim Meinungsforschungsinstitut Infas. So wie viele nichtbehinderte Menschen wurde er erst richtig für das Thema sensibilisiert, als er indirekt selbst betroffen war. Seine Frau ist an Multipler Sklerose erkrankt. Die beiden wollten ein Elektroauto anschaffen und für den Handbetrieb umrüsten lassen. Die Umbaufirmen rieten ihnen ab. Die Ladesäulen! Oft stehen sie auf dem Bordstein, die Displays sind zu hoch, die Parkplätze zu eng. Follmer sagt: »Wir haben das jetzt mit einem Benziner gelöst, was ein bisschen traurig ist.« Unterschiedliche Bahnsteighöhen lassen sich noch mit der 200-jährigen Geschichte von Eisenbahn und Kleinstaaterei entschuldigen. Nur warum wird Barrierefreiheit bei Innovationen heute nicht mitgedacht? E-Scooter werden als Beginn der Mikromobilität gefeiert, aber für Menschen mit Sehbehinderung ist jeder dumm abgestellte Roller eine makroskopische Hürde. Der von Geburt an blinde Journalist und Stadtführer Christian Ohrens erzählt bei einem Rundgang durch Hamburg, dass sehende Menschen ihm sinngemäß gesagt haben, jeder müsse für den Klimaschutz ein Opfer bringen. Er sagt: »Wenn das Opfer gebrochene Knochen sind, dann gute Nacht.« In Bremen hat sich ein sehbehinderter Mann beim Sturz über einen E-Roller den Oberschenkel gebrochen. Das Landgericht wies eine Klage auf Schmerzensgeld ab und urteilte, der Mann hätte seine Geschwindigkeit anpassen müssen.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband fordert, dass die Roller nur auf abgegrenzten Flächen abgestellt werden dürfen. Nach der Wende 1989 war die Mauer aus Beton weg, aber die Mauer in den Köpfen war noch da. So ähnlich ist es mit der Mobilitätswende und der Barrierefreiheit. Die materiellen Barrieren werden weniger, aber die Barrieren in den Köpfen sind noch da. »Da ist der komische Umgang mit Leuten, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind«, sagt die Paralympics-Siegerin Edina Müller. Das Sanitätshaus, das sagt: Wir schicken Ihren Rollstuhl ein, und in drei Wochen haben Sie ihn wieder. Das Wohnungsunternehmen, das angesichts eines kaputten Aufzugs am Freitagabend dazu rät, die 112 zu rufen. Die Krankenkassen, die Querschnittgelähmten das Geld für ein Handbike verweigern. Wie geht es jetzt weiter? Edina Müller fliegt nach Südafrika und trainiert für Olympia. Anieke Fimmen rollt von Sitzung zu Sitzung und rät der Politik, sich mal in Österreich umzusehen. Robert Follmer und Infas wollen Kommunen dabei helfen, die Perspektive von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen. Die Deutsche Bahn teilt mit, der Bahnhof Stelle werde 2026 barrierefrei ausgebaut. Der Bundesgesundheitsminister hat soeben einen Aktionsplan für ein barrierefreies Gesundheitswesen vorgestellt. Christian Ohrens will dafür kämpfen, dass blinde Menschen endlich ohne Begleitperson Achterbahn fahren dürfen. Die nächste Begutachtung durch den Menschenrechtsausschuss der UN ist für 2031 angesetzt. Max Rauner dankt Mercedes Seidel und Oliver Simon, die ihn zu einem Mobilitätstraining für Sehbehinderte in den Bremer Hauptbahnhof mitgenommen haben.

Woher weißt du das? Illustration: Lea Dohle

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er es mit deutschen Behörden zu tun hat, kann verzweifeln. Das weiß auch Bundesjustizminister Marco Buschmann, der bürokratischen Hürden nun offiziell den Kampf angesagt hat. Wie ernst er es meint, erkennt man an den juristischen Geschützen, die er auffährt: ein Eckpunktepapier, im Oktober dieses Jahres, und ein weiteres Bürokratieentlastungsgesetz. Moment. Ein was? Lassen Sie sich den Begriff bitte kurz auf der Zunge zergehen: Bürokratieentlastung – soll hier etwa die Bürokratie entlastet werden? Wahrscheinlich nicht. Wir hätten da also einen kleinen Vorschlag: Wer bürokratische Hürden einreißen will, sollte vielleicht bei der ersten anfangen – der Sprache. Sprache, sagt der Philosoph John ­Searle, funktioniere, so wie ein Spiel, nach Regeln. Nur wenn wir uns an diese Regeln halten, können wir mit­ein­an­der spielen. Wenn man jedoch Post vom Amt bekommt, könnte man meinen, die Behörde wollte gar nicht mit einem spielen. Ob Steuerbescheid oder Aufforderung zur Corona-Impfung – Umfragen in Deutschland zeigen immer wieder, dass die Bürger ihren eigenen Staat nicht verstehen. Dabei sind seit September 2020 alle Behörden laut einer EU-Richtlinie verpflichtet, ihr Informationsangebot barrierefrei zu gestalten. Also ohne Hürden. Bald soll es sogar eine international geltende Norm für einfache Sprache geben, Ziffer DIN ISO 24495-1.

Eine Armee von Redakteurinnen und Redakteuren überführt seither Mitteilungen, Anschreiben und Anträge in sogenannte bürgernahe Sprache, will heißen: in verständliche. Auch ich war für einige Zeit Teil dieser Armee. Ich habe Tag für Tag komplizierte Passivformulierungen entzerrt, veraltete Wörter ins 21. Jahrhundert geholt und endlose Paragrafenangaben gestrichen. Das »Beratungsgespräch für den Antrag auf Erteilung einer wasserrechtlichen Genehmigung nach § 68 Wasserhaushaltsgesetz (WHG) zur Errichtung eines Kleingewässers mit Grundwasseranschluss« erfolgt dann nicht mehr »fernmündlich«. Stattdessen »beraten wir Sie gerne per Telefon, wenn Sie einen Teich in Ihrem Garten genehmigen lassen wollen«.

NIEMAND VERSTEHT EUCH Wer Bürokratie abbauen will, muss mit der Sprache beginnen. Amtsdeutsch, unverständliche Formulare und Monsterwörter stehen Deutschland im Weg Text Johanna Michaels

Illustration Philotheus Nisch


51 Solche Monsterkonstruktionen zu übersetzen, hat etwas Befriedigendes – so wie einen vor Dreck starrenden Teppich mit Hochdruckreiniger zu bearbeiten. Dadurch kommen unter dem Schmutz die bunten Farben zum Vorschein, umständliche Schachtelsätze verschwinden, und es wird klar, was der Staat uns eigentlich sagen will. Dass sich dieser Aufwand tatsächlich lohnt, zeigt eine Pilotstudie, die das LeibnizInstitut für Deutsche Sprache 2021 im Rahmen des Projekts »Bürgernahe Sprache in der Finanzverwaltung« durchgeführt hat. In einer Online-Umfrage konnten Teilnehmer verschiedene Texte bewerten, die den Einkommensteuerbescheid und die Grundsteuer erklärten. Auf der einen Seite waren Texte, wie wir sie von Finanzämtern gewohnt sind. Auf der anderen eine überarbeitete Fassung mit Erklärung von Fachbegriffen und kürzeren Sätzen, formuliert in direkter Ansprache. Fast 3000 Menschen nahmen an der Umfrage teil, mehr, als die Forschenden erwartet hatten. Und gut 70 Prozent von ihnen kamen mit den überarbeiteten Texten besser zurecht. Eine Person kommentierte: »Perfekt. Zu schön, wenn das Realität würde ...« Doch warum gibt es diese komplizierte Sprache überhaupt, und warum fällt es den Behörden so wahnsinnig schwer, sie den Abfluss hinunterzuspülen? Ein Teil der Antwort liegt in der Tra­di­ tion Preußens begraben, bei den Anfängen des modernen Sozialstaates. Sprache ist ein mächtiges Werkzeug, das war sie schon immer. Nur wer die Sprache der Obrigkeit beherrscht, hat auch was zu sagen – das galt sowohl für die lateinische Messe in der Kirche als auch für den Besuch bei der Behörde. Gott sprach: Es werde Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung. Und es wurde Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung. Es ist daher wohl kein Zufall, dass bürokratische Begriffe wie »Vollstreckungsmaßnahme« an mittelalterliche Foltermethoden erinnern. Werdet bloß nicht frech, Bürger! Der andere Teil der Antwort liegt in den Adressaten, an die sich Behördensprache bis heute in erster Linie richtet. In einer barrierefreien Welt ohne bürokratische Hürden wären das die Bürger, für die der Staat seine Leistungen ja eigentlich anbietet.

Begriffe aus dem Verwaltungsdeutsch wie »Körperschaftsteuer«, »Verstrickungsbruch« oder ­»Vollstreckungs­ maßnahme« erinnern an mittelalterliche ­ Foltermethoden. Das ist kein Zufall In der Realität ist es die Bürokratie selbst. Texte werden in einer Behörde reflexartig nicht möglichst verständlich, sondern möglichst rechtssicher formuliert. Auch dann, wenn sie gar nicht vor Gericht Bestand haben müssen, wie beispielsweise Infotexte. So ist am Ende doch wieder von einem »Kleingewässer mit Grundwasseranschluss« die Rede, denn wer will schon Verantwortung dafür übernehmen, was im Einzelnen alles als »Teich« gelten darf? »Dafür bin ick nich zuständig, Mausi«, würde wohl »Amtsfluencerin« Conny from the Block sagen, die während Corona mit Parodien auf ihren Behördenarbeitsalltag bekannt wurde. Dabei sollte Rechtssicherheit hier nebensächlich sein. Schonungslose Bürgerdialoge und lockere Gespräche an der Bratwurstbude – Politiker versuchen vieles, um uns das Gefühl von Teilhabe in unserer Demokratie zu vermitteln. Doch der Gang zum Bürgeramt bleibt für die meisten von uns der direkteste Kontakt zum Staat und kann somit auch unsere Einstellung zu ihm nachhaltig prägen. Wie unterschiedliche Behördensprachen auf Bürger wirken, haben die Linguisten Steffen Eckhard und Laurin Friedrich in einer Studie untersucht. Dazu haben sie 1400 repräsentativ ausgewählten Personen in Deutschland Tonaufnahmen von (hypothetischen) Behördeninteraktionen vorgespielt. Anschließend sollten die Teilnehmer bewerten, wie zufrieden sie mit dieser Interaktion gewesen wären. Die These der Linguisten: Dass uns Termine bei Behörden oft unangenehm sind, habe zwei Gründe. Erstens kennen wir uns in der Verwaltung meist nicht gut aus, die Mitarbeiter vor Ort aber schon. Wir müssten ihnen also wohl oder übel das Ruder überlassen, weil wir jemanden brauchen, der

uns Schritt für Schritt die Bürokratie hinter der Leistung erklärt – am besten in verständlicher Sprache. Rein informativ. Der zweite Grund für unser Unbehagen: Die Mitarbeiter einer Behörde vertreten eine Institution, die greifbar Macht über uns ausüben kann, indem sie einfordert, genehmigt, vollstreckt. Diese Ebene ist ziemlich emotional und so real, dass sie sich nicht einfach über eine DIN ISO 24495-1 wegnormieren lässt. Für ihre Studie variierten die Forscher systematisch die Tonaufnahmen. Zum einen änderten sie, wie einfach und transparent die (hypothetische) Behördenmitarbeiterin sprach. Und zum anderen, wie viel Empathie und Unterstützung sie zeigte. Ergebnis: Wie zu erwarten, wirken sich Verbesserungen in beiden Bereichen auf die Zufriedenheit der Teilnehmer aus. Und beim rein Informativen tut sich in der Praxis ja auch schon etwas. Siehe die Scharen von Redakteuren wie mir damals, die Sprachteppiche der Behördenleistungen mit dem Hochdruckreiniger bearbeiten. Doch die Studie kam noch zu einem überraschenden zweiten Schluss: dass die informative Ebene gar nicht so entscheidend ist. Viel mehr Einfluss auf die Zufriedenheit der Teilnehmer hatte es, ob sie die Behördenmitarbeiterin als empathisch und hilfsbereit empfanden. Oft suchen wir ja dann Hilfe beim Amt, wenn es um Existenzielles geht. Das Gegenüber entscheidet darüber, ob ich meine Wohnung weiter finanzieren kann oder nächste Woche auf der Straße sitze. In so einer verwundbaren Situation macht es einen großen Unterschied, ob ich das Gefühl habe, dass mich die »Sachbearbeiter« verstehen und unterstützen – oder nicht. Der Effekt empathischer Sprache konnte bei der Studie teilweise sogar negative Entscheidungen der Behörden ausgleichen. Bei einer netten Mitarbeiterin waren die Teilnehmer auch dann noch zufriedener als bei einer unsympathischen, wenn sie die Leistung gar nicht bekommen hätten. In dem Spiel der Sprache, das der Philosoph ­Searle beschreibt, entspricht jeder Spielzug einem Sprechakt. Wenn die Bürokratie also mit uns spielen möchte, sollte sie etwas netter mit uns reden. Dann haben alle Beteiligten mehr Freude. Die, die ausschließlich auf die Regeln achten, hatten es schon immer schwer, Spielkameraden zu finden.


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JA, ICH WILL! ODER DOCH NICHT? Wie erkennt man den richtigen Moment, eine Entscheidung zu treffen? Psychologie, Entscheidungsforschung und Spieltheorie wissen Rat. Das Geheimnis liegt im Vertrauen

Text Corinna Hartmann und Sven Stillich

Illustrationen Marc Long


U

nschlüssig steht der Esel vor zwei Heuhaufen. Seit Stunden blickt er von einem zum anderen und zurück und fragt sich: Welchen Haufen soll ich fressen? Immer hungriger ist er dabei geworden. Doch auf beiden Seiten sieht das Heu gleich lecker aus. Auch ist der linke Haufen genauso weit weg wie der rechte. Keiner erscheint besser als der andere! Am Ende ist der Esel tot. Er ist verhungert. Das ist die traurige Geschichte von Buridans Esel. Erdacht haben soll sie der Philosoph Johannes Buridan im 14. Jahrhundert – und natürlich geht es darin um die Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Der Esel kommt darin nicht besonders gut weg. Doch Vorsicht: Ein bisschen Esel steckt in den meisten Menschen, gerade wenn es um große Entscheidungen geht, wenn die Zukunft zur Wahl steht. Wenn wir nicht absehen können, was uns erwartet, nachdem wir uns entschieden haben. Und wir niemals wissen werden, ob die andere Entscheidung doch die bessere gewesen wäre. Das Erstaunliche: Das Einzige, an dem es dem Esel gemangelt hat, ist – Vertrauen. Das allerdings kommt in vielen Formen daher. Zum Beispiel als Vertrauen in

53 Weil er darauf vertraut, dass andere in seinem Sinne handeln, dass sie Lösungen finden werden für seine oder für gesellschaftliche Probleme, dass sie ihn nicht übers Ohr hauen werden. Wer vertraut, delegiert Komplexität, lässt los. Das macht das Leben einfacher. Aber natürlich: Ein Risiko bleibt, dass man die falsche Entscheidung trifft. Dass man den Heuhaufen wählt, der im Inneren faul ist. Das scheint der richtige Zeitpunkt, mit jemandem zu reden, der sich mit so etwas gut auskennt. Mit dem Entscheidungsforscher Gerd Gigerenzer. »Wir brauchen Vertrauen, besonders in Situationen von Ungewissheit«, sagt er. »Denn fast jede Lebensentscheidung treffen wir unter Unsicherheit: Wir haben nicht alle Informationen zur Verfügung und müssen ins Risiko gehen.« Drei Beispiele: Wenn wir uns verlieben, ist das erst einmal ein Ereignis, keine bewusste Entscheidung – ein Paar zu werden hingegen ist eine Wahl. Und wir wissen vorher nie, ob das eine gute Entscheidung ist, ob der andere Mensch also wirklich passt. Genauso ist es, wenn wir uns mit dem Gedanken tragen, uns zu trennen. Da stehen wir vor dem Heuhaufen »Freiheit« und einem Haufen, der aus »Halt« und »Erinnerungen« besteht. Was nun? Ein anderer Lebensbereich: Sie bekommen in

Fast jede Lebensentscheidung treffen wir unter Unsicherheit. Wir haben nicht alle Informationen, müssen ins Risiko gehen das, für das man sich entscheiden möchte: Ich vertraue dem Heuhaufen, dass er lecker sein wird. Das ähnelt dem Urvertrauen, dass alles gut werden wird, es ist mit der Hoffnung verwandt. Dazu gesellt sich das Vertrauen in die noch zu treffende Entscheidung: Der andere Heuhaufen wird vielleicht leckerer sein, aber auch dieser wird mir gut schmecken – und satt macht er mich auch. Und schließlich gesellt sich dazu das Vertrauen in sich selbst: Ich bin in der Lage, eine gute Entscheidung zu treffen – und das, bevor mir der Magen bis zu den Hufen hängt. Das Entscheidende ist: Für jede Wahl gibt es einen guten Zeitpunkt, selbst wenn man unter Termindruck steht oder sich einem Ultimatum nähert. Nur: Wie findet man diesen heraus? Der arme Esel hat ihn offensichtlich verpasst. Wir setzen unsere ganze Hoffnung in die Wissenschaft. Die kommt sofort wieder auf das Vertrauen zurück. »Vertrauen reduziert Komplexität«, so kann man den Soziologen Niklas Luhmann zitieren. Das ist ein wertvoller Satz. Er meint: Der Mensch kann nicht in die Zukunft schauen, und das könnte ihn lähmen; wenn er aber vertraut – zum Beispiel anderen Menschen oder Institutionen –, dann wird er wieder handlungsfähig.

einer anderen Stadt einen Job angeboten, der Sie reizt. Sie leben aber gerne hier, wo Sie Freunde haben, vielleicht sogar mehr als das. Beide »Haufen« sind genau gleich. Wie entscheiden? Gigerenzer sagt: vor allem bald. »Wenn ich eines aus meiner langjährigen Forschung gelernt habe, dann, schnell zu entscheiden.« In einer ungewissen Welt, in der nie alle Daten zur Verfügung stehen, seien die verfügbaren Fakten oft rasch gesammelt. Google sagt: Ja, in der neuen Stadt regnet es mehr. Das Leben sagt: Nein, die neue Freundin wird nie so witzig sein wie die Verflossene. Die Sache noch monatelang zu drehen und zu wenden führe fast nie zu einem besseren Entschluss. Das Heu wird nicht frischer. In diese Falle jedoch tappen Maximizer. Das ist der Typ Mensch, der aus jeder Entscheidung das Beste herausholen will, aber stets befürchtet, irgendwo warte noch eine bessere Alternative – ob bei der Suche nach dem günstigsten Stromtarif, der schönsten Jeans oder dem am besten geeigneten Partner. »Entscheidungen immer weiter optimieren zu wollen ist jedoch ein Rezept zum Unglücklichsein«, sagt Gigerenzer, »diese Leute treffen so gut wie nie eine Entscheidung.« Ganz anders


54 lebt der Typ Satisficer. Er ist schnell zufrieden, freundet sich einfach mit der ersten Option an, die seinen Ansprüchen genügt. Und bleibt dabei. Die beiden Entscheidungstypen Maximizer und Satisficer unterscheiden sich in etwas, das Forschende »Stopping-Regel« nennen – dem Zeitpunkt, an dem sie sagen: Jetzt weiß ich genug. Jetzt traue ich meiner Wahl. »Was uns helfen kann, uns gut zu entscheiden, ist unsere Intuition«, sagt Gigerenzer. Die sei erstaunlich treffsicher und schlage das rationale Abwägen zuweilen. Und, praktisch: Man kann ihr auf die Sprünge helfen. »Werfen Sie eine Münze«, rät er – sobald sie durch die Luft wirbelt, wisse man oft genau, welche Seite oben landen soll. Das Gute: Man muss sich ja nicht an das halten, was die Münze für das Richtige hält. Wenn es darum geht, herauszufinden, was man wirklich will, ist das Fühlen dem Denken überlegen. Das sagen auch Psychologen. Sie erforschen die Kluft zwischen unseren unbewussten Wünschen und dem, was wir zu wollen glauben. Da kann die Fantasie helfen und das Grübeln beenden. Stellen Sie sich vor, Sie wachen nach dem hypothetischen Umzug morgens auf in Ihrer neuen Stadt. Wie fühlt sich das an in Ihrer Imagination? Die Emotion, die sich dabei spontan einstellt, kann

fühlt sich meist an wie ein Sprung ins Ungewisse, ein leap of faith. Es bleibt nur die Hoffnung, aufgefangen zu werden. Diese Hoffnung steht auch am Anfang der Geschichte des Vertrauens. Ein Wort dafür haben wir schon sehr lange: Sih fertrûen gab es bereits im Althochdeutschen vor mehr als tausend Jahren. Doch als der Begriff im späten 18. Jahrhundert seine steile Karriere beginnt, existiert erst einmal nur ein sicheres Vertrauen – das von Christen zu Gott, so wie es in der Bibel steht: »Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen, und nicht sich verlassen auf Menschen.« Das erste rein menschliche Vertrauensverhältnis ist das zwischen Arzt und Patient. Später kommen der Kaufmann und der Kunde ins Spiel – dann geht der Begriff ins Private über: Eine »echte Freundschaft« ist ohne Vertrauen nun nicht mehr denkbar. Im 20. Jahrhundert wird Vertrauen zur Währung – in der Wirtschaft, in Politik und Gesellschaft. Die neue Definition »entließ Vertrauen aus dem engen Reservat persönlicher Interaktionen und injizierte es in sachliche Beziehungen und abstrakte Organisationen«, schreibt Ute Frevert in ihrem Buch Vertrauensfragen. Am Anfang war das Verhältnis zu Gott, 1995 wirbt die Deutsche Bank mit »Vertrauen ist der Anfang von allem«.

Vertrauen war anfangs das Vertrauen zu Gott. Heute ist es ein Kapital, mit dem sogar Banken Werbung machen sehr aufschlussreich sein: Ist es Abenteuerlust? Oder Einsamkeit? Manchmal regt sich das Bauchgefühl erst auf die richtige Frage hin: Wenn ich krank werden würde, sollte er an meinem Bett sitzen? Wenn mich etwas wirklich an ihr stört – habe ich Hoffnung, dass sie sich ändert? Und wenn sich immer noch nichts regt, könnte man mit Albert Camus eine große Frage stellen: Entscheide ich mich gerade für oder gegen das Leben? Was ist, ganz ehrlich, meine Angst? Oft ist es in Wahrheit ein Gefühl, das Menschen lähmt wie den Esel, nicht das Pro und Contra, das sich scheinbar die Waage hält. Gerd Gigerenzer hat einen Tipp, wie man es auf die Probe stellt: »Aktivieren Sie die gegenteilige Emotion, und schauen Sie, was passiert.« Lauern Selbstzweifel hinter dem Zögern, ein Jobangebot anzunehmen? Scham? »Dann ersetzen Sie Selbstzweifel durch Stolz darauf, dass man Sie unbedingt für den Job möchte! Und erinnern Sie bitte, was Sie schon alles geschafft haben!« Gegen Ohnmacht hilft Wut. Bei Angst kann man sich Neugier zunutze machen. Am Ende hilft es nichts: Wir müssen vertrauen, wenn wir eine Entscheidung treffen. Doch oft fürchten wir uns vor dem Moment, an dem wir vertrauen. Der

Vertrauen ist heute ein Kapital. Und die Spieltheorie behauptet sogar: Das richtige Maß an Vertrauen lässt sich berechnen. Die Spieltheorie ist die Wissenschaft der Strategie und des Konflikts. Ihre Modelle simulieren auch Begegnungen zwischen zwei Menschen. Und sie ermitteln, mit wie viel Vertrauen die beiden am erfolgreichsten sind. Die Spieltheorie fragt also kühl: Wann ist es klug, anderen Menschen zu vertrauen? Und wann sollte ich besser auf der Hut sein? Ein »Spiel« meint in der Spieltheorie eine Situa­tion, in der ich mich entscheiden muss. Der Clou: Mein Erfolg hängt in dem Spiel nicht allein von mir ab, sondern auch davon, wie mein Mitspieler reagiert – ob er es gut mit mir meint oder nur mit sich. In diesem »Vertrauensspiel« treten zwei Spieler gegeneinander an. »Vertrauen« heißt in dem Experiment, dem anderen Spieler eine Münze zu geben in der Hoffnung, dafür zwei Münzen zurückzubekommen – also einen Gewinn zu erzielen. Der andere Spieler kann das Vertrauen aber auch missbrauchen und die Münze einfach einsacken. Daraufhin könnte Spieler eins sich weigern, seine Münze überhaupt herzugeben. Das wird Zug um Zug wiederholt. Jedes Mal steht zur Wahl: Vertrauen oder nicht?


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DIE SERIE IN ZEIT WISSEN

Lebensentscheidungen 1. TEIL: SOLL ICH DAS JETZT DURCHZIEHEN? Warum Nein oft die bessere Antwort ist (Heft 5/23, nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv) 2. TEIL: DAS MACHEN WIR JETZT! Auch Gesellschaften können radikale Entscheidungen treffen, die allen nützen (Heft 6/23, nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv) 3. TEIL: KANN ICH DIR VERTRAUEN? (in dieser Ausgabe)


56 Wer hier im falschen Moment vertraut, verliert nicht nur Geld – er muss auch mit dem schmerzhaften Gefühl klarkommen: Ich wurde geprellt. »Vertrauen heißt, sich zu exponieren und jemandem die Chance zu geben, mich auszunutzen«, sagt der Verhaltensökonom Benedikt Herrmann, der an der Harvard Universität und der Universität Nottingham zu Vertrauen geforscht hat. Herrmann hat mit Experimenten unter anderem Vertrauen und Argwohn in verschiedenen Nationen untersucht. Wenn niemand dem anderen über den Weg traut, gehen auch im Vertrauensspiel beide leer aus. »Aber wenn es gut geht, dann schaffen wir einen gegenseitigen Gewinn.« Eine glückliche Beziehung zum Beispiel. Oder einen florierenden Handel. Zwischen Menschen oder Staaten. Am erfolgreichsten sind dabei zwei Spieler, die sich stets vertrauen. Nur: Sobald wir es mit einem weniger harmlosen Gegenüber zu tun haben, versagt die »Vertraue immer«Strategie. Zum Glück kennt die Spieltheorie die effektivste Taktik: tit for tat, »wie du mir, so ich dir«. Diese Taktik siegt im Vertrauensspiel oft, ganz gleich, an wen wir geraten. Sie setzt auf »flexibles Wohlwollen«: Wir vertrauen dem Gegenüber erst einmal – bis wir reingelegt werden. Danach kopieren wir stoisch in jedem Zug

über Spieler zwei nichts, im echten Leben kann man Informationen über die Person sammeln, der man sein Vertrauen schenken möchte. Muss man sogar. »Blindes Vertrauen ist kein Vertrauen, sondern Unvernunft«, sagt Benedikt Herrmann. »Man sollte ein Gefühl dafür bekommen, mit wem man es zu tun hat. Und am meisten lernt man über einen Menschen, wenn man ihn in seinem sozialen Umfeld beobachtet« – unter Freunden, in lockerer Atmosphäre. Die Psychologie spricht von »schwachen Situationen«, in denen das wahre Ich zum Vorschein kommt. Besonders aufschlussreich sind Leute, die diesen Menschen lange kennen. Was sagen die über ihn? Welche alten Geschichten erzählen sie nach drei Gläsern Bier? »Einer der wichtigsten Indikatoren für Vertrauenswürdigkeit ist der Ruf im engen sozialen Umfeld«, sagt der Verhaltensökonom. »Das System der sozialen Reputation verhindert, dass jeder jeden über den Tisch ziehen kann.« Denn spricht sich Negatives herum, bleibt immer was hängen. Bevor das passiert, kommt Felix Braun ins Spiel. Er leitet die Universalschlichtungsstelle des Bundes. Auch aus deren Praxis kann einiges lernen, wer vor einer Lebensentscheidung steht und sich fragt, wann und wie man sich entscheiden soll. Die Schlichtungsstelle ist

Blindes Vertrauen ist kein Vertrauen, sondern Unvernunft, sagt der Verhaltensökonom. Besser ist die »tit for tat«-Strategie das Verhalten des anderen. Ist der andere nett, sind wir es auch. Legt dieser uns wieder rein, ist Schluss mit lustig – bis der andere wieder kooperiert. Die Verhaltensökonomie rät also: Vertraue. Wird aber dein Vertrauen missbraucht, ziehe sofort Konsequenzen. Diese Taktik kann bei Lebensentscheidungen helfen. Denn auch wenn es so erscheinen mag: Diese bestehen meist nicht nur aus einer einzigen Weichenstellung, sondern aus einer Abfolge kleinerer Vertrauensgeschenke. Wir sind keine Esel, bei uns gibt es nicht nur zwei Heuhaufen. Unsere Lebensentscheidungen sind Prozesse. Ich ruf dich an. – Schön, dass du dich bei mir gemeldet hast. Wollen wir ins Kino morgen? – Würdest du mir zuhören, ich weiß gerade nicht weiter? – Das war ein schöner Spaziergang. Kommst du noch mit hoch? Es empfiehlt sich also nicht, auf den perfekten Zeitpunkt für eine wichtige Entscheidung zu warten – jeder Zug im großen »Vertrauensspiel« ist ein Moment der Prüfung und der Entscheidung: Will ich weiterspielen oder nicht? Schließlich ist das Labor nicht die Straße, die Spielregeln im Leben sind selten klar. Oft ist nicht mal sicher, welches Spiel gerade gespielt wird. Noch ein großer Unterschied: Im Vertrauensspiel weiß Spieler eins

dafür da, zwischen Firmen und Verbrauchern zu vermitteln, wenn es einen Streitfall gibt und die beiden Parteien sich nicht allein haben einigen können. Die Teilnahme ist für beide Seiten freiwillig. Das heißt: Wenn ein Verbraucher und ein Unternehmen in die Schlichtung gehen, erkennen beide Seiten an, dass der andere ein Problem hat, das ernst zu nehmen ist. »Es ist für den Prozess sehr wichtig, dass die Parteien wieder Vertrauen zueinander aufbauen«, sagt Braun, »und die Grundlage dafür zu sehen: Die Gegenseite hat ein Interesse, mit mir zu reden.« Um das ins Private zu übersetzen: Dass sich alle Beteiligten ernst genommen fühlen, ist auch wichtig, wenn es zum Beispiel um wichtige Entscheidungen in der Familie oder in Freundschaften geht. Denn nur fester Boden bleibt stabil, wenn es mal wackelig wird. Bei der Universalschlichtungsstelle geben die Parteien erst einmal Stellungnahmen ab und reagieren auf die Sichtweisen der Gegenseite. Wieder ins Reden zu kommen ist zentral. »Oft steckt hinter dem Vertrauensverlust eine grundlegende Störung des Verhältnisses«, sagt Braun. Besonders bei Parteien, die auch weiterhin miteinander zu tun haben werden – Mieter und Ver-


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mieter etwa –, muss auch geklärt werden: Wie wollen wir in Zukunft miteinander umgehen? Was ist unsere gemeinsame Ebene? »Da müssen Verbraucher manchmal lernen: Nur weil ich der kleinere Partner bin oder mich so fühle, habe ich nicht immer recht«, sagt Braun – »das gilt aber natürlich auch umgekehrt.« Schlichtungen klappen nicht immer, die meisten Fälle landen nicht einmal bei Felix Braun. Weil den Verbrauchern der Aufwand zu hoch scheint. Weil sie nicht noch mehr Zeit investieren wollen. »Es ärgert sie etwas«, sagt Braun, »aber sie ahnen: Wenn sie das weiterverfolgen, könnte es sie noch mehr ärgern. Wir nennen das rationales Desinteresse.« Nee, lass mal. Ich bin raus. Das könnte heißen: Ich höre auf, über den Job nachzudenken, ich bin hier auch ganz zufrieden. Ich schreibe der Frau, die sich nie von sich aus meldet, keine Nachrichten mehr. Über das Leben zu entscheiden kann auch heißen: das Leben weiterzuleben, das man bereits hat. Felix Braun und seine Leute freuen sich immer besonders, wenn eine Schlichtung gelingt. Wenn beide Parteien den Zeitpunkt erkennen, der gut ist für eine Entscheidung. »Das ist der Moment, an dem zweierlei passiert«, sagt Braun: »Erstens können sich beide nun wieder vertrauen. Und zweitens haben die Kontrahenten mit der Schlichtung für sich etwas sehr Wichtiges erkannt: Diese Einigung ist nicht zwingend für mich das Maximum – aber für uns beide.« Ein »Nicht-Nullsummenspiel« ist das, so nennt es die Spieltheorie: Beide gewinnen nicht alles, aber sie gewinnen. Vertraue darauf, dass dich der Heuhaufen, für den du dich entscheidest, satt machen wird. Er ist vielleicht nicht der maximal leckerste, aber er ist der beste Heuhaufen, den du gerade kriegen kannst. Also nimm ihn. Und, für die erste Zeit nach der Entscheidung: Wenn du nicht mehr genau nachvollziehen kannst, wie du zu deiner Wahl gekommen bist – bleib trotzdem dabei. Grüble nicht. Denn, um noch einmal den Soziologen Niklas Luhmann zu zitieren: »Die Entscheidung verhüllt das Entscheidende.« Oft ist es so: Man denkt und hadert und macht Listen mit dem Pro und Contra und fragt Freundinnen und Freunde – und dann steht man unter der Dusche und weiß plötzlich, was zu tun ist. Als hätte der Moment für die richtige Entscheidung sich selbst gesucht und gefunden. Vertrau auf dich, und halte an diesem Vertrauen fest, auch wenn es Zweifel gibt: Diese Erkenntnisse hätten dem Esel geholfen, sich zu entscheiden. Um dann vielleicht, wenn keiner guckt, auch mal von dem anderen Haufen zu naschen. Denn egal, wie groß die Entscheidung ist: Das Leben geht ja weiter. Corinna Hartmann und Sven Stillich haben sich nach diesem Artikel vorgenommen, möglichst nicht mehr lange zu fackeln, wenn es darum geht, Autorenkästen zu formulieren. Sonst dauert das nämlich immer entschieden zu lange.

Ein Job mit Sinn: Weil jede Stunde zählt Was ist dir wichtig, wenn du an deine berufliche Zukunft denkst? Willst du Wertschätzung als Mensch erfahren? Brauchst du Sinn im Arbeitsalltag? Liebst du Gestaltungsfreiheit und Dynamik? Dann könnte jetzt der Zeitpunkt sein, dich beruflich neu zu orientieren. Elias (35 Jahre, im Bild oben) ist Sport- und Theaterlehrer im Seiteneinstieg. Als ehemaliger Schauspieler und Sportwissenschaftler hat er seine Ausbildung zum Waldorflehrer berufsbegleitend absolviert. Er sagt: » ›Jede Stunde zählt‹ heißt für mich, Momente und Erlebnisse für die Schüler:innen zu schaffen, in denen sie sich weiterentwickeln.« Mit einer wissenschaftlichen Ausbildung als Basis kannst du dich als Seiteneinsteiger:in zur Waldorflehrkraft weiterbilden und anschließend als Lehrer:in an einer Waldorfschule arbeiten. Welche Vorteile das mit sich bringt? • •

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Deine Arbeit ergibt einen Sinn: Du begleitest junge Menschen dabei, selbstständige Individuen zu werden und ihren Platz in der Welt zu finden. Du nutzt jede Stunde sinnvoll – für die Vermittlung von Wissen und Bildung, insbesondere aber für die persönlichen Entwicklung und die Ausbildung individueller Stärken deiner Schüler:innen. Dein Job ist nachhaltig. Ganz nach dem Motto »Jede Stunde zählt«. Denn deine Schüler:innen werden ein Leben lang davon profitieren, was du sie gelehrt hast. Du wirst Teil einer weltweiten Community mit demselben Anliegen. Du erfährst Wertschätzung – denn du wirst an deinem Arbeitsplatz gebraucht. Du bist flexibel und nicht ortsgebunden: Waldorflehrer:innen können in ganz Deutschland arbeiten, aber auch auf der ganzen Welt.

BUND DER FREIEN WALDORFSCHULEN E. V. Stuttgart / Berlin E-Mail: pr@waldorfschule.de www.jedeStundezählt.de


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DAME, KÖNIG, POLITIK

Text Erich Follath

Fotos (i. U.): Mauritius Images; pa_dpa; Getty Images; Imago

Sind Schachspieler die besseren Politiker? Unser Autor erinnert sich an seine Partien gegen Figuren der Weltgeschichte


U

m das Schachspiel ranken sich viele Legenden, und das fängt schon bei seiner Entstehungsgeschichte an. Die einen vermuten die Ursprünge im alten Persien, der Begriff leitet sich ihrer Meinung nach von »Schah« ab, dem Titel der Regenten, daher auch »königliches Spiel«. Die anderen glauben, dass Schach in Indien erfunden wurde, Anfang des 4. Jahrhunderts nach Christus. Ein Herrscher namens Shihram war demnach seiner verlustreichen Feldzüge müde geworden und suchte einen »zivilen« Kriegsersatz. Als ihm von einem intellektuellen Priester die Figuren und Spielregeln auf den 64 Feldern nahegebracht wurden, war er begeistert – und fortan ein anderer Mensch. Der Schach-Erfinder durfte sich eine Belohnung wünschen. »Ich hätte gern ein Reiskorn auf dem ersten Feld, dann zwei auf dem zweiten und jeweils dann das doppelte auf den nächsten«, sagte der Brahmane. Der König wunderte sich über so viel Bescheidenheit, versprach die Erfüllung – und war völlig konsterniert, als ihm sein Wirtschaftsminister nach einigen Stunden sagte, so viel Reis gebe es im gesamten Königreich, ja auf der ganzen Welt nicht. Moderne Wissenschaftler haben das später bestätigt und beziffert: 79 Billiarden, 792 Billionen, 266 Milliarden, 297 Millionen, 612.001 Körner hätten dem Erfinder zugestanden. Der Minister hat der Legende nach seinem König aus der Verlegenheit geholfen und ihm geraten, er solle den Brahmanen-Priester doch einfach Korn für Korn nachzählen lassen. So weit er komme. Auch die Möglichkeiten beim SchachSpielverlauf gehen ins Unermessliche. Schon nach drei Zügen sind mehr als zwei Millionen Stellungen möglich, insgesamt können es weit mehr als Atome im Weltall werden – eine geheimnisvolle, sich jeglichem Denken entziehende Zahl. Für uns Schachbegeisterte bedeutet das konkret, dass auch bei aller inzwischen angehäuften Eröffnungstheorie irgendwann etwas Unerwartetes eintritt, dass keine Partie wie die andere verläuft. Und dabei ist der Kampf immer auch mehr als nur ein Spiel: Es ist eine Auseinandersetzung um Schlagen und Geschlagenwerden, intellektueller Triumph oder eingestandenes Versagen, ein friedliches,

59 aber oft auch unbarmherziges Messen mit einem gegnerischen Ego. Ein »Matt« ansagen, ein »Patt« erzwingen, ein »Bauernopfer« erbringen, »Zugzwang« ausnutzen – viele durchaus martialische Begriffe aus dem Schach haben es über die Jahrhunderte in die Umgangssprache geschafft. In der Frühzeit und im Mittelalter blieb das Spiel überwiegend den privilegierten Klassen vorbehalten. Das änderte sich in aufrührerischen Zeiten. »Im Vorfeld der Französischen Revolution gab es eine sehr enge Verbindung zwischen Schach und Politik«, schreibt der Chess­Base-­Autor André Schulz in seinem Essay Schachspieler regieren. »Im Café de la Re­gence von Paris trafen sich Vordenker wie Vol­ taire, Rousseau und Dide­rot zum Spiel.« Und auch Benjamin Franklin, der damalige amerikanische Gesandte in Paris und spätere US-Präsident, wurde häufig im Schach-Café gesehen. Er war so besessen von dem Brettspiel und seinen positiven Auswirkungen auf den menschlichen Geist und Charakter, dass er sogar ein Buch darüber schrieb. The Morals of Chess erschien 1779 und wurde später sogar in St. Petersburg übersetzt – das erste Schachbuch in russischer Sprache. Aber erst viel später ist Schach richtig proletarisch geworden. Die bolschewistischen Revolutionäre Lenin und Trotzki waren begeisterte Spieler und versuchten, sich mit den großen Meistern ihrer Zeit im Wettkampf zu messen. In der Sow­jet­union wurde Schach zum staatlich geförderten Arbeitersport. Auch in anderen Ländern – unter anderem im Deutschland der Weimarer Republik – entstanden laut André Schulz Vereine, die sich besonders an Werktätige richteten. Der UdSSR diente die Überlegenheit ihrer Großmeister als Beleg für die Überlegenheit ihres Systems im Kalten Krieg. Und in Kuba machte Che Guevara Schach zum Schulfach. So weit kam es in Deutschland nie – aber auch nüchterne Demokraten wie Kanzler Helmut Schmidt, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Präsident Richard von Weizsäcker teilten parteiübergreifend seine Leidenschaft; als bester Spieler unter den hiesigen Politikern gilt der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Der legendäre indische König Shihram soll sich durch Schach vom blutrünstigen Diktator zum menschenfreundlichen Denk-

Auf diplomatischer Mission in London, nutzte Benjamin Franklin das Schachspiel für politische Strippenzieherei (linke Seite, oben links). Hier setzt ihn die bestens vernetzte Caroline Howe 1774 schachmatt. Oben rechts: Der Brite Howard Staunton und der Franzose Pierre Charles Fournier bei der inoffiziellen Weltmeisterschaft 1843. Unten rechts: Benjamin Netanjahu 1999 bei einem Match gegen den damaligen israelischen Wirtschaftsminister Natan Scharanski. Unten links: Menachem Begin (links) und Zbigniew Brzeziński bei den ­ israelisch-ägyptischen Friedensver­ handlungen in Camp David Ende 1978


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sehgerät mit Plastiküberzug, als rechnete er jederzeit mit einer Zwangsräumung. Unge­ mütlich auch die Gesprächsatmosphäre. Scharanski hatte in einer Rede kurz vor unserem Treffen Erstaunliches gesagt: Er sehne sich manchmal nach dem Gulag, »wie soll ich nur die Freiheit genießen, ohne die existenzielle Tiefe zu verlieren, die ich im Gefängnis hatte?« Aber er wollte das jetzt nicht ausführen und erzählte auch nur stockend von früher. Ich wusste, dass er in der UdSSR auf dem Weg zum SchachGroßmeister war, bat ihn um eine Partie. Und das veränderte alles. Er beantwortete mein Damengambit mit der Slawischen Verteidigung, einer soli­ den, aber schwer zu spielenden Variante. Ich

gage­ment als Bürgerrechtler. Von seiner Ver­ haftung 1977, der Anklage als Spion und der neunjährigen Haft. Im Gulag verlangt er immer wieder nach dem Psalmbuch, das man ihm abgenommen hat, beugt sich keiner Regel – und kommt 186 Tage in ver­ schärfte Einzelhaft. »Nur durch Schach habe ich mir meine geistige Gesundheit bewahrt«, sagt er. »Nächtelang lag ich wach und habe Partien gegen mich selbst gespielt, mir Schachprobleme ausgedacht.« Der unermüdliche Kampf seiner Frau in den USA und Westeuropa um seine Freiheit sowie die internationale Aufmerksamkeit tragen schließlich Früchte. Neun Jahre nach seiner Verhaftung bringt ihn eine AeroflotMaschine nach Ost-Berlin, an der Glieni­

Illustration: privat; Fotos (v. l.): pa/dpa; privat (2x)

sportler gewandelt haben. Aber welchen opferte einen Bauern und hatte das aktivere DER INDISCHE Einfluss kann das Spiel wirklich auf politi­ Mittelspiel. Scharanski verteidigte hervor­ sches Denken und Handeln ausüben? Meine ragend, vereinfachte mit Figurenabtausch KÖNIG SHIHRAM Erfahrungen mit drei Persönlichkeiten, die und bezwang mich schließlich in einem ich interviewt habe – und mit denen ich schwierigen Turmendspiel. Eine Stunde SOLL SICH VOM mich beim Schach messen konnte: lang schweigendes intellektuelles Abtasten. »Ich habe das sehr genossen«, sagte er und ließ DIKTATOR ZUM NATAN SCHARANSKI habe ich 1989 in seine Frau Avital Kekse und Kaffee servieren. Jerusalem besucht. Drei Jahre zuvor war er »Und jetzt zu meinem Leben.« WOHLTÄTER Scharanski erzählt. Von seinem aus dem sowjetischen Gulag freigekommen und in einem dramatischen Gefangenen­ Wunsch als Jugendlicher, Schachweltmeis­ GEWANDELT austausch über die Glienicker Brücke in ter zu werden. Von den Benachteiligungen Berlin in den Westen gelangt. Eine Drei­ als Jude und seiner Glaubensfindung. Von ­HABEN. LAG ES zimmerwohnung, in der alles provisorisch den Prüfungen als Star der Mathematik an AM SCHACHSPIEL? wirkte, Schonbezüge auf den Sesseln, Fern­ der Universität in Moskau. Von seinem En­


61 cker Brücke befehlen ihm Moskauer Abge- tion gegen die britischen Mandatsherren sandte: »Gehen Sie jetzt geradeaus auf die auf, griff im Kampf um einen jüdischen andere Seite!« Scharanski schreit sie an: »Seit Staat auch zu terroristischen Methoden, wann mache ich denn Deals mit dem KGB?« lockte britische Soldaten in tödliche Fallen, Und läuft los im Zickzack. Springt an der sprengte im Juli 1946 einen Flügel des JeruGrenzlinie mit einem Satz hinüber in eine salemer King-David-Hotels. Nach der Proandere Welt: ein Chaplin aus dem Gulag, klamation Israels zwei Jahre später gründete ein Nichtspion, der aus der Kälte kam. Begin eine rechtsnationalistische Partei, die Sieht er sich in der Sowjetunion noch bei den ersten Wahlen drittstärkste Kraft einem »Meer von Hass« ausgesetzt, fühlt er wurde. Fast drei Jahrzehnte blieb er als Opsich in Israel von einem »Meer der Liebe« positionspolitiker ein Außenseiter, der erdrückt. »Jeder glaubt zu wissen, was gut ebenso knallhart gegen Araber wie gegen für mich wäre, nur ich weiß es nicht. Ich bin jüdische Linksliberale agitierte. Aber bevon einem Menschen zu einem Symbol ge- vorzugtes Feindbild blieb Deutschland: worden«, sagte mir Scharanski, und ich war Bundeskanzler Adenauer nannte er vor der nicht sicher, ob er seine Rolle, sein Glück in Knesset einen »Mörder«, Reparationszahder Freiheit würde finden können. lungen waren für ihn »Blutgeld«, die Auf2002 habe ich Scharanski dann wieder nahme diplomatischer Beziehungen zur in Jerusalem besucht. Da war er schon Mi- Bonner Republik eine »Schande«. 1977 gewann Begin dann völlig übernister für Wohnungsbau und Vizepremier und mit allen politischen Wassern gewaschen, raschend die Wahlen – und bald darauf einschließlich dubioser machtpolitischer stand die nahöstliche Welt kopf. Der ägypDeals. Von 2009 bis 2018 leitete er die­ tische Präsident Anwar al-Sadat erklärte sich Jewish Agency, die sich um die Einwande- bereit, mit Israel Frieden zu schließen. Berung von Juden aus aller Welt nach Israel gin, sonst alles andere als kompromissbereit, kümmert. Die Verbesserung der palästinen- sprang in Absprache mit den USA über sischen Menschenrechtslage war allerdings seinen Schatten, gab im Austausch für ein nie seine Priorität, auch in Sachen Sied- weitreichendes Abkommen die besetzte Silungsbau gehörte er eher zu den Hard­linern, nai-Halbinsel auf. Die Belohnung war für die ihre jüdische Identität über alles stellten. ihn und den langjährigen Erzfeind der NoEr veröffentlichte neben seinen Memoiren belpreis. Bei den Verhandlungen in Camp ein Debattenbuch: Der 3-D-Test: Wie man David, so war zu hören, hatte auch Schach eine Rolle gespielt. Wenn gar nichts mehr Antisemitismus erkennt. Dem Schach ist der heute 75-Jährige voranzugehen schien, verlagerten Menachem immer treu geblieben. Spieler aus Branden- Begin und Zbigniew Brzeziński, der Sicherburg forderten ihn bei seinem Deutschland- heitsberater des US-Präsidenten, das Gebesuch zum Wettkampf auf. Er spielte gegen schehen auf die 64 Felder. Und setzten dann sie in einer Simultanveranstaltung – alle die Beratungen entspannt fort. gegen einen, wie meist in seinem Leben. Er Ende 1978 habe ich die Chance, Begin gewann 17 Partien, drei Gegnern erlaubte zu treffen. Mein im Heiligen Land bestens er ein Remis; Niederlagen: keine. vernetzter Fotografenfreund Shabtai hat zwei Sitze in der El-Al-Maschine ergattert, MENACHEM BEGIN hat alles Deutsche mit der Israels Premier von Tel Aviv nach gehasst, und er besaß dafür weiß Gott gute New York fliegt. Nur wir beide, das Ehepaar Gründe: Die Nazis haben einen Großteil Begin und Body­guards in der First Class. Als seiner Familie in Konzentrationslagern um- die Reisehöhe erreicht ist und der Premier es gebracht. Begin wollte auch mit deutschen sich bequem gemacht hat, bitte ich um ein Nachkriegspolitikern nicht kommunizieren, Interview. »Aus welchem Land kommen deutschen Journalisten gab er zeitlebens aus Sie?«, fragt Begin. Eine falsche Auskunft steht nicht zur Diskussion. »Ach, aus Prinzip kein Interview. In Osteuropa aufgewachsen und dort Deutschland«, sagt er, höflich bedauernd, immer wieder antisemitischen Parolen aus- »Sie wissen wahrscheinlich ...« Ich weiß, mit dieser Absage war zu gesetzt, zog es ihn mit Mitte zwanzig nach Palästina. Er baute mit der Irgun eine be- rechnen. Aber in der Hoffnung auf einen sonders schlagkräftige Untergrundorganisa- längeren Kontakt habe ich ein Schachbrett

Unser Autor Erich Follath, geboren 1949, ist promovierter Politikwissenschaftler und war viele Jahre lang beim »Spiegel« als Leiter des Ressorts Ausland und als Autor tätig. Neben Reportagen hat er mehrere Bücher geschrieben – und sehr viel Schach gespielt. Die Fotos zeigen ihn 2008 beim Spiel gegen Garri Kasparow (oben) und 1978 bei einer Partie im Flugzeug gegen den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin. Linke Seite: Schatrandsch in Persien um 600 n. Chr. (links). Industrie­minister Che Guevara 1962 bei einem Turnier auf Kuba


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und Figuren mitgebracht und frage, ob er Erst vor einigen Monaten lernte ich in JeSCHACH IST EIN Lust auf eine Partie hat. Er sagt begeistert rusalem Avinadav Begin kennen, seinen zu. Mein Damengambit beantwortet er mit Enkel, der als Künstler und Demonstrant SPIEGEL DES der soliden orthodoxen Verteidigung, aber für Palästinenserrechte in der Familie immer ich komme schnell in eine Gewinnstellung. ein Außenseiter war. Er erzählte mir eine LEBENS. KANN »Revanche?«, sagt er. Diesmal hat er Weiß und Geschichte aus Menachem Begins Jugend, geht meine Sizilianische Dra­chen­va­rian­te die sein Großvater sonst keinem anvertraut ES AUCH DABEI sehr aggressiv an. Mit Glück kann ich auch hatte. Sie handelte von dessen Verhaftung diese Partie für mich entscheiden. als zionistischer »Agitator« in Polen 1940. HELFEN, DEN Und dann unterhalten wir uns doch Die Bedingungen im Gefängnis waren hart, noch einige Minuten über die große Politik. die Essensrationen knapp. Und doch sparte MORALISCHEN Was er vom Westen erwartet (wenig), was er sich Menachem Begin gemeinsam mit einiKOMPASS BESSER von einem palästinensischen Staat hält (gar gen Mithäftlingen Brotstücke auf, um danichts). »Aber Sie zitieren mich bitte nicht.« raus Schachfiguren zu formen und sich mit AUSZURICHTEN? Ein großes Vertrauen, das er mir da entge- dem Spiel abzulenken – es klang fast so, als hätte Stefan Zweig seine berühmte Schachnovelle nach diesem Vorbild gestaltet.

GARRI KASPAROW willigt gleich in eine Schachpartie ein, als wir uns 2008 in Düsseldorf treffen. Er überlässt mir die weißen Steine, wählt die Königsindische Verteidigung, anspruchsvoll und aggressiv, wie es zu erwarten war. Mein Sämisch-Angriff auf dem Königsflügel wirkt tatsächlich so aussichtsreich, dass Kasparow minutenlang nachdenkt. Dann aber ist er sicher, dass sein Gegenangriff auf der Damenseite mir zuvorkommt: In einem rauschhaften Finale harmonieren seine Figuren zum erzwungenen Matt. Er lächelt. »Schöne Partie«, sagt er. Ein Zauberer, der seine Kunst zelebriert

Fotos (v. l.): BZ/pa/dpa; Mauritius Images; Getty Images

genbringt und für das ich nur eine Erklärung habe: Er sieht mich in diesem Moment nicht als Journalisten, schon gar nicht als Deutschen, sondern als einen Verbündeten im königlichen Spiel. Kurz vor der Landung in New York winkt er mich noch einmal zu sich, überreicht mir das Schachbrett, auf das er mit schwarzem Filzstift geschrieben hat: »Lost ­twice – Menachem Begin«. Ich habe ihn nie wieder getroffen. Nach dem Tod seiner Frau und dem blutig gescheiterten Einsatz israelischer Truppen in Beirut zunehmend depressiv, gab Begin 1983 sein Amt auf. Menschen mochte er kaum noch sehen, seiner Leidenschaft aber blieb er treu und löste bis zuletzt Schachprobleme. 1992 ist er gestorben.


63 und den Sieg genießt – auch den gegen mich, einen weit unterlegenen Gegner. Er war ein Wunderkind aus einer jüdisch-armenischen Intellektuellenfamilie, der schon als kleiner Junge, kaum mit den Schachzügen vertraut, Erfolge feierte. Aufgewachsen in Baku, Hauptstadt der damaligen Sowjetrepublik Aser­bai­dschan, wurde sein Talent von staatlicher Seite schnell erkannt und stark gefördert. Sein Aufstieg in der Schachwelt war kometenhaft: sowjetischer Jugendmeister mit 14, Internationaler Großmeister mit 17, Weltmeister mit 22 Jahren. Von 1984 bis zu seinem Rückzug aus dem aktiven Wettkampfsport im Jahr 2005 blieb er 255 Monate lang die Nummer eins der Weltrangliste – für viele Experten der stärkste Spieler aller Zeiten. Dann begannen sich seine Prioritäten zu verschieben. Zwar schrieb Kasparow weiter Schachbücher und gab Unterricht, aber sein politisches En­ gage­ ment nahm immer größeren Raum ein. Er gründete gemeinsam mit dem später ermordeten Boris Nemzow eine liberale Partei, versuchte gegen alle Widerstände der Staatsmacht 2008 sogar, sich für das Präsidentenamt zu bewerben. Nachdem er seine Kandidatur wegen staatlicher Schikanen zurückgezogen hatte, organisierte er Anti-Putin-Demonstrationen und wurde kurzzeitig festgenommen. 2013 floh Kasparow aus seiner Heimat. Er ließ sich in New York nieder, nahm die kroatische Staatsbürgerschaft an und setzte seinen politischen Kampf für ein demokratisches, weltoffenes Russland mit neuer Intensität im Westen fort. Ich konnte ihn dann 2015 noch einmal interviewen, wir trafen uns in London. Es wurde ein denkwürdiges Gespräch. Garri Kasparow zeigte sich in seinen politischen Ansichten so kämpferisch und kompromisslos, so angriffslustig und hitzig wie in seinem Schachstil. »Russland ist ein Mafiastaat und Putin sein oberster Pate. Er braucht Kriege, um sich zu legitimieren. Seine Aggression ist wie eine Droge, er muss die Dosis immer weiter erhöhen«, sagte er mir und feuerte die Sätze nur so heraus. »Wir leben in einer neuen Eiszeit, wir müssen gegenüber dem Kreml die Rezepte des Kalten Krieges wieder anwenden, Isolation statt weiterer Verhandlungsangebote! Und der Ukraine hätte man längst Waffen liefern müssen!« Seinem neuen Buch hatte er den

Titel gegeben: Warum wir Putin stoppen müssen. Was mir damals übertrieben und alarmistisch vorkam, erscheint aus heutiger Sicht – mehr als acht Jahre nach dem Interview – geradezu als eine gespenstisch präzise Prophezeiung. Und dann sprachen wir natürlich noch über Schach. How ­Life Imi­tates Chess hatte er eines seiner früheren Bücher genannt. Ob das auch für die große Politik gilt? »Putin ist ja eher ein Pokerspieler«, sagte Kasparow. »Beim Pokern kann man, anders als beim Schach, eine schwache Hand sehr gut durch Bluffen kompensieren. Im Schach gibt es feste Regeln, und keiner weiß, wie das Spiel ausgeht. In Putins Reich ist es gerade andersherum. Aber das wird nicht ewig so bleiben.« Der Schach-Terminator, heute 60 Jahre alt, als Vollstrecker einer demokratischen Wende in seiner Heimat – wann könnte es so weit sein? »Die schlechte Nachricht: Ich weiß es nicht. Die gute Nachricht: Putin weiß es auch nicht. Diktatoren fallen manchmal unerwartet und schnell. Und Putin ist bewusst: Für ihn bedeutet ein Verlust der Macht kein gemütliches Rentnerdasein, sondern etwas ganz anderes.« Für die Politiker Scharanski, Begin und Kasparow war Schach ein Lebenselixier, eine durch und durch positive Beeinflussung, die sie wohl auch zu besseren Menschen machte. Das kann man nicht von allen Schachbegeisterten in führenden politischen Funktionen sagen. Nikolai Krylenko etwa, Oberbefehlshaber der Roten Armee 1918 und später Volkskommissar für Justiz in der Sow­jet­union, war ein hervorragender Spieler und einer der größten Schachförderer aller Zeiten. Er führte Schach im ganzen Riesenreich als Schulfach ein und entwarf, wie der Historiker Andrew Oltis schreibt, sogar einen eigenen Fünfjahresplan zu seiner Verbreitung. Gleichzeitig war Krylenko ein skrupelloser Killer, der zur Abschreckung auch Unschuldige hinrichten ließ und den Staat nach eigenen Worten »auf den Leichenbergen der Konterrevolutionäre« errichten wollte. Schach schärft die Sinne, fördert Kreativität, erhöht Konzentration, hilft so sicher auch bei politischen Karrieren. Einen moralischen Kompass liefert das Spiel nicht. Schach ist ein Spiegel des Lebens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Oben: Garri Kasparow stand 21 Jahre lang auf Platz eins der Weltrangliste. Das Bild zeigt ihn beim Simultanschach gegen zehn Gegner in Toronto, Kanada, am 22. Juni 2022. Linke Seite, links: Der ehemalige Bundespräsident ­Richard von Weiz­säcker, hier bei einem Schachturnier mit ­Politikern im Jahr 2000 in Berlin, empfahl eine abendliche Partie gegen den Schach­computer, um besser einschlafen zu ­können. Rechts: Wladimir Lenin spielt 1908 auf Capri gegen den russischen ­ Philosophen Alexander Bogdanow, der auf der ­Insel zusammen mit Maxim Gorki (im ­Hintergrund) eine Parteischule gründete


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Wer möchte nicht im Schlaf durch Europa geschaukelt werden? Unser Autor weiß jetzt, dass ein Bett im Schlafwagen auch für zwei reicht – wenn die zwei sich sehr, sehr liebhaben

Text Niels Boeing

Als der Schaffner uns weckt,


D

as ging schnell. Kein entwürdigender Sicherheits-Check im Körperscanner, kein Warten in hermetisch abgeschlossenen Bereichen mit gefilterter Luft und einer Note Kerosin. Nur zwei S-Bahn-Stationen, Rolltreppe rauf, Rolltreppe runter, und schon steigen wir in Wagen 260 ein. Es ist Montagabend, der Nachtzug von Hamburg nach Wien steht bereit. Beschwingt mit einer Flasche Chardonnay in der Tasche und Chicken Jalfrezi vom indischen Imbiss nehmen wir unser Abteil in Augenschein. Ganz klassisch hat es sechs Sitze, die sich mit wenigen Handgriffen zusammenschieben lassen und mit einer ausgebreiteten bunten Decke zu einer einladenden Sofalandschaft werden. Welches Flugzeug bietet so etwas? Wir haben gleich ein ganzes Abteil für unsere Nachtfahrt gebucht, es ist tatsächlich billiger als zwei Einzeltickets. Wir entdecken aber schnell den Haken an der Sache: Es gibt keine Abteilvorhänge. Die Öster-

67 reichischen Bundesbahnen, die ÖBB, hielten sie offenbar für entbehrlich. Bei unserer letzten Nachtfahrt im Sitzabteil gab es noch Vorhänge, aber das ist zwei Jahrzehnte her. Damals waren wir im Bosporus-Express von Bukarest nach Istanbul unterwegs. 20 Stunden im Gestank von Desinfektionsmitteln – aber mit Vorhängen. Die ganze Nacht machte es tack-tack, wenn die Waggonräder über die Schweißnähte einer alten Bahntrasse rollten. Es war das vertraute Geräusch der Interrail-Generation. Das Tack-Tack ist verschwunden. Wir bemerken es erst, als der Zug bereits auf Hannover zueilt. Der Chardonnay leert sich, das indische Hühnchen ist längst verputzt. Wie wäre es mit einem Nachschlag? Wir gehen den Gang in Fahrtrichtung entlang, unser Waggon ist am Zug­ende. Wir kommen durch moderne Liegewagen und Schlafwagen, bis wir im ersten Waggon hinter der Lok angelangt sind. Einen Speisewagen gibt es nicht. Ein ÖBB Nightjet ist eben kein Simplon-Orient-Express. Im goldenen Zeitalter der Nachtzüge dinierte

scheint die Morgensonne Venetiens


Sofalandschaft mit Weingummi und Wasserfläschchen: Doch um vier Uhr kommt Nürnberg

schon fast tausend Kilometer über Autobahnen brettern? Die ÖBB haben jedenfalls aufs richtige Pferd gesetzt. Die Passagierzahlen auf den rund 30 Strecken steigen Jahr für Jahr um ein Fünftel, das Wachstum wurde nur kurz unterbrochen von der Pandemie. Paris, Amsterdam, Hamburg, Berlin, Prag, Budapest, Zagreb, Venedig, Rom, Zürich – das Nightjet-Netz verbindet fast alle Metropolen des europäischen Kernlandes mit­ein­an­der. Die Flugscham hat einen neuen Markt eröffnet, in den nun sogar Start-ups einsteigen: European Sleeper aus den Niederlanden bedient die Strecke Berlin–Brüssel seit dem Frühjahr 2023, Midnight Trains will ab Ende 2023 in Frankreich neue Nachtverbindungen anbieten. Das hinzubekommen ist jedoch eine Herausforderung, denn grenzüberschreitende Waggons müssen für jedes Land, in dem sie rollen, eine Zulassung durch die European Railway Agency der EU bekommen. Die ist aber guten Mutes, in näherer Zukunft eine EU-weite Waggonlizenz einzuführen. Dann könnten Nachtzüge noch viel flexibler eingesetzt werden. Allerdings ist der Flugverkehr nach wie vor eine übermächtige Konkurrenz. In den Neunzigerjahren in Europa nach amerikanischem Vorbild liberalisiert, fielen die Preise auf lächerliche Beträge wie 19 Euro, angeboten

stehen in Nürnberg. »Die Weiterfahrt des Zuges verzögert sich wegen Reparaturarbeiten am Zug.« Ich schaue auf die Uhr, es ist vier. Die Durchsage wiederholt sich einige Male und befördert mich in einen unerquicklichen Halbschlaf. Erst hinter Passau nicke ich wieder ein. In Linz wachen wir auf, es ist bereits hell, und mit unserer kleinen elektrischen Reise-Espressokanne kochen wir uns einen vorzüglichen Morgenkaffee. Dann geht es noch eine Stunde an der Donau entlang, bis wir nicht ganz ausgeschlafen am Wiener Hauptbahnhof ankommen – mit einer Stunde Verspätung. Eine SMS der ÖBB informiert uns süffisant, dass die Verspätung auf dem deutschen Teil der Strecke eingefahren worden sei. Wien ist das Zentrum der europäischen NachtzugRenaissance. Keine andere Bahngesellschaft betreibt so viele Nachtlinien wie die ÖBB. Anders als die Deutsche Bahn, die angesichts der Flugkonkurrenz den eigenen Nachtzug-Verkehr 2016 einstellte, gaben die ÖBB ihm eine ­Chance. Das war drei Jahre bevor Fridays for Fu­ture Flugscham und Klimawandel zum Megathema der Gegenwart machte. Das ÖBB-Ticket teilt mir denn auch mit, dass ich in der Nacht zuvor 234 Kilogramm CO₂ gegenüber einer Autofahrt von der Elb- an die Donaumetropole eingespart habe. Aber wer möchte

von Billig-Airlines, die dafür jeden erdenklichen Komfort zusammenstrichen. Die Blitzurlauber und Partypeople Europas dankten es ihnen trotzdem, und in den Nullerjahren machte das Wort vom »Easyjetset« die Runde, den es aus allen Ecken des Kontinents etwa zu durchtanzten Wochenenden in Berlins Techno-Tempel zog. Noch immer wird Flugbenzin, also Kerosin, nicht besteuert, während die Bahngesellschaften in manchen Netzen selbstverständlich Energiesteuern zahlen müssen. Einige Länder erheben zusätzlich Mehrwertsteuer, mit der sich Fluglinien ebenfalls nicht herumschlagen müssen. Und dann sind da noch die sogenannten Trassenkosten: Die Nutzung der Schienen muss für jeden Kilometer bezahlt werden – ein Kostenpunkt, den der Flugverkehr in der Luft nicht kennt. Belgien immerhin hat den Nachtverkehr von Trassenkosten und Energiesteuern befreit, eine Subvention, die die Bahnbetreiber in anderen europäischen Ländern auch gerne sehen würden. In Deutschland ist das bei der autoaffinen Politik des Bundesverkehrsministeriums noch nicht zu erwarten. In Wien eiern wir »schienenkrank« von der Schaukelei, aber voller Vorfreude aus dem Hauptbahnhof, nachdem wir unsere Rucksäcke in einem Schließfach

Europas Haute­volee im Speisewagen an eingedeckten Tischen, später speisten Sean Connery und Daniela Bianchi mit einem undurchsichtigen Agenten im zweiten Bond-Film in dem rollenden Restaurant, in dem alle genussvoll rauchten. Und einen Barwagen gab es auch. Auf dem Weg zurück zu unserer Sofalandschaft klopfen wir am Service-Abteil eines Schlafwagens an. Der Waggonschaffner öffnet. Haben Sie Snacks, Getränke? Der Schaffner zieht eine Schublade aus dem Wandregal des winzigen Abteils. Es gibt Manner, Pringles und Fruchtgummis und Wasserfläschchen. Na ja. Der Länge nach ausgestreckt, in Fahrtrichtung, gleiten wir später in den Schlaf. Das Schaukeln der Waggons lässt uns in Kurven leicht hin und her rollen. Dann und wann quietschen die Federn der Rückenlehnen des Nachbarabteils durch die Wand. Aber ich finde in einen festen Schlaf. Bis mitten in der Nacht eine monotone Bahnsteigdurchsage in mein Ohr dringt. Wir

Nachtzüge erleben eine Renaissance: Es sind vor allem die Jahrgänge, die in den Achtzigerjahren vom Abenteuer Interrail geprägt wurden, die die klimaschonende Fernreise auf Schienen wiederentdecken

Fotos (v. l.): Shutterstock; pa/dpa (S. 68,69); laif; Getty Images

68


69 verstaut haben. Freunde, die wir seit vor der Pandemie nicht mehr gesehen haben, laden uns zum Frühstück ein. Später setzen wir uns am Ufer der Donauinsel in die herbstliche Nachmittagssonne und beschließen den Tag in einer alten Wiener Gaststätte im 6. Bezirk mit Bierbraten und Backhendl. Dann geht es wieder zum Hauptbahnhof, denn wir sind noch nicht am Ziel. Auf Gleis 6 wartet der nächste Nightjet nach Venedig. Für die zweite Nacht haben wir ein Abteil im Liegewagen gebucht. Das kommt uns dann doch seltsam verkantet vor. Liegewagen wie dieser stammen meistens noch aus den Achtzigerjahren. Sechs Pritschen gibt es, die mittleren sind zu Fahrtbeginn als Rückenlehnen heruntergeklappt. Das Abteil fühlt sich dennoch beengt an, die Leiter steht im Weg, ob vor dem Fenster oder vor der Abteiltür. Immerhin gibt es jetzt ein Kopfkissen und eine Decke. Quer zur Fahrtrichtung schlafen ist deutlich besser, merken wir. Anstatt hin und her zu rollen, wiegt einen das Schaukeln der Waggons in den Schlaf, während der Zug die Alpen überquert. Als der Waggonschaffner uns zum Frühstück weckt – Kaffee, Brötchen, Marmelade sind im Fahrpreis inbegriffen –, scheint schon die Morgensonne über die Ebene Venetiens. Draußen fliegt

eine mediterrane Landschaft an uns vorbei, mit roten Ziegeln gedeckte Häuser, Zypressen und andere Bäume des Südens. Als wir von Mestre auf den Bahndamm nach Venedig fahren, wird es spektakulär: Am Horizont leuchten die schneebedeckten Gipfel der Ost­alpen, die sonst so oft im Dunst der Lagune von Venedig verschwinden. Der österreichische Gast aus dem Nachbarabteil kriegt sich vor Freude gar nicht mehr ein. Seit Jahren fahre er mehrmals im Jahr die Strecke, aber einen solchen Ausblick habe er noch nicht erlebt. Während die Flugzeuge in entgegengesetzter Richtung auf den Flughafen Marco Polo am Festland zuschweben, rollen wir auf La Serenissima mit ihren Türmen zu, dieses Weltwunder von einer Stadt. Im Bahnhof Santa Lucia erleben wir eine Überraschung. Einen Bahnsteig weiter steht der Venedig Simplon-Orient-Express. Ein Traum aus anderen Tagen, ein teurer Traum: Die Fahrkarten kosten weit über 3000 Euro. Mitsamt Pullman-Barwagen setzt er sich nun in Bewegung, wohin auch immer. Wir schauen ihm nach. Als wir die Schalterhalle verlassen, eröffnet sich ein atemberaubender Anblick. Über eine Treppe, die so breit wie der Vorplatz ist, geht es hinunter zum Canal Grande. Der Himmel ist von einem klaren Blau, die


70 Narvik

Kolari Kemijärvi

Bodø

Rovaniemi VY

Luleå

VR

Åre Umeå

Trondheim

Helsinki

Turku Bergen

SJ

Oslo

Fort William Glasgow

Stockholm

Stavanger

Inverness

Göteborg

Aberdeen Edinburgh

Malmö

Danzig

Hamburg

Serco

PKP

Berlin

Amsterdam

Warschau Penzance

London

GWR

Brüssel

Prag ÖBB

Paris

Wien

Budapest

Zürich Bukarest

Mailand Turin

SNCF

Belgrad

Zagreb Venedig

Marseille

Barcelona

Nizza

Warna

FS

Bar

Rom

Istanbul

Thessaloniki Lecce

Palermo

Sofia


71 Sonne steht noch tief, die Häuser auf der anderen Seite und die Passanten am Ufer werfen lange Schatten. Wir steigen in ein Wassertaxi und fahren zum Lido. Am Strand dieser langen, Venedig vorgelagerten Insel kommen wir erneut ins Schwärmen. Wie anders ist die Ankunft am Flughafen, wenn man vom Terminal einen Kilometer weit zum Anleger des öffentlichen Wasserbusses gehen muss. Der Nachtzug hat uns direkt ins Herz von La Serenissima gebracht. Schöner kann eine Ankunft kaum sein. Wir verschlendern den Tag, vorbei am einstigen Prachthotel Excelsior, zurück mit dem Vaporetto nach Venedig, durch unser Lieblingsviertel Dorsoduro mit dem wunderbaren Campo Santa Margherita, wo Studierende am frühen Abend Aperol Spritz trinken. Nach dem Abendessen geht es zurück zum Bahnhof Santa Lucia. Der Schlafwagen wartet.

Illustration: Carsten Raffel

Schlafwagen mit Filzpantinen und Minihandtuch: Doch dann klopft es an der Kabinentür

Die Waggons aus den Nullerjahren sind überraschend komfortabel. Die Betten haben Hotelqualität, das Licht ist angenehm. In einer Papiertüte finden wir Ohrenstöpsel, Filzpantinen, Wasser, Kugelschreiber, Minihandtuch, Schlafbrillen und das unvermeidliche Manner. Mir fällt etwas unter das Bett, ich krieche hinunter, als es klopft. Der Waggonschaffner staunt, als ich meinen Kopf unter dem Bett hervorstrecke. Kann ich Ihnen helfen? Nein, alles in Ordnung. Er serviert zwei Piccolo, auch die sind im Preis inbegriffen – für nur 23 Euro mehr als im ungemütlichen Liegewagen. Er kommt noch einmal zurück, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Wir fragen ihn, warum es keinen Speiseoder Barwagen gibt. Wenn man um neun Uhr abends einsteigt, wäre das doch ein schöner Ausklang, zumal die ÖBB angenehme Speisewagen haben. Vor Jahren habe es die noch gegeben, sagt er, aber es habe sich nicht gerechnet. Die Gäste wollten nicht mehr wie in alten Tagen einen Schlummertrunk nehmen, der Speisewagen sei zuletzt immer leer geblieben. Dann wünscht er uns eine angenehme Nachtruhe – die übrigens auch per Durchsage verbindlich angeordnet wird. Aneinandergekuschelt wie Sean Connery und Daniela Bianchi im Bond-Film strecken wir uns auf dem unteren Bett aus. Es ist sehr schmal, da muss man sich schon sehr, sehr liebhaben. Aber dann schlafen wir doch schnell ein, ein tiefer Schlaf wie in keiner der

beiden anderen Nächte. Doch die Nacht endet abrupt mit einem heftigen Klopfen an unserer Tür. Die deutsche Bundespolizei durchsucht in Rosenheim den Zug, es ist noch nicht sechs. »Illegale« könnten an Bord sein. So ist das 2023: Wenn die einen reisen, ist es klimafreundlicher Luxus, bei anderen ein Verbrechen. Der Zug hat nun anderthalb Stunden Verspätung. Sie hätten tatsächlich zwei Passagiere aus dem Zug geholt, sagt der Schaffner, als er das Frühstück bringt. Nun die XXL-Variante: Kaffee, Saft, Brötchen, Schinken, Käse, Nussaufstrich, Honig, Joghurt – in Augsburg werden wir lange auf den Anschluss-ICE nach Hamburg warten. Ist das jetzt die Zukunft des innereuropäischen Fernverkehrs oder nicht? Die ÖBB sind überzeugt davon, für Hunderte Millionen Euro haben sie bei Siemens 33 neue Nightjets bestellt, die ersten verkehren seit Mitte Dezember zwischen Hamburg und Wien oder Innsbruck. Mit 230 Kilometern pro Stunde sind sie schnell. Bord-WLAN, USB-Steckdosen für Smart­phones und Bediendisplays für die Kabinen bringen den Anschluss ans digitale Zeitalter. Sieben Waggons plus Lok ist die Standardlänge eines Nightjets, der, voll ausgelastet, 254 Passagiere durch die Nacht bringen kann. Die Schlafwagen-Kabinen sind neu gestaltet, alle haben eine ei-

gene Toilette. Die Liegewagen bieten neben Abteilen mit vier Betten sogenannte Mini-Cabins, die sich die Österreicher in Japan abgeschaut haben. Wie in dortigen Schlafwaben-Hotels kann man als Alleinreisender eine durchaus ansprechende Schlafkoje buchen. Paare können die Schiebetür am Kopf­ende zwischen zwei Mini-Cabins öffnen und sich beim Einschlafen anstrahlen. Das klassische Sitzabteil gibt es nicht mehr, nur noch Großraum-Wagen mit den üblichen Bahnsitzen. Das ist schade, denn im Nachhinein hat uns die geräumige Sofalandschaft des Sitzabteils am besten gefallen. Wir hatten uns schon vorgenommen, für zukünftige Fahrten Tuch und Klebeband mitzunehmen, um einen Vorhang zu basteln. Bislang, so stellte kürzlich eine schwedische Studie fest, sind es vor allem ältere Jahrgänge wie wir, die den Nachtzug wiederentdecken. Die Generation, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren vom Abenteuer Interrail geprägt wurde. Soll diese klimaschonende Art der Fernreise ein durchschlagender Erfolg werden, müssen sich auch die jüngeren Generationen dafür begeistern können. Vielleicht sollten die Bahngesellschaften doch noch mal über Barwagen nachdenken. Es muss ja nicht gleich ein Pullman sein. Niels Boeing, Sohn eines Eisenbahners, fährt seit Kindertagen Zug. Am besten hat ihm der Barwagen von Tansania nach Sambia gefallen, der richtige Sofas hatte.


Hart im Nehmen oder genusssüchtig? Zwei Winterschwimmer an dem finnischen See Kuusijärvi in Vantaa


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IN ZEHN ZÜGEN ZUM RAUSCH Ich mag kaltes Wasser nicht. Die Frage ist aber nicht, ob ich kaltes Wasser mag. Sondern warum ich trotzdem darin bade. Eine Anleitung zum Winterschwimmen Text Hella Kemper

A

ls kalt gilt Wasser, wenn es die elf Grad unterschreitet. Das reicht, um beim Menschen eine Kälteschock-Reaktion auszulösen. Wer die einmal erlebt hat und durch das Tor der Kälte geschlüpft ist, wird es immer wieder tun. Kaltes Wasser macht süchtig. Mich katapultiert es in einen anderen Zustand. Und es hat mich gerettet. Immer wieder. Erst der kleine Fluss, der durch meine Heimatstadt fließt, die Diemel, die mich mit ihrem Plätschern tröstete, wenn ich Kummer hatte. Dann mit fünf die Nordsee, an die der Kinderarzt mich schickte. Ich hatte Asthma und blieb drei Monate mutterseelenallein auf der ostfriesischen Insel. In dieser Zeit wurde das eisige Randmeer mein Freund. Mitte November in Oslo: Die Luft hat vier Grad, der Fjord sieben. Gegenüber der Oper liegt Tjuvholmen. Dort gibt es einen Strand und eine Badeleiter. An einem Samstag treffe ich Lotte. Wir schwimmen im Fjord, und als wir uns abtrocknen, erzählt sie mir von Henning Mankells letztem Roman Die schwedischen Gummistiefel und von dem alten Mann, um den es darin geht. Der drücke aus, sagt Lotte, was auch sie fühle: »Das Wasser lässt mich spüren, dass ich lebe.« Diese Anleitung zum Bad in kaltem Wasser hat keine Mission und dient nicht der Selbstoptimierung. Aber vielleicht verleitet sie dich dazu, mal etwas Neues zu wagen. Etwas, das du noch nie getan hast. Und das auch dich spüren lässt, dass du lebst. Wer Zweifel hat, ob ihm kaltes Wasser guttut, fragt bitte vorher seine Hausärztin.

Foto Sami Kero

1. Lies die Bücher von Jessica J. Lee und anderen Winterschwimmern

Lees Buch Mein Jahr im Wasser ist das beste übers Winterschwimmen, das ich kenne. Wenn du es der Seen-Forscherin dann nachtun willst, besorg dir Wärmflasche, Thermoskanne und Mütze, ein kleines Fell- oder Filzstück und eine leuchtende Badekappe. 2. Überzeug zwei Freundinnen davon, mitzumachen

Wenn sie zögern, gib ihnen diesen Artikel zu lesen. Oder schließ dich einer Gruppe an. In vielen Städten gibt es inzwischen Vereine oder lose Gruppierungen, etwa die Eisbademeisters in Hamburg oder die Seehunde in Berlin. Winterschwimmer sind zwar Individualisten, aber zusammen mit anderen ist das Winterbaden sicherer. 3. Back die Lieblingskekse deiner neuen Schwimmfreundinnen

Und leg einen Vorrat an. Denn Schwimmen im kalten Wasser macht hungrig. Deshalb ist es schwer, mit Winterschwimmen abzunehmen. Wer im kalten Wasser Fett verbrennen will, liest zunächst bei 8. weiter. 4. Gewöhn dich an die Kälte, mental und physisch

Unkompliziert geht das unter der kalten Dusche. Das funktioniert aber nur, wenn das Duschwasser mindestens so kalt ist wie das Wasser, in dem du baden willst. Der an-

fängliche Kälteschmerz schwindet, sobald die Kälte die Haut betäubt, man fühlt ihn dann nicht mehr. Deshalb sind die ersten 20 bis 30 Sekunden die schlimmsten. Aber auch die wichtigsten, sie setzen die physiologischen Reaktionen in Gang. Eine Studie zeigte, dass Kaltduscher ein Drittel weniger Krankentage haben als Normalduscher. 5. Wärm dich auf, bevor du ins Wasser gehst

Idealerweise in der Sauna. Alternativ joggst du eine kurze Strecke, aber so schnell, dass du ins Schwitzen kommst. Leg ausreichend warme Kleidung in der richtigen Reihenfolge bereit. Wenn es windig ist oder um den Gefrierpunkt, ziehe ich nach dem Schwimmen manchmal drei oder vier Schichten an, zwei Mützen, zwei Paar Handschuhe, dicke Wollsocken. »Genauso wichtig wie die Vorbereitung ist das Aufwärmen danach«, sagt der Extremschwimmer Christof Wandratsch, mehrfacher Weltmeister im Eisschwimmen. »Am besten ist: einfach dasitzen, in warmer Kleidung, mit heißem Tee und Ingwer. Und dem Körper Zeit geben, sich aufzuwärmen.« 6. Atme tief ein und langsam aus! Und hör nicht auf zu atmen!

Wiederhol das, während du vorsichtig ins Wasser gehst, bis es dir etwa bis zum Bauchnabel reicht. Mit einer langen und bewussten Ausatmung lässt du dich dann langsam nach vorn ins Wasser gleiten, ohne dabei mit dem Ausatmen aufzuhören. Das kalte


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Im kalten Wasser zu schwimmen kostet mich keine Überwindung. Es ist eine Erlösung. Das Wasser wäscht alle Sorgen fort. Ich spüre, dass ich lebe. Mehr ist nicht zu wollen

7. Versuch, die kleinen Sensationen der Natur wahrzunehmen

an den Hypothalamus im Gehirn, dort schrillen die Alarmglocken. Noradrenalin wird ausgeschüttet und versetzt den Körper in den Fight-or-Flight-Modus. Das Herz schlägt schneller, die Atemfrequenz erhöht sich, der Stoffwechsel wird gesteigert, die Zellen ­powern los, alle Ressourcen des Kör­ pers werden angezapft. In der Peripherie schließen sich die Blutgefäße, und es fließt weniger warmes Blut in Hände und Füße, ihre Haut wird blasser, und sie fühlen sich bald taub an. Die Wärme fokussiert sich auf den Körperkern, auf Gehirn, Brustund Bauchraum. Gleichzeitig beginnt der Körper mit der Wärmebildung. Dafür hat er zwei Mechanismen: mit Zittern und ohne Zittern. Die Muskelzellen kontrahieren un­ kontrolliert und asynchron, wir bibbern. Durch die Muskelarbeit steigert der Körper seinen Energieumsatz und damit seine Wärmeproduktion. Das ist Schwerstarbeit, deshalb sollten Winterbadeanfänger nicht länger als zwei Minuten im kalten Wasser bleiben. Die zweite Möglichkeit, Wärme zu bilden, ist die kalte Thermo­ gene­ se. Der

Stephen und Rachel Kaplan, zwei amerika­ nische Psychologen, haben die geheime Kraft der Natur entschlüsselt: Befinden wir uns in einer Umgebung, die vertraut, aber interessant genug ist, um das Gehirn auf­ merksam zu halten, tut uns das gut. Das Wasser spiegelt den Himmel, das Meer wirft Wellen an den Strand; die Bewegungen und Farben kennen wir, aber sie verändern sich ständig. Sie werden nie langweilig: Winter­ schwimmen zwingt uns in die Gegenwart.

9. Erst wenn du aus der Kälte an die Luft trittst, spürst du den Rausch

Zurück an Land, wenn die Gefahr über­ standen ist, kommt die Euphorie. Die Lim­ nologin Jessica J. Lee bekämpfte ihren Lie­ beskummer mit einer Schocktherapie im Eiswasser, aus dem sie mit »einer unerklär­ lichen Leichtigkeit« kam. Den stimmungs­ aufhellenden Effekt von Kälte kann An­ dreas Michalsen wissenschaftlich bestätigen. Er ist Professor für Klinische Naturheil­ kunde an der Charité. »Bei starken Reizen wie extremer Kälte werden Endorphine ausgeschüttet.« Endorphine sind endogene, also vom Körper produzierte Morphine, die schmerzlindernd wirken. Der Körper pro­ duziert sie in Notfallsituationen – und das Eintauchen in kaltes Wasser ist ein Notfall. Weil die Kälte wehtut, sollen Endorphine den Schmerz dämpfen. 10. Mach weiter! Aber bade nicht häufiger als viermal pro Woche

8. Zieh Handschuhe und Socken aus Neopren an

Immer wieder werde ich gefragt, ob ich im Neoprenanzug schwimme. Natürlich nicht. Aber Hände und Füße solltest du schützen. Denn nehmen die Rezeptoren der Haut wahr, dass es kalt ist, schicken sie das Si­gnal

Körper zapft seinen körpereigenen Energie­ vorrat an, das Fett. Es gibt weißes und braunes Fett. Das weiße ist vor allem Iso­ liermaterial. Das braune kann in Sekun­ denschnelle in Wärme verwandelt und über das Blut weitergeleitet werden. Die meisten Erwachsenen verlieren die braunen Fett­ zellen, weil sie zu selten frieren. Ihr inneres Feuer ist erloschen. Es lässt sich aber wie­ der entfachen – mit Winterschwimmen. Das kalte Wasser verwandelt weißes Fettge­ webe in braunes.

Die Autorin beim Schwimmen im Februar 2021, als die Elbe in Hamburg zum letzten Mal Eis führte

Dann kann der Körper seine Alarmreaktio­ nen trainieren, ohne unter dem Kältestress zu leiden. Der gesundheitliche Effekt: Blut­ druck, Herzfrequenz und Stresshormon­ spiegel sinken. Der mentale Effekt: Wer seine Furcht vor der Kälte überwindet, wagt sich an eine Grenze und verschiebt sie wo­ möglich. Winterschwimmen ist ein Akt der Selbstermächtigung.

Foto: Patrick Gabler

Wasser wirkt nämlich wie ein Schock, der einen unwillkürlich nach Luft schnappen lässt. Deshalb darfst du erst wieder ein­ atmen, wenn du dein Kinn kontrolliert über die Wasseroberfläche strecken kannst. Dann zähl deine Schwimmzüge, im Lauf des Winters werden es mehr werden. Fang mit fünf an oder zehn. Nähert sich der Frühling, schaffe ich leicht 50. Hauptsache, du zählst deine Züge. Solange du zählst, atmest du und kontrollierst, was du tust. Du bist voll und ganz im Moment. Leichter kann man diesen Zustand nicht erreichen. Dabei kann es helfen, geräuschvoll aus­zu­ atmen. Stöhn oder schrei, denk nicht darü­ ber nach, dass andere dich hören könnten. Wann immer ich mich nicht auf meinen Atem konzentriere, schlucke ich Wasser. Das ist im Hallenbad unangenehm. In vier Grad kaltem Wasser lebensgefährlich. Des­ halb achte ich auch darauf, dass ich nicht ins tiefe Wasser schwimme. Der Grund unter den Füßen kann dich retten.


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DIE ZUMUTUNG Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten. Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen, auch wenn es richtig anstrengend wird. Willkommen auf dem Pfad der Religionsphilosophie

GOTT Göttinnen und Götter gab es über fast alle Zeiten hinweg. Juden, Christen und Muslime entschieden sich für einen einzigen Gott. Schöne Bescherung für die Philosophie Text Tobias Hürter


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Basislager Gehen Sie erst los, wenn Sie die folgenden Grundlagen in Ihren Rucksack gepackt haben

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evor es Gott gab, gab es Götter. Göttinnen und Götter sind ein universelles Phänomen. Fast alle Kulturen kennen sie als übernatürliche Wesen mit besonderer Macht. Sie können zaubern, sich verwandeln, donnern oder Blitze schleudern. Für die Menschen früherer Zeiten waren sie ständige Begleiter. Götter halfen ihnen, Naturphänomene zu erklären, bevor sie etwas von Naturgesetzen verstanden. Sie nahmen ihnen Angst, linderten ihr Leid, gaben ihnen Kraft und Trost bei Schicksalsschlägen und Orien­ tie­ rung in Gewissensfragen. Sie bevölkerten ihre Mythen. In den frühen Mythen gibt es noch keine strikte Trennung zwischen Menschen und Göttern. Gilgamesch, der Held eines der ältesten überlieferten Epen, das im Zweistromland entstand, ist zu einem Drittel Mensch, zu zwei Dritteln Gott. Auch die Göttinnen und Götter der alten Griechen sind trotz ihrer besonderen Begabungen verdächtig menschenähnlich. Unter ihnen gibt es Lug und Betrug, Sex und Gewalt, Liebe und Ehebruch. Kein Wunder, denn Gottesvorstellungen sind menschliche Versuche, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen und Vertrauen zu ihm zu fassen. Das geht nur, wenn Menschen es in ihre Reichweite holen, es in Analogie zu sich selbst sehen. Die Menschenähnlichkeit der Götter ist keine Herabminderung, sie ergab sich aus ihrer Rolle.

Aber dann geschah etwas Erstaunliches. Aus Göttern wurde Gott: ein einziges, höchstes Wesen, der Schöpfer und Aufseher des Kosmos, allwissend, allmächtig, allgütig – gar nicht mehr menschlich. Die Geschichte dieses Wandels ist das Thema der Expedition, zu der wir aus diesem Basislager aufbrechen. Das Wort »Gott« hat uralte Wurzeln im Germanischen. Im Alt- und Mittelhochdeutschen war es noch »got«. Im Altsächsischen und Englischen wurde es zu god. Die Goten sagten guþ, Schweden und Dänen sagen gud. Die Germanen verehrten den Himmelsgott Tiwaz, dessen Name auf indogermanisch deiwos zurückgeht. Man hört diese Herkunft noch im griechischen theos (»Zeus«), im lateinischen divus und im französischen dieu. Die ältesten archäologischen Funde, die mutmaßlich Gottheiten darstellen, sind erkennbar weiblich: Muttergöttinnen mit großen Brüsten. Bei den Germanen war guda, ihr Wort für Gott, noch ein Neutrum, man könnte es also mit »das Gott« übersetzen. Es ist vermutlich nicht verwandt mit »gut«, sondern kam von alten Wörtern für »anrufen« oder »gießen« (wegen Guss­opfern). Erst mit der Übertragung auf den christlichen Gott im 3. und 4. Jahrhundert wurde es männlich. Weiter im Norden, in Skandinavien, blieb Gott noch ein paar Jahrhunderte länger Neutrum.

Erster Anstieg Los geht’s! Auf leichten Anhöhen begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie ins Schwitzen bringen können

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ie meiste Zeit der Religionsgeschichte wimmelte es vor Göttern. Sie waren greifbar, sichtbar, diesseitig. Auch die Israeliten kannten in ihrer Frühzeit viele Götter. Jahweh, ein Kriegs- oder Wettergott, war nur einer von ihnen. Aber dann gelang diesem Gott unter vielen die Karriere zum einzigen Gott. Diese Karriere zog sich über die längste Zeit des ersten vorchristlichen Jahrtausends. Die Israeliten,

eine kleine Volksgruppe, wanderten auf der Suche nach einer Bleibe durch den südöstlichen Mittelmeerraum. Im Jahr 587 vor Christus eroberten die Babylonier Jerusalem und verschleppten viele Israeliten. Mit den Göttern der Babylonier mochten sich die Israeliten nicht anfreunden, diesen von Menschenhand geschaffenen und in seltsamen Ritualen verehrten Kultbildern: selbst gebastelten Göttern aus Holz oder Stein. Die Israeliten vollzogen einen radikalen


77 Medienwechsel: vom Bilderkult zur Schrift. Eine Buchreligion entstand. Die Schrift wurde für sie der Ort, an dem Gott wohnt. Dieser Gott ist kein kosmischer Mitbewohner der Menschen mehr. Er ist das große Gegenüber des Kosmos: ein Schöpfer. Die Israeliten waren nicht die Einzigen, denen die Idee eines höchsten Gotts in den Köpfen herumgeisterte. Ähnliche I­deen entwickelten zum Beispiel auch die Ägypter. Warum hielt sich ausgerechnet der Gott der Israeliten? Vielleicht weil er für sie identitätsstiftend in der Fremde war. Aus den Israeliten wurden die Juden. Viele biblische Texte entstanden im babylonischen Exil. Sie erzählen die Geschichte Israels seit den Anfängen unter Mose. Ursprungsmythen wie die Sintflut, Katastrophen wie die Zerstörung Jerusalems und das Exil bekamen einen neuen Sinn. Die Geschichte erschien nun als Offenbarung des unsichtbaren Gottes, eines launischen und eifersüchtigen Gesellen. Die Hebräische Bibel nennt ihn JHWH. Der Schriftkult verbreitete sich im Mittelmeerraum. Er faszinierte auch viele Nichtjuden, die die monotheistische Gottesidee übernahmen. Im arabischen Raum wurde Allah der Gott des Korans, der sich dem Propheten Mohammed offenbarte. Die Begründer des Christentums sahen ihn als den göttlichen Vater von Jesus Christus. Diese drei Religionen –

Judentum, Christentum und Islam – bilden das Trio der »abrahamitischen« Religionen, benannt nach Abraham, dem Stammvater der zwölf Stämme Israels und Vorfahren von Jesus und Mohammed. Auch wenn jede der drei ihre Art der Anbetung für die richtige hält: Alle drei beten zum selben Gott. Es könnte Frieden stiften, sich öfter daran zu erinnern. Während die Israeliten die Götzen abschafften, ereignete sich im fernen Griechenland eine verblüffende Parallele. Auch Philosophen wie Anaximander und Xenophanes stellten den Götterkult infrage. Diese Götter ­seien so menschenähnlich, weil sie der Fantasie entsprungen ­ seien. Die Philosophen trieben den Mythos mit dem Logos aus: mit dem vernünftigen Denken. Statt von den Göttern des Olymps sprachen sie nur noch von einem göttlichen Prinzip, dem Urprinzip allen Seins. Statt Göttern sahen die Philosophen eine göttliche Weltvernunft am Werk: den Logos. Im antiken Griechenland blieb dieser philosophische Monotheismus eine elitäre Angelegenheit. Doch er beeinflusste auch die frühen Christen. Der Evangelist Johannes nannte den Logos »das Wort«: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« So begann er sein Evangelium. Im Christentum kam beides zusammen: der jüdisch-israelische Monotheismus und das griechische Denken.

Am Steilhang Atmen Sie tief durch: Es ist alles ganz anders, als Sie dachten – aber Sie schaffen das

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arum glauben Menschen an Gott? Warum heute noch? Wir sind keine Israeliten im Exil. Wir brauchen keinen Gott, um Blitze zu erklären. Aber wir sind immer noch Menschen, die mit existenziellen Fragen nach Leid und Tod ringen, die nach Sinn und Orien­ tie­ rung suchen. Heutige Menschen müssen nicht unbedingt alle Gründe teilen, aus denen einstige Menschen an Gott glaubten. Und vielleicht sind sogar ein paar Gründe dazugekommen. Wer sich Gott aus skeptischer Perspektive nähert, dem könnte auffallen, dass die abrahamitischen Religionen in seiner Charakterisierung ziemlich vage sind. Außer »allmächtig« und »gütig« ist da nicht viel. Das ist Absicht. Einem Gott, der nicht von dieser Welt ist, kann man nicht gerecht werden. In einigen Glaubensrichtungen gibt es daher ein Bilderverbot, in manchen gar ein Verbot, den Namen auszusprechen.

Dazu kommt, dass Gott, wenn er denn existiert, sich nicht sonderlich um seine Schöpfung zu kümmern scheint. Wie kann ein so mächtiger und gütiger Gott all das Böse und Schlechte geschehen lassen, das Menschen tagtäglich widerfährt? Das ist das berühmte Problem der Theodizee, das Theologen und Philosophen schon seit den Urzeiten des Monotheismus plagt. Für die Gnostiker im 2. Jahrhundert nach Christus war es ein Grund, den Monotheismus zu verwerfen. Sie glaubten, dass die Welt nicht vom guten Gott erschaffen wurde, sondern von einem anderen, bösartigen Gott. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der Anfang des 18. Jahrhunderts Christentum und Aufklärung zu versöhnen versuchte, behauptete, dass Gott die Welt zwar nicht durch und durch gut, aber so gut wie möglich geschaffen habe: »die beste aller möglichen Welten«. Sein Kollege und Kritiker Vol­taire fand diese Idee zynisch und verwies


78 auf das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, bei hoeffer suchte Gott nicht im fernen Unbekannten, dem Erdstöße, ein Tsunami und Brände binnen einer sondern in der Welt der Menschen: »Gott ist mitten Stunde die ganze Stadt verwüsteten. in unserem Leben jenseitig.« Der jüdische Philosoph Wie aber soll man dann Menschen noch davon Baruch de Spinoza entwickelte bereits im 17. Jahrüberzeugen, an solch einen entrückten, scheinbar hundert den Gedanken, dass Gott nicht außerhalb der gleichgültigen Gott zu glauben? Vor dieser Frage stand erfahrbaren Wirklichkeit sei, sondern identisch mit auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, ihr: »Deus sive natura« – Gott ist die natürliche Welt. der sich ab 1938 im Widerstand gegen die Nazis enDiesem Verständnis schloss sich später Albert Einstein an: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gegagierte und von ihnen hingerichtet wurde: »Der Mensch hat gelernt«, schrieb er, »in allen wichtigen setzlichen Harmonie des Seien­den offenbart, nicht an Fragen mit sich selbst fertigzuwerden ohne Zuhilfeeinen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.« Es gibt auch heute Naturwisnahme der ›Arbeitshypothese‹ Gott. Es zeigt sich, dass alles auch ohne ›Gott‹ geht, und zwar ebenso gut wie senschaftler, die glauben, dass Gott sich in der Welt vorher. Ebenso wie auf wissenschaftlichem Gebiet offenbart, die sie erforschen: »Ich bin überzeugt, dass wird im allgemein menschlichen Bereich ›Gott‹ immer Gott in der Welt wirkt«, sagt der Astronom Heino weiter aus dem Leben zurückgedrängt.« Falcke, dessen Spezialgebiet die Beobachtung Gott ist arbeitslos geworden. Er muss nicht mehr Schwarzer Löcher mit Radioteleskopen ist. herhalten, um die Naturphänomene zu erklären, nicht Wenn Gott also in dieser Welt wohnt, dann ist um Gut und Böse zu unterscheiden, nicht um Herrer womöglich auch ohne Radioteleskop erfahrbar, ganz unmittelbar. Dieser Überzeuschaft zu legitimieren. Als der Mathematiker Pierre-­Simon La­place gung waren die Mystiker, eine Gott ist arbeitslos von Na­po­leon gefragt wurde, wachristliche Bewegung im Spätmitgeworden. Er muss rum Gott in seinem Werk nicht telalter, die sich gegen die Schulvorkommt, antwortete er: »Bürger nicht mehr herhalten, theologie wandte und nach einem und Erster Konsul, ich habe dieser neuen Verhältnis zu Gott suchte. um Gut und Böse zu Hypothese nicht bedurft.« Einer von ihnen war Eckhart von trennen. Und nun? Andere versuchten zu beweiHochheim, ein Theologe und Mönch aus Thüringen. Im Widersen, dass es dieser Hypothese sehr wohl bedürfe. Den berühmtesten Gottesbeweis führte spruch zur Vorstellung eines jenseitigen Gotts glaubte im 11. Jahrhundert der Benediktinermönch Anselm er, Menschen könnten Gott in sich selbst finden, um von Can­ter­bury: Da Gott das denkbar vollkommenste eins mit ihm zu werden: »Manche einfältigen Leute Wesen ist, muss er logischerweise existieren – denn wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort ohne zu existieren, wäre er unvollkommen. Auch der und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind Dominikanermönch und Philosoph Thomas von eins. Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich Aquin im 13. Jahrhundert und der Philosoph und auf, durch die Liebe gehe ich in Gott auf.« Mathematiker ­Blaise Pascal im 17. Jahrhundert erEckhart und andere Mystiker sahen Gott und Mensch in einem Bedingungsverhältnis zu­ein­an­der. dachten Gottesbeweise. Noch im 20. Jahrhundert Gott wird Gott durch die Menschen. Das Göttliche wollte der Mathematiker Kurt Gödel die Existenz glüht als »Seelenfünklein« (Eckhart) auch im MenGottes rein formal beweisen. Aber all diesen Beweisen ist gemeinsam, dass man irgendwo reinstecken muss, schen. Gott ist also nicht das unerreichbar Jenseitige. was unten rauskommt. In allen ist die Existenz Gott Er kann erlebt werden. Allerdings kann er nicht vereine versteckte Annahme. standesmäßig begriffen werden, sagte Meister Eck»Gott ist tot«, erklärte der Philosoph Friedrich hart: »Du sollst Gott lieben, wie er ist: ein Nichtgott, Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts. Er, ein wütender ein Nichtgeist, eine Nichtperson, ein Nichtbild. Gegner des Christentums, verstand aber auch, was der Mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eins ist, Verlust Gottes für Menschen bedeutet: »Wir haben gesondert von aller Zweiheit, und in diesem Einen ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller sollen wir ewiglich versinken von Nichts zu Nichts.« Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt Mystische Traditionen entstanden auch in vielen bisher besaß – es ist unter unsern Messern verblutet. anderen Religionen, auch im Islam und im Judentum, Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen und ihre Lehren sind sich im Kern über alle Zeiten und wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer Kulturen hinweg sehr ähnlich. Große Mystiker bewürdig zu erscheinen?« tonten, dass die Einheit Gottes und die Einswerdung Verteidiger des Gottesglaubens hielten dagegen, mit Gott, um die es ihnen ging, alle Unterschiede dass es nicht darum gehe, Gott rundweg zu verwerfen, zwischen den Glaubensrichtungen übersteige. Es waren sondern darum, ihn neu zu verstehen. Dietrich Bonmeist die Dogmatiker, die stritten.


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Auf zum Gipfel Jetzt wird es zugig: Diese Theorie müssen Sie meistern, um auf der Höhe der Zeit anzukommen

Kleine Fotos: Martin W. Ramb/Eulenfisch; Universität Heidelberg; Duke Divinity School

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or ziemlich genau 2000 Jahren zog ein Prediger namens Jesus durch die Gebiete des heutigen Israels und warb für eine Reform des Judentums. Statt die Bibel allzu wörtlich zu nehmen, sollten seine Anhänger dem Willen Gottes folgen, so wie er selbst es vorlebte. Er war nicht der Einzige mit Reformvorschlägen. Aber seine Worte und Taten entfalteten eine einzigartige Wirkung. Er und seine Anhänger verstanden sich anfangs als Juden. Doch die Differenzen waren zu groß. Das Christentum wuchs von einer obskuren Sekte zur römischen Staatsreligion. Der wichtigste Trennungsgrund bestand in den unvereinbaren Gottesvorstellungen. Die Christen beteten Jesus als Gott an, sie nannten ihn »den Herrn« und »Bild des unsichtbaren Gottes«. Juden, später auch Muslime, wunderten sich. Jesus war offensichtlich ein Mensch. Er spazierte durch Jerusalem. Er starb am Kreuz. Wie kann er der Schöpfergott der Bibel sein? Die Christen machten es noch komplizierter und sprachen von etwas drittem Göttlichen, dem Heiligen Geist. So entstand die Idee eines dreifaltigen Gottes: Gott ist eins und gleichzeitig drei. Wie das gehen soll, war von Anfang an unter Christen umstritten, ob Laien oder Theologen. Konstantin I., der erste christliche Kaiser Roms, berief im Jahr 325 das Konzil von Nicäa ein, um die Dreifaltigkeitsfrage zu klären, weil er fürchtete, sein Reich könne im Streit über sie zerfallen. Die frühen Theologen des Christentums diskutierten sie mit der Raffinesse der griechischen Philosophie. Manche schlugen vor, dass Gott, Jesus und Heiliger Geist schlicht identisch s­ eien. Aber dann wäre Gott selbst am Kreuz gestorben – unmöglich. Andere meinten, dass Gott Jesus geschaffen oder adoptiert habe. Aber dann wäre Jesus von niederem

Rang gewesen, was den Glaubensgrundsätzen widersprach. Die Formulierung im frühen Glaubensbekenntnis war schließlich: Gott Vater hat Jesus gezeugt. Gott, Jesus und der Heilige Geist s­ eien »wesensgleich«, aber verschiedene Personen. In anderen Konfessionen wurden die Köpfe geschüttelt. Im Felsendom in Jerusalem, einem der höchsten Heiligtümer des Islams, steht bis heute die Koransure 112 geschrieben, die klarstellt, dass Gott weder gezeugt wurde noch gezeugt hat. Botschaft an die Christen: Ihr irrt euch. Aber die Dreifaltigkeit hat auch Vorzüge. Gott bleibt in ihr der alte, wird aber in Jesus zugänglich für die Gläubigen. In ihr kommen die Tradition des Judentums, die Lehre von Jesus und der Scharfsinn der Philosophie zusammen. Bis heute debattieren Philosophen darüber, wie sie zu verstehen ist. Die schönsten Deutungen der Dreifaltigkeit sind aber die poetischen und künstlerischen. Der französische Mönch Bernhard von Clairvaux beschrieb sie im 12. Jahrhundert als Liebesszene: Der Heilige Geist ist der Kuss, den der Vater dem Sohn gibt. Der italienische Dichter Dante Ali­ghieri stellt sie im 14. Jahrhundert zum Schluss seiner Göttlichen Komödie als drei in­ein­an­der verschlungene Regenbögen dar – resigniert dann aber: »O wie unzulänglich, wie schwach sind hier Worte für meine Gedanken!« Der russische Ikonenmaler Andrei Rubljow malte im 15. Jahrhundert Gott als drei ein­an­der freundlich zugewandte Figuren an einem Tisch, dessen vierte Seite noch frei ist. Die Betrachterin oder der Betrachter ist eingeladen, sich dazuzusetzen. Tobias Hürter war schon Agnostiker und gläubiger Christ. Er ist überzeugt, dass ein gemeinsamer Religionsunterricht aller Gläubigen und Nichtgläubigen eine gute Idee wäre.

Unsere Bergführer

Eckhard Nordhofen, deutscher Theologe, untersucht die religionsgeschichtliche Bedeutung der Bibel

Janet Soskice ist eine römisch-katholische Theologin. Sie erforscht das Verhältnis von Wissenschaft und Religion

Jens Halfwassen war ein deutscher Philosoph. Er hat sich mit der Entstehung des Monotheismus beschäftigt


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RADIKAL EINFACH, GENIAL, ZEITLOS: DER BLEISTIFT

Die Herstellung dieses faszinierenden Werkzeugs ist erstaunlich kompliziert. Aber die Geschichte des Bleistifts beginnt mit einem Miss­verständnis: Mit Blei hatte er nie etwas zu tun Fotos Christopher Payne


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Seit 1889 produziert die General Pencil Company in Jersey City, USA, Bleistifte. Der Grundstoff Grafit wird gemahlen (oben) und dann weiterverarbeitet. Um auszuhärten, werden die Grafitkerne in feine Grafitkörner gebettet, dann e ­ rhitzt (links), in heißes Wachs getaucht (unten rechts) und getrocknet (S. 80). Unten links: Die Lackierstraße


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Der Fotograf Christopher Payne besuchte die Bleistift-Fabrik der General Pencil Company zwischen 2016 und 2018 viele Male. Er dokumentierte dort jede einzelne Phase des Herstellungsprozesses, porträtierte die Menschen und die Maschinen. Grafit wird schon seit Jahrhunderten zum Zeichnen und Schreiben benutzt. Damit die Finger beim Halten der Grafitstücke nicht schmutzig werden, ­wurden diese früher mit Stoffbändern ­umwickelt oder zwischen Holzstücke g ­ eklemmt. Heute bekommen die Minen ­einen Holzmantel und mehrere Anstriche mit Farbe. Auf dieser Seite fliegen Holzspäne beim Anspitzen. Dafür werden die frischen Bleistifte rotierend über ein Fließband aus Sandpapier gezogen. Übrigens: Das mit dem Blei kommt mutmaßlich von ein paar Schäfern aus England. Sie sollen schwarze Brocken gefunden haben, mit deren Bruchstücken sie Striche auf ihre Schafe malen und sie auf diese Weise markieren konnten. Sie hielten das schwere Material – ebenso wie die damaligen Gelehrten – für Blei. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigte der Chemiker Carl Wilhelm Scheele, dass es sich um ein auf Kohlenstoff ba­ sierendes Mineral handelt, nicht um Blei. Ein paar Jahre später bekam der Stoff den Namen Grafit, abgeleitet vom griechischen Wort »graphein« für »schreiben«


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Die Radiergummis (rechts) werden auf eine Metallkappe am Ende der Stifte gesetzt. Die Beschriftung wird mit einem Stempel von Hand eingeprägt (unten rechts). Bei einigen Bleistiften setzt eine ­Maschine geschlossene Metallkappen auf (unten links). Fertig! (oben)


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Blaue Bleistifte – fertig gespitzt. Bereit für Verpackung, Verkauf und die Welt

DIE MAGIE DER HANDSCHRIFT

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nser Vater liebte Computer schon, als diese noch so groß waren wie ein Wohnzimmer. Noch früher begann er, seine Handschrift zu hassen. Er schickte uns Kindern also bereits tastaturgeschriebene und ausgedruckte Briefe, als das sonst nur Behörden taten. Bis heute sendet er persönlichste Mitteilungen per E-Mail-Betreffzeile: Ich komme vom 22. bis 27. Juni nach Deutschland. oder Bettina und ich haben letzte Woche geheiratet. oder Omami ist vor wenigen Minuten gestorben.

Auch wenn es mittlerweile alltäglich geworden ist, Buchstaben digital zu lesen, empfinde ich die Form seiner Botschaften noch immer als irritierend. Nur wieso? Welchen Unterschied macht die Gestalt, in der uns Zeichen erreichen, die inhaltlich ja immer dasselbe sagen? Warum berührt uns von Hand geschriebene Schrift anders? Vielleicht, weil ein Gedanke, wenn er von Hand aufgeschrieben wird, auf seinem Weg zum Blatt auch den Schreibenden selbst so sehr bewegt. Und zwar: 18 kleine und 15 lange Muskeln, darunter die des Unter­arms und des Daumenballens, einige Hohlhandmuskeln und Muskeln des Kleinfingerballens. Außerdem um die 16 Gelenke, von denen der Handwurzel über die der Finger

Text Katrin Zeug

bis hin zur Schulter, sowie 24 Knochen. Kein Bewegungsorgan ist so differenziert wie die Hand (je weiter ein Glied von der Körpermitte entfernt ist, desto kleiner wird der Abstand zwischen den Gelenken). Das Führen eines Stiftes ist ein fein orches­ trier­ tes Zusammenspiel, ein Tanz kleinster Bewegungen. Die Spitze wird dabei zum vordersten Teil unseres Körpers. Sie bewegt sich so schnell, dass unser Blick ihr nicht mehr scharf folgen kann. Zehn Linien schafft ein Schreibender in einer Sekunde: die kleinen nach oben und unten, indem er Daumen, Zeige- und Mittelfinger streckt und biegt. Die kleinen in Schreibrichtung – oder zurück – führt das Handgelenk. Der Unterarm hilft bei größeren Rundungen, und der ganze Arm und auch


89 die Schulter vollführen die weiträumigen Schwünge und Sprünge. Was dabei auf dem Blatt ankommt, ist bei jeder Person so individuell wie ihr Fingerabdruck, die Iris des Auges oder die DNA. Keine zwei Menschen auf der Welt ver­einen dieselbe Kombination aus Feinmotorik, Schriftverständnis und Übung. Die Handschrift ist so einzigartig wie der Verlauf eines Lebens. Im Gegensatz zu den anderen biometrischen Merkmalen ist sie dabei gleichzeitig stabil – und doch variabel. Wie der Gang oder das Abbild eines Menschen lässt sie sich zuordnen, obwohl sie jedes Mal ein bisschen anders ist. So, wie wir auch auf einem alten Foto erkennbar bleiben, trotz der Veränderungen über die Jahre. Auch wenn wir altern, uns heute anders kleiden oder schminken. In dem Flur, der zu Erwin Sadorfs Büro führt, hängt ein Bild mit fünf unterschiedlichen Schriftzügen eines Namens. Erwin Sadorf ist Leiter des Sachgebiets Handschriften im Bayerischen Landeskriminalamt in München. Der Mann, dessen Name dort handgeschrieben steht, mal deutlich, mal raumgreifender, dann zerhackt und starr, hatte nach einem Bordellbesuch eine ziemlich hohe Rechnung bekommen: 25.000 Euro, für ziemlich viele Lokalrunden, die er angeblich ausgegeben haben sollte – an die er sich aber nicht erinnern konnte. Der Mann erstattete Anzeige, die Unterschriften auf den Kreditkartenbelegen, gab er an, ­seien gefälscht. Waren sie aber nicht. Sie hatten sich bloß im Laufe des Abends und mit zunehmendem Rausch verändert. Allerdings nur zu einem Teil. »Das individuelle Schriftbild entsteht nicht erst in den Fingern, sondern bereits im Kopf«, sagt Erwin Sadorf. Das unbewusste Schema davon, wie die eigene Schrift aussieht, trägt jeder, der sie einmal erlernt hat, in sich. Und es beeinflusst die Bewegungen auch dann, wenn die Feinmotorik mal nicht mehr auf der Höhe ist oder wir sogar absichtlich versuchen, anders zu schreiben. Wer einen Hinkenden nachahmt, hinkt immer noch wie er selbst. Nicht wie der andere. Erwin Sadorf, Psychologe und Sachverständiger für Handschriftenuntersuchung, untersucht seit 30 Jahren anonyme Drohschreiben, Graffiti in Bahnhöfen, Beschimpfungen an Schulwänden, Einträge auf Wahlzetteln, Unterschriften auf Testamenten und Verträgen.

Manchmal weiß er am Ende einer Analyse gar nicht genau, welche Worte da eigentlich standen. Der Inhalt, der Mensch hinter der Schrift und auch dessen potenzielles Ver­ gehen interessieren Sadorf nicht sonderlich. Was ihn interessiert, ist eine Welt, die nur wenige Menschen so genau kennen wie er. Sie erscheint, wenn er sich über sein Mikroskop beugt, und sie ist gebaut aus Farbpigmenten und Papierfasern. Dort untersucht Sadorf Mittelquerstriche von kleinen t und f, g-Unterschleifen, k-Oberlängen und i-Punkte. Anhand der Ablagerungen der Paste eines Kugelschreibers oder des Grafits eines Bleistiftes kann er Schreibdruckverläufe und Strichrichtungen bestimmen. Er weiß, ob eine

Das Führen eines Stiftes ist ein fein orchestriertes Zusammenspiel kleinster Bewegungen

Null im Uhrzeigersinn gezogen wurde oder gegen ihn. Wo ein Kreis begonnen oder beendet wurde (weil die Paste dort einen kleinen Punkt hinterlässt). Ein Strich ist in dieser Welt nicht einfach ein Strich. Es ist ein schlaffer Strich oder ein brüchiger, ein elastischer, ein poröser oder ein gebrochener, winklig verzitterter. Seine Ränder können ausdifferenziert sein, wenn er schnell gezogen wurde. Oder unscharf und bröselig, wenn die Tinte lange Zeit hatte, um in das Papier zu laufen. Sadorf weiß, dass die meisten Leute, die mit der rechten Hand einen flüchtigen Strich von links unten nach rechts oben ziehen, den Schreibdruck dabei verringern. Und dass sie diesen anschließend, beim Strich nach unten, wieder verstärken. »Liegt an der Feinmotorik«, sagt er und erkennt an solchen Details – neben anderen wie Schließungspunkten, Formgebung und Bewegungsrichtung – manchmal, dass die letzten Nullen auf einem Scheck von jemand anderem nachgetragen wurden. Sadorf analysiert Bewegungsflüsse, Bogenzügigkeit und Grade der Verbunden-

heit. Schreibt jemand jeden Buchstaben einzeln? Oder manche mit­ ein­ an­ der verbunden? Zieht der Schreibende das große E in einem Zug, sodass kleine Schleiflinien zwischen den Strichen zu sehen sind? Gibt es feine Häkchen an den Strich-Enden, die entstehen, wenn eine Person kurz innehält, bevor sie den Kugelschreiber vom Papier abhebt? Ein Zeichen von Dynamik. Oder setzt ein Nachahmer, vielleicht, punktgenau an und schreibt erst dann mit langsamer, monotoner Geschwindigkeit weiter? Hat die Schrift mehr runde Elemente oder mehr winklige? Sieht ihr kleines n aus wie ein u? Wie sehr sind die Buchstaben vereinfacht? Gibt es spezifische Schleifenformen, also Kringel, und Schnörkel? Sadorf schaut, in welchem Winkel die Buchstaben geneigt sind, ob eine Unterschrift ansteigend geschrieben ist, abfallend oder in einem Bogen. Ob sie auf der für sie vorgesehenen Zeilenlinie steht oder darunter oder quer darüber. Welcher Abstand zu den Seitenrändern gelassen wurde. Welcher zwischen den Zeilen, zwischen den Wörtern, den Buchstaben. Am Ende kennt Erwin Sadorf eine Handschrift so gut, dass er sie theoretisch nachahmen könnte. Praktisch kann er es nicht. Wie ein Fußballtrainer, der am Spielfeldrand ganz genau weiß, wie der Ball geschossen werden müsste. Und es doch nie umsetzen kann. Die schönste Handschrift ist für den Sachverständigen Sadorf eine, die individuell ist. Keine ausgeklügelte, verschnörkelte oder auf wichtig gemachte. »Eher eine gedankenlos dahinnotierte Sau­klaue, denn die kriegt so schnell keiner hin«, sagt er. Durch die eigene Schrift spricht ein Mensch unverwechselbar zu uns. In Eile vielleicht oder von etwas getroffen. Verliebt, konzentriert oder verwirrt. Sie ändert sich mit den Launen und der Konzentration, reagiert auf Krankheiten und Medikamente. Sie drückt aus, ob wir gerade Ruhe haben oder Wut spüren, verrät, wenn wir besoffen sind oder alt geworden. Der, den wir kennen, scheint dennoch immer hindurch. Jede handgeschriebene Notiz ist daher nicht nur ein Text. Sondern immer auch eine Tat. Dem Täter und seiner Verfasstheit zuzuordnen. Das kann auch etwas sehr Schönes haben.


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»Unabhängigkeit ist eine Illusion – keiner kann ohne Hilfe überleben« Gespräch mit einem Parasiten: Die Mistel verteidigt ihr Lebenskonzept

Interview Johanna Michaels

O Foto: Getty Images

b kopfüber im Türrahmen oder grün leuchtend in winterlichen Baumkronen – der Anblick der Mistel lässt uns hoffen, dass es nicht mehr weit ist zum nächsten Kuss, zur nächsten Liebe, zum nächsten Frühling. Doch eigentlich ist die immergrüne Hoffnungsträgerin ein Parasit, der die Bäume immer häufiger in die Knie zwingt. Was hat sie zu ihrer Verteidigung zu sagen? Liebe Mistel, wenn es weihnachtet, so wie jetzt, dann mistelt es ja auch immer. Ist das nicht großartig? Für mich könnte es das ganze Jahr über Zimtsterne und Weihnachtslieder geben – Justin Bieber hat mir sogar eins gewidmet! Einfach zuckersüß, wie er da vom Mistletoe singt. Und er hat recht: It’s the most beautiful time of the year. Für andere Pflanzen, und auch einige Menschen, ist das eine Zeit, die sie mög-

lichst schnell hinter sich bringen wollen. Warum ist das für Sie anders? Im Sommer falle ich in den dichten Baumkronen kaum auf. Aber wenn im Winter die Wiesen braun und die Bäume kahl sind, wenn selbst der Himmel kahl ist, weil die meisten Vögel gen Süden gezogen sind, kann ich endlich meine immergrünen Blätter und weißen Beeren zeigen. Und wenn es dann nach einem kurzen Tag wieder dunkel wird, rückt alles näher zusammen – es liegt so viel Wärme in der Winterluft. Wenn dazu noch ein Mistelzweig im Türrahmen hängt, liegen sogar Küsse in der Luft. Woher kommt dieser Brauch? Historiker würden sagen, dass die Kelten mich früher für eine heilige Pflanze hielten. Sie glaubten, dass die Götter mich in die Baumkronen streuten, dort, wo Himmel und Erde sich berühren. Ich war ein Symbol für Stärke, Erneuerung und Fruchtbarkeit und wurde so zum Glücksbringer für die junge Liebe.

Es klingt, als würde Ihnen die Antwort der Historiker nicht gefallen. Ach, diese Mythen sind einfach so alt und verstaubt. Sie eignen sich nur noch für die Asterix-Comics, in denen Miraculix seinen berühmten Zaubertrank aus Misteln braut. Justin hat sicherlich noch nie davon gehört und wartet an Weihnachten trotzdem auf einen süßen Kuss. Ich versuche daher, jeden Tag in liebevoller Symbiose mit meinem Heimatbaum zu leben und so anderen Mut zu machen. Was Sie hier als romantische Verbindung beschreiben, nennen Botaniker schlicht einen Parasitenbefall. Ist Schmarotzer zu sein Ihre Vorstellung von Liebe? Ich bin ein Halbschmarotzer, da ich nicht nur von meinem Heimatbaum lebe, sondern auch Fotosynthese betreibe. Wenn Sie mich schon botanisch durchleuchten wollen, schauen Sie wenigstens genau hin. Unsere Beziehung ist komplexer, als Sie offenbar denken.


92 Dann nehmen Sie mir die Vorurteile. Wenn man wie ich von einem anderen Lebewesen abhängig ist, dann erfordert das ein besonderes Einfühlungsvermögen. Jeder meiner Heimatbäume ist aus seinem eigenen Holz geschnitzt und wurzelt in seinem eigenen Boden, aus dem er verschiedene Nährstoffe zieht. Auf all das habe ich keinen Einfluss – ich muss mich an das anpassen, was der Zufall mir geschenkt hat. Mit Zufall meinen Sie wohl die keltischen Götter, die Sie in die Baumkronen streuen. Geben Sie anderen auch etwas? In meinen immergrünen Armen ist jeder tapfere Vogel willkommen, der in der Kälte ausharrt und Schutz vor den eisigen Winden sucht. Und während andere Pflanzen im Winter mit ihren Früchten geizen, habe ich als gute Gastgeberin auch jetzt noch leckere Beeren. Für meine Besucher bin ich eine wichtige Nahrungsquelle, um durch diese karge Jahreszeit zu kommen. Ihre Gastfreundschaft ist aber nicht ganz uneigennützig, oder? Als kleine Gegenleistung bitte ich die Vögel, meine Samen zu verteilen. Sie sind nicht von einer Schale, sondern von einer klebrigen Schicht umgeben. So können sie sich fest an die Äste heften und dort durch die Rinde ins Holz treiben. Daher rühren übrigens auch meine Namen: Mistel kommt von Mist, die lateinische Bezeichnung Viscum von Leim. Sie verbreiten sich also durch klebrigen Leim, den Vögel Ihrem Wirt in die Krone kacken. Ist das jetzt schon die Romantik, die Sie mir versprochen haben? Ich würde es anders beschreiben: Ich habe keine harte Schale, nur einen weichen Kern. Ist es nicht diese Verletzlichkeit, die eine Liebesbeziehung ausmacht? Nicht schlecht! Wie genau lassen Sie sich eigentlich von einem Baum versorgen? Das ist ganz einfach: durch Osmose. Bäume entziehen wie andere Pflanzen dem Boden mit ihren Wurzeln Wasser, indem sie ein Gefälle schaffen. Über die Poren in ihren Blättern atmen sie CO₂ ein und Wasserdampf aus. Dadurch kriecht das Wasser aus der Erde in ihre Wurzeln – wie bei der Schnur eines Teebeutels, an der der Tee langsam aus der Tasse entfleucht. Wenn die Erde trocken ist, schließen sich die Poren der Blätter, und der Baum speichert das gewonnene Wasser.

Und wie schaffen Sie es, dass der Baum Ihnen etwas von seinem Wasser abgibt? Da ich auf einem Lebewesen wachse, das seinen Wasserbedarf bereits reguliert, brauche ich mehr Fingerspitzengefühl als andere. Damit Wasser und Nährstoffe zu mir fließen, muss ich darauf achten, dass das Gefälle, das ich schaffe, immer stärker ist als das Gefälle, das mein Heimatbaum erschafft. Ich muss also seiner Atmung lauschen und mich danach richten. Ich habe außerdem eine sehr hohe Stresstoleranz gegenüber Trockenheit, sodass meine Poren sich später schließen als die der Bäume. Sie schwitzen also mehr als Ihr Wirt und entziehen ihm dadurch Wasser? So kann man es auch sagen – tatsächlich fühlen sich meine Blätter deshalb oft kalt an. Fleischig sind sie übrigens, damit ich genug Wasser speichern kann, um Durststrecken zusammen mit meinem Heimatbaum zu überleben. Er gibt mir durch seine Fürsorge auch die Freiheit, rund in alle Richtungen zu wachsen, statt mich zum Licht zu strecken. So biete ich weniger Fläche für Wind und Wetter. Sie sprechen, als wären Sie ein Team, dabei geben Sie Ihrem Wirt gar nichts zurück. Das klingt alles nach einer toxischen Beziehung, die der Baum nicht braucht. Natürlich bin ich abhängig von meinem Heimatbaum. Aber sind wir das nicht alle? Unabhängigkeit ist eine Illusion – keiner kann ohne Hilfe überleben. Ich bin dabei immerhin sehr rücksichtsvoll. Wenn es meinem Heimatbaum schlecht geht, geht es auch mir schlecht. Deshalb wachse ich sehr langsam und bleibe auch ausgewachsen ein kleiner Busch. So, wie ihr mit eurem Heimatplaneten umgeht, solltet ihr mit Vorwürfen vorsichtig sein. Ich bin zwar ein Halbschmarotzer, aber anders als ihr bin ich auch einfühlsam, bescheiden und tolerant. Ich bin nicht ganz überzeugt. Wenn ich mir den Apfelbaum in meiner Nachbarschaft anschaue, übersät von Misteln, kann ich mir nicht vorstellen, dass das alles einvernehmlich abläuft. Sie können ihn ja zum nächsten Interview einladen und fragen. Vielleicht wird er Ihnen dann erzählen, dass euer Klimawandel ihn geschwächt hat und er deshalb die Misteln nicht mehr tragen kann. Und vielleicht würde er sie am Ende vermissen, weil er sie ins Herz geschlossen hat.

»So, wie ihr mit eurem Heimatplaneten umgeht, solltet ihr mit Vorwürfen vorsichtig sein. Ich bin zwar ein Halbschmarotzer, aber anders als ihr bin ich auch einfühlsam, bescheiden und tolerant«


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Wer mit der Hand schreibt, denkt besser. Ist Handschrift noch zeitgemäß? Lamy ist überzeugt: Wer nicht mehr mit der Hand schreibt, verzichtet auf eine wertvolle Fähigkeit, die das Lernen erleichtert, das Denken beflügelt und die Kreativität freisetzt.

Das Schreiben, Malen und Zeichnen von Hand gehört zu den höchsten kognitiven Leistungen, die der Mensch vollbringen kann. Ein komplexes Zusammenspiel von Hirn, Hand und Auge. Zwar geht das Tippen auf Laptop oder Smartphone schnell. Doch belegen zahlreiche Studien, dass wir tatsächlich besser denken und lernen, wenn wir mit der Hand schreiben. Beim handschriftlichen Schreiben laufen komplexe Prozesse ab: Rund dreißig Muskeln und zwanzig Gelenke wirken zusammen, aktivieren ein Drittel des Gehirns. Kinder prägen sich Buchstaben besser ein, wenn sie diese freihändig nachzeichnen. Und das verlangsamte Tempo beim handschriftlichen Notieren begünstigt das Verständnis komplexer Zusammenhänge. Im Gegensatz zum schnellen Tippen zwingt das Schreiben mit der Hand zur Konzentration auf das Wesentliche. Das Heidelberger Familienunternehmen Lamy setzt daher weiter auf das Schreiben von Hand – und überführt dieses zugleich ins digitale Zeitalter. Neben klassischen analogen Füllhaltern, Kugelschreibern und Tintenrollern bietet der Schreibgerätehersteller mittlerweile ein wachsendes Sortiment an digitalen und lamy.com

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SO ERKENNT MAN QUALITÄT

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s ist das einzige Waldsterben, das unsere Herzen höherschlagen lässt. Etwa 25 Millionen Nadelbäume werden jedes Jahr gefällt, um die Wohnzimmer der Deutschen weihnachtlich zu schmücken. Mindestens 40 Euro kostet in diesem Winter eine Zwei-Meter-Tanne, man kann auch deutlich mehr bezahlen. Man möchte meinen, dass so ein Weihnachtsbaum qua Naturgesetz ein hochwertiges und ökologisches Produkt sein müsste. Stimmt leider nicht – zumindest nicht ganz. Denn Weihnachtsbäume werden wie alle anderen industriell angebauten Pflanzen mit diversen Chemikalien behandelt. Bei einer Untersuchung fand der Naturschutzbund BUND auf 14 von 23 getesteten Bäumen Spuren von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden. Das müsse so sein, sagt ein Waldbauer, denn ohne Chemie könne es passieren, dass Insekten ihre Eier unter der Rinde ablegen. Und durch die behagliche Temperatur im Wohnzimmer animiert, schlüpft der Nachwuchs möglicherweise noch während der Feier­ tage. Das gewichtigere Argument: Unbehandelte Bäume wachsen nicht so schön. Aber genau diese Eigenschaft steht bei der Kaufentscheidung vieler über allem. Auch deshalb ist die Nordmann-Tanne mit Abstand die Nummer eins auf dem Markt. Vier von fünf in Deutschland verkauften Bäumen gehören dieser Art an. Ihr Ursprung liegt nicht, wie oft vermutet, in Skandinavien, sondern in Georgien, wo ein Botaniker namens Nordmann sie einst entdeckt hat. Die NordmannTanne ist dunkelgrün, langlebig, pikst und nadelt kaum,

hat einen dichten Bewuchs und die gewünschte symmetrische Form. Sie hat nur einen einzigen Nachteil, wenn man das überhaupt so nennen will: Die Nordmann-Tanne duftet nicht. Blau- und Rotfichten da­ gegen tun das sehr intensiv. Sie erfüllen den Raum mit diesem unverwechselbaren Winterwaldgeruch. Außerdem sind sie billiger. Allerdings ist ihr Wuchs meist nicht so schön, und sie verlieren vergleichsweise schnell ihre Nadeln, die auch noch unangenehm spitz sind, wenn man barfuß auf sie tritt. Gegen das Nadeln lässt sich aber etwas tun – mit der richtigen Pflege. Weihnachtsbäume mögen es feucht und kühl. Ins Wohnzimmer sollte man sie erst im letzten Moment schaffen und auf gar keinen Fall in die Nähe der bollernden Heizung! Wie Blumen kann man sie noch einmal anschneiden, bevor man sie in reichlich kaltes Wasser stellt. Weil sie die Feuchtigkeit auch über ihre Nadeln aufnehmen, empfiehlt es sich, die Zweige zusätzlich mit einer Sprühflasche einzunebeln. Wer auf regionale Produktion Wert legt, braucht sich bei Weihnachtsbäumen wenig Sorgen zu machen. Billigimporte aus China gibt es nicht, lediglich ein Teil der Ware wird aus dem nahen Dänemark eingeführt. Die Samen für die Nordmann-Tannen allerdings kommen im Regelfall aus Georgien, wo sie unter zum Teil fragwürdigen Bedingungen geerntet werden. Ein FairTrees-Siegel soll anzeigen, dass Betriebe auf das Wohl der Erntearbeiter achten, aber man entdeckt es im Handel noch seltener als das Bio-Siegel oder das erst vor zwei Jahren eingeführte Naturbaum-Siegel, das ebenfalls auf Mindeststandards in der Produktion verweist.


FOLGE 7: DER WEIHNACHTSBAUM Nordmann-Tanne oder Rotfichte? Die eine nadelt nicht, die andere duftet nach Winterwald. Was beim Kauf oft vergessen wird: Wie lange uns ein Baum mit frischem Grün erfreut, hängt auch davon ab, wie wir ihn pflegen

Händler teilen das Aussehen der Bäume in drei Stufen ein: Die besten heißen 1. Wahl, Premium oder De­luxe. Da aber auch diese Begriffe nicht geschützt sind, helfen sie bei der Kaufentscheidung nur bedingt weiter. Leichter zu erkennen ist dagegen, wie frisch ein Baum ist. Denn nach einiger Zeit verlieren auch die teuersten Nordmann-Tannen ihre Nadeln. Um den Baum zu testen, sollte man ihn vor dem Kauf einmal kurz anheben und auf den Boden schlagen. Fallen dabei Nadeln herunter, ist das normal. Wiederholt man den Test, und es fallen erneut viele Nadeln herunter, ist das ein schlechtes Zeichen. Auch ein kurzer Blick auf den Stamm lohnt sich. Ist die Schnittstelle nicht hell-holzig, sondern gräulich angelaufen, liegt das Fällen wahrscheinlich schon eine Weile zurück. Das muss nicht schlecht sein, wenn der Baum gut gelagert wurde. Aber grundsätzlich ist ein frischer Baum natürlich vorzuziehen. Auch deshalb lohnt es sich, den Weihnachtsbaum direkt beim Bauern oder Waldbesitzer zu kaufen. Oder – noch schöner – ihn eigenhändig zu fällen. Vor den Toren der meisten größeren Städte gibt es inzwischen Baumschulen, die das Selbersägen anbieten. Immer populärer wird es, einen Baum im Topf zu kaufen. Sogar eine Baummiete mit Rückgabe nach Weihnachten ist möglich. Doch Töpfe haben ihre Tücken. Eingetopft fühlen sich die Bäume unwohl, denn sie sind Pfahlwurzler, die viel Platz im Boden brauchen. Das Zurechtstutzen für den Topf beschädigt sie in den meisten Fällen irreversibel. Besser ist es, sie von Beginn an im Topf großzuziehen. Das aber führt dazu, dass die

Bäume langsamer wachsen und ihre Produktion teurer wird. Der Umzug aus der winterlichen Kälte in die warme Wohnung ist für sie außerdem purer Stress. Wieder ausgepflanzt, wachsen sie nur selten an und gehen ein. Auch Mietbäume wandern nach dem Ausflug ins Wohnzimmer nicht selten auf den Müll. Doch die meisten Weihnachtsbäume machen sich nach ihrem Ableben nützlich. Sie werden kompostiert, mit hohem Heizwert verbrannt oder verfüttert: Viele Zoos geben sie Elefanten, Dromedaren und Zebras zu fressen, die das Nadelgrün mit Genuss verspeisen.

Nadeln und Stamm verraten, wann ein Baum geschlagen wurde Der Nadeltest: Den Baum anheben und auf den Boden schlagen. Wiederholen. Verliert er wieder Nadeln, ist er trocken. Der Stammtest: Ist die Schnittstelle am Stamm grau, wurde er vor Längerem gefällt.

Text Ulf Schönert

Illustration Oriana Fenwick

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WAS DAMALS GESCHAH

07 06 94 Am 7. Juni 1494 unterzeichnen ein paar Unterhändler der spanischen und der portugiesischen Krone in einem Örtchen nahe der Grenze einen Vertrag – und teilen dadurch die ganze Welt zwischen sich auf. Mit Folgen bis heute Text Tobias Hürter

Collage: Christopher Lehnert (verw. Bilder: imago; mauritius images (5); Bridgeman Images; akg; interfoto)

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in Stadtpalast in Tordesillas, einer Kleinstadt in der kastilischen Hochebene im Norden Spaniens, nicht weit von der Grenze zu Portugal. Im Kartensaal kratzen Federn über Pergament, der Geruch von heißem Siegellack liegt in der Luft. Männer mit ernsten Mienen unterzeichnen eine Urkunde, von der sie wissen, dass sie die Welt verändern wird. Unter ihnen Enrique Enríquez, der Schatzmeister des spanischen Königspaars, und der Edelmann Rui de Sousa, Chefunterhändler des portugiesischen Königs. Einen Festakt gibt es nicht. Kein Bankett, keine feierliche Messe ist überliefert. Sowieso ist so gut wie nichts über den Ablauf dieses Tags bekannt. Die Unterzeichnung des Vertrags von Tordesillas am 7. Juni 1494 ist ein schlichter Verwaltungsakt. Kaum zu glauben angesichts seiner Tragweite. Mit diesen Federstrichen im Kartensaal teilten Spanier und Portugiesen die gesamte Welt unter sich auf – sowohl die bekannte Welt als auch die noch zu entdeckende. Abermillionen Menschen, die nie einem Europäer begegnet sind, erklärten sie damit zu ihren Untertanen. Es ist der Höhepunkt des Kolonialismus. Ein wichtiger Mann, vielleicht der wichtigste an diesem Tag, sitzt nicht mit am Tisch: Papst Alexander VI. Der genaue Verlauf der Grenze interessiert ihn nicht – solange beide Seiten katholisch sind. Er ist die höchste Autorität für die spanischen und portugiesischen Monarchen, er gibt ihrer Hybris den apostolischen Segen. Wie aber kommen zwei Länder auf die Idee, die Welt unter sich aufzuteilen? Diese Geschichte beginnt schon etwas früher: Nach jahrhundertelangen Kämpfen, der Reconquista, haben es die Christen etwa ein Jahr zuvor geschafft, die Mauren von der Iberischen Halbinsel zu vertreiben. Die Spanier fühlen sich stark: Das spanische Herrscherpaar, Königin Isabel von Kastilien und König Fernando von Aragón, genannt Reyes Católicos (katholische Könige), wendet sich als Nächstes den Juden zu, um auch sie zu verscheuchen. Ihre Seefahrer entdecken ein Neuland nach dem anderen. Und vom Papst haben sie die Erlaubnis, die entdeckten Gebiete christlich zu missionieren. Die Welt ist dabei, spanisch zu werden.

97 Aber da ist ein Widersacher: Portugal. Auch das Nachbarland ist eine Seemacht, stiller zwar, aber nicht minder umtriebig. Anfang des 15. Jahrhunderts begannen portugiesische Seefahrer mit ihren Fahrten entlang der Küste Afrikas. Sie suchten eine Passage nach Indien, um zu Wasser an die Schätze des Orients zu kommen, zu denen die Osmanen den Landweg versperrten. Den portugiesischen Seglern ist es gerade gelungen, das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas zu umschiffen, da kehrt, im März 1493, der italienische Seefahrer Christoph Columbus von seiner Fahrt über den Atlantik zurück – beauftragt von der kastilischen Krone. Wem aber, fragten sich die beiden Mächte, soll das neu gefundene Land und alles, was es noch zu finden gibt, gehören?

Sie verhandelten monatelang. Mal passte der Verlauf der Weltgrenze den Spaniern nicht, mal nicht den Portugiesen Portugals König João II. machte seine Ansprüche geltend. Er berief sich auf eine Papstbulle namens Aeterni regis von 1481, der zufolge Portugal alle Gebiete zustanden, die südlich der Kanarischen Inseln lagen. Folglich auch die Inseln Hispaniola und Kuba, auf die Columbus seinen Fuß setzte. Das passte den Spaniern nicht. Die Spannung zwischen den beiden Kolonialmächten wuchs. Beide suchten den Seeweg nach Indien. Beide waren stramm katholisch. Sie wollten die Welt erobern, sich aber nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Für eine Schlichtung wenden sich die Reyes Católicos an die höchste Autorität der katholischen Welt: an den Papst. Sein Schiedsspruch soll Frieden stiften unter den iberischen Seemächten. Papst Alexander VI. nennt sich selbst damals »Diener der Diener Gottes«, jedoch: Er diente auch gern den weltlich Mächtigen. Alexander VI. war bestechlich, und die Spanier wussten es. Noch dazu stammte er aus Spanien, er kannte Isabel und Fernando

seit deren Jugend. Der korrupte Deal, den er mit dem spanischen Königspaar abschloss: Ihr gebt mir das Herzogtum Gandia an der spanischen Mittelmeerküste, dafür gebe ich euch den größeren Teil der Welt. Das ergaunerte Herzogtum bekam sein Lieblingssohn Juan Borgia. Im Klerus der Renaissance war es nicht ungewöhnlich, den Frauen zugewandt zu sein. Alexander VI. hatte mehrere Kinder und hatte schon als junger Prälat eine Rüge wegen seines ausschweifenden Sexlebens bekommen – von Papst Pius II. Der Dominikaner und Dissident Girolamo Savonarola schimpfte später: »Ihr Kirchenführer, nachts geht ihr zu euren Konkubinen und morgens zu euren Sakramenten.« Jedoch: Da war Alexander schon selber Papst und exkommunizierte Savonarola für diese Aussage. Die Linie, mit der der Papst also die Welt teilte, verlief gerade längs durch den Atlantik, vom Nordpol zum Südpol, 100 Léguas (knapp 500 Kilometer) westlich der Kapverdischen Inseln. Alle Territorien westlich dieser Linie, also ganz Amerika, sollten an die spanischen Könige und ihre Erben gehen, »für immer«. Alles, was östlich der Linie lag, also Afrika und Asien, an Portugal. Wer die Linie unerlaubt überquert, dem droht der Ausschluss aus der Kirche, sprich: ewiges Schmoren in der Hölle. Ausgenommen von der Aufteilung waren nur die Gebiete, in denen bereits ein christlicher König herrschte, also die Länder des alten Europa. Im Rest der Welt, ermahnte der Papst die beiden Kolonialmächte, seien sie nun dafür zuständig, das Christentum zu verbreiten. In seiner Bulle Inter caetera schrieb er im Juni 1493: »Da Ihr sorgfältig alle Dinge erwogen habt, hauptsächlich die Erhöhung und Ausbreitung des katholischen Glaubens, wie es katholischen Königen und Fürsten zukommt, beschlosset Ihr, die genannten Länder und Inseln und deren Bewohner zu unterwerfen und diese mithilfe der göttlichen Barmherzigkeit zum katholischen Glauben zu bekehren.« Doch diesmal passte der Verlauf der Linie den Portugiesen nicht. Sie legten Einspruch ein. Das Treffen der Unterhändler der spanischen und der portugiesischen Krone in Tordesillas war die Folge: Monatelang verhandeln sie und schieben die päpstliche Demarkationslinie hin und her. Die Portugiesen sind in einer schlechten


Position: Sie befinden sich auf fremdem Boden. Sie haben den Papst gegen sich. Sie sind den Spaniern militärisch unterlegen. Ihr König João II. fürchtet eine Invasion aus Kastilien und Aragon. Doch er hat ein Netz an Spionen und berittenen Kurieren, die ihn über die Absichten der Spanier auf dem Laufenden halten und seine Anweisungen an den Verhandlungstisch nach Tordesillas überbringen. Seine Unterhändler ringen den Spaniern einen neuen Grenzverlauf ab: diesmal liegt er etwa 1800 Kilometer westlich der Kapverdischen Inseln. Was die Spanier übersehen: Die Portugiesen bekommen damit nicht nur einen mehr als tausend Kilometer breiten Streifen Ozean dazu, sondern auch den Osten des amerikanischen Kontinents, das heutige Brasilien. Womöglich hatten portugiesische Seefahrer die Küste bereits gesichtet, als sie auf den Törns um das Kap der Guten Hoffnung weit nach Westen ausholten. Mit der neuen Linie konnten sie nun ihre Suche nach einem Seeweg nach Indien fortsetzen – unbehelligt von den Spaniern. Die Folgen der Aufteilung sind bis heute hörbar: Die Brasilianer sprechen Portugiesisch, die übrigen Südamerikaner Spanisch. Der Papst bekommt sowieso, was er will. Spanier und Portugiesen tragen den Katholizismus in für sie ferne Gegenden. Der Kirche kommt die Expansion gerade recht. In ihrem europäischen Stammgebiet ist sie in der Defensive, bedrängt von den Osmanen, die gerade Konstantinopel erobert haben, später auch von der Reformation, die die europäische Christenheit spaltet. Der Vertrag von Tordesillas ebnet den Weg des Christentums zur Weltreligion. Frieden stiftet er allerdings nicht. Die genaue Bestimmung des Längengrads, auf dem die Trennlinie verläuft, ist auf See eine schwierige Angelegenheit, sie wurde erst Jahrhunderte später mit präziseren Instrumenten möglich. So legen beide Großmächte den Vertrag zu ihren Gunsten aus. Immer wieder gibt es Streit, zum Beispiel um die Molukken, eine indonesische Inselgruppe, auf der begehrte Gewürze wie Muskat, Pfeffer, Zimt und Nelken wachsen. Das größte Leid bringt der Vertrag den Menschen, die in den besetzten Gebieten leben: Millionen von Menschen, allein auf dem amerikanischen Kontinent. Bei ihrer gierigen Suche nach Gold, Silber und an-

Es ist nicht viel bekannt über die Unterzeichnung des Vertrags von Tordesillas Ende des 15. Jahrhunderts. Die Folgen dieser Zusammenkunft spanischer und portugiesischer Männer sind bis heute auf der ganzen Welt zu spüren. Gefragt wurde die Welt nie

deren Rohstoffen, nach bebaubarem Land für Zucker- und Kaffeeplantagen zettelten die Europäer Kriege an und versklavten Einheimische, christliche Missionare unterdrückten die indigene Kultur brutal und zwangen Menschen zu Massentaufen. Außerdem schleppten die Fremden Krankheiten wie Pocken und Masern ein, die die Bevölkerung vor Ort dezimierten. Der amerikanische Kontinent war schon vor dem Einfall der Europäer kein Paradies gewesen. Auch die dort ansässigen Azteken und die Inka unterwarfen und unterdrückten andere Völker – welche nun, mit den Fremden, auf Freiheit und faire Bündnisse hofften. Doch sie irrten sich. Die neuen Unterdrücker waren schlimmer. In Spanien und Portugal entbrannten zu dieser Zeit heftige Diskussionen über den Umgang mit der indigenen Bevölkerung in der »Neuen Welt«. Der spanische Dominikaner Bartolomé de Las Casas, der anfangs selbst an der Kolonisation Kubas und Hispaniolas beteiligt war, kritisierte die Versklavung und die brutale Bekehrungspraxis und machte sich für Menschenrechte jenseits des Atlantiks stark. Juristen der Krone stimmten ihm zu. Königin Isabel stellte klar, dass ihre neuen Untertanen freie Menschen der Krone seien. In Portugal plädierten die Jesuiten für den Schutz der indigenen Bevölkerung. Doch Leuten wie dem Spanier Hernán Cortés waren solche Debatten egal. Sie hatten keine Skrupel. Sie wollten kein Heil bringen in die ihnen fremden Landstriche, sie wollten reich werden. Wenn sie meinten, irgendwo Arbeitskräfte zu brauchen, dann verschleppten sie Sklaven dorthin, auch von Afrika nach Brasilien. »Für immer« galt der Vertrag von Tordesillas dann jedoch nicht. In Europa wuchsen neue Seemächte heran: Frankreich, England, die Niederlande. Auch brachen dort Konfessionskriege zwischen Protestanten und Katholiken aus. Die päpstliche Drohung der Exkommunikation verlor an Schrecken. König François I. von Frankreich beschwerte sich mit einer Deklaration an Karl V., Kaiser des Römischen Reiches (und auch König von Spanien): »Die Sonne scheint für mich wie für andere. Ich würde sehr gerne die Klausel von Adams Willen sehen, durch die mir mein Anteil an der Welt verweigert werden sollte.«

Illustration: Bridgeman Images

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99 Da Spanien seine Feldzüge in Europa durch die Ausbeutung der Kolonien finanzierte, betrieben Niederländer, Engländer und Franzosen dort Piraterie: Sie jagten den spanischen Flotten die Reichtümer ab und besetzten Inseln als Stützpunkte. Noch heute zeugen niederländische, französische und britische Inseln in der Karibik davon: Curaçao, Martinique, die Jungferninseln. Das lange Ende der Kolonialzeit begann mit der Unabhängigkeitserklärung der USA im Jahr 1776 und der Französischen Revolution im Jahr 1789. Es folgten weitere Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika und auf dem amerikanischen Kontinent. Im Jahr 1808 gab es erste Aufstände im heutigen Bolivien, dann auch in anderen Ländern unter der spanischen Krone. Bürgerkriege entbrannten zwischen königstreuen und aufständischen Südamerikanern. Unabhängigkeitskämpfer wie Simón Bolívar setzten sich für die Souveränität ihrer Länder ein. Die portugiesische Krone sparte sich solche Auseinandersetzungen in Brasilien:

Sie entließ das Land im Jahr 1822 kampflos in die Unabhängigkeit. In Afrika jedoch hielt sie an ihren Kolonien fest. Angola und Mosambik wurden erst 1975, nach jahrelangen Kriegen und der Nelkenrevolution, von Portugal unabhängig. Damit endete der portugiesische Kolonialismus nach fünf Jahrhunderten. Heute gilt die Linie, die Papst Alexander VI. einst von Pol zu Pol zog, nirgends mehr als Grenze. Aber sie wirkt fort: Die katholische Kirche ist in den ehemaligen Kolonien von Spanien und Portugal besonders stark. Der Amtsnachfolger von Alexander VI., das derzeitige Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, stammt selbst aus Argentinien. Spanisch wurde – nach Mandarin – zur zweithäufigsten Muttersprache der Welt, Portugiesisch zur siebthäufigsten. Die Rivalität zwischen Spanien und Portugal blitzt noch heute auf, wenn Argentinien und Brasilien gegeneinander Fußball spielen. Der Superclásico de las Américas lässt die

Emotionen hochkochen wie keine andere Paarung (in der Statistik führt Brasilien derzeit ganz knapp nach Siegen und Toren). Manche Brasilianer betrachten ihr Land nicht einmal als Teil Lateinamerikas. Im Fach Lateinamerikanische Geschichte, das an brasilianischen Schulen und Hochschulen unterrichtet wird, geht es vor allem um die Geschichte der spanischsprachigen Länder Amerikas – nicht aber um die Geschichte Brasiliens. Die Linie von Tordesillas war nur eine von vielen, die Männer auf Landkarten zogen (siehe auch Seite 18). Manche sind noch heute in unseren Atlanten zu finden, wie die Staatsgrenzen Ägyptens, Angolas und Kenias oder die zwischen Syrien und dem Irak. Auch die Ränder der amerikanischen Bundesstaaten Colorado und Wyoming bilden fast perfekte Rechtecke. Sie alle wurden an weit entfernten Tischen gezogen, ohne Rücksicht auf die betroffenen Menschen, Gemeinschaften und Landschaften. Es sind Mahnmale des Machtmissbrauchs.

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EIN FEST DER LIEBE »Ich will mit dem gehen, den ich liebe«, heißt es in einem wunderbaren Gedicht von Bertolt Brecht. Ist doch gar nicht so schwer, die Liebe. Oder etwa doch?

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BÜCHER Wenn von der Liebe nur noch die Erinnerung bleibt

Was geschieht mit der Liebe, wenn der geliebte Mensch plötzlich stirbt? Wohin dann mit all der Liebe, die man noch in sich trägt? Das ist die Frage, die Paul Austers wundervollen neuen kleinen Roman vorantreibt. Anna ist gestorben, die Dichterin und Frau von Sy, einem emeritierten Phänomenologen aus Prince­ton. Fast ein ganzes Leben lang waren sie zusammen gewesen, sie war eine Abenteurerin des Lebens, er eher so ein Denk-Abenteurer. Eines Tages wurde sie von einer Riesenwelle vor ­Cape Cod auf den Meeresgrund geschmettert und war tot. Der zaghafte Sy hatte sie noch gewarnt. Aber – sie hatte sich noch nie und auch nicht von ihm vor irgendetwas warnen lassen. Bei ihrer Beerdigung wäre er ihr fast ins Grab hinterhergestürzt. Aber er rettete sich noch mal zurück. Jetzt lebt er ohne sie und weiß nicht, wie das geht, warum er noch da ist und wie man das macht – eine Tote lieben. In Erinnerungen leben. Der große New Yorker Schriftsteller Paul Auster, der ein Leben lang mit der Autorin Siri Hustved verheiratet ist und schwer an Krebs erkrankt ist, hat in diesem Buch gewiss auch ein wenig seine lebenslange Liebe zu seiner Frau beschrieben.

Und die Angst vor einem Leben allein, irgendwann. Vielleicht auch, um – Magie der Literatur – diese Angst schreibend zu bannen. Einmal telefoniert Sy sogar mit der toten Anna. Sie erzählt ihm alles über ihr Leben danach. Das ist unglaublich schön, traurig und auf wunderliche Weise einfach wahr. Paul Auster: Baumgartner, 2023, Rowohlt, 208 S. Seid leidenschaftlich, nicht distanziert

Richtig zu lieben, ist gar nicht so einfach. Die Soziologin Eva Illouz, Jahrgang 1961, verortet die Liebe ebenso wie die Unfähigkeit zu lieben im Wertesystem einer Gesellschaft. Sie macht den Kapitalismus dafür verantwortlich, dass die Liebe für F ­rauen kompliziert ist, insbesondere wenn sie Familiengründung mit Romantik kombinieren wollen. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut (642 S.); Warum Liebe endet (474 S.), beide 2023, Suhrkamp Das Alphabet der Liebe

Die sprachlichen Figuren eines Liebenden, mal stammelnd, mal staunend, von »anbetungswürdig« bis »zugrunde gehen«: In fein gezeichneten Szenen versucht der französische Philosoph, ein Gefühl zu verstehen. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, 1977, Suhrkamp, 399 S.

Eine Woche Beziehungswerkstatt

Wenn die Liebe abkühlt und Missgunst und Sticheleien überhandnehmen, schlägt die Stunde des Therapeuten-Paars John und Julie Gottman. Aus ihrem ­»Love Lab« in Seattle ist eine kleine Bibliothek evidenzbasierter Beziehungsliteratur hervorgegangen, zuletzt dieser pragmatische Ratgeber. Beispiel Tag 2: Stelle eine große Frage. So wie damals, als ihr euch kennengelernt habt und alles über­ein­an­der wissen wolltet. John and Julie Gottman: The Seven-Day Love Prescription, 2022, Penguin, 208 S. Das Buch erscheint im Februar auf Deutsch bei Ullstein Literatur-Nobelpreisträger über das größte Gefühl Samuel Beckett: Erste Liebe (1945) Joseph Brodsky: Liebesgedichte (1962)

Alice Munro: Die Liebe einer Frau (1998) Bob Dylan: I Want You (Song, 1966) Jon Fosse: Trilogie (2014)

Wollust, Sex und Sentiment

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»Ich wünschte, wir würden unsere Verletzlichkeit nicht verbergen«

Eva Illouz, Soziologin

Junge Liebe in der Graphic Novel »Diebin«; Erste Hilfe für die kaputte Liebe von den Gottmans

liebenden Deutschen, 2006, Gerd Haffmans bei Zweitausendundeins, 679 S.

Abb.: Rowohlt Verlag; Reproduktion Verlag; Penguin Books UK; Corinna Kern/laif; Illustration: Christoph Lehnert

Ein Liebesgedicht

ich liege bei dir / deine arme halten mich / deine arme halten mehr als ich bin / deine arme halten / was ich bin / wenn ich bei dir liege und deine arme mich halten (Ernst Jandl) Das Leuchten der Augen zu fortgeschrittener Stunde

Hübsch machen, nervös sein, ein unsicheres »Hallo!«, sich ein bisschen öffnen, Bier, dein Lächeln, Sex, »Bis bald!«, no new messages. Die 25-­jährige Comic-Künst­­lerin He­lena Baumeister erzählt in ausdrucksvollen Bleistiftzeichnungen von ihrem Online-Dating und der verzweifelten Sehnsucht nach Nähe und Inti­­­mität. Helena Baumeister: oh cupid, Graphic Novel, 2023, Avant Verlag, 104 S. Geklaute Herzen

Als Ella und Madeleine ein Liebespaar werden, beginnt eine witzige und anrührende Teenager-Lovestory, von der man gar nicht viel verraten darf – außer dass die Graphic Novel nicht zufällig Diebin heißt. Und dass die französische Zeichnerin Lucie Bryon packende Bilder findet für das Innen­leben der beiden, für ihre Zuversicht und Angst. Man wünscht den beiden sooo sehr, dass alles gut ausgeht. 2023, Reprodukt, 208 S.

Die Betrogenen

Sieben Jahre nach ihrem Skandalerfolg Das sexuelle Leben der Catherine M. legte die französische Autorin diese qualvolle Introspektion vor: Eine Frau findet auf dem Schreibtisch ihres Mannes das Foto einer nackten Schwangeren. Catherine Millet: Eifersucht, 2010, Hanser, 221 S. Die Getrennten

Rachel Cust, 1967 geboren, beschreibt schonungslos, auch sich selbst gegenüber, die Implosion ihrer Ehe, als ihr Mann nach der Geburt der Töchter die Familienarbeit übernimmt. Rachel Cust: Danach. Über Ehe und Trennung, 2020, Suhrkamp, 187 S.

Seit du mich abgeholt hast, wollte ich dich küssen

Willkommen in der Egoperspektive! Wer die Graphic Novel In meinen Augen liest, wird Teil einer Liebesgeschichte – denn man sieht immer nur das Gegenüber: eine junge Frau, in die man sich über beide Ohren verlieben wird. Bastien Vivès: In meinen Augen, Graphic Novel, Reprodukt, 136 S.

FILME & SERIEN Völlig schwerelos

Irgendwo zwischen Jupiter und Saturn, da treibt seit drei Jahren ein Raumschiff. An Bord schwindet die Hoffnung, die Erde wiederzusehen. Kapitänin ­Jane und LeutDie Feministischen Sie wünschen sich feministische Gra­ phic­ nant Adam kommen sich näher, dann steht Novels zum Thema? Dann lesen Sie bitte die Frage im Raum: Wollen wir mit­ein­an­der die­se von Liv Strömquist: Der Ursprung der schlafen? Sie tun es, werden doch gerettet, Liebe (2018) und Ich fühl’s nicht (2020). treffen zu Hause auf ihre früheren Lieben – und nichts ist mehr wie zuvor. Die RomanBeide Avant-Verlag, 136 S. bzw. 176 S. tic Comedy If You W ­ ere the Last geht großen Fragen nach: Was eigentlich verbindet Paare Die Unglücklichen Die 300 Briefe vom berühmtesten Liebes- im Kern? Und: Wie viel Abstand verträgt paar der deutschsprachigen Literatur kom- ­ei­ne Beziehung? Spielfilm, 2023, 89 Min. men aus der Beziehungshölle, sind eine Sensation, und manchmal kann man kaum Top 5 Liebe in Animationsfilmen glauben, was man liest. Ingeborg Bachmann/ 1. Elemental (2023), 2. Susi & Strolch (1955), Max Frisch: »Wir haben es nicht gut gemacht«. 3. Chico und Rita (2010), 4. Der Mohn­blu­ Der Briefwechsel, 2022, Suhrkamp, 1039 S. men­berg (2011), 5. Wall-E (2008)


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Hongkong, 1962. Zwei Nachbarn finden heraus, dass ihre Partner eine Affäre haben, und verbringen immer mehr Zeit mit­ein­an­ der. Wong Kar-Wais In the Mood for ­Love wurde mit Preisen überhäuft. Es ist ein zaghafter und prächtig ausgestatteter Film, jede Szene ein kleines Juwel. 2000, 98 Min. Marianne und Connell

Diese Geschichte wiederholt sich in jeder Generation: Der coolste Typ in der Schule verliebt sich in das Mauerblümchen. Das aber darf niemand erfahren, denn dann wäre er nicht mehr cool. Normal People spielt in der Gegenwart und ist brillant. Für alle, die gute Schauspielerei schätzen. TVSerie, 2020, 12 Folgen (ZDF Mediathek) John und Yoko

Die beiden, 1971, bei den Aufnahmen zum Album Imagine ... was für ein Paar! Above Us Only Sky, Dokumentarfilm, 2018, 90 Min. Alma und Tom

Alma (Maren Eggert) lässt sich überreden, an einer Studie teilzunehmen: Sie soll drei Wochen mit dem humanoiden Roboter Tom (Dan Stevens) zusammenleben. Seine KI wird auf ihre Bedürfnisse programmiert. Doch dann geschieht etwas Ungeplantes: Alma verliebt sich. Eine kluge Komödie. Ich bin dein Mensch, Spielfilm, 2021, 108 Min.

Deine Hand, ein letztes Mal

Das südkoreanische Mädchen Na-young ist verknallt in ihren Freund Hae-sung. Dann zieht sie mit ihren Eltern in die USA. Jahr­ zehnte später sehen sich die beiden wieder. Sie heißt jetzt Nora, ist verheiratet, hat ihn aber nie vergessen. Das für den Goldenen Bären nominierte Filmdrama Past ­Lives findet seinen Höhepunkt, als Nora in einer Bar zwischen den Männern sitzt, die sie auf ihre Weise lieben. »Da fühlt sie sich wie ein Donut«, sagt Regisseurin Celine Song, auf deren Leben Past ­Lives basiert: »Sie trägt ein kleines Loch in sich.« 2023, 106 Min. 300 Sekunden nach Feierabend

Wenn man nur oft genug miteinander redet, funkt es irgendwann? Érik und Melissa haben gar nicht vor, das herauszufinden – sie gehen nur jeden Tag nach der Arbeit gemeinsam zum Bus und quatschen. 18.30 Uhr. 2020+, 50 Episoden à ca. 5 Min. (Arte) Der ist nichts für dich

Die Putzfrau Emmi (Brigitte Mira) verliebt sich in Ali (El Hedi ben Salem), den keiner fragt, was er so macht, denn »Gastarbeiter«: Das reicht ja für »so einen«. Rainer Werner Fassbin­ders Melodram zeigt die Ausländer­ feind­lichkeit in den Siebzigerjahren und wie sie die Menschen zerfrisst. Fun Fact: Salem war zu dieser Zeit Fassbinders Liebe. Angst essen Seele auf, Spielfilm, 1974, 89 Min.

DIGITALES Ich bin’s, Florence

Dieses Videospiel ist einzigartig: In Florence bringt man zwei Menschen ein­an­der tastend näher, bis sie sich be­rühren. Wer wissen will, wie ein Spiel eine Liebesgeschichte mit all ihrer Poesie und fast ohne Wörter erzählen kann, muss es spielen. Denn wie im Leben entsteht auch hier die Liebe nur durch Tun. Florence, 2018+, versch. Plattformen Die Männer starren uns alle an! Vielleicht sind sie neidisch.

Was war da los, als vor drei Jahren The Last of Us Part II erschien! Der Nachfolger eines der besten Videospiele überhaupt war noch besser geraten als Teil I – aber was war das? Mitten in der Zombiestory fand sich eine tief und breit erzählte lesbische Lie­ bes­ geschich­te zwischen Hauptfigur Ellie und ihrer Freundin Dina. Boykott! Das riefen die einen. Die anderen waren mehr: Das ­Game legte einen Verkaufsrekord hin. Der­ zeit wird auch dieser Teil von The Last of Us als Fernsehserie verfilmt. 2020+, Playstation Top 5 Videospiel-Liebeleien

1. Super Mario, Bowser & Prinzessin Peach, 2. Guybrush und Elaine (Monkey Island), 3. Chloe und Max (Life is ­Strange), 4. Na­ than ­ Drake & Elena Fisher (Uncharted), 5. Ilanya und Driana (World of Warcraft)

»Normal People« und »Florence«: Geschichten vom Anfang der Liebe

Abb.: Enda Bowe/ZDF; Mountains Studio; Janine Meyer/NDR; Illustrationen: Christoph Lehnert

Frau Chow und Herr Chan


Öffentlich-rechtliche Paartherapie

Schön, dich zu treffen!

Vielen Dank an alle Paare, die sich zu Eric Hegmann auf die Couch setzen und über ihre Beziehung reden, bis die Fetzen fliegen, während alle Welt zuhören darf. Hegmann versucht, negative Muster zu erkennen und zur besseren Kommunikation anzuleiten. Immer wieder stößt er an Grenzen, die er mit Host Maria Richter reflektiert. NDR 2: Die Paartherapie, 8 Folgen, auf allen PodcastPlattformen. Ähnliches Prinzip auf Englisch: »Where should we begin?« mit Esther Perel Liebesgeschichten in the City

Nell gewinnt eine Hochzeitsreise, aber plötzlich macht ihr Verlobter Schluss. Sie nimmt statt seiner eine Freundin mit – und erkennt, dass sie ­Frauen liebt. In diesem Podcast erzählen Menschen wie Nell ihre Geschichten. Oft überraschend, manchmal schmerzhaft, zum Mitfiebern. New York­ Times: Modern ­Love, englischsprachiger Podcast. Ähnliches Prinzip, aber jünger und auf Deutsch: 1000 erste ­Dates Frag nach im Regenbogenchat

Texte: Hella Kemper, Max Rauner, Sven Stillich, Volker Weidermann

An junge Erwachsene und Jugendliche ab zwölf Jahren richtet sich das Queer Lexikon – aber auch an deren Eltern und an alle anderen, die Fragen haben zu sexueller, romantischer und geschlechtlicher Vielfalt. Sie alle finden hier Wissenswertes, Unterstützung und Orien­tie­rung. queer-lexikon.net

Dieser Instagram-Kanal fragt Paare auf den Straßen von New York, wie sie sich gefunden haben. Bewegend: die Geschichte eines Bahnhofsmitarbeiters, der jeden Tag einen Zug zu einem bestimmten Gleis umgeleitet hat, um eine Frau wiederzusehen. @meet­ cutesnycs (Geschichte unter ­t1p.de/lovetrain) Vertragen wir uns wieder?

Heutzutage ist Technologie der Heilsbringer für alles, also gibt es massig Web­sites und Apps zur Beziehungspflege. Gut und nützlich ist damit-die-liebe-bleibt.de. Die dazu­ge­ hörige Paaradies-App (iOS, Android) gibt zum Beispiel Tipps, wie man Konflikte löst, und sie hilft, mit­ein­an­der in Kontakt zu bleiben – auch mit virtuellen Liebesbriefen. Ja, ich will! Du auch?

»Die App für alle, die innerhalb des nächsten Jahres heiraten wollen. Informativ, inspirierend, ein wenig romantisch. Und einfach schön!«, wirbt die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung – und die App (iOS, Android) hilft wirklich, einen kühlen Kopf zu behalten. ehe-wir-heiraten.de Schön, dass es uns gibt! Die App My ­Love – Beziehungsrechner (iOS,

Android) zählt, wie lange man zusammen ist. Dadurch gibt es immer wieder was zu feiern – den 333. Tag, den 100. Monat ...

DIE GLORREICHEN

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7 Liebe ist nicht alles: Weitere ­lesenswerte Neuerscheinungen Werner Bätzing, Kulturgeograf und Alpenforscher, umkreist mit Homo destructor die drängendste Frage der Gegenwart: Kann der Mensch leben, ohne zu zerstören? C. H. Beck, 462 S. Ein Sammelsurium der Ängste ist Fürchten lernen, das neue Buch des Comiczeichners Nando von Arb. Es ist aber auch: witzig, rührend – und ein Kunstwerk. Edition Moderne, 428 S. Wie klein der Unterschied zwischen Hauskater und Puma ist, das erzählt Jonathan Losos in Von der Savanne aufs Sofa, einer Evolutionsgeschichte der Katze. Hanser, 382 S. Sie wollten nie etwas über Caspar ­ avid Friedrich wissen? Stimmt nicht. D Bitte lesen Sie Florian Illies’ Zauber der Stille, S. Fischer, 256 S. Eine kleine Geschichte des Windes von Kerstin Decker erklärt die Welt aus der Luft. Von Atmen bis Jetstream. Piper, 256 S.

»Es kann helfen, sich als Paar zu gemeinsamen Komplizen gegen eine negative Dynamik zu machen«

Dem Therapeuten Eric Hegmann hört man im Podcast bei der Arbeit zu

Weiße Löcher sind Staubsauger im Rückwärtsgang. Sie spucken Materie ins All – bisher aber nur in der Theorie. Carlo Rovelli erklärt sie leichtfüßig. Für alle, die Sterne lieben. Rowohlt, 160 S. Wohlstand ohne Wachstum? Dabei hilft ein Konzept aus der Physik, sagt der Klimaforscher Anders Levermann: Die Faltung der Welt, Ullstein, 272 S.


104 LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, JETZT SIND SIE DRAN! Am Anfang jeder Ausgabe von ZEIT WISSEN­ stellen wir drei Fragen. Am Ende des Heftes wünschen wir uns jetzt von Ihnen eine Frage. Welche kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Silvestergedeck auf dem Bild rechts betrachten? Schreiben Sie uns bitte bis zum 8. Januar 2024. Die beste eingesandte Frage beantworten wir in der nächsten Ausgabe. Gewinnen können Sie den aktuellen ZEIT-Bildband »Hotels zum Verlieben«

Die Redaktion erreichen Sie unter: redaktion@zeit-wissen.de

Recherchequellen: Unter zeit.de/serie/quellennachweis-zeit-wissen finden Sie zu ­zahlreichen Artikeln dieser Ausgabe die Studien und Bücher, die unsere Autoren und Autorinnen zurate gezogen haben. Social Media: Folgen Sie uns auf Instagram unter @zeitwissen und auf facebook.com/zeitwissen.

Podcast: Unser ZEIT WISSEN-­Podcast »Woher weißt Du das?« erscheint alle zwei Wochen mit Reportagen, Hintergrund­infos und Interviews zu spannenden Themen. Zu hören ist er unter zeit.de/zeitwissen-podcast sowie auf Spotify und allen anderen großen Podcast-Plattformen.

Das nächste ZEIT WISSEN erscheint am 16. Februar 2024 IMPRESSUM Chefredakteur Andreas Lebert

Layout Christoph Lehner

Art-Direktion Wiebke Hansen

Autoren Niels Boeing, Sven Stillich

Redaktion Hella Kemper, Dr. Max Rauner, Katrin Zeug

Erich Follath, Horst Güntheroth, Corinna Hartmann, Tobias Hürter, Christine Lemke-Matwey, Nina Lennartz, Johanna Michaels, Dr. Insa Schiffmann, Ulf Schönert, Luisa Stamenkovic, Silke Weber, Volker Weidermann Online-Redaktion Jochen Wegner (verantw.) Korrektorat Thomas Worthmann (verantw.), Oliver Voß (stellv.) Geschäftsführung Dr. Rainer Esser Verlagsleitung Magazine Sandra Kreft, Malte Winter (stellv.) Magazine Management Fanny Märcz Verlagsleitung Marketing und Vertrieb Nils von der Kall Leitung Unternehmens­kommunikation und Veranstaltungen Silvie Rundel Anzeigen ZEIT Media, www.media.zeit.de Herstellung und Schlussgrafik Torsten Bastian (verantw.), Patrick Baden, Stefanie Fricke, Oliver Nagel Repro Mohn Media Mohndruck GmbH Druck Firmengruppe APPL, appl Druck, Wemding Anzeigenpreise ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 19 vom 1. Januar 2023 Abonnement Jahresabonnement (6 Hefte) 47,40 Euro, Lieferung frei Haus, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice: Telefon 040/42 23 70 70, Fax 040/42 23 70 90, E-Mail abo@zeit.de, www.zeit.de/zw-abo Anschrift ZEIT Wissen, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon 040/32 80-0 Diese Ausgabe enthält in einer Teilauflage Publikationen folgender Unternehmen: Clark Germany GmbH, 60329 Frankfurt am Main; Deutsche Fernsehlotterie gGmbH, 20149 Hamburg; Plan International Deutschland e. V., 22305 Hamburg; Walbusch Walter Busch GmbH, 42646 Solingen Mitarbeiter dieser Ausgabe

Foto: Miguel Vallinas Prieto

Herausgeber Andreas Sentker Bildredaktion Sebi Berens


DIE BESTE FRAGE AM SCHLUSS

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Vielen Dank für Ihre zahlreichen Einsendungen zu diesem Bild im vorigen Heft. Gewonnen hat die Frage von Vesna Roos

Text Luisa Stamenkovic

Foto Kurt Bauer

WEINEN WIR ANDERS, WENN WIR ALLEIN SIND?

W

enn in einem samoani­ schen Naturvolk jemand stirbt, wird er mit lauten Klageliedern von seiner Gemeinschaft zu Grabe getragen. Als Alvin Borgquist, ein Psychologiestudent an der Clark University, 1906 die weltweit erste Studie über das Weinen veröffentlichte, beschrieb er das Weinen der samoanischen Männer und ­Frauen als »kindisch und na­ türlich«. Und weiter: Ein Samoaner gelte als umso vornehmer, je lauter er weine. Mehr als hundert Jahre später, ein Tele­ fonat mit dem niederländischen Psychologen Ad Vingerhoets, der an der Tilburg Univer­ sity das Weinen schon so lange erforscht wie kaum ein anderer Wissenschaftler. Vinger­ hoets sagt: »Die Bedeutung des Weinens besteht darin, andere um Unterstützung zu bitten.« Darum weinen wir etwa in den Armen von Mama oder Papa, später dann in denen des Partners. Wir weinen, um

Nähe zu spüren oder um ein Bedürfnis zu befriedigen. Der Säugling schreit, weil er hungrig ist. Er will gestillt und auf den Arm genommen werden. Ein Kindergartenkind weint, wenn die Strümpfe zu stramm sitzen oder das andere Kind die Schaukel in Be­ schlag genommen hat. »Jungen wie Mädchen fangen laut an zu weinen, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit zu erregen«, sagt Irene Gustav. Sie arbeitet seit 16 Jahren in einem Waldorfkindergarten in Hamburg. »Das Weinen soll andere beeindru­ cken«, so Vingerhoets, »die Tränen provo­ zieren eine Reaktion.« Sie sagen: Hör mir zu, nimm mich wahr, ich will etwas – Zuwen­ dung, einen Bauklotz, Gerechtigkeit. Also schlichtet die Kindergärtnerin den Streit um die Schaukel oder wechselt die Strümpfe. »Introvertierte Kinder weinen leiser, ein temperamentvolles weint alles laut heraus«, sagt Gustav. Sie erlebt das jeden Tag. Die Lautstärke hängt von der Persönlichkeit ab.

Weinen ist vor allem Kommunikation. »Aber wenn niemand da ist, der uns hört«, sagt Vingerhoets, »wieso sollten wir dann weinen?« Der amerikanische Soziologe Jack Katz weiß, warum. In seinem Buch Über ausrastende Autofahrer und das Weinen schreibt er: »Das meiste traurige Weinen darf nicht als Strategie verstanden werden, um Beistand und Unterstützung von ande­ ren zu erhalten.« Weinen ist viel mehr. Schon Hippokrates, später natürlich auch Sigmund Freud glaubten an die Katharsis des Weinens, die reinigende Wirkung. Nachdem die Tränen geflossen sind, fühlen viele sich befreiter und entspannter. »Die Fähigkeit, sich selbst im Weinen Trost zuzusprechen, diese Umarmung mit sich selbst zu vollziehen«, schreibt Katz, »ist zuweilen besser zugänglich als jede Um­ armung durch andere Personen.« Sich selbst umarmen zu können, ist die vielleicht vor­ nehmste Art zu weinen.


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VON DIR LERNEN

Der Rothirsch hat eine gute Methode, seine eigene er Rothirsch, der König des bekam ein Video zu sehen, das aus Sicht des Waldes, baut sein Reich auf eiPiloten eine Landung zeigte. Diese ProbanStärke nen soliden Realitäts-Check. den waren anschließend viel zuversichtlicher Wenn das im Sommer rötliche die anderen, dass ihnen eine Landung einzuschätzen alsglücken Fell grau geworden ist und das Geweih ein würde (obwohl das Video für das unempfindlicher Knochen, beginnt die Brunft, die Zeit des Werbens und Paarens. Wirbt er dann um ein Rudel Hirschkühe, stößt er laute Rufe aus, manchmal Hunderte, und das über Stunden. Er röhrt, was die Kehlkopfmuskulatur hergibt. Die Zurschaustellung dient aber nicht dazu, die Konkurrenz einzuschüchtern, sondern geröhrt wird, damit sich die Weibchen ein Bild von der Qualität des Männchens machen können. Vor allem aber ermöglicht das Röhren, die Kampffähigkeit der Widersacher einzuschätzen. Je tiefer der andere Hirsch röhrt, desto größer ist er nämlich – und vielleicht zu groß, um es mit ihm aufzunehmen. Der Mensch dagegen schaut wenig realitätsbezogen nur auf sich. Die meisten halten sich im Schnitt für schöner, besser und klüger, als sie wirklich sind. Psychologen nennen dieses Phänomen den Better-than-average-Effekt. »Wenn man Schüler fragt, ob sie ihre Führungsqualitäten in die obere Hälfte der Klasse einordnen würden, bejahen das 80 Prozent«, sagt der amerikanische E­ vo­ lu­ tions­bi­o­lo­ge Robert Trivers. Er hat in den 1970er-Jahren die Soziobiologie mitbegründet und über das menschliche Talent zur Selbsttäuschung geforscht. In einem aktuellen Experiment baten neuseeländische Psychologen 800 Probanden, sich vorzustellen, sie sollten ein Flugzeug notlanden. Die Hälfte von ihnen

Der Mensch hat damit oft Probleme

Text Hella Kemper

Erlernen einer Landung völlig wertlos war). Sie überschätzten ihre wahren Fähigkeiten. Evolutionär gesehen bringt Selbstüberschätzung einen Vorteil: Wer durch sein geschöntes Selbstbild selbstbewusster ist, hat mehr Erfolg. Neigt andererseits aber auch dazu, Risiken falsch einzuordnen oder die Realität zu verkennen, indem er Widersprüche oder Fakten ignoriert. Der Rothirsch geht strategischer vor: Verhaltensbiologen sprechen vom sequential assessment, also von auf­ein­an­der­fol­ gen­ den Tests. »Dem ei­ gent­ lichen Zweikampf sind das Röhren und der Parallelgang vorgeschaltet«, sagt Oliver Krüger, Verhaltensbiologe an der Universität Bielefeld. Nach und nach werden die Chancen, einen Kampf gewinnen zu können, beurteilt. Während der Röhrsalven stolzieren die Rivalen mit etwas Abstand eine Weile parallel ne­ben­ein­an­der her. »Dabei bewerten sie, wie stark der andere ist«, sagt Krüger. Sie wägen ab, ob sich eine Aus­ein­an­der­set­zung lohnt. Einen Kampf gehen sie nur ein, wenn sie ihn gewinnen können. Denn die Kosten eines Kampfes sind hoch, auch für den Sieger. Der Rothirsch lässt sich also nicht von vagen Einschätzungen oder Gefühlen leiten. Für die Bewertung e­ iner Situation zählen die Fakten: Wie realistisch ist ein Sieg, wie groß sind meine Chancen? Vom Rothirsch lernen heißt, die Wirklichkeit wahrzunehmen und nicht die Illusion von Wirklichkeit.

Foto: Frischknecht/juniors@wildlif

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