ZEIT MAGAZIN 46/2023

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2.11.2023 N0 46

JETZT LINKS ODER RECHTS?



Uhren-Spezial: Eine Schatzsuche im Land der Erfinder – S. 60

Unterwegs mit dem Kabarettisten Dieter Nuhr


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»Ich bin Individualist« Was macht den Kabarettisten Dieter Nuhr so umstritten und so beliebt?

Wondraks Weisheiten zum leichter Leben Ratschläge für ein gutes Jahr? JanoschHeld Wondrak empfiehlt ein Riminizelt im heimischen Wohnzimmer für den Winter, im Sommer rät er zu einem kühlen Fußbad (außer bei schlechtem Wetter, dann besser zu einem warmen).

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Kein Zufall Ein Treffen mit Olivia Rodrigo, einem der größten Teen-Popstars der Welt

Und ab und zu sollte man sich ein bisschen selbst feiern – gerade in der stressigen Adventszeit. So kann von Januar bis Dezember nichts schiefgehen. »Herr Janosch, freuen Sie sich schon auf Weihnachten?«

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Verdient oder nicht? Warum die Unterschiede zwischen Arm und Reich ein moralisches Problem sind

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»Herr Janosch, gibt es den Weihnachtsmann?«

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ZEITmagazin-Uhren-Schatzsuche Gehen Sie mit uns auf Rätselreise in das Land der Tüftler und Erfinder!

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Muss ich mich ändern? Unsere Autorin überwindet ihre Scham und schreibt über ihr Gewicht

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HARALD MARTENSTEIN

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Es ist gar nicht so lange her, dass ich bei einem Abendessen den Begriff »Fuck-you-Money« hörte. Es handelt sich dabei um die Summe Geld, die jemand braucht, um finanziell unabhängig zu sein. »Unabhängigkeit« bedeutet, dass die Grundbedürfnisse und einige Extras befriedigt werden könnten, ohne dass man arbeitet oder von jemandes Wohlwollen abhängig ist, etwa einem Arbeitgeber, den Eltern, einem Partner oder Erblasser. Man könnte zu jeder Firma zum Abschied »Fuck you« sagen, falls diese schlechte Laune macht oder einen gar rauswirft. Wer mag, darf auch eine höflichere Formulierung wählen. Das Vorhandensein von Fuck-you-Money bedeutet nicht etwa ein Ja zur Faulheit, zu schlechtem Benehmen oder zu grenzenlosem Hedonismus, sondern lediglich die Freiheit, ohne finanziellen Druck jederzeit das zu tun, zu lassen oder zu sagen, was man möchte. Im Grunde kommt so ein Leben der Idee des Kommunismus bei Karl Marx recht nahe. Interessanterweise hat Fuck-­you-­Money nicht zwangsläufig mit Reichtum zu tun. Ein Mil­ liar­där, dessen Geld größtenteils in Firmen steckt, der Kredite und andere Verpflichtungen bedienen muss und gleichzeitig einen kostspieligen Lebensstil pflegt, an den er oder

sie nun mal gewöhnt ist, kann aus so einem Gespinst nicht von heute auf morgen aussteigen. Bei einem bescheidenen Lebensstil aber könnten sogar Sozialleistungen ausreichen, kombiniert mit im Kopfkissen versteckten Ersparnissen und ein paar Stunden Schwarzarbeit, die Spaß macht. Im Alter wird es für viele einfacher, weil die Zahl der noch zu finanzierenden Jahre kleiner ist. Rentner müssen oft dazuverdienen. Eine Beamtenpension, die Ruhestandsbezüge eines Professors oder die bei Festangestellten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk übliche Altersversorgung besitzen dagegen beste Fuck-you-Qualität. Es schadet dann nicht mehr, wenn man wegen eines unbedachten Tweets oder einer Jahrzehnte zurückliegenden Dummheit zur Unperson erklärt wird, so was kann schnell passieren. Ich rechne mir regelmäßig aus, ob’s reicht. Inzwischen könnte­ ich mit den Reserven recht lange ungefähr so weiterleben wie bisher, ab 90 geht man eh seltener zum Essen ins Restaurant. Beim oben erwähnten Abendessensgespräch hörte ich dann auch noch die Ansicht, dass die Gesellschaft wieder duldsamer geworden sei. Dies hänge paradoxerweise damit zusammen, dass es in den letzten Jahren so

Illustration Martin Fengel

viele Shit­stürme gegeben hat. Die meisten Leute ­seien es leid und würden zum Beispiel bei einem Spiegel-Titel, auf dem wieder mal jemand als Unhold angeprangert wird, nur noch mit den Schultern zucken. Außerdem denken inzwischen viele, ich zum Beispiel, sie selbst könnten die Nächsten sein, und empfinden eher Solidarität als die vom Medium erwünschte Abscheu. Nach zu viel Kaffee macht Koffein ja auch nicht mehr munter. Bei etlichen Personen, die in den letzten zwei, drei Jahren abgeschossen werden sollten, habe dieses Projekt deshalb nicht mehr funktioniert, vor zehn Jahren hätte es vielleicht noch geklappt. Teils waren die angeprangerten Verfehlungen echt, teils auch übertrieben, teils unbeweisbar, und fast allesamt erwiesen sie sich als juristisch unerheblich. Der Gedanke, dass Leute wegen eines zwar nach Ansicht mancher Mitbürger abzulehnenden, aber durchaus legalen Verhaltens in ihren Berufen nicht mehr tragbar ­seien, hat etwas Gruseliges. Wegen des nachlassenden Drucks, hieß es beim Abendessen, brauche man womöglich nicht mehr so viel Fuckyou-Money und könne deshalb jetzt doch ein teures E-Auto kaufen. Weniger Shitstürme sind also praktizierter Klimaschutz.

Zu hören unter www.zeit.de/audio

Über finanzielle Unabhängigkeit



WOCHENMARKT

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WÄHL DIE WALNUSS

Georgisches Rindfleisch mit Walnüssen Zutaten für 2 bis 3 Personen: 450 g Rinderbrust (in ungefähr 2 cm große Stücke geschnitten), Salz, 3 EL Sonnenblumenöl, 2 mittelgroße Zwiebeln (in Streifen geschnitten), 2 Lorbeerblätter, 1 Prise gemahlene Nelken; für die Paste: 200 g geschälte Walnüsse, 1 TL Chiliflocken, 1 TL Koriander (gemahlen), 1 TL Bockshornkleesamen, ½ TL Kurkuma (gemahlen); 200 g Mini-Tomaten

Die Walnuss ist die Kartoffel der Georgier. Die Georgier glauben, dass mit Walnuss alles besser schmeckt. Sie haben nicht unrecht. Dieses geschmorte Rindfleisch zum Beispiel wird zum Schluss mit einer Walnusspaste verfeinert und bekommt auf diese Weise etwas geradezu Geheimnisvolles. So cremig, satt, aber eben nicht sahnig. Könnte man eventuell Kartoffeln als Beilage dazu essen? Das Fleisch gut salzen. In einem Topf mit schwerem Boden das Sonnenblumenöl erhitzen. Fleisch darin circa 6 Minuten lang

Von Elisabeth Raether

a­nbraten, bis es Farbe annimmt. Dann aus dem Topf nehmen und beiseitestellen. Hitze etwas herunterschalten. In dem verbliebenen Öl die Zwiebeln ungefähr 8 Minuten lang anbraten. Dabei oft rühren. Dann das Fleisch wieder in den Topf geben, Lorbeer und Nelken hinzufügen. Heißes Wasser in den Topf geben, sodass das Fleisch knapp bedeckt ist. Bei mittlerer Hitze und

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geschlossenem Deckel 2 bis 3 Stunden lang schmoren. Ab und zu umrühren. Währenddessen Walnüsse in eine hohe Schüssel geben, Chili, Koriander, Bockshornkleesamen, Kurkuma und etwas Salz hinzufügen, ebenso ½ Tasse warmes Wasser, mit dem Pürierstab zu einer Paste verarbeiten. Wenn das Fleisch zart ist, die Tomaten dazugeben. Noch mal 15 Minuten schmoren lassen. Dann die Walnusspaste hinzufügen und weitere 10 Minuten köcheln lassen. Eventuell noch mal salzen.

Foto Silvio Knezevic



TAGEBUCH AUS KIEW

Ich bin an der Front, in der Nähe von Wer­ bowe im Süden der Ukraine. Das Bild zeigt ukrainische Soldaten, die sich zwischen ih­ ren Einsätzen ausruhen und einen Kaffee

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trinken. Sie führen Drohnenflüge aus, um potenzielle Ziele für Mörser, also Gra­nat­ werfer, zu identifizieren. Der Lärm der Ar­ tilleriekämpfe ist ohrenbetäubend. Überall

AN DER FRONT

rennen Mäuse umher. Sie kriechen in die Taschen, springen von der Decke runter und fressen alles, was essbar ist. Aber niemand kümmert sich darum.

Der Illustrator Sergiy Maidukov, 43, ist in Donezk geboren und aufgewachsen, seit 2006 wohnt er in Kiew. Für uns zeichnet er, wie er sein Land derzeit sieht und erlebt



GENAU SEIN HUMOR

Er hat die Grünen mitgegründet, heute ist er für Konservative der einzig vernünftige Komiker. Einige Monate mit Dieter Nuhr


Dieter Nuhr auf dem Blauen See in seinem Heimatort Ratingen


Von MARTIN MACHOWECZ »Wenn ich einen Klempner brauche, ist mir wurscht, ob sie einen schwulen oder einen heterosexuellen Klempner schicken. Ein pünktlicher Klempner, darüber würde ich mich freuen! Von mir aus können die mir eine radikalfeministische, lesbische Klempnerfrau schicken – solange sie mir nicht den Hahn aus der Wand reißt und stattdessen einen Schlitz reinmacht.« Dieter Nuhr, in seinem Programm

Es ist schon Nacht im lauen Frühsommer 2023, als auf der Terrasse eines Berliner Restaurants die Kabarettisten Dieter Nuhr und Michael Mittermeier anfangen, sich zu streiten. Nuhrs aktuelle Sendung ist gerade abgedreht, Mittermeier, ein bekennend Grünennaher bayerischer Comedian, hatte einen Gastauftritt. Nun gibt es Essen und Getränke fürs ganze Team, sehr guten Weißwein. Alles könnte harmonisch sein, die Show ist fertig, aber: Nuhr und Mittermeier kriegen sich über Cancel-Culture in die Haare. Mittermeier: »Diejenigen, die behaupten, dass man ja gar nichts mehr sagen dürfe, verstehe ich nicht. Man darf alles sagen. Man kann nur nicht erwarten, dass es keine Gegenreaktionen und ­Widerworte gibt.« Nuhr: »So kann man nur reden, wenn man die Konsequenzen noch nie tragen musste.« Mittermeier: »Ach was.« Nuhr: »Wer mal die vermeintlich Falschen kritisiert, muss mit Folgen rechnen, die eben nicht ohne Weiteres auszuhalten sind. Es gibt Leute, die werden mundtot gemacht. Das reicht bis zur Vernichtung von Existenzen!« Mittermeier: »Ich toure seit vier Jahrzehnten durchs Land. Ich habe immer alles sagen können, auch heftige Shit­storms erlebt, aber ich bin noch da!« Dieter Nuhr ist, unumstritten, einer der bekanntesten deutschen Comedians, Kabarettisten, Fernsehshow-Gastgeber. Seine Auftritte in großen Hallen sind fast immer ausverkauft. Seine Sendung Nuhr im Ersten, in der er und wechselnde von ihm geladene Künstler auftreten, erreicht spätabends im Schnitt zwei Millionen Zuschauer. Nuhr wird von enorm vielen Menschen geliebt. Kann dieser Mann wirklich der Ansicht sein, die Meinungsfreiheit sei bedroht? Für die ARD ist er eine Art Aushängeschild, ein Name, den man voller Stolz anführt, wenn es heißt, es gehe nur noch links-grün zu im Öffentlich-Rechtlichen. »Wir haben doch Dieter Nuhr!« Für manche seiner Fans ist Nuhr der letzte Aufrechte, einer, der Witze erzählt, die andere sich schon lang nicht mehr zu erzählen trauen. Stimme der Vernunft. Gegen Woke­ness, gegen politische Korrektheit. Gegen das Gendern. Der einzige lustige Konservative in diesem Land (er selbst bestreitet vehement, konservativ zu sein). Für andere seiner Fans ist er auch einfach nur lustig. Doch für wieder andere, die eher nicht zu seinen Fans zählen, ist Dieter Nuhr ein anstößiger Mann. Der Kabarettist Volker Pispers nannte Dieter Nuhr einmal den »humoristischen Arm der Pegida-Bewegung«. Christine Prayon, die regelmäßig in der heute-show des ZDF zu sehen war, verwendete dieselbe Formulierung und erklärte, sie werde niemals in seiner Sendung auftreten, auch wegen seiner Witze über den Islam. Ein Medienredakteur des Tagesspiegels holte im Frühjahr zu einem besonderen Schlag

Fotos VICTORIA JUNG aus: Nuhr mache »rechte Comedy«. Im Text über eine Sendung des Kabarettisten Jan Böhmermann, die sich wiederum auf ziemlich derbe Weise mit Dieter Nuhr aus­ein­an­der­ge­setzt hatte, war zu lesen, dass Nuhr zu jenen Comedians gehöre, die »mit rassistischem, ­sexistischem Gedankengut und Vokabular um sich schmeißen, um die Wut auf Cancel-Culture und alles ­Woke anzufeuern«. Deutlich »rechtsdrehend« sei das. Die ARD müsse das Gespräch mit Nuhr suchen, »denn der überzieht, der verletzt, der frisst über die Hecke«. Irgendwann leitet der Text sinngemäß her, dass Böhmermann das Konzentrat des Nuhrschen Programms darbiete, »das Banale wird böse«, so steht es da im Tagesspiegel über Dieter Nuhr. Mit »das Banale wird böse« wären wir dann, in der Rezension einer TV-Sendung, binnen weniger Sätze bei einem Zitat von Hannah Arendt angekommen, die mit der Formulierung »Banalität des Bösen« einst Adolf Eichmann erklärte, einen der Haupt­orga­nisa­ to­ren des Holocausts. »Sehen Sie«, sagt Dieter Nuhr, wenn man ihn fragt, wieso er glaube, dass es Cancel-Culture in Deutschland gebe, ­»Texte wie diese meine ich.« Er könne das vielleicht aushalten. »Aber viele andere halten es nicht aus.« Hat Dieter Nuhr also vielleicht recht, wenn er mit Michael Mittermeier darüber streitet, ob man in Deutschland noch alles sagen darf? Oder ist es abwegig, wenn ein deutscher Kabarettist mit einer der besten Einschaltquoten das Gefühl hat, ihm werde übel mitgespielt? Das ZEITmagazin hat Dieter Nuhr einige Monate lang begleitet. Bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz, bei Produktionen für seine TV-Show, bei Terminen in seinem Job als bildender Künstler, der er auch noch ist. »Joe Biden beendete seine Rede mit den Worten: ›May God save the planet.‹ Das fand ich als Konzept dünn. Sich auf Gott zu verlassen hat doch noch nie funktioniert. Gott hat die große Pest nicht verhindert, den Dreißigjährigen Krieg nicht und auch nicht die Erfindung der Leggins in Größe 56!« Dieter Nuhr, in seinem Programm

Man kann nicht behaupten, dass Emsdetten einer jener Orte wäre, die der liebe Gott besonders reizend gestaltet hat. Man kann sich auch die EMS-Halle Emsdetten gar nicht falsch vorstellen. Außen Neunzigerjahre-Klobigkeit, drinnen zarter Wurst- und Biergeruch. In den Gängen hinter der Tribüne, dort, wo sich sonst Hallenhandballer und Schiedsrichter umziehen, sitzt in einem fensterlosen Raum, neben einer Assiette vom China-Imbiss, der Künstler. Dieter Nuhr sieht an diesem Sonnabend im April fantastisch erholt aus. Braun gebrannt, er war kürzlich noch in Spanien. Sandfarbene Nike-­Snea­ker, eine Art Cargohose mit aufgenähten Taschen. Als wäre er ein Tourist auf Safari. Gleich wird er hier auf die Bühne treten, vor 2000 Leuten – ausverkauft, wie fast immer. Er fragt, noch ehe man selbst fragen kann: Wie geht es Ihnen? Gut, sagt man. Und ihm? Er strahlt. Hervorragend. Nuhr, das muss man an dieser Stelle vielleicht einmal zu Protokoll geben, ist praktisch immer, wenn man ihn trifft, gut gelaunt. Höflich. Fast ein bisschen leise. Nie zynisch. Ein, ja wirklich, angenehmer Mensch. Der fensterlose Raum, der hier Backstage genannt wird, dagegen: nicht so angenehm. Marmortischplatte, alte Ledercouch. Ein


19 b­ isschen wie ein Bunker, den man bei Möbel Höffner eingerichtet hat, aber 1992. Ein Vorteil vielleicht, dass man einen Atomschlag draußen eine ganze Weile lang nicht mitbekäme. Ihn, Nuhr, stören diese Back­stage-­Räume nicht, er kennt sie, sie sind überall gleich, in Emsdetten, in Oldenburg, in Bremerhaven. Witze unter die Leute zu bringen ist nicht immer glamouröse Arbeit. Hier in den Katakomben können Sie es doch zugeben, lieber Dieter Nuhr, ganz unter uns: Ist das wahnsinnig anstrengend, gleich rauszugehen? Den Lustigen zu geben? Er muss gar nicht nachdenken, er sagt sofort Nein. »Abends diese 2000 Menschen vor sich zu haben, die lachen und klatschen – das ist, um ehrlich zu sein, eine sehr angenehme Form der Selbstbestätigung«, sagt Nuhr. »Während der Pandemie dachte ich, das würde ich nie wieder erleben. Jetzt zu sehen, dass da Tausende sitzen, sich freuen, auf mich warten, ist das Größte.« Sonst, sagt er, würde er es auch nicht immer noch machen, mit jetzt 63 Jahren (er sieht ja aber eher aus wie 53). Darüber redet man mit ihm, ein paar Minuten lang. Und merkt gar nicht, wie von diesem Thema das Gespräch sehr schnell hinübergleitet zur großen Politik. Zum Zustand der Welt, angefangen mit dem Zustand deutscher Städte wie Emsdetten und Gelsenkirchen (Teile Gelsenkirchens könne man mit dem Globalen Süden verwechseln, sagt Nuhr) über den katastrophalen Zustand der Berliner Regierung (es sind die letzten Tage von Franziska Giffey als Bürgermeisterin), bis zum Zustand der Bahn, mit der man faktisch nicht mehr von West nach Ost komme. Und, klar: zu seinem grundsätzlichen Verzweifeln an den Grünen. Das ist natürlich lustig, denn Nuhrs Programm baut darauf auf, die Republik am Rande des Abgrunds zu sehen. Kaputte Bahn, missratene Energiewende, grüne Weltverbesserungsversuche. Genau das sind seine Themen. Und wenn man bislang dachte, das sei einfach seine Masche, dann steht diese Erkenntnis schon nach dem ersten Back­stage-­Be­such: Das, was er auf der Bühne erzählt, sieht er auch wirklich so. Er täuscht keine politische Haltung vor. Der Nuhr hinter der Bühne ist der Nuhr auf der Bühne. Hat er ein Vor-dem-Auftritt-Ritual? »Ich geh noch mal pinkeln und prüfe danach, ob die Hose zu ist«, sagt Nuhr. Ein paar Minuten später, der Künstler tritt ins Licht. Emsdetten liegt ihm sofort zu Füßen. Wenn er sagt: Wer sich in Deutschland noch über gutes Wetter freue, gelte im Grunde schon als Klimaleugner! Wenn er fragt, was eigentlich – rein logisch – mit der »Letzten Generation« passiere, wenn ihr erstes Mitglied schwanger werde. Wenn er sich darüber lustig macht, dass man sogar die Rüstungsindustrie ins Ausland abwandern lasse (»Wenn man im Kriegsfall beim Feind bestellt, kommt es eben oft zu Lieferschwierigkeiten!«). Oder wenn er – jetzt sehr ernst – erst darauf hinweist, dass in der ARD einmal Mütter als »entbindende Personen« bezeichnet wurden, und dann fragt, was man eigentlich für ein Mensch sei, wenn man Kindern die Mutter wegnehme. Immer tobt der Saal. Nuhr kann minutenlang über den verheerenden Zustand der deutschen Armee, der Ampelkoalition, der Wirtschaft sprechen, ohne das unbedingt mit Pointen versehen zu müssen.

»Ich bin Komiker und Leitartikler«, sagt er, an einem anderen Tag, bei anderer Gelegenheit. »Ich glaube, früher sagte man Erzähler dazu. Das ist doch alte Tradition: Ein Erzähler reist durchs Land, kommt in die Stadt und berichtet, was er gesehen hat.« Durchs Land reisen, oh ja. Jedes Wochenende, fast immer am Freitag, Samstag und Sonntag steht er in irgendeiner deutschen Mittelstadt und spielt seine Show. Abgesehen von einer Sommerpause ist er ständig unterwegs. Seine Freunde und Verwandten wüssten schon, sagt er, dass er zu Geburtstagspartys entweder gar nicht oder erst gegen Mitternacht komme. Vorher ist immer Auftritt. Eine Stunde vor Beginn, ungefähr, kommt er an (lieber mit dem Auto, der Bahn vertraut er ja nicht), schaut noch mal auf seine Texte, überlegt sich vielleicht einen aktuellen, gerne auch lokal ­angepassten Einstieg. Dann geht er auf die Bühne, wo schon sein iPad auf einen Ständer montiert ist, damit er zwischendurch hin und wieder einen Blick auf den Text werfen kann. Nach der Zugabe, noch mit dem Schlussapplaus, spurtet er aus dem Hinterausgang der Halle und ist der Erste, der vom Parkplatz fährt. Keine Autogrammsessions, keine Bäder in der Menge nach dem Auftritt. Nach Emsdetten, nach der Show, Dieter Nuhr ist schon längst durch den Hinterausgang weg, eine kurze Publikumsbefragung. Die Leute, die hier zu Gast waren: kompletter deutscher Durchschnitt. Alle Generationen, vom Teenager bis zur Oma. Manche mit Leggings in Größe 56. Auch die sagen, wenn man sie fragt: Sie mögen an Nuhr das Unkorrekte, das Ehrliche, das Unverfälschte. Benedict und Lucas, zwei junge Herren von der Uni Münster, glühende Begeisterung in den Augen: Hier gebe es mal keinen Hang zum Moralismus! Auch an der Hochschule sei der Meinungskorridor so eng geworden. Nuhr spreche die Dinge noch aus! Und superlustig sei er auch. »Leslie Kern, Direktorin der Frauen- und Geschlechterstudien an der Mount Allison University in Kanada, hat festgestellt, ich zitiere, dass Hochhäuser Zeichen toxischer männlicher Macht sind, weil sie nichts anderes sind als Penisse, die in den Himmel ejakulieren. Hochhäuser seien Symbole gelebter Gender-Ungleichheit. Nun war mir das bis dahin nicht aufgefallen, aber dann habe ich drüber nachgedacht. Und es ist in der Tat so, dass ich kein einziges Haus kenne, das mich an eine Vagina erinnern würde. Eine Tiefgarage vielleicht, ein bisschen!« Dieter Nuhr, in seinem Programm

Dieter Nuhr lebt in Ratingen, nicht weit von Düsseldorf, der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Ein Dienstag also in Düsseldorf, Einkaufsstraße, ein Eiscafé. Zwischen Rentnerinnen und Familien mit Kindern trifft man Nuhr zum Spaghettieis. Zum Reden. Es ist, an diesem Tag, nicht lange her, dass Jan Böhmermann sich intensiv mit ihm, sagen wir, aus­ein­an­der­ge­setzt hat. Nuhr will nicht so gern öffentlich darüber sprechen, schon weil er Böhmermann nicht diesen Gefallen tun möchte. Er findet, das wäre zu viel der Ehre – sich öffentlich zu ärgern. Aber man kann schon sagen, dass er es furchterregend fand, was Böhmermann, immerhin Comedy-


20 Kollege vom ZDF, gemacht hat: Er hat Nuhrs Sendung komplett kopiert. Einen Schauspieler engagiert, der Nuhrs Gesten auf der Bühne nachgeahmt hat, seine sehr markante Sprechweise, dieses leicht Gepresste, dazwischen gerne ein knurrendes »nech«. Auf der Bühne wirkt Nuhr viel strenger als jetzt im Eiscafé. Der Schauspieler, muss man sagen, hat diese Strenge ganz gut kopiert. Er sprach ein wenig wie Nuhr und sah auch ein bisschen so aus. Böhmermann ließ das Studio von Nuhr im Ersten nach­bauen, bis ins Detail, er ließ darin Schauspieler auftreten, die regelmäßige Gäste von Nuhr parodierten, zum Beispiel die Kabarettistin Lisa Eckhart, eine Frau aus Österreich, deren Masche es ist, auszuprobieren, wie weit man mit der ein oder anderen Geschmacklosigkeit kommen kann. Eckhart macht auch Witze über Juden, die Jüdische ­Allgemeine kritisierte sie für anti­semi­ti­sche Pointen. Böhmermanns Sendung diente dem Zweck, das kann man wohl so zusammenfassen, Nuhr als irgendwie rechts zu brandmarken, zugleich als völlig unlustig. Böhmermann soll sogar echte NuhrWitze verwendet und neu arrangiert haben, so stand es in manchen Zeitungen – Nuhr sagt, er habe kurz reingeschaut und nichts in der Sendung entdeckt, was er jemals so gesagt habe. Am Ende der Böhmermann-Parodie trat eine Punkband auf, die sang: »Bist du Anti-Antifa, bist du Fa«. Das konnte man als Zuschauer so verstehen: Nuhr positioniert sich gegen die Antifa, also ist er Faschist. Hat Sie das verletzt, Herr Nuhr? Kurze Gesprächspause im Düsseldorfer Eiscafé. »Ich fand es schmerzhaft, was nach der Sendung passiert ist.« Was? »Vor allem die Berichterstattung. Große Zeitungen, die die Position von Herrn Böhmermann übernehmen, ohne sie zu hinterfragen.« Er erzählt wieder vom »Banalität des Bösen«-Vergleich im Tagesspiegel. »Ich hätte das von einem ehemals bürgerlichen Journalismus nicht erwartet.« Wieso sagt er »ehemals«? »Na ja, ist das denn bürgerlich? Mich in die Nähe von Nazis zu rücken? Wir haben es im Journalismus immer öfter mit Aktivisten zu tun als mit Journalisten.« Wo steht er denn politisch? Diese Frage lässt sich so leicht gar nicht beantworten. Dieter Nuhr sieht sich nicht als Konservativen, schon gar nicht als Rechten. Er war sogar, Lebenspointe, Gründungsmitglied der ­Grünen. In Düsseldorf, Ende der Siebzigerjahre, Nuhr war gerade 18, 19 Jahre alt. Überall fanden diese Gründungsversammlungen statt, sagt er, »auf einer davon war ich. In so einem Zelt. Joseph Beuys kam rein, riesiger Jubel, daran erinnere ich mich.« Wieso ging er damals hin? Weil er erstens davon überzeugt gewesen sei, dass die Menschheit diese grünen Weltenretter brauche, sagt Nuhr. »Weil ich an die Ökologie glaubte, an den Schutz der Umwelt und Natur.« Und zweitens? Vielleicht, sagt Nuhr, auch aus Rebellion. Er kommt aus einem Beamtenhaushalt, sein Vater war Regierungsdirektor, »dieses Absetzen von den Generationen vorher, dieses phänotypisch und kulturell ganz andere, das war etwas, das mir wichtig war, das mir an den Grünen gefiel«. Nuhr ist 1960 geboren. Seine Lehrer, sagt er, hätten teilweise noch in der NS-Zeit unterrichtet. »In meiner Jugend gab es noch Nazis in Führungspositionen, Schwulsein war verboten, und mit meiner Freundin bekam ich kein Hotelzimmer, weil wir nicht verheiratet waren. Man lief mit langen Haaren über die Straße und musste sich

hinterherrufen lassen: ›So was kam früher ins KZ!‹ Daraus wollte ich ausbrechen, daraus wollten wir alle ausbrechen, deshalb landeten wir bei den Grünen.« Irgendwann müssen Sie dann ja aber angefangen haben, sich von den Grünen zu entfremden, Herr Nuhr, wann sind Sie da ausgetreten? Sie hätten ihn schon früh rausgeworfen, sagt er, weil er nie Mitgliedsbeiträge gezahlt habe. Nuhr: »Ich glaube, dass sich die Grünen von mir entfernt haben und nicht andersherum. Ich glaube, dass die öffentliche Verwendung von Begriffen sich stärker verändert hat, als ich mich verändert habe. So, wie ich damals war, bin ich noch heute.« In seiner Logik ist es so: Die Grünen seien moralischer geworden. Vieles von dem, was heute »rechts« sei, sei es früher nicht gewesen. Er halte es mit Noam Chomsky, dem amerikanischen Linguisten. »Chomsky sagt, dass die Begriffe so besetzt wurden, dass sie nicht mehr diskutabel sind.« Er, Nuhr, sei zum Beispiel absolut überzeugt davon, dass es den Klimawandel gebe und man das Klima schützen müsse. »Aber dass jegliche Aus­ein­an­der­set­zung mit den klimapolitischen Maßnahmen, die unsere Regierung plant, schon als rechts diffamiert wird – dass es rechts sein soll, wenn man fragt, wo Millionen Wärmepumpen und der Strom dafür herkommen sollen, wenn wir am Ende auch das Kabarett, das diese Fragen stellt, als rechts brandmarken, dann zerstören wir die demokratische ­Gesellschaft in ihren Grundfesten.« Und das lasse er sich nicht bieten. Das Recht, das zu kritisieren, nehme er sich heraus. Will er wirklich behaupten, die Grünen seien früher nicht moralisch gewesen und er habe sich nicht verändert? Na gut, sagt er: »Natürlich halte ich jetzt vieles von dem, was ich zu Gründerzeiten der Grünen gedacht habe, für völlig naiv.« Heute sei ihm klar, dass es gesellschaftlichen Wohlstand brauche, um im Winter heizen zu können – und dass es nicht ohne Umweltauswirkungen möglich sei, ein 80-Millionen-Volk im Wohlstand zu halten. Damals habe er gedacht, dem Umweltschutz könne man praktisch alles unterordnen. »In unseren Behörden gilt derjenige als IT-Experte, der weiß, wo der Lichtschalter liegt.« Dieter Nuhr, in seinem Programm

Dieter Nuhr wollte eigentlich immer Künstler werden, Kunst ist bis heute seine Leidenschaft, er fertigt großformatige Bilder, die auf selbst aufgenommenen Landschaftsfotos basieren, die er wiederum am iPad bearbeitet, auf Leinwände druckt und manchmal von Hand weitergestaltet. Er verkauft diese wuchtigen Bilder sehr teuer, sie gehen teilweise für deutlich fünfstellige Summen an Sammler und Privatleute. Einmal steht man in seiner Düsseldorfer Galerie, wo seine neuesten Werke hängen, es ist der Tag vor der Vernissage, und Dieter Nuhr sagt: »Das hier bin eigentlich ich.« Ganz davon leben könne man aber auch nicht. Nuhr wäre, das erzählt er einmal, vielleicht ausschließlich bildender Künstler, wenn das ähnlich einträglich wäre wie der Humor. Aber er reist ständig um die Welt, macht lange Abenteuerurlaube, besitzt ein Ferienhaus im Süden: nicht der Lebensstil, den man sich als Maler leisten kann. Doch wenn man im Internet www.nuhr.de eingibt, landet man beim Komiker Dieter Nuhr. Geht man auf www.dieter-nuhr.de,


Nuhr fährt übrigens Elektroauto, war eine Zeit lang Vegetarier und hat Solarpanels auf dem Dach

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22 kommt man auf die Seite des Künstlers. Vielleicht sagt das auch schon alles. Weil Nuhr schon als junger Mann nicht glaubte, von seinen Bildern leben zu können, studierte er Kunst und Geschichte auf Lehramt, merkte jedoch, dass es auch nicht seine größte Leidenschaft war. Eine Leidenschaft aber, das waren Auftritte als Komiker, er fing erst in kleinen Buden damit an, tourte gemeinsam mit Freunden, mit mäßigem Erfolg. Anfang der Neunziger trat er dann schon allein auf, seine heutige Frau Jutta riss damals die Karten ab und versuchte, Laufkundschaft zu überreden, sich die Auftritte anzusehen. Dann, 1994, wurde Nuhr zu RTL Samstag Nacht eingeladen, der Comedysendung der Neunzigerjahre. Die Redaktion sei immer auf der Suche nach neuen Gesichtern gewesen, habe sich in der Kleinkunstszene umgeschaut, man sei zufällig auf ihn gestoßen, sagt Nuhr. Eine Art Lebensglück. RTL Samstag Nacht! Millionenquote. Plötzlich seien seine Auftritte größer gewesen. Nicht mehr nur fünf, zehn, 15 Leute. Sondern verlässlich 100 Zuschauer in Geislingen an der Steige, 100 Zuschauer in Esslingen, »plötzlich sah das schon aus wie ein Theaterabend«. Er wurde in weitere Sendungen eingeladen, 7 Tage, 7 Köpfe zum ­Beispiel. 2011 übertrug ihm die ARD die Moderation des Satire Gipfels, den vorher Mathias Richling präsentiert hatte, ein eher klassischer Kabarettist sozialdemokratischer Prägung. Seit 2014 heißt die Sendung Nuhr im Ersten. Eine frühere SPD-HumorShow, die zum Kabarett für Konservative geworden ist. Nuhr findet, er sei immer schon politisch gewesen. »Schon mein erstes Soloprogramm war eines über meine alternative, grüne Vergangenheit. Ich hab mich lustig gemacht darüber. Über die Kleidung, die wir getragen haben. Über die Art, wie wir gedacht haben. Das hat damals schon alle in der Szene aufgeregt.« Schon immer sei ihm von Kollegen vorgeworfen worden, dass er politisch »indifferent« sei. Was nichts anderes bedeutet habe als: nicht links genug, nicht deutlich genug auf der richtigen Seite. Seither sei die ganze Welt politischer geworden, aufgeladener, die Themen ­seien heute relevanter als früher. Kein Mensch spreche mehr über Hosenfarben. »Ich weiß nicht, wann ich mich zum letzten Mal mit jemandem an der Kasse übers Wetter unterhalten habe. Es gibt keine banalen Gespräche mehr. Alles ist sofort groß.« Und weil die Gesellschaft heute so hysterisiert sei, bekämen alle immer gleich Schnappatmung, wenn einer darüber Witze mache. Früher habe er auch schon über den Klimawandel geredet, sagt Nuhr, da sei das halt eines von vielen Themen gewesen. Aber vielleicht ist heute die Lage ernster? Klar, sagt er. »Auch, weil wir Deutschen alles noch mal doppelt aufladen. In Spanien bauen sich die Leute Solarzellen aufs Dach, weil sie denken, das wird am Ende billiger, das amortisiert sich in zehn Jahren. Niemand in Spanien denkt: Ich mach das jetzt, weil ich die Welt retten will. Die Deutschen denken das.« Nuhr fährt übrigens Elektroauto. Er hat sogar mal versucht, als Vegetarier zu leben. Zu Hause hat er Solarpanels auf dem Dach. Wenn man Dieter Nuhr trifft, hat man im Übrigen nie das Gefühl, dass er sich verstellt. Manchmal sagt er, fast ängstlich: Ob man d ­ iese oder jene Äußerung jetzt gegen ihn verwende? Ob es eigentlich ein Fehler sei, dem Reporter jetzt alle Türen zu öffnen? Auf der Bühne ist er dann wieder ganz schön direkt.

»Dass sich ausgerechnet Ricarda Lang traut, das Volk in Ernährungsfragen erzieherisch lenken zu wollen – das macht mir persönlich Angst. Weil, die Politik wird für uns Komiker immer mehr zur echten Konkurrenz.« Dieter Nuhr bei »Nuhr im Ersten«

Es gab viele Shitstorms in Dieter Nuhrs Leben. Dieser war einer der lautesten. Als Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, sich für ein Werbeverbot für Süßigkeiten und Fast Food einsetzte, beschloss Dieter Nuhr, einen Gag darüber zu machen. Die Versuchsanordnung: Ricarda Lang ist übergewichtig, wie kann sie sich für ein Zucker-Werbeverbot aussprechen, großes Lachen. Vor seinem Auftritt in Bremerhaven, kurz nach Ausstrahlung der Sendung mit dem Scherz darüber, titelte die Nordsee-Zeitung: »Heftige Kritik im Netz – umstrittener Dieter Nuhr tritt heute in Bremerhaven auf«. Und darunter: »Ist er Rassist, Sexist, Nazi oder Querdenker, wie seine Kritiker sagen?« »Ich habe lange überlegt, ob ich das machen kann«, sagt Dieter Nuhr über den Ricarda-Lang-Witz. »Ich mache mich nie über Personen lustig, immer nur über Inhalte. Ich sage von mir aufrichtig: Ich mache keine Scherze, die Menschen als Personen verletzen.« Aber Ricarda Lang? »Ich hätte niemals einen Witz gemacht einfach nur deshalb, weil Ricarda Lang dick ist«, sagt Nuhr. »Aber die Absurdität, dass jemand Vorschriften zur Ernährung machen möchte, der so offensichtlich selbst mit dem Thema Ernährung Schwierigkeiten hat, finde ich paternalistisch.« Also würde er den Witz wieder machen? Ja, sagt Nuhr. Aber, Einwand 1: Nicht jeder übergewichtige Mensch kann etwas für sein Übergewicht. Einwand 2: Man muss doch auch kein Nichtraucher sein, um ein Rauchverbot in Bars durchzusetzen. Und Einwand 3: Immer schlecht, sich als Mann über die Figur einer Frau auszulassen. Nuhr: »Es gäbe so viele Menschen, die sich zu dem Thema ä­ ußern könnten, die nicht Ricarda Lang sind! Ich bin immer dann zur Stelle, wenn doppelte Maßstäbe angelegt werden. Wenn Dinge ­widersprüchlich sind. Hätte ich über das Gewicht von konservativen Männern wie Helmut Kohl oder Peter Altmaier Witze ­gemacht, hätte es übrigens keinen interessiert.« Das habe er, Nuhr, allerdings auch noch nie gemacht. Die Leute, die Dieter Nuhrs Tour begleiten, die Mitarbeiter seiner Produktionsfirma, die Tontechniker, sind seit zehn, 20, 30 Jahren an seiner Seite. Der Mann, der den Großteil seiner Shows veranstaltet, hat das schon in den Neunzigern für ihn gemacht. Seine Frau, die schon damals die Karten für ihn abriss, liest heute alle seine Texte. Alles eine Art Familienunternehmung. Sagen diese Leute, sagt seine Frau manchmal: Dieter, fahr eine Spur runter? Mach mal langsam? Lass diesen ­Joke? »Meine Frau ist ein superwichtiges Korrektiv«, sagt Nuhr. »Sie ist die erste Dramaturgin meiner Programme. Sie streicht gerne was raus, wenn sie sagt, Dieter, das hat keinen Sinn, das müsstest du länger erklären, damit es funktioniert. Das macht nur Ärger, und keiner versteht’s.« Streicht er das dann auch, wenn sie es sagt? Oft, sagt Nuhr.


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24 »Wenn Menschen AfD wählen, weil sie mit der Regierung unzufrieden sind, dann erinnert mich das so ein bisschen an Schweine, die mit ihrem Bauern unzufrieden sind und sagen: Ich wähle nicht mehr den Bauern, ich wähle jetzt den Metzger!« Dieter Nuhr, in seinem Programm

Es stimmt, man kann das nicht anders sagen – es gibt in Dieter Nuhrs Programmen keine Witze, die ernsthaft als politisch radikal gelten könnten. Man kann sie appetitlich oder unappetitlich finden, lustig oder unlustig. Er legt zum Beispiel keinen Wert darauf, innovativ zu sein, er schaut nicht die Sendungen der amerikanischen Late-­Night-­ Komi­ker, die witzemäßig als besonders fortschrittlich gelten, er kennt diese Leute praktisch gar nicht. Was seinen Humor von dem der meisten anderen unterscheidet, ist schon: Er kritisiert eher aus dem rechten als aus dem linken Bereich der Mitte. Ganz vertraulich sagt eine hohe ARD-Funktionärin – bloß nicht zu weit aus der Deckung wagen –, sie verstehe überhaupt nicht, wieso es schon Anstoß errege, wenn ein einziger Kabarettist mal von der anderen Seite komme. Nuhr selbst definiert seinen Humor so: Er wolle die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sichtbar machen. Sich allzu oft mit der AfD zu befassen, das halte er für weitgehend nutzlos. An diese Partei habe man ja keinen Anspruch. Witze über die Grünen ­seien wunderbar, weil die Anspruch an sich selbst hätten – und noch mehr Anspruch an andere. Was überhaupt immer vergessen werde, das sei, wie vehement er die AfD aus dem Saal spiele. Nuhr macht sich immer wieder brutal lustig über die AfD. Der Scherz mit dem Schwein und dem Metzger gehörte fest zum Repertoire der vergangenen Spielzeit. In fast jeder Show bat er zudem einmal alle Corona-Ungeimpften im Publikum, die Hand zu heben – die taten das dann in aller Regel euphorisch. Nuhr sagte ihnen dann: Das könne er nicht verstehen, er sei geimpft, er habe ja nicht sterben wollen. Nuhr führt die Ungeimpften vorm Rest des Publikums regelrecht vor. »Ich habe eine Menge Leute im Publikum, die es ganz gut finden, dass nicht so berechenbar ist, was bei mir rauskommt«, sagt Nuhr. Er habe sehr oft das Gefühl, dass er etwas nicht verstehe – ihn störe aber, dass andere behaupten, sie verstünden es ganz genau. Die Gesellschaft, so sieht Nuhr das, habe ihre Fähigkeit verloren, unauflösbare Wertegegensätze anzuerkennen, Dilemmata zu akzeptieren. Immer wollten alle auf der richtigen Seite stehen. »Die Dinge fangen doch dann an, interessant zu werden, wenn es keine gute Lösung für ein Problem gibt.« Er meint zum Beispiel die Migrationsdebatte. »Wenn wir sagen, wir lassen jeden, der zu uns kommen möchte, rein – ist das völlig verständlich. Ich kann diesen Wunsch hundertprozentig nachvollziehen. Ich habe ihn auch.« ­Zu­ gleich sei es ja offensichtlich, dass man diejenigen, die zu uns k­ ämen, auch unterstützen müsse. »Aber wenn man das zu Ende denkt, heißt das: Unser So­zial­staat könnte überfordert werden, vielleicht holen wir uns Bürgerkriege nach Europa, und vielleicht gehen Werte, die wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben, kaputt – wenn zu viele Menschen auf einmal kommen, die diese Werte nicht teilen.« Aber Dogmatiker auf beiden Seiten verstünden nicht, dass Menschen in der Abwägung zu anderen Schlüssen kommen könnten als man selbst. Statt moralische Dilemmata zu diskutieren, werde

die Debatte über diese Dilemmata tabuisiert. »Am Ende heißt es: Entweder man ist human. Oder man ist rechts.« Darüber mache er Witze. Das sei sein Konzept. Fragt man Harald Schmidt, den Altmeister des deutschen Late-­ Night-­Humors, nach Nuhr, sagt der: »Ich mag Dieter Nuhr sehr. Und zwar aus einem Grund: Ich teile die Menschheit ein in die Kategorien ›war ein super Gast‹ oder ›war kein super Gast‹.« Dieter Nuhr: Supergast in Harald Schmidts Sendungen. »Der Gast hat zu liefern. Und Dieter Nuhr liefert ab. Es war immer eine tolle Sache, wenn Dieter Nuhr kommt. Der verdoppelt die Quote.« Er verstehe nicht, warum man sich jetzt so auf Nuhr einschieße. Man kann in Dieter Nuhrs Programmen eine gewisse Vorliebe für Penisse, Vaginas, Gendersternchen und den ganzen Wahnsinn der Debatte drumherum nicht übersehen. Weshalb man ihn natürlich fragen muss, ob er sein Geld nicht auch mit dem Kulturkampf verdient, mit dem Anti-­Woken. Nuhr widerspricht dann nicht; er sagt, das liege daran, dass in diesem Thema so viel Spaß verborgen sei. In offiziellen Briefen werde durchgegendert, normale Menschen dagegen genderten überhaupt nicht. »In dieser Diskrepanz steckt enorme Komik«, sagt Nuhr, »und deswegen mache ich gerne Witze darüber.« Man fragt ihn jetzt einfach noch mal an einem weiteren Abend nach Aufzeichnung einer weiteren Nuhr-TV-Show: Ist er vielleicht, im Grunde seines Herzens, doch einfach ein Konservativer? Nuhr verschluckt sich fast an seinem Weißwein und sagt, er finde das, wirklich, nachdrücklich, eine ungute Frage. »Die Frage ist doch, was das heißen soll: konservativ. Ich kann es Ihnen sagen.« Ja? »Die Gegner wollen damit gerne verschiedene schlechte Bedeutungen verbinden. Du bist konservativ, also in der Zeit stecken geblieben, gestrig, überholt. Ich bin weltoffen, ich bin für sexuelle Freiheit, ich bin antikollektivistisch, ich bin Individualist.« Nuhr findet, dass die Grenze da draußen nicht zwischen Rechts und Links verläuft, sondern zwischen Kollektivisten und Individualisten, zwischen am Kollektiv orien­tier­ten und freiheitlich denkenden Menschen, und Letztere – wie er – ­seien derzeit stark unter Beschuss. Der Weg von der AfD zur Linkspartei sei auch deshalb so kurz, weil beide für das Weltbild stünden, sich einem Kollektiv zugehörig zu fühlen, einem Volk, einer Klasse, einer Gemeinschaft, die das Lebensglück sicherten. Jemand wie er, Nuhr, könne nicht weiter von einem Kollektivisten wie Björn Höcke von der AfD entfernt sein. Der trete nicht für individuelle Freiheit ein, sondern für völkische Gemeinschaft, »der Typ ist also das krasse Gegenteil von mir. Wie manche darauf kommen, dass ich mit meinen individualistischen Inhalten in diese kollektivistische Ecke gehören könnte, ist mir ein völliges Rätsel.« Er wirkt jetzt richtiggehend aufgebracht. Bleibt ganz ruhig, spricht ganz leise, aber ihn bewegt das. Merklich. »Ich erlebe jede Menge Hass. Mit Kritik kann ich sehr gut leben.« Über kritische Rezensionen, und die kämen oft vor, ärgere er sich nicht. »Aber mit Hass und mit Diffamierungen umgehen, das ist schwierig. Das Allerwichtigste, was ich gelernt habe, ist, dass ein stabiles Umfeld hilft. Und: Aus dieser inneren Wut, die sich daraus ergibt, mit Hass konfrontiert zu sein – aus dieser Verletztheit –, darf man nicht selbst Radikalisierung entwickeln.« Dass einem das nicht passiere, sei aber gar nicht so leicht.


2.11.23  N0 46 Glaubt er, dass man durch Hass, durch harte Attacken, selbst in eine Radikalisierung getrieben werden kann? Ja, sagt Nuhr. Die AfD werde ja auch stärker mit jedem Mal, dass ihre Wähler attackiert werden. Aber er sei auch professioneller geworden im Umgang mit alldem. Wenn so ein Volker Pispers – der Kabarettist vom Beginn dieses Textes – sage, er, Nuhr, sei der kabarettistische Arm der Pegida, »dann hatte ich vor zehn Jahren noch mehr Angst«, sagt Nuhr. »Jetzt machen sie dich fertig, dachte ich. Heute weiß ich: Das werden sie nicht schaffen.« Wenn man Dieter Nuhr nicht schimpfen hören will über die Missstände des Landes, die Probleme mit der Bahn, die Schwierigkeiten mit der Regierung, dann kann man mit ihm in die Schweiz fahren. Ein Treffen in Zürich, am Flughafen. Von hier aus soll es mit dem Zug nach Bern gehen, zum Auftritt vor Schweizer Publikum. Der Zug kommt natürlich auf die Sekunde pünktlich, das Ticket ist tadellos per App bestellbar, es gibt einen freien Tisch im Bordrestaurant, der Zug fährt an Bergen und Kühen vorbei. Logisch: Der Kaffee, den Dieter Nuhr bestellt, schmeckt ihm so gut, als hätte ihn der beste Kaffee-Koch des Landes kredenzt. Schweiz bombastisch, Deutschland mies. Bisschen klischeehaft, oder? Leuchtet ihm sofort ein. »Aber es ist schon auch so, dass dieses Land hier einfach funktioniert und unseres nicht so.« ­Später, am Abend in Bern, wird man erleben, dass Nuhrs Humor-

Methode, die deutschen Missstände hemmungslos breitzutreten, logischerweise in der Schweiz fast noch besser ankommt als in Emsdetten oder Oldenburg. Der Saal in dieser wunderschönen, bürgerlichen, reichen Stadt Bern wird förmlich vor Lust und ­Lachen explodieren. Endlich sagt mal einer, wie schlecht es bei den Deutschen läuft! Vorher aber, jetzt, hier, bei dem vorzüglichen Kaffee in der Bahn, spricht man anlässlich der von ihm beobachteten Schweizer Großartigkeit noch einmal über die Art des Diskurses drüben in Deutschland. Die Diskussionskultur, die er so schlimm findet. »Unsere demokratische Gesellschaft ist gefährdet«, sagt Nuhr. ­»Unsere ökonomische Lage ist von rasantem Abstieg geprägt, unser Wohlstand damit auch.« Aber er kann das doch alles sagen und aussprechen, oder? »Ja, das kann ich«, sagt Nuhr. »Ich sage auch nicht, dass ich brutal gecancelt werde. Ich habe meine Sendung. Ich halte große Stücke auf die ARD, die diese Sendung immer unterstützt hat. Es gibt überhaupt viele Menschen, die mich unterstützen. Aber nur weil ich nicht gecancelt werde, heißt das nicht, dass es das nicht täglich gibt.« Er stelle sich ja auch vor andere, er kämpfe für das Recht, alles sagen zu dürfen, sagt Nuhr. Das sei vielleicht seine Mission. Und an der arbeitet er jetzt auch in der Schweiz. Fragt man die ­Zuschauer in Bern, sagen die: Bloß gut, dass es den Nuhr gebe. In der Schweiz gehe es auch schon los mit dem Canceln!

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© Alamy Stock Foto / Michael Abid

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WELTBEWEGEND Deutschlands Kampf gegen die Klimakrise produziert höchst widersprüchliche Bilder. Eine Bestands­aufnahme des Fotografen Ingmar Björn Nolting


Das Thyssenkrupp-Stahlwerk in Duisburg im Mai 2023. Mit einem Ausstoß von 7,9 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Jahr ist es der größte Treibhausgas-Emittent der deutschen Industrie. Der Industriesektor ist nach der Energieerzeugung der zweitgrößte Verursacher von Treibhausgas-Emissionen Vorige Doppelseite: Der Vergnügungspark Wunderland Kalkar in Nordrhein-Westfalen im Mai 2023. Hinten ist der Kühlturm des ehemaligen Kernkraftwerks Kalkar zu sehen, das nie in Betrieb ging. Deutschland ist aus der Kern­ energie ausgestiegen, die Suche nach einem Endlager für Atommüll wird allerdings noch Jahre dauern


29

Lilli und Franz, Mitglieder der »Letzten Generation«, während einer Aktion vor dem Prada-Geschäft am Kurfürstendamm in Berlin im April 2023. Die Aktivisten besprühten die Schaufenster von mehreren Luxusläden mit oranger Farbe. Als Grund nannten sie die soziale Ungerechtigkeit, die durch diese Geschäfte repräsentiert werde


30

Armin Laschet und Angela Merkel vor einer Videoprojektion der Zugspitze bei der Abschlusskundgebung des CDUWahlkampfes in München im September 2021. Am Ende ihrer Amtszeit räumte Merkel Versäumnisse beim Klimaschutz ein. Während ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft sei diesbezüglich nicht genug passiert, sagte sie


Ein Solarpark nahe dem brandenburgischen Feldheim im Februar 2023. Feldheim ist das erste Dorf in Deutschland, das sich vollständig selbst mit Energie versorgt – mithilfe von Fotovoltaik, Windenergie, Biogas, Biomasse, einem Regelkraftwerk und einem Nahwärmenetz. Überschüssige Energie wird in das öffentliche Netz eingespeist




Kinder betrachten im Oktober 2023 die Nachbildung eines Karbonwaldes durch Augmented Reality im Museum am Schölerberg in Osnabrück. Die Ausstellung zeigt, wie Kohle vor mehr als 300 Millionen Jahren entstand und warum die Verbrennung fossiler Ressourcen für den Klimawandel und das Artensterben verantwortlich ist Vorige Doppelseite: Lützerath im Januar 2023. Einer von vielen Umweltaktivisten wehrt sich gegen die Räumung des Dorfes und gegen den Energiekonzern RWE, der Millio­ nen Tonnen Braunkohle abbauen will, die unter Lütze­rath liegen. Der nordrhein-westfälische Ort wurde zu einem Symbol im Kampf gegen die Klimakrise


35

Ein im August 2023 durch ein Gewitter zerstörtes Hopfenfeld im mittelfränkischen Mosbach. Nach einer Saison mit Extremwetter verzeichnete Deutschland den größten Rückgang der Hopfenernte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Region will nun Bewässerungssysteme einsetzen und experimentiert mit widerstandsfähigeren Hopfensorten


36

Zwei Männer bei einem Waldbrand auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz nahe dem brandenburgischen Jüterbog im Juni 2023. Weil das Gelände mit Munition kontaminiert ist und die Feuer­wehr daher das Feuer nicht direkt bekämpfen konnte, entschied sie sich für ein kontrolliertes Abbrennenlassen der betroffenen Waldflächen

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ALL-AMERICAN GIRL


Olivia Rodrigo ist eins der größten TeenagerIdole der Welt. Eine Begegnung mit der Sängerin in Berlin

Olivia Rodrigo, 20, im Berliner Schinkel Pavillon: Mit fünf stand sie zum ersten Mal auf der Bühne


Von AMELIE APEL Olivia Rodrigo ist zehn Minuten zu früh. Als sie mit ihrer Entourage aus Manager, Visagistin, Hairstylist und Plattenfirma-Vertretern die Kunstgalerie Schinkel Pavillon in Berlin betritt, stoße ich fast mit ihr zusammen. Rodrigo übersieht man leicht, sie ist gerade mal 1,65 Meter groß. Als sie so unvermittelt vor mir steht, braune Haare bis zur Hüfte, schwarzer Eye­liner und roter Lippenstift, bin ich verwirrt: Seit wann kommen Popstars zu früh? Rodrigo achtet auf die Uhrzeit, denn sie ist ein Profi, dabei ist sie erst 20 Jahre alt. Ihre Karriere begann vor zehn Jahren, heute ist sie eine der bekanntesten Teen-Pop-Sängerinnen der USA. Die New York ­Times bezeichnete sie als »die vielversprechendste neue Stimme ihrer Generation«, die amerikanische V ­ ogue gab ihr den Titel »absoluter Popstar der Gen Z«. Als wir uns Mitte August treffen, wartet die Welt – oder zumindest ganz Amerika – auf ihr neues Album Guts. Einen Monat später wird es in 14 Ländern die Charts anführen, auch in Deutschland. Schon Rodrigos erstes Album Sour, das 2021 erschien, hatte einige Rekorde gebrochen. Allein ihr Debütsong Drivers License wurde binnen eines Tages über 11,5 Millionen Mal gestreamt – ein Rekord für einen Nicht-Weihnachtssong – und stieg in den Billboard-Charts sofort auf Platz eins ein. Mit dem darauffolgenden Album gewann sie drei Grammy Awards, darunter auch der als bester neuer Künstler. Es wird also viel erwartet von ihrer neuen Veröffentlichung, daher ist Rodrigo auf Werbetour in Berlin. Der Besuch im Schinkel Pavillon soll ihr die Gelegenheit geben, während ihres nicht einmal 48-stündigen Aufenthalts auch etwas von der Stadt zu sehen. Ein bisschen Freizeit sozusagen. Am Vortag hat sie in London den Brit Billion Award bekommen, der Künstler und Künstlerinnen auszeichnet, die in Großbritannien eine Mil­liar­de Streams knacken. Sie ist die Jüngste, die das je geschafft hat. Hier im Schinkel Pavillon begegnet mir eine zurück­ haltende junge Frau, die sich offenkundig für die Kunst des New Yorker Mode-Designers ­Shayne Oliver interessiert. Oder zumindest verdammt gut darin ist, so tun zu können, als sei sie interessiert. In der Kunstgalerie, einem achteckigen Bau in Berlin-­Mitte mit zwei Ebenen, wird Olivers Ausstellung Mall of Anonymous gezeigt. Das Thema sind monsterhafte Einkaufszentren. Man schreitet durch zwei große Metall­bögen, die auf die Warensicherungssysteme an den Eingängen von Kaufhäusern anspielen. In der Mitte des unteren Raums drehen sich eine Umkleidekabine und eine schwarz glänzende Statue auf einem Podest. Shayne Oliver gibt Olivia Rodrigo eine persönliche Führung. Der Designer trägt ein weites schwarzes T-Shirt, eine schwarze Lackhose und bunte Stilettoabsatz-Schuhe; in kurzen Sätzen erklärt er, dass Gentrifizierung keinen Raum für neue, kreative I­deen lasse und die glänzende Statue eine Hommage an seine Mutter sei. Rodrigo hört ihm aufmerksam zu, folgt dem Künstler durch die Räume.

Fotos TEREZA MUNDILOVÁ Wenn man es nicht besser wüsste, würde man annehmen, die prominente Person hier sei S­ hayne Oliver, bewundert von Olivia Rodrigo. Selbst als es eine kurze Pause im ­Programm gibt und sie einen Moment für sich allein hat, nutzt sie ihn, um eine der Videoinstallationen genauer zu betrachten. Fast so, als sei sie nur ein Mädchen, das sich rein zufällig hierhin verlaufen hat. Dabei ist nichts, rein gar nichts zufällig im Leben von Olivia Rodrigo. Auch wenn wohl niemand mit einem derartigen Erfolg rechnen konnte, war ihr Debütalbum keines, das aus dem Nichts kam. Als es erschien, war Rodrigo bereits bekannt aus mehreren D ­ isney-Kinderserien und hatte neun Millionen Follower auf Instagram. Ein Talent, aufgebaut von der größten Entertainment-­ Maschine der USA. So wie vor ihr schon M ­ iley ­Cyrus und Ariana ­Grande. Olivia Rodrigo wird 2003 in Murrieta geboren, einer Stadt, 120 Kilometer von Los Angeles entfernt. Ihre Kindheit ist geprägt von Gesangsunterricht, Talentwettbewerben und langen Autofahrten in die Millionenstadt, wo sie zu Castings für Filmrollen geht. Mit fünf Jahren steht sie zum ersten Mal auf einer Bühne, bei einer Spendenaktion in einem Casino. Ihr erstes Vorsprechen absolviert sie mit sechs. Der Teen ­Vogue sagte sie einmal, sie schätze, in ihrem Leben zu 300 Castings gegangen zu sein. Ihre Eltern – der Vater ist Therapeut, die Mutter Lehrerin – erzählten der V ­ ogue, dieser Ehrgeiz sei ganz aus ihr selbst gekommen, sie hätten ihr gesagt, sie könne jederzeit aufhören. Doch Olivia Rodrigo wollte nicht. Mit elf Jahren werden die unzähligen Bewerbungen endlich belohnt – mit einer ersten Rolle in einem ­Kinderfilm. Ein Jahr später wird sie eine der H ­ auptdarstellerinnen in der Walt-Disney-Produktion Bizaardvark, einer Comedy-Kinderserie über zwei Freundinnen, die mit ­ ­lustigen ­Videos im Internet bekannt werden. Mit dem Betreten des Disney-Kosmos geht sie nicht mehr zur Schule, sondern wird zu Hause oder am Filmset unterrichtet. »Ich arbeite, seit ich zwölf Jahre alt bin«, erzählt sie bei unserem Treffen. »Das ist eine sehr interessante Art aufzuwachsen.« Schnell fügt sie hinzu, dass sie sehr dankbar sei für alles, was sie dadurch erleben durfte. Deshalb habe sie aber die Möglichkeit, eine normale Kindheit zu erleben, aufgeben müssen. Dazu komme der Druck, den ein Alltag am Set und ein steigender Bekanntheitsgrad mit sich bringen. »Ich wuchs damit auf, immer die Jüngste im Raum zu sein, um mich herum nur 40-jährige Kameraleute und Produzenten«, erzählt sie nüchtern. Es sei komisch, in dieser Industrie als Kind ein Kind zu spielen, sich am Set aber wie eine kleine Erwachsene verhalten zu müssen. In der Doku Showbiz Kids aus dem Jahr 2020 erklärt der Regisseur und ehemalige Kinderschauspieler Alex Winter, dass jedes Jahr über 20.000 Kinderdarsteller für Rollen in Hollywood vorsprechen. 95 Prozent von ihnen bekämen keinen einzigen Job. Dass eine Olivia Rodrigo zu Hunderten dieser Castings geht, bevor sie für ihren ersten Job


41 gebucht wird, verrät viel über ihre Willensstärke. Mara Wilson, 36, bekannt als Mathilda aus dem gleichnamigen Film von 1996, stand mit fünf Jahren das erste Mal am Set für eine Hollywood-Produktion, für den Film Mrs. Doubt­ fire. In einem Interview erzählte sie: »Die Leute erwarten, dass Kinderstars verwöhnte Gören sind, aber meiner Erfahrung nach werden Kinder, die sich schlecht benehmen, nicht gecastet.« Die Kinder, die am erfolgreichsten sind, ­seien people pleaser, also Kinder, die immer alles richtig machen wollen. »Zeit ist Geld. Da ist kein Platz für ein Kind, das Fehler macht«, so Wilson. Olivia Rodrigo wird nach Bizaardvark für High School Mu­ sical: Das Musical: Die Serie gecastet, eine Mockumentary über die ursprünglichen High School Musical-Filme. Darin spielt sie von 2019 bis 2022 die Hauptrolle der Schülerin Nini. Die Serie ist, wie die Filme auch, gespickt mit Musical-Elementen. Rodrigo singt in allen Folgen, auch ihren ersten selbst geschriebenen Song präsentiert sie dort, All I Want. Danach bekommt sie Angebote von verschiedenen Plattenfirmen. Es ist der Start ihrer Musikkarriere.

»Ich wuchs damit auf, immer die Jüngste im Raum zu sein, um mich herum nur 40-jährige Kameraleute und Produzenten«

Im Berliner Schinkel Pavillon führen wir das Interview in einer Nische hinter der Rezeption. Als ich ihr gegenübersitze, überrascht mich ihre ruhige Ausstrahlung. Auf TikTok läuft Rodrigo wild zappelnd über eine Wiese, auf Instagram hüpft sie zum Taylor-Swift-Song You Belong With Me (Taylor’s Version) auf dem Bett. Doch nun konzentriert sie sich ganz auf mich, schaut mich mit ihren schwarz umrahmten Augen an. Sie spricht mit sanfter Stimme, gestikuliert mit feinen Bewegungen und lehnt sich dabei entspannt zurück. Beim Beantworten der Fragen wirkt sie routiniert, manchmal gibt sie sich überrascht und lächelt. Einmal sagt sie: »Oh my God, that is such a good question«, »was für eine gute Frage«, ein anderes Mal lobt sie meine Handschrift. Sie möchte, dass sich in ihrer Umgebung alle wohlfühlen – erst ­Shayne Oliver und nun ich. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem trainierten Weltstar und der sympathischen, zugänglichen Olivia; zwei Personen, die mir gleichzeitig gegenübersitzen. Noch klarer zeigt sich dieser Widerspruch, als ich ihr erzähle, dass mich ihr neuer Song L ­ ove Is Embarrassing in

seinem Tempo und Ton an Lieder der kanadischen Popsängerin Avril Lavigne erinnert, und sie daraufhin überrascht sagt: »Oh, really?« Dabei sollte so ein Vergleich nicht allzu überraschend sein. In früheren Interviews hat sie festgehalten, dass Lavigne eines ihrer großen Vorbilder ist. Und eine perfekte Anekdote hat Rodrigo auch parat: »Meine Mutter erzählt, dass das Musikvideo zu Avrils Song I’m With You im Krankenhaus in Dauerschleife lief, als ich geboren wurde. Vielleicht ist ihre Musik damals in meine Zellen eingedrungen.« Sie lächelt. Ein breites, von roten, vollen Lippen umrahmtes Hollywood-Lächeln. Wenn sie an diesem Tag Komplimente bekommt, sagt sie Dinge wie »That means so much to me!« oder »Thank you for saying that, appreciate it« – »Das bedeutet mir wirklich viel! Vielen Dank, dass Sie das sagen, ich weiß das zu schätzen.« Sie kichert dann vergnügt. Alles ist cool oder awe­some. Ihr Lachen ist so perfekt lang und so perfekt laut, dass man nicht weiß, ob es aufgesetzt, auf den Ton antrainiert oder einfach so perfekt ist. Man fragt sich, ob sie selbst es weiß. Rodrigos große Rolle ist das All-American Girl, das amerikanische Stereotyp für brave, vorhersehbare Mädchen. Die Videos ihrer Songs spielen zumeist in amerikanischen Leichtbauhäusern zwischen frisch gemähten Rasenflächen in der weißen, aufgeräumten Vorstadt, auf Teenie-Partys und in Turnhallen mit tanzenden Cheerleadern. Während Billie Eilish weite T-Shirts trägt und in ihren düsteren Songs über Klimawandel und jugendlichen Suizid singt, verkörpert Rodrigo den hyperfemininen Popstar. Selbst wenn sie »what the fuck« oder ­»fame ­fucker« singt, klingt es bei ihr, als sei es nicht böse gemeint. Ihr Styling spiegelt das wider: Fast immer trägt sie kurze Röcke, bei unserer Begegnung in Berlin ist es ein grauer mit passendem engem Oberteil, kombiniert mit silberfarbenen Ballerinas. Ihre Lieblingsfarbe Lila taucht in ihren Outfits und auf den Albumcovern auf. Sie hat eine eigene Kreativdirektorin und zwei Stylistinnen, die sich in jedem Moment darum kümmern, dass Rodrigo nicht von ihrem I­mage abweicht: vom MerchandisingArtikel bis zum Social-Media-Auftritt. Rodrigo postet selbst, aber welche Bilder andere Me­dien von ihr posten dürfen, wird stets besprochen. Zum Beispiel heute: Ein Videomitschnitt des Vor­abends wird Rodrigo zur Prüfung vorgelegt. Alles okay, nur die letzte Sequenz sollte weggeschnitten werden, weil überflüssig und unvorteilhaft, lautet das Urteil. Selbst das gesellschaftliche und politische En­gage­ment ist bei ihr so austariert, dass sie nicht aneckt – zumindest unter Progressiven: Sie hat mit Präsident Joe ­Biden im Weißen Haus posiert, um fürs Impfen zu werben. Fast radikal war, dass sie voriges Jahr beim Glastonbury Festival ­Lily Allen auf die Bühne holte, um mit ihr deren Song Fuck You zu performen und ihn dem amerikanischen Su­preme Court zu widmen, nachdem dieser das Recht auf Abtreibung gekippt hatte. Dieselbe Olivia erzählt in Interviews



43 allerdings auch gern, wie sehr sie sich darauf freue, eines Tages Mutter zu werden, und dass sie deshalb so schnell wie möglich einen Mann fürs Leben finden wolle. Olivia Rodrigo hat für jeden etwas zu bieten. Jeder, der danach sucht, kann sich mit einer Facette des Popstars identifizieren. Sie macht Musik für Jugendliche, die sich in den sozialen Medien dem Druck unterwerfen, perfekt auszusehen, Gefühle und Probleme offen zu kommunizieren und nebenbei die Klimakrise aufhalten zu wollen. Und für alle, die Herzschmerz haben. In Brutal singt sie: »And I’m so sick of 17 / ­Where’s my ­fucking teen­age dream? / If some­one tells me one ­more ­time / ›Enjoy your youth‹ I’m gonna cry« – »Und ich habe es so satt, 17 zu sein / Wo ist mein verdammter Teenager-Traum? / Wenn mir noch einmal jemand sagt / »Genieße deine Jugend«, werde ich weinen«. Die Welt, die sie in ihrem Song besingt, strotzt geradezu vor Normalität. Sie könnte jede 20-Jährige sein und ­demonstriert das bei jeder Gelegenheit. In Berlin hat sie auf dem Weg zu unserem Interview aus dem Auto ein TikTok-Video für ihre 17 Millionen Follower gepostet. Sie spielt ein Spiel, bei dem sie Songtexte mit einer Kopfbewegung in der richtigen Reihenfolge auswählen muss. Am Ende zieht sie eine Grimasse und streckt die Zunge raus. Ein Video, wie es zu Tausenden die Plattform überflutet. Sie könnte jede 20-Jährige sein, nur das Lied, um das es geht, ist ihr eigenes: Bad Idea Right? heißt ihre neue Single. In einem Interview mit der ­Vogue sagte sie zu Beginn des Jahres, dass im Vergleich zum 20-Jahre-altWerden alles andere winzig wirke. In ihrem Fall sind das drei Grammys, ein Nummer-eins-Album, 35 Millionen Instagram-Follower und 40 Mil­liar­den Streams. Olivia Rodrigo produziert den am raffiniertesten konstruierten Teen-Pop, den es derzeit auf dem Musikmarkt gibt. Das Genre funktioniert heute noch wie schon vor zwei Jahrzehnten, als Britney Spears T ­ oxic sang: ein hoher Identifikationsfaktor, viel Herzschmerz und noch mehr Wut. Daher befinden sich unter Rodrigos größten Fans nicht nur Teenager, sondern auch viele Menschen ab 35. Die Jungen lässt sie mit einem Album wie Guts ihre eigene Wut spüren, die Älteren erinnert es daran, wie sich diese Wut damals anfühlte. Und sie sorgt dafür, dass beide Zielgruppen sich gemeint fühlen. Waren Rodrigos größte Inspirationsquellen Fiona Apple und Avril Lavigne noch Künstlerinnen, deren Lieder die Eltern leise drehten, um ihre Kinder vor der Entgleisung zu bewahren, kommt Rodrigos Musik möglichst eingängig daher. Während Fiona Apple davon singt, »empfindliche Jungs zu brechen«, ist alles, was Rodrigo will, »­ Liebe, die hält, und ein guter Junge«. Avril Lavigne schreibt Songs für individualistische Außenseiter. R ­ odrigos Lieder sind dazu gemacht, von möglichst vielen gemocht und verstanden zu werden. Und sie sind so komponiert, dass sie sowohl in schnipseligen Social-Media-Videos funktionieren als auch im Ganzen im Radio. Bad Idea Right? kann stundenlang laufen, ohne dass man dieses

Songs überdrüssig wird. Hinzu kommt, dass ihre Lieder viele Genres ver­ einen, zum Beispiel Indie-Pop, PopRock, Post-Punk und Singer-Songwriter, also Musikstile, die sich stark auf die Texte fokussieren. David Metzer, Professor für Musikgeschichte an der University of British Columbia, nennt Rodrigos DebütSingle Drivers License 2021 eine Powerballade, die im Laufe der Strophen immer mehr eskaliert. Mal sind Rodrigos Melodien sanft plänkelnd wie bei 1 Step Forward, 3 Steps Back – einem Wiegenlied für alle schlaflosen Herzschmerznächte. Dann trifft in Good 4 U ein durchdringender Bass auf ein schrilles »Haaa«, als sei man beim Betreten eines dunklen Raumes auf ein Schlossgespenst gestoßen. Ihre Lieder inszeniert sie wie Theaterstücke; mal hört man Rodrigo abschätzig lachen, mal baut sie Motorengeräusche oder ein Türklopfen ein. Im Englischen sagt man dazu word painting. Wenn der Text aufbrausender wird, nimmt auch die Melodie an Fahrt auf. Ihre Lead-Single des neuen Albums Vam­pire beginnt als deprimierende Ballade mit 67 Beats per minute

»Ich würde gerne glauben, dass ich dieselbe bin; dass die Version, die ich öffentlich präsentiere, nah an der ist, die ich als Individuum bin«

und wird in der zweiten Strophe doppelt so schnell (138 BPM), als sie enthüllt, dass ein Junge nur den Ruhm aus ihr saugen will. Und dann gibt es noch die Single Brutal, die mit theatralischen Geigen beginnt und endet, aber in den zwei Minuten dazwischen wie eine Rock-Hymne im Stil von Alanis Morissette klingt. Egal welchen Musikgeschmack man hat, bei Olivia Rodrigo wird man nicht enttäuscht. Den höchsten Umsatz machen in der Musikindustrie die Künstler und Künstlerinnen, die massentauglich sind. Und wenn alle Teenager ihren Schmerz so wunderbar ­monetarisieren könnten wie Olivia Rodrigo, wäre dies eine Welt voller Jungmillionäre. Wie hart muss Olivia, die Teenagerin, gearbeitet haben, um Olivia, die Künstlerin, hervorzubringen? Und dabei so zu tun, als habe sich gar nichts geändert, als sei das alles ganz alltäglich. Dass Rodrigo kein Spielzeug des Disney-Konzerns sein will, der sie sechs Jahre lang aufgebaut hat, hat dieser schon zu spüren bekommen. Denn Disney verdient nichts an Rodrigos Songs. Damit macht

Sie singt von der ganz normalen Jugend eines Teenager-Mädchens. Dabei war Rodrigos Jugend alles außer normal


44 sie es anders als die meisten singenden Disney-Stars vor ihr. Auch Demi Lovato, M ­ iley ­Cyrus und Bella Th ­ orne waren Serienstars, aus denen später Popstars wurden. Sie alle unterschrieben zunächst bei Hollywood Records, dem hauseigenen Musiklabel der Walt Disney Company. Rodrigo dagegen entschied sich für Geffen Records, ein Sub-Label der Universal Music Group, bei dem auch Elton John und K ­ ylie Minogue unter Vertrag sind. Die Firma sieht sie nicht nur als Produkt, sondern als Künstlerin und unterstützt ihr Songwriting. Rodrigo schreibt ihre Lieder selbst, weshalb sie sich außerdem die Rechte an allen ihren Songs sicherte. Das ist etwas, was Taylor Swift damals verpasste, als sie mit 14 Jahren ihren ersten Plattenvertrag unterschrieb. Aus der High School Musical-Serie zog sich Rodrigo ab 2021 zurück, in der dritten Staffel hat sie nur noch Gastauftritte. Der Disney-Konzern musste sich zuletzt damit begnügen, weiter über die Künstlerin berichten zu ­dürfen. Dafür erschien im März vergangenen Jahres Driving ­Home 2 U (A Sour Film), ein Dokumentarfilm, der ­Rodrigo bei

»Man muss einen gesunden Abstand zu dieser Welt haben. Ich liebe meinen Job, aber nach einer Show vor 10.000 Leuten liegt man allein im Bett«

der Produktion ihres ersten Albums und dessen Erfolgswelle begleitet, auf Disney+, dem Streamingdienst des Unternehmens. Olivia Rodrigo überlässt nichts dem Zufall. Als im Schinkel Pavillon Fotos gemacht werden und die Fotografin ­anmerkt, es wäre doch schön, wenn Rodrigos Haare etwas fliegen würden, holt der Haarstylist der Sängerin ein armlanges grünes Gerät hervor und sagt, für solche Fälle habe er immer einen kleinen Laubbläser dabei. Auch der Wind, der um sie gemacht wird, ist geplant. Es ist alles so perfekt, dass ich mich frage: Gibt es eine private Olivia Rodrigo hinter dem Bühnencharakter? Denn tatsächlich besingt sie ja Sachen, die jedes TeenagerMädchen durchlebt hat – bis auf sie selbst. Sie, die keine Highschool besucht hat, sondern mit eiserner Disziplin am Filmset stand. Sie, die heute zwischen ihrer V ­ illa in Los Angeles und ihrer Wohnung in New York pendelt. Sie, die alles hat außer Normalität. Das reflektiert sie durchaus: »Mein Leben ist seltsam. Es ist nicht gerade die durchschnittliche Erfahrung eines Teenagers. Aber wenn

ich meine Gefühle beim Songschreiben auf ihre konzentrierte Form reduziere, erschaffe ich eine Allgemeingültigkeit.« Dann betont sie: »Ich werde immer das Gleiche fühlen wie andere in meinem Alter. Das U ­ mfeld ist nur ein bisschen anders.« Aber wer ist die private Olivia?, frage ich sie. Da müsse ich ihre Freunde fragen, nur die könnten das beantworten. »Ich würde gern glauben, dass ich dieselbe bin; dass die Version, die ich öffentlich präsentiere, nah an der ist, die ich als Individuum bin«, antwortet sie vergnügt, und man kann gar nicht anders, als es zu glauben. Zumindest zu glauben, dass sie es glaubt. Wenn sie kein Privatleben hätte, hätte sie nichts mehr, worüber sie schreiben könne, erklärt Rodrigo. Aber schon an diesem Tag in Berlin zeigt sich, wie es um ihre Privatsphäre bestellt ist. Ursprünglich sollte der Vormittag dazu genutzt werden, dass die Künstlerin Berlin sehen kann, vielleicht in Vintage-Läden stöbern geht. Was eine 20-Jährige, die nach Berlin kommt, eben so machen möchte. Doch an Rodrigo zerren viele Kräfte: Da ist das amerikanische Management, das sie zu ihrer Sicherheit vor der Öffentlichkeit abschirmt, die amerikanische Plattenfirma, die das neue Album bewerben will, das deutsche Team der Plattenfirma, das sie willkommen heißen will. Also spricht sie für Radiosender kurze Interview-Snippets ein und geht zu einem Treffen mit 50 ihrer größten deutschen Fans. In der Kunstgalerie steht sie die meiste Zeit mit verschränkten Beinen da und wirkt dadurch noch zierlicher als ohnehin schon. Einmal zuppelt sie sich ihren kurzen Rock zurecht. Allerdings nicht nach unten, sondern nach oben – kalkuliert sexy, denke ich. Sie ist ein zielstrebiger Power-­Mensch mit starker Arbeitsethik, ihre Rolle ist aber die des verletzlichen Teenagermädchens. Bei unserem Interview erklärt sie: »Ich schreibe Songs, die mehr preisgeben, als ich meinen engsten Freunden erzählen würde.« Ich frage, warum es ihr so wichtig sei, als normal wahrgenommen zu werden. »Man muss einen gesunden Abstand zu dieser Welt haben«, sagt sie. »Ich liebe meinen Job, aber auch nach einer Show vor 10.000 Leuten liegt man allein in seinem Bett.« Sie habe immer gewusst, wer sie im wahren Leben ist. »So, wie wir hier gerade zusammensitzen und sprechen, das ist das wahre Leben«, erklärt sie und schaut mich bedächtig an. Das wahre Leben – das hier? Wie sitzen in einem Interviewtermin, der künstlichsten Gesprächssituation, die es geben kann. Hinter dem Vorhang lauschen ihr PR-Team und ihr Manager, der sie nun auch schon zum Gehen ­ermahnt. Sie will normal sein, aber ihre Lebensrealität lässt das gar nicht zu. Und da hat sie sich auch schon verabschiedet und ist weitergezogen. Mich zurücklassend im wahren Leben, ­ während ich realisiere, dass Olivia Rodrigo, der Popstar, der fähig ist, jeden Menschen auf eine eigene Art zu ­berühren, genau das auch heute wieder geschafft hat.

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FRISS ODER STIRB gesponsert von ALDI Survivalthriller mit Kapitalismuskritik Der Aldi-Azubi Flori (Frederick Lau) hat einen anstrengenden Tag: Ein schwerer Wintersturm zieht über dem Bergischen Land auf, und halb Gummersbach will sich noch mit (preisgünstigen) Vor­ räten eindecken. Während Flori Paletten stapelt und Pfandautomaten leert, bricht der Sturm los, und Kunden und Mitarbeiter werden im Aldi eingeschneit. Die Filialleiterin Dietra Roth (Nina Hoss) versucht mithilfe von Flori und Co., die Lage unter Kontrolle zu bringen: Die Mitarbeiter sammeln Lebensmittel und Wolldecken (Aldi-­ Winter-Aktionswoche) und verkaufen sie an die gestrandeten Kunden. Floris Kollegin Nele (Nina Chuba) findet das nicht richtig und schlägt vor, die Lebensmittel gratis zu verteilen – doch Frau Roth wittert gute Umsätze. Nachts soll Flori Wache halten, aber er schläft erschöpft ein. Am nächsten Morgen – der Sturm tobt noch immer – sind Nuss­ beißer, Bio-Räucherlachs und Weißweincuvée verschwunden. Frau Roth verdächtigt Nele und lässt sie mit Kabelbindern an Kasse 4 fesseln. Flori, von Neles Unschuld überzeugt, macht sich in der zum Lager umfunktionierten Filiale auf die Suche nach den wahren Schuldigen. Da entdeckt er den unheimlichen Punker Dose (Lars Eidinger), der sonst vor der Filiale schnorrt und der es sich jetzt hinter den Pfandautomaten gemütlich gemacht hat. Dose weigert sich, Frau Roth Gehorsam zu leisten, und stachelt die gestrandeten Kunden gegen die Filialleiterin auf (Dose: »Der Scheiß-­ Aldi-Slogan ist doch ›Gutes für alle‹«). Als Frau Roth Dose mit einem Keramik-Küchenmesser (ab 50 Treuepunkten für 4,99 Euro) bedroht und im Sturm aussetzen möchte, muss sich Flori für eine Seite entscheiden ...

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BIRKS – SO WIRD EIN SCHUH DRAUS gesponsert von BIRKENSTOCK Drama, inspiriert von wahren Begebenheiten Von Rückenschmerzen geplagt, fliegt die Deutschamerikanerin Margot Fraser (Jella Haase) 1966 auf Kur nach München. Patienten, Pfleger und Ärzte der Kuranstalt tragen seltsame Sandalen. Als auch Fraser in die Schuhe schlüpft, sind ihre Rückenschmerzen wie weggeblasen. Sie ist sofort begeistert, so begeistert, dass sie Karl Birkenstock (Frederick Lau) im Firmensitz auf der Burg Ockenfels besucht. »Ich will deine Birks in Amerika verkaufen«, sagt sie ihm. Karl Birkenstock, ein Visionär, der in den Birkenstocks schon immer mehr als orthopädische Schuhe sah, erteilt ihr die Verkaufslizenz. Doch zurück in den USA läuft das Geschäft schleppend an. Niemand will die seltsamen Schuhe aus Germany kaufen. Da begegnet Fraser im Sommer 1967 dem Sänger Bobby Henderson (Matthias Schweighöfer mit langen blonden Haaren und Blümchenhemd), der gerade vor dem wichtigsten Auftritt seiner Karriere steht: Er soll seinen Song »Flower Power Every­ where (From the Gold Coast to the USA)« auf dem Monterey Pop Festival spielen. Doch sein Auftritt droht zu platzen: Nicht nur will der hinterhältige Republikaner ­ Ronald Grump (Lars Eidinger) das Hippiefestival absagen lassen, nein, Henderson wird auch noch von starken Rückenschmerzen geplagt. Weder Schmerzmittel noch Cannabis können dem Sänger helfen. Als die Polizei das Festivalgelände räumen will, zwängt Fraser Hendersons Füße in ein Paar Birkenstocks. Können die Schuhe den Summer of ­ Love retten?

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BERNIE – DER LETZTE GIBT GAS gesponsert von VW Animationsfilm in 4-D (im Kinosaal riecht es nach Abgas und Motor­ öl) Das kleine Auto Bernie (Stimme: Albrecht Schuch) kommt auf das VW-Internat für junge Autos. Aber Bernie ist anders als seine Mitschüler: Er brummt, er stinkt, er dampft, wenn er über die Straße flitzt. Bernie ist ein Verbrenner – der einzige auf dem Internat. Seine E-Mitschüler, angeführt vom VW-Bus Bull-E (Stimme: Benno Fürmann), mobben ihn. Bernie probiert in einer düsteren Garage, ohne Brummen und Gestank zu fahren. Doch sobald er die Ab­ gase unterdrückt, schwillt er an und droht zu explodieren. Am Tag des großen Abschlussrennens wird er Letzter. Bull-E gewinnt das Rennen, aber nur weil er seinen Akku so manipuliert hat, dass der mehr ­ Power hat. Im Ziel angekommen, versagt der überhitzte Akku, und Bull-E fängt ­ Feuer. Seine Mitschüler können ihn nicht in die Krankenwerkstatt fahren – ihre Energie ist nach dem Rennen auch aufgebraucht. Nur Bernie hat noch Sprit im Tank ...

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EINE EHE AUF DER WERKBANK gesponsert von HAGEBAUMARKT Erotikkomödie mit Horrorelementen Das Ehepaar Marlene (Nora Tschirner) und Ole (Elyas M’Barek) ist frustriert: Ihr Liebesleben ist so langweilig geworden – ihr Leben dreht sich nur noch um den EigenheimBau und die pubertierenden Kinder (Ole: »Die Pubertiere«). Ihre Paartherapeutin (Katharina Thalbach) rät zu mehr Experimentierfreude. Zögerlich lassen sie sich darauf ein: Sie installieren Apps, gehen in Sex­ shops und besuchen sogar eine Swinger-Party. Doch als sie dort ihren schmierigen Baustellenleiter Jochen (Lars Eidinger) treffen, wollen sie schon aufgeben. Ein letzter Versuch muss her (Ole: »Was ist mit SM??« Marlene: »Immer noch besser als Scheidung«). Nachdem sie Gefallen an Peitschen, Fesseln und Käfigen finden, beschließen sie, einen SM-Keller ins neue Haus zu bauen. Heimlich natürlich. Im Hage­ bau­ markt decken sie sich (in schwarzen Hoodies und mit schwarzen Sonnenbrillen) mit Materialien ein und fangen an zu werkeln. Doch Jochen stellt ihnen seit der Swinger-Party nach. Und dann kommen auch noch Marlenes Eltern unangekündigt zu Besuch ...

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Womit wohl der Weihnachtsmann unterschreiben würde? Jede Nachricht, mit der Hand geschrieben, hat besonderen Wert in dieser Zeit! Ganz besonders, wenn das Werkzeug dafür so exklusiv und von feiner Handwerkskunst ist wie die Schreibgeräte des Schweizer Familienunternehmens Caran d´Ache. Bis zu 50 Arbeitsstunden und 35 Arbeitsschritte stecken in den verschiedenen Metiers der Manufaktur für ein einzelnes Gerät: Vom Rohling über das Polieren, Guillochieren, Lackieren und Gravieren findet sich alles wieder in der altüberlieferten Tradition. Das Ergebnis dieser Handwerkskunst zeigt sich beispielhaft in der Kollektion »Léman«. Diese hat ihren Namen vom Lac Léman, dem Genfer See, wo das Schweizer Familienunternehmen Caran d´Ache seit über 100 Jahren exzellente Zeichen- und Schreibgeräte in feinster Handarbeit herstellt.

Perfekt in Form gebracht offenbart sich diese Exzellenz und Raffinesse im »Léman Carmin Rouge« mit seinem feurig roten Transparentlack und einer Cubrik-Guillochierung, deren feine Struktur an den Blick durch ein Kaleidoskop erinnert. So treffen wunderbarerweise künstlerische Kreativität und alte Schweizer Handwerksqualität zusammen. In der Léman Kollektion ist für jede und jeden das passende Modell dabei: Léman bietet eine exzellente Auswahl an Füllfederhaltern wie auch Kugelschreibern in einzigartigen Designs und Ausführungen. Dem Weihnachtsmann würde es gefallen. Da kann man sicher sein!

Schweizer Savoir-Faire seit 1915 Caran d‘Ache ist ein Schweizer Familienunternehmen. Seit mehr als 100 Jahren hält das Haus die Kunst des Schreibens und Zeichnens respektvoll aufrecht. Caran d‘Ache entwickelt und produziert all seine Produkte in seinen Genfer Werkstätten. Die Schreibgeräte von Maison Caran d’Ache zeichnen sich durch besondere Sorgfalt, Hingabe und feinste Handwerkskunst aus. Sie sind das Ergebnis jahrhundertelanger Erfahrung, die von Generation zu Generation, von Handwerker zu Handwerker weitergegeben wird. Die Mitarbeitenden des Maison überzeugen mit ihrer Präzision, technischen Finesse und umfassender Kenntnis der verschiedenen Materialien. Sie beherrschen die Kunst des Polierens, des Guillochierens, der Lackierung und der Gravur. Jedes Stück der Haute Écriture, das die Caran d‘Ache Werkstätten in Genf verlässt, wird von Hand veredelt, zusammengesetzt und getestet.


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WOMIT HABEN WIR DAS VERDIENT?

Die einen haben alles, viele fast nichts: Warum wir über die Einkommensunterschiede in Deutschland noch mal gründlich nachdenken sollten


Von ALARD VON KITTLITZ Vor einigen Jahren reiste ich nach Zürich, um dort Remo Largo zu interviewen, den inzwischen leider verstorbenen Schweizer Kinderexperten. Ich hatte mich mit Largo über sein Leben und über seine Vorstellungen von gelungener Pädagogik unterhalten wollen, unser Gespräch kreiste dann aber fast den ganzen Tag um jene Frage, die er selbst als die zentrale seines Forscherlebens identifiziert hatte: Was macht die Menschen verschieden? Largo, ein freundlicher Mann mit weichem Blick, war über die vielen Jahre seiner eingehenden Beschäftigung mit unserer Spezies zu einem harten Schluss gelangt: Er meinte, dass wir ziemlich determinierte Wesen ­seien, maßgeblich von unseren Genen und den Umständen unserer Geburt dazu bestimmt, als sehr spezifische Personen durch diese Welt zu wandeln (oder zu stolpern). Er glaubte nicht ernsthaft an Leistung, höchstens glaubte er, dass Menschen unterschiedliche Neigungen und Gaben haben, für die sie wenig können, und dass es Aufgabe der Gesellschaft ist, ihnen ein dazu passendes Leben zu ermöglichen. Die Begegnung mit Largo war, wenn ich zurückblicke, ganz sicher nicht meine ­erste Begegnung mit der Idee des Determinismus. Trotzdem fällt sie mir eigentlich immer ein, wenn ich darüber nachdenke, wie unterschiedlich die Umstände der Menschen in Deutschland sind. Mich beschäftigt dann etwa, dass Joshua Kimmich als Fußballspieler am Tag etwa 50.000 Euro verdient, also ungefähr das Jahresgehalt einer Sozialarbeiterin. Solche Ungleichheit lässt sich, wenn überhaupt, doch nur dann aushalten, wenn sie in irgendeiner Weise gekoppelt ist an die Idee von Verdienst: Du hast etwas geleistet, du hast dir etwas erarbeitet, du hast besonders toll gekämpft, deswegen kriegst du besonders viel Geld. Verdienst beruht auf der Idee, dass die eigene Lage die Folge ist von Entscheidungen und Handlungen, für die man selbst verantwortlich ist. Aber was bleibt davon übrig, wenn man den Determinismus ernst nimmt? Wie rechtfertigt man solche Unterschiede, wenn man, wie Largo, zu dem Schluss gelangt ist, dass unsere Lebenswirklichkeiten maßgeblich die Konsequenz der eigenen genetischen und sozialen Gewordenheit sind? Wie erst rechtfertigt man sie, wenn

Illustrationen ADAM HIGTON man noch nicht einmal an den freien Willen glaubt, wenn man also, wie das manche Hirnforscher und Hard­core-­Deter­mi­nis­ten tun, Leute wie Wolf Singer oder Gerhard Roth, überzeugt ist, dass wir für keinen einzigen unserer Gedanken und keine einzige Entscheidung unseres Lebens verantwortlich sind? Ich bin mir nicht sicher, wie viel Wert ich auf die Ungleichheit in Deutschland lege, aber in der Hoffnung, an ihr wenigstens nicht komplett verzweifeln zu müssen, rief ich kürzlich Holm Tetens an, Professor emeritus für Wissenschaftstheorie und Logik an der Freien Universität Berlin. Darf man, wollte ich von ihm wissen, von Freiheit sprechen, ohne zu erröten, und also auch von Verantwortung, von Leistung und Verdienst? Seine Meinung dazu interessierte mich aus verschiedenen Gründen besonders. Zum einen hatte er sich mit solchen Fragen jahrelang befasst – mit Geist, Gehirn, Selbst und freiem Willen. Und dann kannte ich ihn, weil ich, als ich noch an der FU Philosophie studierte, jedes Semester seine Seminare besucht hatte, und zwar vor allem deswegen, weil ich seine Schonungslosigkeit im Denken so bewunderte. Er würde also, dachte ich, als ich mich bei ihm m ­ eldete, sicher nichts schönzureden versuchen. Und schließlich ging es mir um ein Erlebnis, das mir wohl vor allem deswegen so nahe geblieben ist, weil es mich damals erschreckte. Tetens, erinnere ich mich, kam eines Tages in den Seminarraum und wirkte nachgerade verzweifelt. Ich weiß nicht, womit genau er sich zuvor befasst hatte, aber er­ sagte, gewissermaßen zur Begrüßung, so etwas wie: »Die Neurowissenschaften werden unser gesamtes Weltbild komplett auf den Kopf stellen, da wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Da können wir uns warm anziehen.« Es kann sein, dass er das ganz anders meinte, als ich es damals für mich selbst übersetzte, aber ich dachte so etwas wie: Tetens sagt, die Hard­core-­Deter­mi­ni­sten haben recht. Wir sind nicht frei. Nichts ist verdient, nichts ist gerecht. Am Telefon antwortete Tetens dann allerdings etwas anders, als ich das erwartet hatte. Zunächst einmal sei eine Gesellschaft, in der wir ein­an­der als komplett determiniert, als »Automaten« erleben, ja unerträglich und eigentlich auch unvorstellbar. »Wenn jemand sagt, dass wir alle gehirndeterminiert sind«, fuhr er fort, »muss er das aber auch belegen. Schon damit aber – mit der Forderung nach guten Argumenten – rücken wir von der Determiniertheit ab.« Für Tetens, begriff ich, während wir uns unterhielten, bestand Freiheit in erster Linie in einer Art Praxis des Nachdenkens. Ganz unabhängig davon also, inwiefern ich meine Entscheidungen frei getroffen habe, bin ich doch dazu in der Lage, sie rückblickend zu betrachten; ganz so vielleicht, wie wir einen geschriebenen Satz erst bedenken können, wenn er be­endet ist – um ihn dann möglicherweise auch überarbeiten zu können, oder in der Zukunft besser zu formulieren, aus guten Gründen, die wir erwogen haben. »Wir sind«, sagte Tetens, »mindestens in Grenzen lernfähig. Wir sind dazu in der Lage, unseren Einsichten und unserem Nachdenken in unserem Handeln Rechnung zu tragen. Und wenn Sie und ich uns hier die Frage stellen: ›Bin ich das selbst, der handelt?‹, dann haben wir schon in dieser Frage jene Selbstdistanz gewonnen, die der Beginn der Freiheitspraxis ist.« Und dann sagte er etwas, woran ich mich noch aus seinen Vorlesungen erinnerte, zwei Sätze zum Mitschreiben: »Freiheit als Praxis ist die Unterbrechung selbstvergessener Routinen zugunsten eines Erstaunens über das eigene Verhalten und ein Fragen nach des-


55 sen Gründen. Wer so denkt, verhält sich als ein vernünftiges, als ein freies Wesen.« Mein Onkel, ein Psychoanalytiker, sagte mir einmal, die Frage, ob wir frei ­seien oder nicht, sei letztlich doch unerheblich. »Wir erleben uns als frei, und diesem Er­ leben müssen wir Rechnung tragen.« Es ist vielleicht ja auch wirklich egal, ob Men­ schen wie Singer sich die Freiheit aus der Warte der Neurowissenschaften denken können oder nicht. Wir alle, ihn einge­ schlossen, haben nun einmal dieses Wort in unserem Repertoire, und ein Erleben, das dessen Verwendung nahelegt. Und Tetens, mein Sherpa in diesen klirrenden Gefilden kalten Nachdenkens über unser Dasein, war offenbar auch dazu bereit, an die Möglichkeit von Verdienst zu glauben, weil er der Auffassung war, dass wir über unser Handeln nachdenken können, es verändern, es letztlich also auch uns selbst verantwortlich zuschreiben können. Am Ende, dachte ich, kann man es viel­ leicht ja sogar so formulieren: Weil wir uns als frei erleben, müssen wir nachden­ ken über Verdienst. Und Tetens war auch noch keineswegs fer­ tig. Vielmehr nahm er nun, wo wir uns das Weiterredendürfen über die Frage, wer was verdient, sozusagen erarbeitet hatten, erst Fahrt auf. »Die Einkommens- und Ver­ mögensverteilung in unserer Gesellschaft«, sagte er, »ist ja als nicht anders als skan­ dalös zu bezeichnen. Die Beiträge der Ein­ zelnen zur Gesellschaft unterscheiden sich nicht so gravierend von­ein­an­der, dass diese gewaltigen Unterschiede gerechtfertigt werden könnten. Ich glaube, dass kluge Reiche auch wissen, dass sie ein unglaub­ liches Glück gehabt haben, ein unverdien­ tes Glück.« Das Glück der vorteilhaften Geburt, das Glück der günstigen Veranla­ gung, das Glück des guten Geschäfts. Das Glück, in einer Gesellschaft zu leben, die ihren Beiträgen großen Wert beimisst. Um die Sache mit Joshua Kimmich und der Sozialarbeiterin hier auch noch einmal kurz etwas allgemeiner zu charakterisieren oder um Tetens’ Auffassung eines Skandals besser greifbar zu machen: Laut Bundes­ bank besitzen die reichsten zehn Prozent der Bundesbevölkerung 50 Prozent des ge­ samten Nettovermögens des Landes. Die unteren 50 Prozent besitzen gerade ein­ mal 0,6 Prozent. Wer zur unteren Hälfte

Laut Bundesbank besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des gesamten Nettovermögens in Deutschland. Die unteren 50 Prozent besitzen gerade einmal 0,6 Prozent zählt, besitzt also so gut wie nichts, weder Geld noch Aktien oder gar Immobilien. Das Vermögen in Deutschland ist ungleicher ver­ teilt als irgendwo sonst im Euro-Raum. Laut einer im vergangenen Jahr publizierten Studie des Bundesarbeitsministeriums gehören dem obersten Prozent der Bevölkerung satte 35 Prozent des Wohl­ stands in diesem Land. 100 Menschen, eine Torte, die zu verteilen ist: Einer kriegt ein Drittel der Torte, 50 kriegen einen Krümel. Stefan Quandt bezog als BMW-Erbe 2021 eine tägliche Dividende von etwa 2 Millionen Euro. Das Vierzigfache von Joshua Kimmichs Gehalt (und das Vierzehntausendfache des Tagesgehalts der Sozial­ arbeiterin, die in unserem Beispiel mit 50.000 Euro im Jahr auch nicht zu den Schlechtestbezahlten ihrer Zunft gehört). Für den Anthropologen David Graeber bestand das Bedrückende an solchen Zahlen in der Tatsache, dass Besitz in unserer Gesell­ schaft so unmittelbar verbunden ist mit Freiheit – jenem hohen Gut, das verfassungsgemäß jedem Bürger dieses Landes zusteht. Wenn wir, so Graeber, über eine Gesellschaft von Jägern und Samm­ lern wie etwa den San im südlichen Afrika behaupten, dass dort alle gleich ­seien, so meinen wir damit ja nicht, dass deren Mitglieder sich nicht in vielerlei Hinsicht von­ein­an­der unterscheiden würden, son­ dern wir meinen, dass dort alle mehr oder minder gleich frei sind, dass es keine absurden Hierarchien und Befehlsgewalten gibt. In unserer Gesellschaft ist das anders. Bei uns ist es so: Wer reich ist, kann tun und lassen, was er will. Er kann leben, wo er mag, reisen, wohin es ihm gefällt, arbeiten, was ihm zupasskommt, er kann sich nach Gusto kleiden, ernähren, verheiraten, scheiden lassen und so weiter. Reichtum ist begehrenswert, weil er Freiheit bedeutet, auch die Freiheit, nachzudenken. Armut bedeutet das Gegenteil. Der arme Deutsche ist de jure gleich frei wie der reiche Deutsche, de facto ist er ungleich gebundener. Armut betrifft, das sei hier auch noch kurz gesagt, ­Frauen und Minderheiten in ungleich höherem Maß. Sie sind in diesem Sinn in unserer Welt objektiv unfreier. Tetens betonte, dass er nicht wisse, wie dem Problem der unerklärli­ chen Unfreiheit beizukommen sei, er habe da keine Lösung. Versu­ che, von oben herab zu bestimmen, wie das Vermögen verteilt wird, ­seien aus seiner Sicht historisch gescheitert und nicht sehr vielver­ sprechend. Das ändere aber nichts daran, dass die U ­ ngleichheiten »schwindelerregend« ­seien. Er erinnerte an die längst verdrängten Lektionen aus der »Systemrelevanz« zu Hochzeiten der Pandemie, daran, wie wir uns für kurze Zeit alle frömmelnd einig waren da­ rin, dass Pflegekräfte und Krankenhausbelegschaften für das, was sie beitragen, viel zu wenig bekämen. »Die Frage, die gestellt wer­ den muss«, sagte er, »ist die, ob die funktionale Arbeitsteilung der Gesellschaft rechtfertigt, dass Menschen in höchst unterschiedli­ cher Weise Verfügungsgewalt über das arbeitsteilig Produzierte besitzen.« Alles, was wir als Gesellschaft produzieren, produzieren


56 wir in ­Arbeitsteilung – kein Fußballspiel mehr für Joshua Kimmich ohne funktionierende Müllabfuhr. Aber Kimmich kriegt ein Hundertfaches vom letztlich gemeinschaftlich erwirtschafteten Profit. Was rechtfertigt das? Die Fragen, über die wir hier gerade sprächen, sagte Tetens, könnten übrigens nur erörtert werden von Menschen, die ein Stück weit freigestellt ­seien von der unmittelbaren Not, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«, zitierte ich hochgebildet Brecht, und Tetens stimmte zu, sagte aber eben auch, dass aus dem Privileg des Wohlstands in der Tat – und wie von sehr vielen Reichen ja immer wieder gerne und mehr oder weniger heuchlerisch gesagt – Verantwortung erwachse. Aber was für eine Verantwortung ist das, fragte ich mich, nachdem Tetens und ich unser Gespräch be­endet hatten. Die Verantwortung, Kunst zu sammeln und ein Museum zu gründen? Die Verantwortung, eine historische Villa denkmalschutzgerecht durchzusanieren? Die Verantwortung, Geld an die Wohlfahrt zu stiften? Ist es nicht, dachte ich, letztlich eine politische Verantwortung, gewachsen aus der Einsicht, dass diese Gesellschaft fundamental verbesserungswürdig ist? Sollte ein Mensch, der die Verantwortung errungen hat, nicht mehr an das Fressen denken zu müssen, nicht vielleicht sogar an der Untergrabung jener Bedingungen arbeiten, die ihm diese Verantwortung überhaupt auferlegt haben – um ganz frei sein zu können: frei von der scheußlichen Not, die schwindelerregenden Privilegien ständig rechtfertigen oder leugnen zu müssen? Vielleicht wie jene so selbstlos wirkende Bewegung von Ultrareichen, die unter dem Slogan »Tax me now« darauf hinwirken wollen, dass auf horrendes Vermögen horrende Steuersätze erhoben werden? Um mich nicht gänzlich meinen wohlfeilen Urteilen hinzugeben, die ja, ich mag nicht lügen, auch komplett anders ausfallen könnten, wenn ich selbst Flügelstürmer, CEO oder BMW-Erbe wäre, bat ich noch um eine Audienz bei Professor Karl-Heinz Paqué, Volkswirt und Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit – laut Economist »intellektueller Geschäftsführer« der FDP. Lustig:

Herkunft, Erziehung und Bildung haben einen gewaltigen Einfluss darauf, wie wir uns später im Leben schlagen werden – das ist längst erwiesen, aber wie gehen wir damit um? Am Ende der Unterhaltung mit Paqué war mein Eindruck, dass der in fast jeder Hinsicht genau der gleichen Auffassung war wie Holm Tetens. Mit dem großen Unterschied, dass er sich damit weitaus ­gemütlicher arrangiert zu haben schien. Zur Grundfrage nach unserer Freiheit sagte er etwa: »Selbst wenn die These vom Determinismus stimmen sollte, woran ich zweifle, müssen wir unser L ­ eben organisieren und den einzelnen Menschen zur Verantwortung ­ziehen. Für eine humane Gesellschaft, die nicht anarchisch und brutal sein soll, müssen wir annehmen, dass es so etwas wie Selbstverantwortung gibt und einen freien Willen.« Paqué plädierte, ganz im Sinne des Liberalismus, wie ich ihn immer schon kenne, für die Idee eines »­ level playing field«, einer Gesellschaft also, die für »Chancengerechtigkeit« sorgt. Alle sollten möglichst vergleichbare Startbedingungen bekommen, aber was die ­einzelnen Mitglieder der Gesellschaft dann aus diesen Bedingungen machen, bleibt ihnen selbst überlassen. »Die Menschen sind verschieden«, sagte Paqué in seinem Büro nahe der Berliner Friedrichstraße. »Daraus darf man keinem einen Vorwurf machen, weder dem Reichen noch dem Armen. Der Staat muss die Frage stellen: Wie gehen wir damit um? Und unsere Antwort lautet eben: Chancengerechtigkeit. Der Begriff hat weitreichende Konsequenzen.« Paqué bekannte in diesem Zusammenhang etwa, dass freie Trägerschulen nicht seine Sympathie hätten, dass es in einer Welt nach seinem Geschmack also bloß staatliche Schulen gäbe: sodass also nicht Kinder aus wohlhabendem Elternhaus eine bessere Schule besuchen können als Kinder aus ärmeren Verhältnissen, »denn dies führt zu einer segmentierten Gesellschaft«. Als Liberaler, sagte er dann, würde er aber auch nicht für ein Verbot privater Bildungseinrichtungen plädieren wollen. Mit etwas Abstand amüsiert mich das. Paqué leugnete nicht, was die Soziologen längst umfangreich gemessen und belegt haben, dass also Herkunft, Erziehung und Bildung einen gewaltigen Einfluss haben darauf, wie wir uns später im Leben schlagen werden – sodass die Professorentochter es weit leichter haben wird, selbst Professorin zu werden, als das etwa für die Tochter einer Regal­ einräumerin der Fall ist. Paqué war auch der Auffassung, dass man segmentierenden Tendenzen prinzipiell entgegenarbeiten sollte. ­ Aber halt irgendwie nicht zu doll. Genau wie Tetens sagte Paqué, dass aus seiner Sicht im Grunde alle Arbeitenden systemrelevant s­eien, vom Würstchenbudenverkäufer bis zur Vorstandsvorsitzenden. »Und natürlich ist es denkbar«, sagte Paqué auch, »dass der Geldverdienst der Obersten nicht mehr verhältnismäßig ist. Aber das liberale Prinzip lautet, dass der Verdienst nicht vom Staat bestimmt werden darf. Er muss sich aus der Nachfrage und dem Angebot in der Gesellschaft ergeben.« Natürlich ist es denkbar, dachte ich böse, dass wir es mit einem

Kinder aus wohlhabendem Elternhaus können oft auch eine bessere Schule besuchen



58 Skandal zu tun haben. Aber der Staat sollte hier keinesfalls intervenieren! Der Markt regelt das schon. Alles klar. Wobei Paqué halt auch nicht so skandalisiert wirkte. Superreiche etwa schienen ihm ein eher marginales Problem zu sein: »Die kann man sozusagen an der Hand abzählen.« Die Ungleichheit in Deutschland beschrieb er als nicht allzu gravierend oder zumindest als nicht übler als in den übrigen westlichen Gesellschaften auch. »Ich warne davor, die Ungleichheit als das entscheidende Phänomen der Gesellschaft anzusehen«, sagte er und zitierte den die Ungleichheit einer Gesellschaft bemessenden Gini-Koeffizienten, der seit den Wende­ jahren in Deutschland kaum gestiegen sei, oder den »Spread« im Gehalt zwischen gelernten und ungelernten Arbeitskräften, der nicht sehr groß ausfalle. Okay. Einige Wochen nach unserem Gespräch, als ich nachts wach lag und – was soll man machen – über diesen Text nachdachte, fiel mir auf einmal ein, dass Paqués vielleicht interessantester Satz eigentlich auf einem Nebenpfad unserer Unterhaltung gefallen war, als es um seine Biografie gegangen war und darum, dass die Privatwirtschaft ein paarmal mit Jobangeboten bei ihm angeklopft habe, er aber dennoch stets lieber Professor geblieben sei. »Ich finde es überhaupt nicht ungerecht«, hatte Paqué mir dazu gesagt, »dass ein Bankökonom fünfmal so viel verdient wie ich. Der hat ja auch die Freiheit nicht. Die Freiheit der Forschung ist mir verdammt viel wert.« Und hatte er da nicht etwas Schönes, ja nachgerade Erbauliches geäußert? Verdienst, Verdienst, die ganze Zeit geht es in diesem Text ums schnöde Geld, um Besitz, ganz so, als sei das die einzige Kategorie, die uns im Leben interessieren kann. Aber was ist denn mit der Freude an einer sinnerfüllten Arbeit, die manch Geringverdiener empfinden mag, sagen wir beschäftigt in einer Rehaklinik? Hat diese Freude keinen Wert? Was ist mit dem Glück, Kinder an die Quellen des Wissens heranzuführen, das eine Lehrerin erleben kann? Kriegen solche Menschen nicht möglicherweise etwas, das der Partnerin in einer Großkanzlei trotz Eckbüro im 13. OG entgehen mag, weil sie bis spät nach Mitternacht noch irgendwelche Vertragsparagrafen im Merger

z­weier Beton­konzerne durchputzen muss? Die Glücksforschung, um auch diesen alten Gassenhauer der Weltweisheit noch mal zu trällern, hat ja herausgefunden und belegt, dass Geld nicht glücklich macht beziehungsweise nur bis zu einem gewissen Punkt, bis zum Nachlassen der Ängste, die akuter Geldmangel produziert. Danach bringt ein höheres Gehalt keinen messbaren Mehrwert mehr an Freude am Dasein. Man kann diese Erkenntnis aber eben leider auch umdrehen. Wenn man nicht genug Geld hat, macht das unglücklich. Wenn man nicht so viel verdient, wie man verdienen sollte, wenn man also etwa kein Professorengehalt bezieht, das es einem erlaubt, auf das Bankökonomengehalt zu verzichten, dann übersieht man vor lauter Geldsorgen vielleicht sogar, wie toll man es im eigenen Beruf in anderer Hinsicht hat. Man braucht eine bestimmte Menge Geld, um sich die Einsicht leisten zu können, dass Geld nicht alles ist. Wie schade: denn Geld ist ja nicht alles! Hierin liegt natürlich ein gewaltiges moralisches Problem. Der Mensch, wir postulieren das als Gesellschaft, ist frei. Frei in dem Sinne, dass er Verantwortung für sein Schicksal trägt: Er kann seine Lage in gewisser Hinsicht verdienen. Manchen aber teilt der Markt so wenig zu, dass sie unglücklich bis krank werden, und anderen so viel, dass es für ihr Wohlbefinden schon lange, lange keinen Unterschied mehr macht, ob sie nun 30.000 Euro mehr oder weniger verdienen pro Monat. Manche macht der Markt frei im Graeberschen Sinne, frei wie einen Jäger, dass er tun und lassen kann, was ihm gefällt, extrem frei, die meisten aber macht er nur ein klitzekleines bisschen frei oder fängt sie gar ein in der Not, in ungeliebter Weise Geld verdienen zu müssen. Holm Tetens wusste nicht, wie man diesem moralischen, politischen und ästhetischen Problem wirklich beikommen könnte, Karl-Heinz Paqué schien das Problem nicht problematisch genug, und auch mir fällt natürlich keine Lösung ein, oder ich wüsste jedenfalls überhaupt nicht zu sagen, welcher der vielen Ansätze der beste wäre: Erbschaftsteuer, Reichensteuer, Abschaffung der Deckelung bei der Kapitalertragsteuer, freies Grundeinkommen und so weiter. Allerdings scheint mir das kein Grund, das Nachdenken darüber aufzugeben. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Einkommensverteilung in Deutschland es einer zunehmenden Zahl von Menschen erschwert, an den Versprechungen bürgerlichen Lebens zu partizipieren – an gesichertem Wohnraum etwa, oder einer ­anständigen Rente, oder dem Zugang zu vernünftiger Bildung. All das lässt sich in Zahlen belegen. Stefan Quandt muss zwei Wochen sparen, um sich von den Dividenden eine Villa mit Wasserzugang am Starnberger See zu kaufen; ein Gärtner auf dem Anwesen kann sein Leben lang sparen und wird sich immer noch keine anständige Wohnung in der Nähe kaufen können. Nicht in Zahlen belegen lässt sich mein Gefühl, dass diese Entwicklung viel ursächlicher ist für das zunehmende Zerbröseln der gesellschaftlichen Mitte, als es in den Umfragen zutage tritt. Mein Gefühl ist, dass der Zusammenhalt und der Frieden in diesem Land auch von einem hinlänglichen Gefühl der Teilhabe abhängig sind. Einer kriegt ein Drittel von der Torte? Fünfzig kriegen nur einen Krümel? Was, diese Frage stellen sich manche vielleicht, bringt mir so eine Ordnung? Die Mehrheit hat Besseres verdient.

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Die diesjährige ZEITmagazin-Uhren-Schatzsuche führt uns an Orte, wo Menschen sich Dinge haben einfallen lassen, die heute nicht mehr wegzudenken sind. Wenn Sie beim Rätseln richtigliegen, können Sie eine Uhr gewinnen In Deutschland beklagt man sich darüber, dass das Land im Müßig­ gang dahindämmere, nichts mehr funktioniere und alles immer nur schlechter werde. Es fehlen allem Anschein nach die Innovatoren. Dabei ist doch so viel hier losgegangen. Es gab einmal den Beruf des Erfinders, der alle möglichen Sachen erdenken und zum Laufen bringen konnte. Mit unserer diesjährigen Uhren-Schatzsuche wol­ len wir einmal zurück in dieses Land reisen, in dem alles Mögliche neu erdacht wurde. Manches davon ist uns heute so selbstverständ­ lich, dass wir uns das Leben ohne gar nicht mehr vorstellen kön­ nen. An manchen dieser Orte, wo große Dinge entwickelt wurden, steht heute noch eine Fabrik, an manchen ein kleines Museum, an anderen nicht einmal eine Gedenktafel. Wenn Sie jeweils das Bild betrachten und den Rätseltext lesen, können Sie erschließen, um welchen Ort es sich handelt. Und viel­ leicht gibt es dort eine Uhr für Sie zu gewinnen. In den Jahren vor der Pandemie hatten wir dazu aufgerufen, den gefundenen Ort

aufzusuchen. Wie schon in den vergangenen Jahren möchten wir das auch dieses Jahr nicht tun. Bitte bleiben Sie also zu Hause, wenn Sie einen Ort erkannt haben, und schicken Sie uns seinen Namen sowie die Lage (PLZ, Gemeinde bzw. Landkreis) entweder per E-Mail an schatzsuche@zeit.de oder per Post an ZEITmagazin, Stichwort Schatzsuche, Schöneberger Straße 21A, 10963 Berlin. Bitte entscheiden Sie sich für einen Ort, Mehrfacheinsendungen werden nicht berücksichtigt. Einsendeschluss ist Montag, der 6. No­ vember. Bei Briefen gilt der Poststempel. Mitarbeiter des Zeitverlags sind von der Teilnahme ausgeschlossen. Unter den Einsendern, die den Ort mit der Gewinner-Uhr (also möglichst die genaue gesuchte Adresse) herausgefunden haben, wird ausgelost. Nur die Gewinnerin oder den Gewinner werden wir benachrichtigen. Und wir hoffen darauf, dass Sie den einen oder anderen Ort, den wir vorstellen, in nächster Zeit mal besuchen. Vielleicht kommen Sie dabei ja selbst auf eine Idee, die die Menschheit weiterbringt.


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Wer sich schon einmal über einen Ikea-Schrank beim Aufbau geärgert hat, der ärgert sich indirekt auch über unseren findigen Erfinder. Er hat darüber nachgedacht, was man mit Holzspänen und Leim alles anstellen kann. Der Vater des Erfinders war Möbelschreiner, in dessen Werkstatt der Sohn viel herumexperimentiert hat. Sein Name ist das Gegenteil von Höllensenker, die Adresse in der gesuchten Stadt das Gegenteil von Frieden. Van Cleef & Arpels Sweet Alhambra


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Nicht jede Erfindung ist eine Ingenieursleistung, manchmal muss man auch einfach nur gut zuhören und es dann zu Papier bringen. Das haben zwei Bibliothekare im 19. Jahrhundert getan und damit für jede Menge Träume und Albträume gesorgt. Die meiste Zeit haben sie dabei in dieser Stadt gelebt. Das Haus, in dem sie einmal gewohnt haben sollen, steht an einem Platz, der nach den beiden benannt ist. Wenn sie nicht gestorben wären, würden sie dort heute noch leben. Wo denn? Sinn 356 Flieger Klassik Jubiläum


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Zwischen Schießberg und Bruckersberg entdeckte eine an Kinderlähmung leidende Schneiderin in einem Journal das Schnittmuster für ein besonders schönes Nadelkissen aus Filz. Ihre Neffen spielten mit jenen Nadelkissen allerdings so gerne, dass daraus ein ganzes Geschäftsmodell entstand. Wenig später lieferte die Schneiderin schon an Harrods in London. Wir suchen die Adresse des Hauses, in dem jenes Nadelkissen entstand. Blancpain x Swatch Bioceramic Scuba Fifty Fathoms Collection Atlantic Ocean


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Diese Erfindung ermöglicht uns besondere Einblicke, sie zeigt unser Innerstes. Allerdings blicken wir mit ihr meist sorgenvoll in uns hinein. Oft ist etwas kaputt, und allzu oft soll man auch nicht gucken – ist ja nicht gesund. Aber davon wusste der gute Mann noch nichts, als er 1895 an einem Uni-Institut seine Entdeckung machte. Er ahnte wohl auch nicht, dass sein Name auf immer damit verbunden sein würde. Heute steht dort ein kleines Museum. Bulgari Serpenti Tubogas Infinity


Heute erinnert nur eine profane Infotafel an den Ort, wo die Erfindung gemacht wurde, die wie kaum eine andere das Land geprägt hat – und die eine große Industrie geschaffen hat. Als die Frau des Erfinders allerdings mit seiner Schöpfung einen Ausflug unternahm, hielt sie an einer Apotheke und kaufte einige Liter Ligroin. Heute würde sie dafür mehr als elf Euro pro Liter hinblättern müssen. Gut, dass man nicht mehr in Apotheken tanken muss. Den Laden gibt es heute noch. Wo? Cartier Tank Française

Es geht um Entflammung durch einen Funken, durch die Kraft, die aus Explosionen kommt und die Welt vorantreibt. Das alles begann damit, dass jemand in der gesuchten Stadt im Jahr 1886 eine »Werkstätte für Feinmechanik und Elektrotechnik« eröffnete. In jener Werkstätte wurde 15 Jahre später das Wunderding entwickelt. Zuvor hatte man solcherlei nur auf Torten gesehen. Die Straße des Betriebs ist nach einem roten Heiligenbild benannt. Wo war das Start-up? TAG Heuer Carrera Chronosprint


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Um das Heißgetränk so zu genießen, steht man in Third-Wave-Läden andächtig vor etwas, das aussieht wie ein Experiment aus dem Chemieunterricht, nur dass man das Ergebnis diesmal trinken soll. Diese Erfindung hat auch mit etwas zu tun, das wir aus Schulheften kennen: Löschpapier. Während die meisten es wegwerfen, hatte eine Hausfrau damit eine geniale Idee. An der gesuchten Wohnadresse produzierte sie ihre Erfindung jahrelang. Heute ist dort der Sportplatz einer Schule, an der die Kinder ihr Löschpapier wohl auch wegwerfen. Tiffany HardWear


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Heute residiert an der Adresse eine Firma, die Steuererklärungssoftware vertreibt, in der Nachbarschaft eine Behörde, die noch neugieriger ist als das Finanzamt. Keine Gedenktafel weist darauf hin, dass hier einmal etwas sehr Heißes entwickelt wurde, oder, wenn man es so möchte, etwas sehr Cooles. Das ist 100 Jahre her. Eigentlich kaum zu glauben, dass etwas so Erfolgreiches aus der Stadt kommt, in der sonst doch nichts funktioniert. A. Lange & Söhne 1815 Rattrapante Ewiger Kalender


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Es waren nur etwa 25 Meter, aber es waren die ersten 25 Meter, die ein Mensch auf diese Art zurückgelegt hat. Seine Reise ging von einer Düne aus. Wie aufregend muss das gewesen sein? Und wie gelangweilt sitzen wir heute in Schaumstoffsesseln, reisen mühelos 2000 Kilometer und ärgern uns, wenn wir eine halbe Stunde warten müssen? Auf den Sommer 1891 hatte man die ganze bisherige Menschheitsgeschichte warten müssen. Wo genau war der Sandhügel, an dessen Stelle heute ein Denkmal steht? Jaeger-LeCoultre Reverso Tribute Small Seconds


Die beste Anschaffung seines Lebens war eine Dusche. Denn darunter kamen ihm die meisten I­deen für seine Erfindungen. Über 1000 davon meldete er zum Patent an. Er erfand Spielzeug, das man essen kann, oder ein Synchronblitzgerät. Legendär war sein Baukasten, mit dem man praktisch alles bauen kann. Seine bekannteste Erfindung ist jedoch ein kleines Plastikröhrchen, das für Halt sorgt. In dem Ort, wo sich die Dusche befand, wird es noch heute produziert. Wo genau? Carl F. Bucherer Patravi ScubaTec Verde

Die meisten Menschen sind wenig begeistert, wenn sie ein Wespennest entdecken, aber einem Weber kam Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Betrachtung solch eines Gebildes eine Idee: Er erkannte, dass die Insekten ihre Nester auf eine besondere Art und Weise bauten – und konstruierte eine Maschine, um es ihnen nachzumachen. Damit sorgte er für sehr viel Presse. In dem Ort, in dem der Weber wirkte, hat man ihm einen Brunnen gewidmet. Wo ist der? Nomos Glashütte Orion neomatik 175 Years Watchmaking Glashütte


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Die Frage, wie sich Musik überallhin mitnehmen lässt, hat eine Forschergruppe an einem Ort beschäftigt, der selbst eigentlich nur in einem Song, den Max Goldt einmal gesungen hat, vorkommt. Aber ohne ihre Erfindung könnten Millionen Menschen keine Lieder auf Spotify hören. Das ganze moderne Musikgeschäft wäre nicht denkbar. Selten haben so viele so wenigen so viel zu verdanken. Das Ganze sind nur zwei Buchstaben und eine Zahl. Wo ist die Universität, in der dies entwickelt wurde? Patek Philippe Ref. 4962


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Ein Sack Zucker, ein Kupferkessel, ein Herd und eine Walze. Das war alles, womit unser Erfinder 1920 in seiner Waschküche herumexperimentierte. Was dabei herauskam, ist noch heute das Schönste, was aus Schweineknochen werden kann. Er war übrigens Bonbonkocher! Bonbonkocher – warum gibt es diesen Beruf nicht mehr? Brauchen wir irgendetwas dringender als Bonbonkocher? Heute befindet sich am Ort der Waschküche eine Straßenkreuzung. Welche nur? Wempe Iron Walker Automatik


Gesucht ist der blumige Name einer Straße, in der vermutlich im Winter 1907 ein großes Zerwürfnis begann, das fortan für jede Menge Missgunst zwischen Menschen sorgte. Angefangen hatte alles damit, dass ein Vater etwas gegen die Langeweile seiner drei Söhne machen wollte. Tragischerweise spielt auch England sowie der Krieg mit England dabei eine Rolle. Nächstes Jahr ist die Weltmeisterschaft, das Endspiel ist in Berlin. Seiko Presage Craftsmanship Series Urushi Lacquer Dial Limited Edition SPB395

Ein Korbmacher hatte die gute Idee, für eine an Rheuma erkrankte Dame eine Sitzgelegenheit zu entwerfen. Bald stellte sich heraus, dass sich das Möbel auch sehr gut für Menschen eignet, die keine Gebrechen haben. Mitunter ist das Ding die einzige Möglichkeit, wie man einen Tag an einem zugigen deutschen Strand überstehen kann. Am Mittelmeer hätte so was niemand erfunden. Heute gibt es eine Gedenktafel nahe dem Leuchtturm, wo die Dinger zum ersten Mal vermietet wurden. Rolex Oyster Perpetual 36 Celebration



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Wenn sich alle Probleme der Welt, die uns gerade Kopfschmerzen bereiten, so schnell und zischend auflösen ließen wie diese Erfindung, wäre es schön. Allerdings wird dem Chemiker, der maßgeblich daran beteiligt war, auch die Erfindung des Heroins zugeschrieben. Womit er wohl genauso viele Probleme geschaffen wie gelöst hat. Der Hersteller des Wunderstoffes unterhält noch heute an jenem Standort ein Werk. Wo steht es? Oris ProPilot X Kermit


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Es gibt einen Fußballverein, der spielt stabil in der Landesliga. Aber bekannter als der Verein mit dem poetischen Namen ist eine Erfindung, die ihn dreimal in Folge die Meisterschaft gewinnen ließ. Der Sportliche Leiter des Vereins war gelernter Schuhmacher und bastelte in seiner Waschküche für seine Spieler Schuhwerk, mit dem sie sehr flink unterwegs waren. Leider war der Erfinder kein sehr versierter Geschäftsmann, deswegen blieb sein Wirkungskreis regional beschränkt. Wo residiert der Verein? Omega Speedmaster Super Racing


Wir suchen eine mittlerweile sehr bekannte Adresse. Allerdings ist es äußerst unwahrscheinlich, dass hier einmal das gefördert wurde, worauf der Name hinweist. Auf eine Anfrage wurde nur mitgeteilt, dass hier vielleicht einmal ein besonders ertragreiches Ackerstück gewesen sein könnte. Unbekannt, ob man hier tatsächlich auch mal nach Metall gegraben hat. Unstrittig allerdings, dass dort heute die Firma residiert, die wohl eine der wichtigsten Erfindungen seit 2019 gemacht hat. Montblanc 1858 Iced Sea Automatic Date

Ein Unfall, den das Kind des Tüftlers mit Glück überlebte, stand am Anfang dieser Erfindung, ohne die eine Kindheit heute kaum mehr denkbar wäre. Obwohl seine Erfindung vor allem aus Luft besteht, brauchte der Mann noch einmal Glück und musste im Lotto gewinnen, bevor sein Produkt marktreif war. Das erste Mal konnte er damit in einem Schwimmbad unweit eines großen Friedhofs re­üssie­ren. In einer Stadt, in der nicht die Currywurst erfunden­ wurde. Wo genau? Audemars Piguet Royal Oak weiße Keramik

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BIN ICH ZU VIEL?

Unsere Autorin Laura Binder, 29, testet immer wieder mit Selfies, wie sie aussieht. Sonst taucht sie ungern auf Fotos auf


81 Ich lüge oft. Wenn Freunde schwimmen gehen, muss ich leider arbeiten. Wenn alle in diese Bar wollen mit den schmalen Stühlen, dann bin ich leider nicht fit. Und wenn mich jemand fragt, ob ich beim Shoppen was gefunden hätte, hat mir leider nichts gefallen. Es gibt viele »leider« in meinem Leben, und jedes steht für eine Wahrheit, die ich nicht aussprechen kann: Ich traue mich nicht, im Badeanzug rumzulaufen. Ich habe Angst, dass ich nicht in den Stuhl passe. Ich schäme mich, dass es nichts in meiner Größe gibt. Ich bin 29 Jahre alt, 172 Zentimeter groß und 112 Kilo schwer. Ich bin adipös – fettleibig, wie jeder vierte Erwachsene in Deutschland. Übergewicht hat sogar die Hälfte unserer Gesellschaft. Wir stünden vor einer Art Epidemie, sagt die Weltgesundheitsorganisation. Trotzdem fühlt es sich so an, als wäre ich mit meinem Fett allein, und es gibt keinen Tag, an dem mich das nicht belastet. Die Last hängt nicht nur an meinen Armen und Beinen. Sie erdrückt mich innerlich, wenn ich in den Spiegel schaue. Sie schlägt mir aus den Blicken der anderen entgegen, wenn ich einen Raum betrete. Sie drängt mich an den Rand, oft gerade dann, wenn ich gar nicht damit rechne. Aber dennoch spreche ich nie darüber. Weil ich mich schäme. Weil ich niemanden runterziehen will. Und auch weil viele heute erwarten, dass man zur Aktivistin wird und sagt: Ich bin dick, na und! Doch das kann ich nicht sagen. Es wäre wieder gelogen. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum ich gerade jetzt meine Scham überwinden und über mein Gewicht schreiben will. Ich glaube, es hat mit einem Moment vor ein paar Monaten zu tun, ich räumte mein Handy auf und ging die Fotos der vergangenen Jahre durch – Feiern, Treffen, Schul- und Uni-Abschlüsse –, Verwandte, Kollegen, Freunde lachten mir entgegen. Nur einen Menschen suchte ich vergeblich: mich. Ich bin eigentlich nur auf Fotos, die ich selbst gemacht habe, vor dem Spiegel, um zu testen, wie ich aussehe (sie illustrieren diesen Artikel). Als mir das klar wurde, spürte ich wieder diesen altbekannten riesigen Klumpen in mir. Aber diesmal drückte ich ihn nicht gleich weg, sondern ließ den Gedanken

Klamotten, Sitze, Situationen: Ich passe in vieles nicht rein. Statistisch geht es jedem vierten Deutschen so. Doch ich fühle mich mit meinem Übergewicht allein

Von LAURA BINDER

meine Schutzschicht durchbrechen: Das ist Reue! Reue, mich immer zu verstecken, zu lügen, zu schweigen, unsichtbar zu sein. Mich selbst zu verleugnen und mein Leben nicht zu leben. So möchte ich nicht weitermachen: Ich will mich endlich zeigen und besser verstehen, wer ich bin. Auch deshalb schreibe ich diesen Text. Ich kann nicht sagen, warum ich immer dicker wurde. Richtig schlank war ich nie. Ich wuchs in einer Kleinstadt in Ostwestfalen auf, wo hinter jeder Gardine jemand am Fenster stand. Meine Familie war ­zugezogen, mein Vater arbeitete als Arzt mit meiner Mutter zusammen in seiner Praxis. Sie kochten gesund, den Süßigkeitenschrank plünderte ich heimlich, bevor ich zum Fußballtraining fuhr. In der Grundschule nannten mich die Lehrer noch »kräftig«, am Gymnasium sagten Mitschüler schon, ich sei »fett und hässlich«. An einen Morgen erinnere ich mich besonders gut: Auf dem Weg zur Schule lief hinter mir eine Gruppe Jungs, einer sagte: »Der Arsch ist echt riesig.« Alle lachten. Am Abend sortierte ich meinen Kleiderschrank. Jedes Oberteil, das nicht bis weit über die Hüfte reichte, stopfte ich in Plastiksäcke für die Kleiderspende. Eines Abends kam meine Mutter in mein Zimmer, als ich schon im Bett lag. Sie spürte wohl, dass es mir nicht gut ging, und las mir aus einem Kinderbuch vor: Es handelte von Puppen, die gegenseitig ihr Aussehen mit Stickern bewerteten. Doch an einer Puppe blieb kein Sticker haften, weil ihr die Meinung der anderen egal war. Danach fragte meine Mutter mich, ob ich glücklich sei. Ich sagte: »Ich mag mich, wie ich bin.« Es war am Anfang meiner Pubertät, der Zeit, in der ich zu lügen begann. Meine Schenkel wurden immer dicker, meine Arme schlaffer, mein Po größer. Ich hörte auf, bestimmte Dinge zu tun, und akzeptierte das still, um nicht noch mehr aufzufallen. Ich trug nur noch Oberteile in Größe L und Hosen in XL. Ich hörte auf, ins Freibad zu gehen. Ich mied Ganzkörperspiegel, ich stellte mich bei Fotos immer in die letzte Reihe und zog mich bei Übernachtungen auf der Toilette um. Meine zwei Geschwister sind sportlich, meine Freundinnen waren fast alle dünn. Ich tat, als würde ich zu ihnen gehören, versteckte meine Unsicherheit hinter ­Witzen


82 und einer forschen Art. Ich lernte, wie ich meinen Kopf halten muss, damit er dünner aussieht: seitlich kippen, leicht das Kinn anheben, die Lippen zusammenpressen. Ich bildete mir ein, verstecken zu können, dass ich dick bin – und unglücklich. Natürlich kämpfte ich gegen das Fett. Doch wenn sich nicht schnell genug etwas tat, gab ich beschämt wieder auf. Einmal kniete ich abends mit meiner Zahnbürste vor der Toilette. Ich warf sie nach dem ersten Würgen in den Müll. Ich wuchs in einer Zeit auf, in der dicke Menschen nicht auf Zeitschriften-Cover kamen und auch in keine Werbekampagne. Zum Einschlafen hörte ich Die drei ???, und der korpulente Justus Jonas bekam in fast jeder Folge mit auf den Weg, er solle mehr Sport machen. Als Teenager schaute ich Filme, in denen dicke F ­ rauen immer die waren, die niemand wollte. In Zeitschriften las ich von Problemzonen, an jeder Ecke wurde eine Diät beworben, und Heidi Klum schickte dünne Mädchen nach Hause, sie sollten erst wiederkommen, wenn sie noch dünner wären. Ich lernte, dass ich nicht begehrenswert bin. Schwach. Und selbst schuld. Gegen Ende der Schulzeit machten alle einen Tanzkurs. Ich weigerte mich mitzumachen. Ich war mir sicher, dass mich kein Junge fragen würde, ob ich mit ihm zum Abschlussball ginge. Ob das wirklich so gewesen wäre? Meine Realität war immer verschwommen: Ich hatte Ver­ ehrer, erste Freunde und knutschte auf Partys. Aber war trotzdem der Meinung, dass mich niemand lieben könne. Als ich fürs Studium nach Hamburg zog, sprachen alle an der Uni über ihre ­Dates. Ich hatte kaum welche, in meinem Tinder-­Profil lud ich nur Fotos von meinem Gesicht hoch. Wenn ich einen Match hatte, schrieb ich erst wochenlang, bevor ich mich zu einem Treffen überwand. Ich wollte sichergehen, dass mich der andere für meine Art mag, dass die meinen Körper vielleicht aufwiegen würde. Wenn ich mir heute, mit vielen Kilos mehr, Fotos von mir aus dieser Zeit angucke, würde ich mein jüngeres Ich gern ohrfeigen. Mittlerweile bin ich seit Jahren in einer Beziehung, wir wohnen zusammen, haben zwei Katzen. Wenn wir morgens zusammen aufwachen, sagt er mir, wie schön ich sei.

Für die einen bin ich faul, weil ich keine Diät schaffe, für die anderen feige, weil ich nicht zu meinem Gewicht stehe

Aber in mir ändert sich nichts. Wenn ich vorm Spiegel stehe und über mich selbst schreckliche Dinge sage, sehe ich in seinem Blick, dass etwas in ihm zerbricht. Einmal fragte er: »Warum hasst du dich so sehr?« Damals konnte ich nichts dazu sagen, vielleicht gibt dieser Text eine Antwort. Als wir vor einigen Jahren Urlaub machten, traute ich mich trotz der Hitze nicht in den Hotelpool. Schließlich fanden wir eine menschenleere Bucht. Wie lange war es her, dass ich nicht nur mit den Füßen im Meer war? Wir schwammen, lagen am Strand, hörten Musik. Ich war glücklich, einfach ich sein zu können. Bis drei Jungs an den Strand kamen und Selfies machten. Sie sprachen Deutsch. »Schieb, schieb den Wal ...«, sagte einer und schaute grinsend zu uns herüber. Mein Freund schlief in der Sonne, ich blickte angestrengt in mein Buch. Den Rest des Urlaubs ging ich nur noch in einer langen Bluse an den Strand. Auch im Alltag überlege ich morgens lange, was ich anziehe, um wenig Aufsehen zu erregen. Seit Jahren trage ich keine kurzen Hosen mehr, keine Tops, niemals bauchfrei, nichts Enges, keinen großen Ausschnitt, jeder Rock geht übers Knie. Seit Jahren war ich auch nicht mehr bei der Frauenärztin. Bei Routineuntersuchungen bekam ich jedes Mal ungefragt eine Broschüre zur Ernährungsberatung in die Hand gedrückt. Gern hätte ich auf den triefenden Burger auf der Broschüre gezeigt und gesagt: »Ach, das macht dick? Unfassbar!« Es sind nicht nur Menschen, die Dicke diskriminieren, sondern auch viele Dinge. Meinen 25. Geburtstag wollte ich mit meinem Freund im Freizeitpark feiern. Ich freute mich wie ein Kind: Wir standen ewig für die große Holzachterbahn Colossos an. Als ich mich endlich in den Wagen setzte, war ich richtig aufgeregt. Ich drückte den Bügel runter, doch der Sicherheitsgurt war zu kurz. Er ging nicht zu. Mein Freund saß woanders, ich wurde panisch. Als ein Kontrolleur den offenen Gurt sah, zeigte er auf den Ausgang und sagte: »Dann raus.« Ich kletterte aus dem Wagen und ging der wartenden Masse entgegen. Ich senkte den Kopf und unterdrückte die Tränen. In einer Gesellschaft, die immer dicker wird, wachsen die Gegenstände einfach nicht mit. Fahrstühle rechnen weiter mit


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84 80 Kilogramm pro Person, Kleidung hört bei vielen Marken schon bei L auf, Plus ­Size wird gesondert geführt, Stühle sind auf 45 Zentimeter Breite normiert. Als ich mir ­einen Heimtrainer, ein Fahrrad, kaufen wollte, fand ich in meiner Preisklasse nur ein Modell mit einer Zulassung für über 100 Kilogramm. Einen Stuhl zu kaufen, der mich trägt, war ähnlich kompliziert. Irgendwann habe ich begonnen, mich vor solchen Situationen zu schützen. Bevor ich ein Restaurant auswähle, schaue ich mir im Internet die Bestuhlung an und versuche abzuschätzen, ob ich da reinpasse. Wenn im Aufzug schon drei Leute sind, warte ich lieber auf den nächsten. Sind im Bus nicht zwei Sitze ne­ben­ein­an­der frei, ziehe ich es vor zu stehen, statt jemanden einzuengen. Wenn ich den Zug oder das Flugzeug nehme, klappe ich die Armlehnen hoch. Manche Sitznachbarn knallen sie einfach wieder runter, dann habe ich am Ende der Reise oft blaue F ­ lecken an den Oberschenkeln. All das sagt mir immer und immer wieder: Ich bin zu viel. Ich bin nicht richtig, wie ich bin. Dann öffne ich Social Media und sehe Vorbilder, die mir früher gefehlt haben. ­Frauen, die aus­sehen wie ich, die selbstbewusst ihre Outfits vorführen und Zuspruch bekommen. Ich sehe Menschen, die sich fat activists nennen, die gegen Diskriminierung kämpfen und Akzeptanz predigen. Sie sagen, dass mentale Gesundheit mindestens genauso wichtig sei wie körperliche, dass der Nutzen vieler Diäten heutzutage widerlegt und Übergewicht eben komplex sei. Auf Instagram zeigen sie mir, dass ich alles tun kann: Achterbahn fahren, ­Pole­dance tanzen, nackt baden. Während die Zahl auf meiner Waage immer weiter in die Höhe kletterte, hat sich auch etwas um mich herum verändert. Dicke Menschen tauchten in Filmen und in der Werbung auf. Ein Curvy-­Model gewann zum ersten Mal bei Germany’s Next Topmodel, Ashley Graham und ­ Paloma ­Elsässer blickten mir vom Cover der ­Vogue entgegen. Selbstliebe-Ratgeber werden Best­­seller, body positivity an jeder Ecke. Ich kann das auch alles nachvollziehen – in meinem Kopf. Fühlen kann ich es nicht. Trotzdem bin ich jedem Menschen dankbar, der nicht dem sogenannten I­ deal ent-

Ich habe endlich begriffen, dass ich Teil des Problems bin, wenn ich schweige und so tue, als sei alles okay

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spricht und sich öffentlich zeigt. Mehr Leute wie mich in den Medien zu sehen hat mich verändert. Ohne sie würde ich diesen Text gar nicht schreiben können. Doch ich kann nicht sagen, ich liebe mich, wie ich bin – das wäre wieder gelogen und nicht nur, weil ich weiß, dass jedes Kilo weniger meiner Gesundheit helfen würde. In der Debatte um body positivity habe ich meine Perspektive immer vermisst. Jemanden, der sich selbst nicht mag und das Gefühl hat, sowohl beim Abnehmen als auch bei der Selbstliebe zu versagen. Für die einen bin ich faul, weil ich keine Diät schaffe. Für die anderen bin ich feige, weil ich meinen Körper nicht so akzeptiere, wie er ist. Wie komme ich da raus? Vor einigen Wochen flog ich nach Buda­ pest. Ich hatte einen Mittelplatz, und als ich mich anschnallen wollte, ging der Gurt nicht zu. Ich überlegte erst, ihn unter meinem Pulli zu verstecken. Doch dann hob ich einfach den Arm. Eine Stewardess kam, lächelte freundlich und holte mir diskret eine Gurterweiterung. Meine Sitznachbarn blickten nicht mal auf. Dieser Moment war anders als das, was ich sonst kannte: Ich schämte mich nicht. Da habe ich endlich begriffen, dass ich Teil des Problems bin, wenn ich schweige und so tue, als sei alles okay. Damit verhindere ich nicht nur, dass Dinge einfacher werden. Und wenn ich mich hinter meinen Lügen verstecke, werde ich zudem unsichtbar für alle, die sich auch alleine fühlen. Die sich vielleicht auch nicht lieben können, wie sie sind. Übergewicht, so die Forschung, bestimmt die Identität stärker als das Alter oder das Geschlecht. Und oft machen sich dicke Menschen selbst am meisten fertig. Sie glauben, sie hätten es verdient, diskriminiert und gedemütigt zu werden. Viel zu lange habe ich mich gegen meine Wahrheit gewehrt: Ich bin fett, und ich würde gerne Gewicht verlieren, mich ändern. Aber auf dem Weg dorthin möchte ich mich mögen – und dafür wäre es hilfreich, wenn wir uns alle ändern würden, verständnisvoller mit­ein­an­der umgingen und das Narrativ, dass Dicke Versager sind, nicht weitertragen. Uns gegenseitig mehr so akzeptieren, wie wir sind. Das mit der Selbstliebe wird dann b­e­ stimmt auch leichter.


M ÜNC HE N • AM STE RDAM • A NTW ERP EN

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STIL

Von Tillmann Prüfer

Scheint so schön: Glitzersakko von Emporio Armani

Foto Peter Langer


DAS BLITZT

OHNE STROM

Für Männer ist es nicht einfach, sich modern zu kleiden. Wer sich zurückhaltend anzieht, also vielleicht alles in Schwarz, Grau und Dunkelblau hält, der sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er wage nichts. Wer jedoch einmal etwas wagt und beispielsweise ein glitzerndes Sakko trägt, der muss sich weit Schlimmeres anhören. Denn wer glitzert, der gilt als geckenhaft, vielleicht sogar übergeschnappt, auf jeden Fall unseriös. Ganz besonders betrifft dies das Business-Umfeld. Man kann heute mit Turnschuhen und Kapuzenpullover einen Mil­liar­den­kon­zern führen und das den Leuten als cool und irgendwie locker verkaufen. Man kann das aber nicht in einem mit Pailletten besetzten silbernen Hemd tun, wie es in der Kollektion von Gucci für den kommenden Frühling offeriert wird. Würde ein Topmanager eine Bilanzpressekonferenz in schillerndem Jackett betreten, würde er sich dem Verdacht aussetzen, dass er von irgendetwas ablenken will. Der nachlässig gekleidete Mann hingegen, der so herumläuft, als hätte er morgens eher zufällig etwas aus dem Wäschekorb gezogen, erscheint uns glaubhafter und seriöser als der auffallend gekleidete Mann. Diese Erkenntnis ist reichlich deprimierend. ­Warum ist das bloß so? Offenbar nehmen wir an, dass der Mann, der sich nicht besonders um sein Äußeres schert, sich stattdessen umso mehr um alles andere kümmert. Dass also der ungepflegte Mann, dem es völlig egal ist, wie er auf andere wirkt, die Zeit, die er sonst vor seinem Kleiderschrank verbringen würde, ganz wichtigen anderen Dingen widmet: allerlei Innovationen, den Zahlen seines Unternehmens oder auch seiner Familie, vielleicht seinem Hund. Und weil er mit alldem voll ausgelastet ist, hat er eben keine Zeit für Äußerlichkeiten. Interessanterweise passieren solche Übertragungen vor allem bei Mode. In anderen Bereichen würde man nicht unbedingt davon ausgehen, dass Desinteresse jemanden zu einem besseren Menschen macht. Wir würden nicht glauben, dass ein Politiker besonders gut für sein Amt geeignet ist, weil er keine Zeit damit verschwendet, Bücher zu lesen. Man würde nicht vermuten, dass ein Manager, der überhaupt keine Zeit mit seinen Kindern verbringt, dann sicher umso besser managt. Nur bei der Kleidung belohnen wir Nachlässigkeit mit Vertrauen. Dabei wäre es doch viel wahrscheinlicher, dass ein CEO, der eine mit Bedacht ausgewählte schillernde Jacke trägt, auch mit großer Sorgfalt über die Cor­ po­ rate Identity seines Unternehmens wacht. In den aktuellen Kollektionen, etwa bei Etro oder Emporio Armani, gibt es etliche Glitzersakkos. Es fehlen jetzt nur noch die ­Män­ ner, die sie mal ausprobieren.

Mirko

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Borsche, Creative Director des ZEIT­magazins, testet jede Woche einen neuen Alltags­ gegenstand HOCKER AYO STOOL VON NEW TENDENCY Material: Eichenholz; Maße: 35 x 35,5 x 45 cm;

Aufgezeichnet von ELENA LYNCH

Foto NEW TENDENCY

Preis: 480 Euro

Zu Hause habe ich einen runden Esstisch aus Edelstahl von den italienischen Designern NM3. Die Ecken der dazugehörigen Hocker sind etwas spitz, sodass sie einem beim Sitzen in die Oberschenkel stechen. Das ist schmerzhaft, suboptimal und alles andere als das, was eine Sitzgelegenheit eigentlich bieten sollte. Und dann wiegen die Hocker auch noch je zehn Kilogramm. Na ja. Das passiert mir manchmal: Ich verliebe mich in etwas, weil mir das Stück gut gefällt, ahne aber, dass es sich eigentlich eher für eine Ausstellung als für den Alltag eignet. Und dann denke ich bei jedem Frühstück und Abendessen: Mist, ich muss mich auf diesen Hocker setzen. Auch wenn das Ar­range­ment von Tisch und Hockern absolut großartig aussieht, suchte ich nun also nach einer neuen Sitzgelegenheit. Vielleicht die Holzhocker aus dem Büro? Die Ayo Stools vom Berliner Studio New Tendency würden gut zu meinem Tisch zu Hause passen, weil deren Design so brachial ist: Die Sitzfläche der Hocker ähnelt, von oben betrachtet, einem breiten Fahrradsattel. An drei Stellen sind Beine angebracht. Diese stehen als kleine Quadrate von der Sitzfläche ab, sodass man aufpassen muss, wie man sich hinsetzt, weil einem sonst wieder etwas Eckiges in die Oberschenkel sticht. Hat man sich aber erst mal richtig auf dem Hocker ausgerichtet, sitzt man ge­erdet und aufrecht. Überhaupt halten Hocker mich dazu an, aufzustehen und mich zu strecken, wenn mein Rücken müde ist. Bei einem Stuhl mit Lehne würde ich irgendwann in mich zusammensacken, meine Wirbel gekrümmt statt schön auf­ein­an­ der­ge­sta­pelt. Daher kommen Stühle mit Lehnen für mich nicht infrage. Zumal der Tisch, versteckt in einem Wald aus Lehnen, nicht mehr zur Geltung käme. Ich bin ein großer Hockerfan.


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LEXIKON DER LIEBE

Wenn Sie uns etwas über die Liebe erzählen wollen, schreiben

»Mit ihm fühlte sich alles erwachsen an« Mel*, 28: »Ich war gerade 16 geworden und nahm einen

Sie uns an liebe@zeit.de

sich alles erwachsen an, doch eigentlich waren wir noch

*Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt

Schülerjob in der Schokoladenfabrik an: Ich verpackte­ sehr unerfahren und jung. Gelee-Bonbons und Pralinen, faltete Pappschachteln und

Später, als ich während meines Studiums für ein Jahr nach

klebte Etiketten darauf. Einer aus der Gruppe von uns Jün-

Frankreich ging, entdeckte ich eine völlig andere Welt. Ich

geren in der Fabrik war Mark. Er war drei Jahre älter als ich

wollte dieses Abenteuer so frei wie möglich erleben und war

und trug zum Arbeiten stets einen Skater-Kapuzenpullover.

neugierig darauf, Franzosen zu daten. Mark und ich ­öffneten

Mit ihm war es lustig und irgendwie aufregend. Einmal

unsere Beziehung, verloren damit aber auch den Draht­

schütteten wir heimlich statt einer Sorte Pralinen unter-

zueinander. Mit ihm verband ich mein altes Leben, die­

schiedliche Mischungen auf das Fließband. Das war das

Gewohnheit und auch Langeweile. In dieses Leben wollte

Geheimnis, das uns zusammenschweißte.

ich nicht mehr zurück.

Nach einiger Zeit verabredeten wir uns als Gruppe in einer

Am Tag nach meiner Rückkehr nach Deutschland beendete

Leipziger Bar. Ich trank einen Cocktail, Mark und ich­ ich meine Beziehung mit Mark. Ich hatte mich in Frankreich kicherten und flirteten, mein Herz flatterte. Danach trafen

verliebt und wollte einen Schlussstrich ziehen. Mark akzep-

wir uns regelmäßig und küssten uns zum ersten Mal.­ tierte meine Entscheidung mit viel Verständnis. Die süße­ Meine erste Liebe. Wir verreisten zusammen, schliefen

Erinnerung an unsere erste Beziehung bleibt, und wenn wir

miteinander und lernten unsere Familien kennen. Meine

uns heute treffen, ist da noch immer diese alte Leichtigkeit.«

Oma nannte ihn den ›Schokoladenprinzen‹. Mit ihm fühlte

Aufgezeichnet von Cynthia Cornelius

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Im November 2022 gab es in Ebersberg die Ausstellung Schach und Musik, wovon ein herrlicher Katalog kündet. Darin berichtet der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez in der spanischen Zeitung El País 1981 tief beeindruckt vom österreichischen Pianisten Paul Badura-Skoda. Dieser hatte nach einem Konzert in Bogotá in der Nacht zuvor drei Stunden geübt, vier Stunden Fernsehaufnahmen hinter sich gebracht und bei einem üppigen Mahl mit vielen Weinen kräftig zugelangt. Nun war ihm nach einem Schachpartner. Man fand B ­ oris de Greiff, einen der besten Spieler Kolumbiens, der ihn um 19 Uhr im Hotelzimmer bei der Analyse einer kurz zuvor gespielten Partie des Kandidatenwettkampfs Viktor Kortschnoi gegen Robert Hübner in Meran überraschte. Boris de Greiff: »Dieses Zimmer ähnelte mehr dem eines Schachspielers als eines Musikers. Da war keine einzige Partitur, stattdessen Schachbücher und ausgeschnittene Schachspalten der Londoner ­Times und der New York ­Times.« Die Schlacht über vier Partien ­dauerte sechs Stunden, um drei Uhr morgens begannen sie die Partien zu analysieren. García Márquez endet seinen Bericht so: »Allen Zeugen dieser Nacht blieb der Eindruck, dass Badura-Skoda, einer der außergewöhnlichen Pianisten unserer Zeit, in Wirklichkeit ein Schachspieler ist, der nur Klavier spielt, um leben zu können.« Mit welcher petite combinaison glich Kortschnoi als Weißer am Zug seine Auftaktniederlage aus?

Lösung aus Nr. 45: Mit welchem Königsangriff kam Schwarz am Zug in entscheidenden Vorteil? Nach 1...Sh4! 2.f3 (2.Kf1 Dxg2+ verliert auch) Dg6 entschied die Doppeldrohung gegen g2 und f3. Nach 3.Td2 (auch 3.g3 Sxf3+ 4.Kf2 Se5! war hoffnungslos) Sxf3+ 4.Kf2 Sxd2 5.Lxd2 Df5+ gab Weiß auf

Impressum EDITORIAL DIRECTOR Christoph Amend CHEFREDAKTION Sascha ­Chaimowicz, Emilia Smechowski STELLVERTRETENDE CHEFREDAKTION Anna Kemper, Tillmann Prüfer CREATIVE DIRECTOR Mirko Borsche ART DIRECTOR Jasmin Müller-Stoy TEXTCHEFINNEN

Christine Meffert, Annabel Wahba BILDCHEFIN Milena Carstens BERATER (BILD) Andreas Wellnitz STYLE DIRECTOR Claire Beermann REDAKTIONELLE KOORDINATION Margit Stoffels REDAKTION Amelie Apel, Jörg Burger, Johannes Dudziak, Alard


LEBENSGESCHICHTE

SCRABBLE

Reichtum schenkt ein sorgenfreies Leben. Aber macht er auch auto­ma­tisch glücklich? Die oft gestellte Frage würde jene Frau, die mit 18 ein Vermögen erbte, heute vielleicht mit »Jein« beantwor­ ten. Denn einerseits hat sie, wie sie in ihrer Autobiografie schrieb, als »befreite Frau« viel gewagt und »alles gelebt« – andererseits aber blieb ihr eine dauerhaft glückliche Beziehung verwehrt. Vermutlich verliebte sie sich in die Falschen, die sich mehr für ihr Geld als für sie als Menschen interessierten, so wurde es zumindest von Zeit­ genossen überliefert. Sie selbst bezeichnete sich später freimütig als Nymphomanin, was nahelegt, dass sie allein bestimmte, mit wem und wann eine Affäre begann oder endete. Hingegen interpretier­ ten (Küchen-)Psychologen ihre Suche nach Anerkennung und Lie­ be als den unbewussten Versuch, den frühen Verlust des Vaters – er starb auf hoher See – zu kompensieren. Ungeachtet ihres unsteten Privatlebens, dem sie den Ruf als »schwarzes Schaf« in der betuch­ ten Verwandtschaft verdankte, engagierte sie sich zielstrebig als ­Förderin von Kultur und Avant­garde und setzte damit bewusst eine familiäre Tradition fort. In einer Zeit ständiger Bedrohung durch Gewalt und Tod gelang es ihr, jenen Besitz, der ihr am Herzen lag, vor der Zerstörung zu retten und für die Welt zu bewahren. Ihr Vermächtnis kann man bis heute in einer viel besuchten Stadt im Süden bewundern, in der sie ihr letztes Lebensdrittel verbrachte und auch begraben liegt. Wer war’s? Lösung Nr. 45: Sven Plöger, geboren 1967 in Bonn, ist der wohl bekannteste Diplom-Meteorologe in Deutschland. Seit 1999 tritt er als Wetterexperte auf, unter anderem in den »Tagesthemen«. Er schreibt Sachbücher zum Klimawandel wie »Die Alpen und wie sie unser Wetter beeinflussen«. Als überarbeitete und ergänzte Neufassung seines Bestsellers erschien gerade »Zieht euch warm an, es wird noch heißer!«. Plöger ist auch als Vortragsredner, Moderator und Dokumentarfilmer tätig

SPIELE

Doppelter Wortwert Doppelter Buchstabenwert Dreifacher Wortwert Dreifacher Buchstabenwert

Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die deutsche Rechtschreibung«, 28. Auflage, verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen. Die Regeln finden Sie im Internet unter www.scrabble-info.de

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Letzte Woche berichtete ich vom jüngsten Scrabble-Turnier und von der Erkenntnis, dass (fast) jeder (fast) jeden schlagen kann. Diese Erfahrung teilte auf schmerzhafte Weise auch Ben Berger, der als Ranglistendritter und somit als Favorit an den Start gegan­ gen war. Bis zur fünften Runde lief es erwartungsgemäß, der Frei­ burger war als Einziger noch ungeschlagen. Doch vier Durchgänge später fand sich der dreifache Deutsche Meister auf Platz 14 wie­ der – nach vier Niederlagen in Folge. Berger nahm es mit Humor (»So kann’s gehen!«) und beendete den Wettkampf, nachdem er alle weiteren Begegnungen gewonnen hatte, immerhin noch als Vierter. Nachzureichen ist der Name des Gewinners. Erstmals konnte der Hamburger Christoph Farkas ein offizielles Turnier für sich ent­ scheiden. Der hier abgebildeten Situation sah ich mich neulich in einer privaten Partie mit Annelise Grabbe ausgesetzt. Die Buch­ staben auf dem Bänkchen ließen vermuten, dass ein Bingo möglich sei. Ich brauchte allerdings recht lange, um die Lösung zu finden.

In jeder Zeile, jeder Spalte und jedem mit stärkeren Linien gekenn­zeichneten 3 × 3-Kasten müssen alle Zah­­len von 1 bis 9 stehen. Nächste Woche an dieser Stelle: die Logelei und die Auflösung aus Nr. 45

Lösung aus Nr. 45: Der Zug, den der Deutsche Meister Alexander Dings übersah, lautete GRÖBERES und war auf J8–J15 anzulegen. Dank der in Querrichtung entstehenden Begriffe ZUG, AIR und YAKS kamen insgesamt 93 P. zusammen

von Kittlitz, Friederike Milbradt, Lena Niethammer, Khuê Pha.m, Ilka Piepgras, Jürgen von Ruten­berg; Mitarbeit: Klaus Stock­hausen (Contri­­buting Fashion Director) GESTALTUNG Nina Bengtson, Mirko Merkel, Gianna Pfeifer; Mitarbeit: Anna Berge, Leon Lothschütz, Jana Schnell BILD­REDAKTION Nora Hollstein

Siemienski DRUCK Mohn Media Mohndruck GmbH REPRO Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH ANZEIGEN­ PREISE ZEITmagazin-­Preisliste Nr. 17 vom 1. 1. 2023 ANSCHRIFT VERLAG Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Bucerius­straße,

AUTOR(INN)EN Heike Faller, Dmitrij Kapitelman, Harald Martenstein, Jana Simon, Matthias Stolz KORREKTORAT Thomas Worthmann (verantw.) DOKUMEN­TATION ­ Mirjam Zimmer (verantw.) ­ HERSTELLUNG Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel, Frank

Eingang ­Speersort 1, 20095 Hamburg; Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de ANSCHRIFT REDAKTION ZEITmagazin, Schöneberger Str. 21 A, 10963 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 39; E-Mail: zeitmagazin@ zeit.de, www.zeitmagazin.de


UM DIE ECKE GEDACHT NR. 2718 1

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waagerecht 6 Für den Träger ein – meist

schräger – Bedeutungsträger 10 Wie manch Bube vor der Herzdame macht’s manch Früchtchen zur Reifezeit 14 Ausstellungsesstisch? Führt Informatives im Schilde 16 Teil-Weise 18 Denken ist eine große ..., bei der uns, wenn wir uns hineinbegeben, unablässig etwas geschenkt wird (August Pauly) 19 Eins der vorrangigsten Stammtischthemen 20 Ein recht spätes Stichwort in der Enzyklopädie der Entomologie 21 Verkehrsüblicher Beitrag zum Platzda-Konzert? 23 Erzeugt, wie’s heißt, den Geruch der ewigen Zugehörigkeit 25 Umfasst Blätter, aber keine 2 senkrecht 26 Wird hautsächlich wegen seiner Weißheit angesprochen 29 Steht für fachumfachgerechte Aufgeräumtheit 31 Credo im HausmeisterKrause-Haushalt: Alles für den – und seinen Club! 33 Gelegenheiten der Bestenermittlung 35 Berüchtigt für Bisschen mit Folgen 36 Sprichwörtlich: ... verdirbt den Genuss 38 Heim-Aufgabe häufig, s­chulfachgemäß

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erlernt bisweilen 39 Die stadtliche ­Hälfte vom Nichtspieler im Orchester 40 Eine Form der Speicherung des 4 senkrechts 42 Folgt gemeinhin dem letzten Feierabend 43 Herr über ... zu sein ist köstlich, von ­ihnen beherrscht zu werden, noch köstlicher (O. Wilde) senkrecht 1 Am Waschtag eine Hilfe, am Einkaufstag ein beliebter Preiszusatz 2 Durchs 40 waagerecht hat man’s darauf 3 Weiter zu reisen wäre vom Weißen zum­ Gelben als vom Schwarzen zum Roten 4 Spielt die Rolle des Pingpongballs beim 6 senkrecht 5 Nicht der Wind, sondern das ... bestimmt die Richtung (Sprichwort) 6 Wenn viele beisammen sind, ... sie, zwei reden, der Einsame denkt (Peter Sirius) 7 Gebäudefabrikation im Pizza-Stil? Nahe-NullMarke auf der Exotik-Skala 8 Auch als man noch keine Unboxing-Videos drehte: Das bescherte öfter mal inhaltliche Überraschungen 9 Hat das Rad auch nicht neu erfunden, tut aber so 10 Hieß aber Maria bei Holly-

woods Schuss im Dunkeln 11 Volksmunds Erfahrung: Lesen und ... macht klug 12 In Märchenkönigs Namen: war einmal Kaisers Aufenthalt wider Willen 13 Guter Tipp für den Vielbesitzer – werden statt Möbeln aus dem Möbelhaus getragen typischerweise 15 Chillers Hauptinteresse, und zwar nicht bei den Gardinen 16 Pflegen stolz zu sein auf die Abseits-vom-Rande-Lage 17 Das lässt Gesetze beginnen, Schulden enden 22 Mancher ist so ... und erfinderisch, dass er ein ... hat und daraus Ertrag 24 Bei der geht viel Holz den Bach runter 27 Nicht so richtig Gute-Laune-Musik 28 So wirken weder Holzhammer noch Zaunpfahl 29 Werftseits vorgesehen wider unfreiwilliges VonBord-Gehen 30 Zentrale Note im Lobgesang 32 Gegend des Tageslicht-Wiedersehens für Eurotunnel-Nutzer 34 Der Ursprung der französischen Straßenmusik 37 ­Stadtbekanntes Beispiel für reichlich viel Expansion 41 Der monarchische Nachname, der den Namensgebern für Saurier-Hoheit in den Sinn kam

Lösung von Nr. 2717: Waagerecht 7 VIELFAELTIG 12 Tenor FRITZ Wunderlich 15 AENDERN 16 »Vor-Gefallen« und VORGEFALLEN 19 Berliner und US-amerikanischer SENATOR 20 EIGENTOR 21 STAU 23 GELASSENHEIT 26 Wärme pumpen und WAERMEPUMPEN 29 PERLEN 31 LIKE 33 SAMUEL L. Clemens 34 FELGE in Gip-felge-spräch, Ap-felge-schmack 36 GARAGE 37 LILI in Lili-e 38 GRAL 39 LEEDS 40 Topmodel TONI Garrn 41 SEEREISEN 42 NETZ 43 DOSENSUPPEN – Senkrecht 1 EINSTEIGEN 2 PLENUM 3 KANTE 4 FLORA 5 OFFEN 6 Kaffee-FILTER 7 Vers + Alien = VERSALIEN 8 E + D = EDE 9 FRAGESATZ 10 TRE = drei (ital.), in Tre-sor 11 GEGEN-wind ist Gegenteil von Rückenwind 13 (he-)RAN 14 ZERTEILEN 16 VOLUMEN mit Länge, Breite, Höhe 17 Adolphe Adam, »GISELLE« 18 LOI = Gesetz, roi = König (franz.) 22 ARKADEN 24 SPEISEN 25 HELGE Schneider 27 PAGODE 28 MULIS 29 PETRUS 30 LEASEN mit Raten 32 ERST in V-erst-and 34 FIES 35 GRIP in Grip-s

Kreuzworträtsel ECKSTEIN

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Scrabble SEBASTIAN HERZOG

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Sudoku ZWEISTEIN

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Lebensgeschichte FRAUKE DÖHRING

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Schach HELMUT PFLEGER

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SPIELE


Juli ist 10 Jahre alt.

PRÜFERS TÖCHTER

Ihr Vater Tillmann Prüfer schreibt hier im wöchentlichen Wechsel über sie und seine anderen drei Töchter im Alter von 23, 18 und 16 Jahren

Illustration ALINE ZALKO Zu hören unter www.zeit.de/audio

»Ich hab doch gar nichts gemacht!«

Manchmal streiten Juli und ich. Das heißt, eigentlich streite ich, und Juli hat nichts gemacht. Juli versteht auch nicht, warum ich mich so aufrege. Eigentlich könnte alles völlig okay sein. Die Welt wäre chillig und entspannt. Aber der Vater regt sich auf. Obwohl Juli nichts gemacht hat. Ich aber habe schlechte Laune und lasse die an meiner Tochter aus. Und tatsächlich rege ich mich öfters auf, weil sie nichts macht. Ein Klassiker des Nichtsmachens ist das Kein-Zimmer-­ Aufräumen, gefolgt vom Nicht-den-Tisch-Abräumen, überhaupt das Nicht-das-machen-was-Papa-doch-gerade-ganzdeutlich-gesagt-hat. Ich weiß nicht, woher Juli die Ruhe hat, einen doch sehr deutlich formulierten Vaterwillen einfach zu ignorieren. Juli ist dann ein kindgewordenes Bürgeramt, bei dem man irgendwelche Eingaben machen kann, aber nie etwas zurückbekommt. Es ist halt irgendwo im Prozess hängen geblieben, in irgendeiner Ablage. Und so eine Ablage hat auch Juli in ihrem Kopf für meine Anregungen. Es ist ja auch nicht so, dass Juli sich weigern würde. Vielmehr ist es eine Frage der Priorisierung. Sie möchte andere Sachen zuerst machen. Zum Beispiel sich einen BananenShake machen. Oder chillen. Juli behandelt mich dann, als gäbe es keine Faulheit ihrerseits, sondern allenfalls aus­ einandergehende Auffassungen von Dringlichkeiten. Wobei Juli immer anführen würde, dass sie ja grundsätzlich auch meine Auffassungen von Prioritäten akzeptiert. Ich habe demnach ein Toleranzproblem, sie hat kein Problem und sagt: »Ich hab doch gar nichts gemacht!« Ich würde gerne wie ein Demokrat argumentieren, aber ich merke, dass ich mich in eine Art Attila verwandle oder vielleicht eher in den Grinch. Ich zetere und werde laut. Das macht es nicht besser, denn Juli ist auch nicht schlecht darin, laut zu werden. Sie wird dann laut, weil ich mich mal wieder grundlos aufrege. Einfach herummeckere, weil ich vielleicht einen schlechten Tag habe. Während sie ja nichts anderes machen wollte, als sich gerade ein bisschen auszuruhen, bevor sie nach einem anstrengenden Tag gleich wieder anstrengende Sachen machen muss. Ich behaupte dann, dass ich überhaupt keine schlechte Laune hätte, dass ich, im Gegenteil, allerbeste Laune hätte – aber natürlich habe ich längst keine gute Laune mehr. Juli ist dazu eine Meisterin im Whataboutism. Sie verweist ständig auf Nebenschauplätze. »Hast du dich etwa noch nie ausruhen müssen?«, fährt sie mich an. Ich will aber nicht mit ihr über das Ausruhen an sich diskutieren, sondern über das Erledigen von kleinen Sachen, die anstehen. Dann schimpfe ich, dass das ja eine Unverschämtheit sei, welchen Ton sie hier anschlage, dass ich es niemals gewagt hätte, so einen Ton meinem eigenen Vater gegenüber anzuschlagen. Und dass sie sich eigentlich entschuldigen solle für so eine Anmaßung. »Entschuldigung«, zischt Juli dann. Und sagt: »Jetzt musst du dich auch entschuldigen.« – »Ich hab aber gar nichts gemacht, für das ich mich entschuldigen müsste!«, antworte ich. »Na und? Ich habe mich ja auch entschuldigt, obwohl ich nichts gemacht habe – dann kannst du dich ja wohl auch entschuldigen, obwohl du nichts gemacht hast!« – »Entschuldigung«, knurre ich und traue mich gar nicht anzusprechen, dass sie die Bananenschalen vom BananenShake auch noch nicht weggeräumt hat.


Was ich gern früher gewusst hätte

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Von Gabrielle Zevin

Wenn eine Person online ein Arsch ist, ist sie wahrscheinlich auch im echten Leben ein Arsch. Mit weißen Wänden, bunten Teppichen und ganz viel Kunst machst du nichts verkehrt. Aufwendige Skin-Care-Routinen verursachen genauso viele Probleme, wie sie lösen. Freunde, die dich nie etwas über dich fragen, sind keine Freunde. Spar dir deine Beschwerden für das, was verändert werden kann. Du musst dich nicht rechtfertigen. Die Menschen denken nicht annähernd Wenn du lernst, ein Gericht gut

so viel an dich, wie du glaubst.

zu kochen, werden die Leute denken, dass du gut kochen kannst.

Sag großzügig Danke. Sag Ja – und meine es so.

Je entspannter du bist, desto besser

Sag Nein – und meine es so.

läuft es. Du kannst es zwar versuchen, aber

Es ist gut, Fotos zu machen, aber du Alte Menschen sind nicht so anders

ist, wirst du nie wirklich verstehen.

als du. Junge Menschen auch nicht.

musst nicht immer Fotos machen. Online-Bewertungen sind

Es gibt keinen perfekten Conditioner.

Es gibt drei Kämpfe, die du

Geschichten, die genauso viel über

nicht führen solltest, weil der Gegner

ihre Verfasser erzählen wie

Wenn eine Freundin ein Baby

einfach zu mächtig ist: 1. Gegen

über das, was bewertet wurde.

bekommt, besuch es, auch wenn

deinen Körper. 2. Gegen deine Haare.

du Babys nicht magst.

3. Gegen die Zeit.

Wenn du verzeihen kannst, tu es.

Hier verraten jede Woche Prominente, was sie erst spät begriffen haben. Gabrielle Zevin, 46, ist eine ­US-amerikanische Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie veröffentlichte mehrere internationale Bestseller. Zuletzt erschien ihr Roman »Morgen, morgen und wieder morgen« (Eichborn Verlag)

Illustration ROBERT RADZIEJEWSKI (Foto Hans Canosa)

eine Erfahrung, die nicht deine eigene


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“Creation” Wildlife Photographer of the Year 2021 Grand Title winner © Laurent Ballesta

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