ZEIT LITERATUR No.43 Multi

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Neue Bücher von Vigdis Hjorth, Viktor Jerofejew, Kate Summerscale, Maxim Biller, Paulita Pappel, Thomas Meyer und vielen anderen

N O 43 OK TOBER 2023

Großes Kino

Daniel Kehlmann ist in seinem neuen Roman dem Regisseur Georg Wilhelm Pabst auf der Spur. Außerdem: Elena Fischer sucht das Paradies, Lauren Groff die Natur – und Karl Schlögel findet Amerika


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I N H A LT

Die Norwegerin Vigdis Hjorth schreibt über das entfremdete Verhältnis zu ihrer Mutter Seite 12

Karl Schlögel zeigt die Parallelen zwischen den USA und der Sowjetunion auf Seite 28

Titelfoto: Julia Steinigeweg für ZEIT Literatur; Fotos (v. l.): Hanna Lenz; Andreas Feininger/Getty Images; Tobias Kruse

Elena Fischer »Paradise Garden«

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VON BENEDIK T HER BER

Lauren Groff »Die weite Wildnis«

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VON SA R A H PINES

Amir Gudarzi »Das Ende ist nah«

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VON JOLINDE HÜCHTK ER

Monika Maron »Das Haus«

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VON DAV ID HUGENDICK

Vigdis Hjorth »Die Wahrheiten meiner Mutter« Eine Begegnung mit der norwegischen Star-Autorin, die endlich auch hierzulande entdeckt wird VON IR IS R A DISCH

Karl Schlögel »American Matrix« In seinem neuen Buch richtet der Osteuropa-Experte den Blick gen Westen – auf Amerika VON RONA LD DÜ K ER

Wendy Brown »Nihilistische Zeiten« VON NIL S M A R K WA R DT

Ian Bostridge »Das Lied & das Ich« VON CHR ISTINE LEMK E-M AT W EY

Thomas Meyer »Hannah Arendt« VON PETER NEUM A N N

Paulita Pappel »Pornopositiv«, Madita Oeming »Porno« Zwei Neuerscheinungen über die Frage, ob Sexfilme feministisch sein können VON BER IT DIESSELK Ä MPER

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Nicolaus Sombart »Capriccio Nr. 1« VON THOM A S E. SCHMIDT

Barbi Marković »Minihorror«

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VON CLEMENS J. SETZ

Huguette Couffignal »Die Küche der Armen« VON RONA LD DÜ K ER

Maxim Biller »Mama Odessa«

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VON VOLK ER W EIDER M A N N

Viktor Jerofejew »Der Große Gopnik« Auf einen Orangensaft mit dem russischen Schriftsteller, dessen neuer Roman Putin aufs Korn nimmt VON IJOM A M A NGOLD

Curdin Ebneter/Erich Unglaub (Hrsg.) »Erinnerungen an Rainer Maria Rilke« VON U LR ICH HOLBEIN

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SACHBUCH

VON A DA M SOBOCZ Y NSK I

BELLETRISTIK

Daniel Kehlmann »Lichtspiel« Ein großer historischer Roman über den Regisseur Georg Wilhelm Pabst und die moralischen Grenzen der Kunst

Viktor Jerofejew zeichnet Putins Aufstiegsgeschichte schonungslos und ironisch nach Seite 18

Kate Summerscale »Das Buch der Phobien und Manien« VON M AJA BECK ER S

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18

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AUSSERDEM: 20 Bücher Die aufregendsten Neuerscheinungen der Saison 24 Hörbuch »Jahrhundertstimmen 1945–2000« 45 Impressum 45 Martenstein 46

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BELLETRISTIK

Daniel Kehlmann, 48, ist seit seinem Roman »Die Vermessung der Welt« (2005) weltweit erfolgreich

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Meister des Schnitts Daniel Kehlmann porträtiert in seinem neuen Roman den Regisseur Georg Wilhelm Pabst – einen Nazi-Gegner, der sich doch von der deutschen Filmindustrie im »Dritten Reich« einspannen ließ. »Lichtspiel« ist ein großes Werk über moralisches Versagen. Beinhaltet es auch eine Botschaft für unsere Gegenwart? VON ADAM SOBOCZYNSKI

Foto: Julia Steinigeweg für ZEIT Literatur

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aniel Kehlmann hat seinen lang erwarteten neuen Roman Lichtspiel veröffentlicht, und jeder, der kein Experte der Filmgeschichte ist, dürfte bei dem Stoff zunächst stutzen. Ein historischer, fast 500 Seiten langer Roman über Georg Wilhelm Pabst? Wer ist noch mal dieser Pabst? Es ist weithin vergessen, dass dieser Mann, dessen Leben von Kehlmann nacherzählt wird, zu den drei berühmtesten Regisseuren der Weimarer Republik zählte, neben Fritz Lang und F. W. Murnau; dass Pabst Schauspielerinnen seiner Zeit zu Weltruhm mitverhalf, die einem noch heute ein Begriff sind: Greta Garbo, Asta Nielsen, Louise Brooks; dass er Klassiker des Stummfilms drehte, Die freudlose Gasse und Die Büchse der Pandora sind nur die bekanntesten. Der Österreicher Pabst begann als Avantgardist. Er galt als entschiedener Linker und war Begründer der Neuen Sachlichkeit im Film. Die ausladenden, expressionistischen Gesten des frühen Stummfilms wichen in seinen Werken einem sozialkritischen Realismus und wirklichkeitstreuen Szenen. Doch obgleich Pabst bis in die Fünfzigerjahre hinein Filme drehte, hat sich seine Spur im kollektiven Gedächtnis weitgehend verloren. Wer recherchiert, findet kaum aktuelles Material: Keine zeitgenössische Biografie ist erhältlich, lediglich ein Essayband aus den Neunzigern. Dieses Verschwinden hat natürlich einen sehr bestimmten Grund. Ausgerechnet Pabst, der »rote Pabst«, wie der Pazifist lustigerweise genannt wurde, ist trotz eines frühen, auch internationalen Erfolgs nicht etwa emigriert, sondern hat auch unter den Nazis Filme gedreht, was seiner späteren Rezeption erheblich geschadet hat. Kehlmanns Roman handelt davon, wie jemand, der ein urwüchsiger Gegner

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der militärischen Gewalt und der Diktatur war, sich schließlich doch zu kleinen, dann großen Zugeständnissen dem Re­gime gegenüber bereit erklärt, und davon, welchen Preis man dafür zahlt, die Brand­mauer einzureißen. Wenn ein historischer Roman nur dann überzeugt, sofern er – wie indirekt auch immer – etwas über unsere Gegenwart aussagt, dann ist dieser Anspruch hier mustergültig erfüllt. Lichtspiel erzählt von der Verführungskraft des Kompromisses, von der Bereitschaft, die Moral durch künstlerischen Karriere-Ehrgeiz großzügig beiseitezuräumen. Und es hinterlässt beim Leser die verstörende Unsicherheit, ob man nicht selbst so gehandelt hätte wie der Regisseur. Denn Helden sind selten. Pabst, klein und wuchtig, war kein schöner Mann. Aber er berauschte durch seine fröhliche, lachende Tatkraft und einen konzentrierten Willen, formal anspruchsvolle Filme zu drehen. Gleichzeitig enttäuschte er durch seine frivole, kalte Bereitschaft, auch ins rein unterhaltende, konventionelle Fach zu wechseln, wenn es die Geldgeber oder die Machthaber verlangten. Er drehte den größten Schund und die größten Meisterwerke, und es fällt schwer zu glauben, dass der grandiose Antikriegsfilm Westfront 1918 (1930) vom selben Regisseur stammt wie das maximal belanglose Melodrama Rosen für Bettina (1956). Für kurze Zeit sah es so aus, als könne Pabst in Amerika Fuß fassen und dem NaziReich entrinnen. 1934 aber floppte sein Hollywood-Film A ­Modern ­Hero – ein bizarr seichter Film, angesiedelt im Amerika der Zwanzigerjahre, es geht um Zirkusleute und Aktienspekulationen und Liebeswirren. Den wollte keiner sehen. Und wie es Daniel Kehlmann gelingt, Pabsts Scheitern in Hollywood einzufangen, ist einfach nur bewundernswert. Er zeigt die Niederlage lediglich anhand von Dialogen. Die Filmmaschine Hollywood

passt einfach nicht zum eigenwilligen Arbeiten des Alt­euro­päers, die fruchtlosen Gespräche zwischen den schwer gut gelaunten amerikanischen Produzenten und Pabst sind von feiner Komik: Pabst vermag zwar form­ voll­ endet einer Dame einen Handkuss zu hauchen, aber im kalifornischen Small Talk ist er so ungelenk wie ein Walfisch. Es heißt über Pabst in Lichtspiel, er habe »die Kunst der bewegten Kamera miterfunden«, außerdem sei er ein Meister des Schnitts. Seine Kunstfertigkeit kann Pabst in der durchrationalisierten Filmindustrie Amerikas nicht ausspielen, dafür Kehlmann, der dessen Formprinzipien in seinen Roman überführt. Die besten Filme Pabsts funktionieren wie Kehlmanns Prosa. Der Schriftsteller hat sich die Regiekunst stilistisch anverwandelt, Lichtspiel ist damit auf unterhaltende Weise avantgardistisch – für gewöhnlich ein Widerspruch. Im ersten Teil des Romans befinden wir uns auf einer Hollywood-Feier, und man liest über das Partygeschehen, als sei eine Kamera unterwegs, die mal hier hängen bleibt, dann dorthin weiterzieht, die in ein Gespräch elegant hinein- und dann wieder herauszoomt: Pabst, der von einem NaziSpitzel zur Übersiedlung nach Deutschland verführt werden soll; dann die Kellnerin, die sich verbotenerweise in ein amouröses Gespräch verstrickt; dann der Produzent, der einen Drehbuchautor aus Europa euphorisch lobt, aber ganz nebenbei, in bester amerikanischer Höflichkeit, sehr subtil zu erkennen gibt, dass dessen Manuskript nichts tauge, auch wenn es natürlich absolut großartig sei. Nichts scheint bei Kehlmann amerikanischer, als durch Lob und abgemessene Höflichkeit zu vernichten: Great! Die Meisterschaft des Schnitts: ein abrupter Szenenwechsel, Jahre später. Die bedrückende Zugfahrt Pabsts aus der Schweiz

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GEORG W ILH EL M PA B S T

Der einst weltberühmte Regisseur (1885–1967) war einer der Begründer der Neuen Sachlichkeit im Film

BELLETRISTIK

DIE FILME

Für »Die Büchse der Pandora« (1929) nach dem Drama von Frank Wedekind engagiert Pabst Louise Brooks

Hat Pabst in dem Nazi-Streifen »Paracelsus« (1943) eine antifaschistische Botschaft versteckt?

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Fotos (v. o.): ullstein/Getty Images; ddp; Mary Evans/Interfoto; ddp

Pabsts Stummfilm »Geheimnisse einer Seele« (1926) rückt surreale Albträume, Ängste und Gewaltfantasien ins Bild

in die österreichische Provinz, samt Frau und Sohn, um die kranke Mutter zu besuchen. Man kommt doch auch wieder heraus aus dem Land, denkt man sich, Pabst ist offiziell kein Verfolgter des Re­gimes. Aber dann, ausgerechnet dann, als er nach langer Zeit wieder österreichischen, nunmehr großdeutschen Boden betritt, werden die Grenzen geschlossen, weil der Zweite Weltkrieg beginnt. Man könnte wohl noch entkommen, auf Umwegen und umständlich, aber eine Mischung aus Krankheit und Trägheit Pabsts hält die Familie im österreichischen Deutschland fest. Die deutsche Filmindustrie, man hat ja nur noch wenige echte Stars, greift nach ihm, nach dem »roten Pabst«, und Kehlmann gelingt es, das aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Verbleiben in der alten Heimat plausibel zu machen. Die Entscheidung für das Sich-Einrichten im »Reich« erfolgt ohne Ausbuchstabieren der Seelenqualen: Man bleibt, weil man bleibt. Weil erste Aufträge von den Nazis kommen, weil man arbeiten und erfolgreich sein will und weil etwas Ruhm auf einen herabrieseln soll. Dass der Sohn mit Selbstverständlichkeit ein glühender Jung­nazi wird, registrieren die Eltern als Schock: Man umarmt sich nur noch mit Entsetzen. Dass Trude, Pabsts Frau, den Alkohol bald mehr liebt als ihren Mann, versteht sich da wie von selbst. Eindeutige Propagandafilme dreht Pabst nicht. Das wird von den Nazis vergeblich verlangt. Er baut in seine Filme über große historische Figuren wie Paracelsus (1943) sogar Szenen ein, die mit etwas gutem Willen als Kritik am Re­gime gewertet werden können: einen Harlekin, der die Massen in Ekstase versetzt, blind einem umnachteten Führer folgend – und der Film kommt durch die Zensur. Wie Pabst, und das ist eine Erfindung Kehlmanns, schließlich doch als Regisseur ein Verbrechen begeht, soll nicht verraten werden. Da wollen wir nicht vorgreifen. Womöglich tut Kehlmann hierbei der historischen Figur Pabst Gewalt an. Das ist grenzwertig, da er ihm eine Skrupellosigkeit andichtet, die historisch nicht belegt ist, aber sie folgt zwingend der Handlungslogik des Romans. Hier merkt man dem Roman übrigens Kehlmanns Verehrung für den amerikanischen Regisseur Quentin Tarantino an, der in seinem Film Inglourious Basterds gleichfalls den Nationalsozialismus zur Spielmasse der Fantasie gemacht hat. Zahlreiche Begegnungen Pabsts mit anderen Filmgrößen oder Politikern, die im Roman ihren Auftritt haben, sind zwar historisch plausibel, aber nicht verbürgt. Ein Glanzstück: die hexentanzhafte Audienz bei Goeb­ bels, der Pakt mit dem Teufel – Pabst unterwirft sich, wenn auch widerwillig, der Diktatur. Und immer wenn

moralische Fragen Pabst bedrängen, werden sie nicht ausbuchstabiert, der Roman gleitet dann schleichend ins Surreale ab, ein Verfahren der Ich-Auflösung, das Kehlmann in so gut wie allen seinen Büchern zelebriert. Außen- und Innenwelt lassen sich für den Protagonisten dann nicht mehr in Einklang bringen, es flammt ein ungesteuerter Horror der Wahrnehmung auf. In Goeb­bels’ Büro geht Pabst »auf die Tür zu, die vor ihm zurückzuweichen schien. Er ging schneller, die Tür wich noch schneller zurück, er ging noch schneller, aber mit einem Mal hatte der Raum sich umgefaltet, sodass er an der Decke hing und mit dem Kopf nach unten ging.« Die Kunst ist nicht so heilig, dass man für sie über Leichen gehen darf. Einmal, an einer entscheidenden Stelle des Romans, während Dreharbeiten im »Dritten Reich«, sagt Pabst: »Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.« Und genau diese für die Kunst so schmeichelhafte Weisheit erweist sich im Roman als fatal. Die Kunst ist aus der Sicht Kehlmanns eben nicht das Wichtigste, nicht das Heiligste, eben nicht das, was bleibt. Das Einzige, was bleibt, sind im Angesicht des Grauens die seltenen Fälle von Menschenfreundlichkeit. Wer im Roman der Barbarei nur einen Schritt entgegentritt, fährt in die Hölle. Wer nur einen Bissen von der Frucht des Bösen probiert, ist vergiftet für immer. Man kann nicht ein wenig mit dem Radikalen flirten, man wird von ihm vollständig aufgesogen – und es bleibt von einem nichts übrig als eine leere Hülle. Es ist das erste Mal, dass Daniel Kehlmann, dessen Familie väterlicherseits jüdischer Abstammung ist, in einem Roman den Nationalsozialismus ins Zentrum der Handlung rückt. Lichtspiel ist trotz seiner humanistischen Grundierung letztlich finster. Kehlmann treibt die Idee einer negativen Anthropologie um. Er zeigt, dass die meisten in finsteren Zeit so angepasst werden wie Pabst – egal wie wohlfeil, edel und gut sie sich immer gaben, solange es nicht ernst war. Wenn es ernst wird, schmiegt sich so gut wie jeder an die Macht. Das Einknicken ist in diesem Roman Menschheitsprinzip. Charakter ist rar, und verlässlich in der Welt ist nur unsere Unzuverlässigkeit.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel Roman; Rowohlt, Hamburg 2023; 480 S., 26,– €, als E-Book 22,99 €

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Ein Eisbecher des Himmels

«Ein langes Adieu fast wie im wirklichen Leben, mit ungestilltem Verlangen, Geheimnissen, Hindernissen, Spannungen.» Wolfgang Paterno, profil SABINE GRUBER in Frankfurt: OPEN BOOKS 21.10. | 18:30 Uhr | Römerhalle

Elena Fischers Debütroman ist Coming-of-Age-Geschichte, Sozialstudie und Roadnovel in einem

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Wenn man Paradise Garden liest, passiert etwas Seltsames: Im Kopf blinkt immer wieder das Kitsch-Warnlicht auf – und trotzdem fühlt man sich auf keiner der über 300 Seiten unangenehm berührt. Das liegt vor allem an der Hauptfigur: Ein Kind darf romantisch sein, es darf sich mit unschuldiger Auf­ richtigkeit an die Kalendersprüche seiner Mutter klammern, eben weil es ein Kind ist. Umso intensiver ist diese Aufrichtig­ keit, wenn sie auf die fiese Realität trifft. »Zähne­k lap­pern ist nutzlos«, denkt sich Billie einmal, »wenn dich keiner hört, der dir ein warmes Bad einlässt.« Auf beeindruckende Weise fühlt sich Fischer in das Seelenleben von Billie ein, mit vielen Details lässt sie eine Welt entste­ hen, die so lebendig ist, dass man glaubt, es handele sich um eine Autobiografie. Völlig zu Recht wurde Fischer gleich mit diesem Debüt für den Deutschen Buch­ preis nominiert, seit Wochen steht sie auf der Spiegel-Bestsellerliste. Manche vergleichen Paradise Garden sogar schon mit Wolfgang Herrndorfs Tschick. Denn ist die erste Hälfte des Romans eine Mi­ schung aus Coming-of-Age-Geschichte und Sozialstudie über Klassismus, wird die zweite zu einer Roadnovel, in der sich Billie in ihrem alten Nissan auf die Suche nach ihrem Vater macht. Bei all diesen Motiven: Was ist Para­dise Garden eigentlich für ein Buch? Fischer selbst sagt in einem Interview, Billie würde von einem »Mutter-Tochter-Vater-SucheRoman« sprechen. Ganz einfach also. Ja, die Autorin hat ihre Protagonistin definitiv verstanden. Elena Fischer: Paradise Garden Roman; Diogenes, Zürich 2023; 352 S., 23,– €, als E-Book 19,99 €

284 Seiten | Gebunden | € 25,– | ISBN 978-3-406-80652-0 Auch als Hörbuch erhältlich.

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ie Trauer ist wie Ebbe und Flut«, schreibt Elena Fi­ scher ganz zu Be­ ginn ihres tief­ traurigen und doch so hoffnungsvollen De­bütromans. Mal ist die Trauer stärker, mal schwächer. »Da ist sie immer.« Es sind solch wunderbar-kindliche, aber doch hochpräzise Allegorien, Meta­ phern und Sinnsätze, die Paradise Garden mit einem Zauber überziehen. Als die Mutter der 14-jährigen Protagonistin ­Erzsébet stirbt, die von allen Billie genannt wird, ist es für das Mädchen, als würde alles auseinanderfallen: »Übrig bleibt eine Buchstabenfolge, die einmal mein Name gewesen war.« Billie wächst in einem Hochhaus­ viertel in einer nicht näher definierten Stadt auf. Ihre alleinerziehende Mutter Marika, eine ungarische Roma-Frau, die einst Tänzerin werden wollte, hat zwei Jobs, zum Leben reicht es trotzdem nicht wirklich. Die Wohnungseinrichtung stammt vom Sperrmüll und will nicht so wirklich zusammenpassen, »Holz stand neben Plastik, Plastik stand neben Metall, Metall stand neben Glas«, an den Wänden kleben mit Tesa Motive aus Kalendern, die die Mutter beim Putzen aus Müll­ eimern gefischt hat, und zum Monatsende gibt es Nudeln mit Ketchup. Trotzdem ist es eine gute Kindheit für Billie: So eng es im Plattenbau auch ist, die Be­ wohner wärmen sich gegenseitig mit ihrer Menschlichkeit. In einem Café bestellt die Mutter ihrer Tochter einen Eisbecher, den »Paradise Garden«, und dann träumen sie vom Meer, von Florida oder der Karibik. »Manchmal war diese Sehnsucht wie ein Mückenstich an einer Stelle meines Kör­ pers, wo ich zum Kratzen nicht hinkam.« Dann ereignet sich ein tragischer Un­ fall – und Billie muss allein klarkommen.

251 Seiten | Gebunden | € 24,– | ISBN 978-3-406-80696-4

VON BEN EDIK T H ER BER

«Klug und mitreißend. … lebt von starken Dialogen und einer perfekt konstruierten Geschichte.» Knut Cordsen, BR24 ULRICH WOELK in Frankfurt: Haus des Buches 21.10. | 16:00 Uhr | Braubachstr. 16

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Der C.H.Beck Newsletter: Die Welt im Buch chbeck.de/nl2


BELLETRISTIK

Die neue Mystikerin Lauren Groff hat einen hinreißenden Roman über die frühen europäischen Siedler in Amerika geschrieben. »Die weite Wildnis« rückt den Ursprung westlicher Naturbeherrschung und Umweltzerstörung in den Blick

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it Haut, Knorpeln und Sehnen ist das rennende Mädchen allein im wilden Wald. Die Bäume sehen, wie sie davonjagt, die Vögel, die Erde, die Blätter vernehmen ihren scharfen Men­schengeruch. Auf märchenhafte Weise erzählt Lauren Groffs Buch Die weite Wildnis die Überlebensgeschichte eines Mädchens namens Lamentatio. Sie ist Leibeigene einer Londoner Familie, die im Jahr 1609 nach Virginia über-

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siedelt und dort in einem namenlosen Fort lebt – wahrscheinlich handelt es sich um den frühen Außenposten von James­town, der ersten englischen Siedlung in Amerika. Der Roman beginnt mit einer Hungersnot, die im Fort ausgebrochen ist. Kinder sterben an Windpocken, es ist kalt. Draußen vor der Festung lauern eingeborene Krieger, die »Männer dieses Landes«. Die weißen Männer im Fort lassen Aggressionen gewaltsam an ihren Familien aus. Lamentatio beschließt zu fliehen, »und mit diesem Entschluss hatte sie allem entsagt, was sie besaß, ihrem Dach,

i­hrem Zuhause, ihrem Land, ihrer Sprache, der einzigen Familie, die sie je hatte«. Ihre Flucht führt sie zu den französischen Kolonien im Norden. In der Wildnis verwandelt sie sich in »ein seltsames Wesen«, ihre Züge nehmen »etwas Maurisches« an. Lamentatio überlebt, indem sie Nagetiere jagt, gefrorene Fische aus dem Eis bricht, Pilze findet, die vielleicht giftig sind, vielleicht nicht – es ist ganz gleich, der Hunger ist zu groß. In Die weite Wildnis ist die Natur allgegenwärtig, sie ist grausam, abstoßend und dennoch wunderschön. »Wir stehen am Ran-

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Foto: Eli Sinkus

VON SARAH PINES


»Schneller, Mädchen, trieb sie sich an, und in ihrer Angst und ihrem Schmerz trugen ihre Beine sie noch schneller« L AU R E N GROFF

de e­ines katastrophalen Klimawandels«, sagt Groff im Gespräch. »Die Welt brennt, wird überflutet und immer heißer. Ich denke, schuld an dem Klimawandel ist unsere verzerrte Inter­ pretation der Genesis als eine Geschichte der Naturbeherrschung. Die Natur ist nicht unser Untertan. Gerade die USA, der Westen ins­ gesamt, glaubt aber an dieses Narrativ.« Die warmherzige, humorvolle Lauren Groff wurde 1978 in Coo­ pers­ town, New York, geboren. Heute lebt sie in Florida. Seit 2008 schreibt sie; mittlerweile hat sie vier Romane und zwei Kurzgeschichtensamm­ lungen veröffentlicht, dreimal wurde sie für den National Book Award nominiert. Die weite Wildnis ist der zweite Teil eines, wie Groff es nennt, »Triptychons«, einer auf drei Zeitebenen angesiedelten Trilogie. »Mein Triptychon«, erklärt Groff, »mit den in­ein­an­ der­grei­fen­den ­Ideen Gottessicht, Umwelt und Struktur des Menschen entfaltet sich in der Zeit, mit offenem Ausgang. Wie ein Stein, der übers Wasser flippt.« Der erste Teil dieses Triptychons, ­Matrix (2021), erzählt eine fiktive Biografie des 12. Jahrhunderts: Marie de ­France, Dichte­ rin rätselhafter bretonischer Gedichte, die nach mehreren Marienvisionen und einer kurzen Episode als Hofdame von Eleanor von Aquitanien Äbtissin wird und in den ver­ wunschenen Wäldern der Ritter der Tafel­ runde ein Frauenkloster errichtet. Verbunden sind Matrix und Die weite Wildnis durch die weibliche Perspektive auf die Themen Gewalt, Spiritualität und Natur: Die Dichterin Marie und die Leibeigene Lamentatio sind Außen­ seiterinnen in einer von der Natur entfrem­ deten Welt, in der Männer grundsätzlich zu Aggression neigen. Dennoch glaubt Groff nicht an ein ge­ schlechterspezifisches Verhältnis zur Natur. Seitdem sie Mutter sei, erzählt sie, habe ihr Naturverständnis sogar etwas regelrecht Tieri­ sches, das merke man ihren weiblichen Figuren vielleicht an. Auch s­ eien in ihrem Werk Mann und Frau gleichermaßen wütend. »Ich selbst bin ein sehr wütender Mensch, ärgere mich perma­ nent über viele Dinge«, sagt Groff lächelnd, am

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Handgelenk ein rotes Stoffarmband, darauf der weiße Aufdruck »No!«. Aber anders als Män­ ner, so Groff, s­eien wütende ­Frauen unbeliebt. In ihren Romanen zeige sie weibliche Wut da­ gegen als kristallklare, zielgerichtete Emotion und somit als produktive Kraft. Die weite Wildnis liest sich wie ein Gegen­ entwurf zu kolonialen Entführungsgeschich­ ten, sogenannten captivity narra­tives, in denen Siedlerfrauen von Eingeborenen entführt werden: »Es ist von Männern verfasste, ge­ walttätige Propaganda für den Genozid, er­ zählt aus der vermeintlichen Perspektive der entführten Frau.« Was stattdessen lesen? Zu Groffs liebsten Pandemielektüren zählten die Werke von Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson, die ihre Philosophie in amerika­ nischen Wäldern und gelbgrasigen Steppen entwickelt haben. So schrieb beispielsweise Emerson in seinem Aufsatz Natur (1836), dass der stete Blick auf die Formen der Natur, des Himmels und der Sterne für das intuitive Verständnis unbekannter Zusammenhänge unentbehrlich sei. Lamentatio, sagt Groff, sei in genau diesem Sinne eine Mystikerin: »Sie hinterfragt überlieferte Wissensstrukturen, re­ ligiöse Visionen der Alten Welt und verwandelt sie auf dem neuen Kontinent durch Isolation, Ekstase und Schmerz in eine höhere Einsicht, die unser Verhältnis zur materiellen Welt ver­ ändern kann.« Anders als die ehrgeizige Ma­ rie de F ­ rance, die in Matrix die Natur durch Rodungen bezwingt, findet Lamentatio fernab von Menschen und Sprache die wahre gött­ liche Ordnung in der Wildnis: »Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig. Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten. Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.« Den Elementen ausgeliefert, kann La­ mentatio die Natur weder zähmen noch ausbeuten. Stattdessen wird sie ein Teil von ihr: »Und als sie dort lag in der laubgefüllten Kuhle, spürte sie, wie sie zu einem Baum wurde. Und wie in einer Vision vernahm sie

das geflüsterte Geheiß des Windes, sah das lockende, große Loch im Baum und sprang kopfüber hinein, worauf es sogleich zuwuchs, bis um sie herum alles schwarz wurde und die polternden Schritte der Jäger nicht mehr hör­ bar waren, nur noch eine Vibration im Holz.« Ein utopischer Moment – Lamentatio wird von der Natur nicht verschluckt, sondern überhöht: »Dann das wunderbare Wachsen, ihre Füße, die sich genüsslich in den nahr­ haften Lehm des Waldbodens gruben und dort verwurzelten, während die Krone über alle anderen Bäume hinauswuchs und sich ihre ausgestreckten Arme vervielfachten, aus Armen immer mehr Arme wuchsen, während die Finger barsten und sich als grüne Blätter der Sonne zuwandten.« Derart euphorisch könnte sich also Na­ turverbundenheit anfühlen. Doch anstatt uns wie Lamentatio innerhalb der natürlichen Welt neu zu positionieren, stünden wir wei­ terhin in Opposition zu ihr, findet Groff. Mit ihrem Buch kritisiert sie ganz bewusst den amerikanischen Gründungsmythos: »Gewalt­ tätigkeit ist tief in die amerikanische DNA eingelassen«, erklärt sie. »Von Anfang an. Das Verhältnis der frühen Siedler zu dem neuen Land und der indigenen Bevölkerung war roh und ausbeuterisch. Die radikale Gewalt der Gründerzeit legte den Grundstein der ame­ rikanischen Mythologie. Diese Gewalt dauert bis heute fort, sie ist wie ein C ­ ode, den man nicht mehr aus den Köpfen und Körpern der Amerikaner löschen kann.« Mit Die weite Wildnis habe sie die Ge­ schichte der Unsichtbaren erzählen wollen, denen Gewalt angetan wurde. Lamentatio steht an unterster Stelle der Hierarchien ihrer Zeit. In der Geschichtsschreibung spielten Figuren wie sie keine Rolle, in der Literatur dürfen wir sie jetzt entdecken. Lauren Groff: Die weite Wildnis Roman; a. d. Engl. v. Stefanie Jacobs; Claassen, Berlin 2023; 288 S., 25,– €, als E-Book 19,99 €

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Hart und urban In Amir Gudarzis Debütroman flieht ein junger Mann vor dem iranischen Regime in die europäische Kälte VON JOL I NDE H ÜCH T K ER

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n Europa muss niemand zu Fuß gehen, davon ist seine Mutter überzeugt. Aber als A. in Österreich ankommt, läuft er sich Blasen. Kein Auto hält an, um ihn mitzunehmen. Seine Mutter glaubt, dass alle hier gerne teilen und die Leute menschlicher sind als im Iran. Nur: Wenn A. hungrig einen Apfel pflückt, wird die Polizei gerufen. Oder wenn er mit ­einem 500-Euro-Schein bezahlt, denn er ist schließlich ein Flüchtling. Amir Gudarzis Debütroman erzählt von einem jungen Mann, der vor dem iranischen Re­gime flieht. Das Ende ist nah erscheint rund ein Jahr nach dem Tod Jina Mahsa Aminis durch die Schläge der Sittenpolizei, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht gemäß dem Hidschab-Gesetz trug – schonungslos erinnert Gudarzi an die jahrzehntelange Vorgeschichte der heutigen Proteste. Der Protagonist, er wird nur A. genannt, verlässt den Iran während der Demonstrationen im Jahr 2009 gegen mutmaßlich gefälschte Präsidentschaftswahlen, er hatte religionskritische Se­ rien und Theaterstücke geschrieben. In Österreich wird der Künstler »durch Sprach- und Statusverlust ein Nichts«. Die Länder, Provinzen, Wohnungen wechseln – aus Teheran wird Traiskirchen, Plankenstein, Sieghartskirchen, dann endlich Wien –, nur die Gewalt bleibt. Es ist zunächst die Gewalt durch den Staat, die Schüsse in den Kopf eines Demonstranten in Teheran, die Vergewaltigungen im iranischen Gefängnis, aber auch jene Gewalt des Alltags, der heranwachsenden Männer und der Familie. Später, in Österreich, sind es die Kälte Europas, die gezückten Messer und Demütigungen. Der Autor setzt die Brutalität des iranischen Re­gimes keineswegs mit jener gleich, die A. im Exil begegnet, und doch gelingt es Gudarzi, zu zeigen, dass der junge Mann vor Faustschlägen nicht gänzlich flie-

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hen kann. In den Asylheimen, in denen jeder Tag gleich ist, prügelt er sich mit anderen Geflüchteten. Später in Wien zwingt ihn der Hunger, auch noch als Essenslieferant zu arbeiten, wenn ihm das eigene Blut nach einem Unfall auf die Plastiktüten tropft. Zwischen den Brutalitäten gibt es auch Gedichte, viel Traurigkeit und beinahe eine Liebesgeschichte. Nur, wie führt man eine Beziehung, wenn eine alles hat – Geld, Sprache, Lust – und einer fast nichts mehr? Als A. endlich vorgeladen wird, um den Behörden seine Asylgründe darzulegen, hat er schon vergessen, wie das geht: glücklich sein. »Ich ziehe eine Grimasse, die ein Lächeln bedeutet, doch innerlich spüre ich nichts und lasse es wieder sein.« Der Autor schreibt nah an seiner eigenen Biografie entlang, so scheint es – wie seine Figur wurde Amir Gudarzi 1986 in Teheran geboren, auch er lebt heute in Wien, auch er verfasst Theaterstücke, mehrfach ausgezeichnete. Seine klare, angenehm unpräten­ tiöse Sprache wird metaphorischer, je schlechter es dem Protagonisten geht: Da liegt dann ein Stück Himmel auf dem Boden, oder der Alkohol macht aus A. ein Lineal. In das Deutsche – »hart und urban« – schieben sich kaum übersetzbare Farsi-Redewendungen, die von Wölfen und Drachen handeln statt von »Verhörzimmern«, »Kontrolleuren« oder »Privatgrundstücken«. Als würde A. erneut flüchten, diesmal in das Malerische der Muttersprache. Er zieht immer weiter, doch wenigstens der A ­ utor ist heute angekommen in Europa: Er sei inzwischen Österreicher, heißt es im Klappentext.

Amir Gudarzi: Das Ende ist nah Roman; dtv, München 2023; 416 S., 25,– €, als E-Book 19,99 €

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Rehe vorm Gnadenhof Ein Roman über die Resignation des Alterns. In Monika Marons »Das Haus« geschieht erstaunlich wenig. Aber das wird glänzend erzählt V O N D AV I D H U G E N D I C K

Foto: Marlene Gawrisch/Ullstein

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ieses ist ein Buch über einen Rückzug. Es er­ zählt ohne pompösen Todesbudenzauber von der Despotie des Alters, von Sonnenaufgängen in Brandenburg und Schmetterlingen im Garten. Weil es ein Roman von Monika Maron ist, handelt er natürlich auch von der Unschuld von Hunden, was man drollig verklärend oder grundsympathisch fin­ den kann. Und weil es ein Roman von Monika Maron ist, ist es vielleicht nötig zu sagen, dass darin kein Anlass zur grellen Aufregung zu finden ist, was manche Leser vielleicht befürch­ tet oder mit glucksender Vorfreude erwartet haben könnten. Manchen Lesern mag die inzwischen 82 Jahre alte Maron, womöglich plausibel, als »neurechts« gelten – seit sowohl ihren dubiosen Äußerungen über Flüchtlinge und angebliche Denkverbote als auch wegen ihrer vorigen Romane (Munin oder Chaos im Kopf und Artur Lanz). Jedoch gibt es keinen Grund für ihre Kritiker, in diesem Buch nun poli­ tisch oder moralisch durchzufeudeln, und das sollte doch beruhigend sein. Vielleicht ist es sogar für alle Seiten ent­ spannend: Eine sanfte Müdigkeit liegt über dem Roman Das Haus, vor allem die Lebens­ novembrigkeit von Marons Erzählerin Eva. Mitte sechzig, zieht sie nun aus ihrer Altbau­ wohnung in Berlin in ein Landschloss im fikti­ ven Ort Bossin in Brandenburg, eine Art AltersWG, gegründet von Evas Freundin Katharina. Ein »Klub der Einsamen, Verlassenen und Ein­ zelgänger«, gelegentlich wird das Schloss sogar als der »Gnadenhof« bezeichnet. Weiterhin leben darin ein empfindsamer Witwer namens Michael, der lädierte Alt-Historiker Amadeus mit seiner Allergikerfrau Gerlinde, eine Mary, eine Sylvie sowie der melancholische Johannes. Man isst gemeinsam zu Abend, man redet über Literatur oder das alte Rom, über Pudel und Border Collies, man rezitiert Eichen­ dorff-Gedichte und sitzt im »kordelverzierten Ohrensessel«, schaut auf die Fernsehbilder der brennenden Kathedrale Notre-­ Dame und redet über Nationalsymbole. Eva hat eine Meinung, jemand anderes eine andere,

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Dialoge formen sich, die bloß noch mit er­ schlaffter Gereiztheit den Debattenkrempel der Gegenwart vorzeigen und einen vornehm gereizten Überdruss an der Stadtgesellschaft. Der Verfall der Lesekultur wird beklagt – und vor allem mit dem Wunsch nach einer Renaturierung der Seele beantwortet. Es ist eine vornehme Ausstiegsfantasie, in der Na­

Monika Maron war in der DDR eine kritisch beobachtende Autorin – und ist es geblieben

turschwärmerei und romantisch verhangene Landschaft zur heilsamen Gegenwelt werden: »Mit jeder Woche in Bossin entrückte ich dem allgemeinen Palaver über die zunehmende Kriminalität, diesen oder jenen Extremismus, die verheerende Wirkung der sozialen Me­dien oder auch nur über ein empörendes Buch ein Stück weiter. Nicht, dass es mich nicht mehr interessierte, aber ich sah es wie aus der Ferne oder als würde ich vom falschen Ende durch ein Fernglas blicken. Es war nicht mehr mein Leben, das da heraufzog.« Man sitzt, umgeben vom Morgennebel eines Brandenburger Gartens, in saturiertem Weltverdruss, lässt sich von Schmetterlingen und Vögeln umschwirren, ein lauer Wind weht, und es ist geradezu allumfassend harm­ los. Dann zeigt sich vielleicht ein Reh, »es stand

wie ein Monument im dämmrigen Nebel, nein, wie ein Zeichen, ein Gruß von irgend­ woher. Wir blieben stehen und hielten fast den Atem an. Ein märchenhafter Zauber hüllte uns ein, nur für Sekunden, bis das Reh lautlos, wie es aufgetaucht war, hinter Bäumen wieder ver­ schwand.« Und sollte bei Tisch ein Gespräch doch hitziger werden, klingelt vorsorglich das Telefon wie in einem Slapstickfilm. Die Idylle soll hier nichts stören, höchstens der Tod, der natürlich bald an die Pforten klopft. Marons Roman hält sich auf diese Weise konzentriert im Haus auf, seine literarische Kon­ struk­ tion ist weder sonderlich kühn, noch in ihrer Schlichtheit erwähnenswert in­ teressant. Vielmehr kann man zwischendurch den Eindruck gewinnen, Maron spiele mit einer beinahe zum mechanischen Gleichmut verkommenen Routine eine kleine, ewige Etüde vor sich hin. Der Auf- und Abtritt des Personals und von Marons Standard­ motiven (Hunde vor allem), die bald ver­ trauten Abendessens-Szenen, der Wechsel des Wetters und der Jahreszeiten. Es ist einzig der leise spöttelnde Sprachgestus, bisweilen die würdevolle Biestigkeit der Erzählerin, die das schmale Buch bis ins Ziel tragen. Dass Monika Maron eine unbestreitbar glänzende Stilistin ist, die sich nicht als bloße Dekorateurin von Gefühls- und Stimmungs­ lagen versteht, lässt sich auch hier auf nahezu jeder Seite lesen. Stellte man die Eleganz der Sprache gegen die Fadheit des Inhalts, so wäre Das Haus ein literarisches Nullsummenspiel – und es endet Anfang 2020 in einer Katastro­ phe: Das Dach des Brandenburger Refugiums brennt, und wer weiß, ob man das nicht doch als politische Metapher der Autorin deuten soll. Schließlich begann zu dieser Zeit die Corona-Pandemie, zu deren Bewältigung sich Maron immer mal wieder kritisch geäußert hat. Wäre aber relativ egal. Man denkt ja viel­ leicht lieber weiter über Rehe nach. Monika Maron: Das Haus Roman; Hoffmann und Campe, Hamburg 2023; 240 S., 25,– €, als E-Book 19,99 €

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BELLETRISTIK

Ihr Mut für das Unglaubliche

In ihrer norwegischen Heimat ist sie längst ein Star: Vigdis Hjorth, 64

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Die Norwegerin Vigdis Hjorth erzählt virtuos von einer Tragödie zwischen einer Tochter, 60, und ihrer 80-jährigen Mutter VON IR IS R A DISCH

Foto: Hanna Lenz für ZEIT Literatur

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ie sie jetzt hier sitzt. Die Haare zum Zopf geflochten, in grünem Cordhemd, Jeans und Holzpantinen. Wie sie, als würden wir uns schon lange kennen, von den Enkelkindern, den Hunden zu Hause, von Krankheiten in der Familie, von Mutter, Vater und den Schwestern erzählt, zu denen sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Wie sie so unverstellt und unbesorgt darum, was andere von ihrer Unbesorgtheit halten, bei unserem Treffen im Garten des Hamburger Frauen­hotels »Die Hanseatin« einfach mal loslegt – das ist schon großartig. Vigdis Hjorth, vor 64 Jahren in Oslo geboren, gilt als bedeutendste Gegenwartsautorin Norwegens. Ihre Romane, sagt man und sagt sie auch, gehören zur radikalen skandinavischen Selbstentblößungs-Literatur, die von dem norwegischen Solitär Dag Solstad begründet (ZEIT Nr. 33/19) und von dem norwegischen Literaturstar Karl Ove Knausgård zur Weltberühmtheit weiterentwickelt wurde. In Deutschland ist Vigdis Hjorth bisher nahezu unbekannt, obwohl einige ihrer insgesamt 27 Romane schon vor Jahrzehnten in den sehr guten Übersetzungen von Gabriele Haefs erschienen sind, verunstaltet mit Titeln wie Die Liebeskur, Quartett zu zweit, Drei F ­ rauen und ein Todesfall oder Zum Teufel mit den Männern und verpackt in schwachsinnige Frauen­lite­ra­tur-­Cover. Die meisten davon landeten auf den Taschenbuchfriedhöfen für »witzige, spritzige Frauen­unter­hal­ tung« – ein Schicksal, das sie mit den ersten ins Deutsche übersetzten Romanen der späteren Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder der Erfolgsautorin Elena Ferrante teilen. Am Abend unserer Begegnung wird Vigdis Hjorth im Hamburger Frauen­hotel aus einem in der Abteilung spritzige Frauen­lite­ra­tur absolut unversenkbaren Roman lesen, der jetzt unter dem Titel Die Wahrheiten meiner Mutter im Fischer Verlag erscheint. Trotzdem wird das Publikum in der »Hanseatin« auch dieses Mal wieder – zieht man die zwei Männer ab, die ihre ­Frauen begleiten – ausschließlich weiblich sein. Was jetzt nicht zwingend beweist, aber nahelegt, dass Männer sich vielleicht doch nicht so sehr für Lebensgeschichten von ­Frauen interessieren wie ­Frauen. Das Buch handelt von einer sechzigjährigen Frau, einer Malerin, die, nachdem sie ihr halbes Leben als erfolgreiche Künstlerin in Kanada verbracht hat, in ihre norwegische Heimat zurückkehrt. Die Rückkehr fasziniert und beunruhigt

sie, denn in ihrer Familie muss irgendetwas derart »Entsetzliches« vorgefallen sein, dass die Künstlerin den Kontakt zu Vater, Mutter und Schwester abgebrochen hat. Der Vater, offenbar der Hauptangeklagte im undurchsichtigen Familiendrama, ist inzwischen gestorben. Das Buch handelt von den zahllosen – vergeblichen – Versuchen der Tochter, mit ihrer Mutter Kontakt aufzunehmen, um die erlittenen Verletzungen nachträglich zu lindern. Anfangs scheint der an den vergitterten Gefühlsarchiven einer norwegischen Familie rüttelnde Roman noch auf der Stelle zu treten. Wie oft wird der Telefonhörer wieder mal nicht abgenommen. Wie oft bleiben die Tochternachrichten unbeantwortet. Doch schließlich eskaliert dieser Mutterabrechnungsroman doch zu einer ergreifenden Mutter-Tochter-Tragödie. Derartiges hat man noch nicht oft gelesen: Eine tief verletzte Sechzigjähre leistet sich einen furiosen Kampf mit einer eisern schweigenden Achtzigjährigen. Wobei jede der älteren Damen auf ihrer Auffassung von familiärer Traumatherapie beharrt. Der Roman schlägt sich in diesem großen Damenduell ganz auf die Seite des angeblichen Opfers und gibt der alten Mutter und der sie unterstützenden Schwester keine ­ Chance, ihre Version der Geschichte zu erzählen. Auch wenn die unerbittliche Opferperspektive auf der Lang­ strecke von 400 Seiten eine Geduldsprobe ist, nimmt der Roman gerade durch seine rasende Rechthaberei Fahrt auf. In ihrem wachsenden Furor gräbt sich die Tochter nachts im Garten ­ihres Elternhauses in die Erde ein: »Ich grabe, als ob ich die Erde von mir abwerfen und mich davon befreien würde, die Erde meiner Kindheit hinter meinen Rücken werfend, ich grabe, während die Welt still daliegt (...), und je tiefer ich grabe, desto dunkler wird sie, und ich will bis zum Ende der Dunkelheit graben.« Am Abend im Hamburger Frauen­hotel wird Vigdis Hjorth diese Passage getrieben wie ein verwundetes Tier, in einem Irrsinnstempo vortragen. In Norwegen hat man Hjorths Bücher mit dem Etikett »virke­lighets­litte­ra­tur« oder »reality fiction« belegt, denn die meisten ihrer Romane basieren auf ihrem eigenen Leben, erzählen von Konflikten mit ihren Eltern, mit ihren Liebhabern und Geschwistern, die sich, ähnlich wie nach der Veröffentlichung von Karl Ove Knausgårds sechsbändigen Memoiren Min Kamp, zum Teil öffentlich zu Wort gemeldet haben, weil sie sich als literarisches Material missbraucht fühlten.

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BELLET RISTIK

In Vigdis Hjorths vielleicht wichtigstem Roman Ein falsches Wort, der im kommenden Frühjahr bei Fischer neu herauskommt und unter dem Titel Bergljots Familie im Jahr 2019 in der Übersetzung von Gabriele Haefs im Hamburger Osburg Verlag schon einmal erschienen ist, wird die diffuse Anklage der Tochter, die dem aktuellen Mutter-Roman einiges an Plausibilität raubt (warum, zum Teufel, rechnet eine Sechzigjährige so endlos mit ihren greisen Eltern ab?), durch einen handfesten Tatvorwurf verstärkt: Hier ist der Tochter im Alter von dreißig Jahren während einer Psychoanalyse wieder eingefallen, dass sie als Fünf- oder Sechsjährige von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Dieser Vorgänger zum aktuellen MutterRoman löste in Norwegen eine große Debatte über Autofiktion, Moral, authentische Romanfiguren und die Verwendung von lebenden Vorbildern in der Literatur aus. »Die Literatur ist auf Abwege geraten«, schrieb die Literaturkritikerin der Zeitung Aftenposten, Ingunn Økland. Sie hatte detektivisch Romandetails nachrecherchiert, die unverändert aus dem echten Leben der Familie Hjorth in den Roman übernommen wurden. Die Schwester der Autorin, die Juristin Helga Hjorth, verfasste sogar einen Gegenroman Fri vilje (»Freier Wille«), in dem sie, sagt Vigdis Hjorth, das Leben der Familie »stark idealisiert«. Der Schwesternkampf war in Norwegen ein viel bestauntes Spektakel. »Meine Familie irrt, wenn sie glaubt, ich hätte einen Roman über meine Familie geschrieben«, verteidigt sich die Autorin. Für sie sei der Wirklichkeitsbezug ihrer Bücher viel ambivalenter als etwa bei ihrem Kollegen Karl Ove Knausgård. Zwar spielt sie durchaus mit dem »Wirklichkeitshunger«, dem »reality hunger«, der Leser und Leserinnen und legt

bewusst erkennbare autobiografische F ­ ährten, lässt aber, auch jetzt im Gärtchen des Hamburger Frauen­ hotels, alle Fragen nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Romane unbeantwortet – »es ist die falsche Frage, ob das mein Leben ist«. Sie interessiere sich ausschließlich für die künstlerische Verarbeitung ihres Lebens. Dichtung enthalte einfach mehr Wahrheit. Denn autobiografische Literatur sei ja in erster Linie Literatur: »Wenn du wirklich über dich schreibst, reichen auch sechs Bände nicht aus. Man trifft immer eine Auswahl und setzt ­einen Ausgangspunkt.« Trotzdem die Frage, die Vigdis Hjorth schon hundertmal gehört hat: Warum spielt sie in ihren jüngsten Romanen mit einem im Ungefähren belassenen Missbrauchsvorwurf, der zumindest den Schatten eines Verdachts auf ihren verstorbenen Vater wirft? Ihre Standardantwort: Der Missbrauch interessiere sie nicht. Was sie interessiere, ­seien nicht die Fakten, sondern die Effekte, die diese Fakten auf eine Familie haben, die es sich in einer Lebenslüge bequem gemacht hat. »Ich will zeigen, wie verlockend es ist, dem Vater zu glauben, der die Tat leugnet. Jeder in der Familie hat die Wahl. Wenn du dich entscheidest, der Tochter zu glauben, geht deine Welt unter, dann kannst du keinen einzigen Familiengeburtstag mehr feiern. Wenn du dem Vater glaubst, geht alles einfach weiter.« Bei ihr gibt es immer diese bohrende Stimme, die auf eine moralische Entscheidung, auf einen existenziellen Imperativ drängt: »Die Aufgabe ist, du selbst zu sein in deinem kleinen Leben.« Wenn sie so etwas sagt, klingt sie beinahe wie eine Existenzialistin im Paris der Nachkriegsjahre. Und dann springt sie während des Gesprächs auf – sie ist in Norwegen bekannt für ihre intensiven Bühnenauftritte – und führt nur für ihre Interviewerin ein

kleines Dramolett auf, das davon handelt, was passierte, als sie eines Tages in einem grauen Osloer November in Kierkegaards Buch Die Krankheit zum Tode auf die Geschichte von einem armen Tagelöhner stieß, zu dem der mächtige Kaiser einen Boten schickte. Sie spielt beide, den Boten, der vom Kaiser geschickt wurde, und den Tagelöhner, der nicht glauben kann, dass der mächtige Kaiser ihn bittet, seine Tochter zu heiraten. Am Ende der Darbietung bückt sie sich und rudert heftig mit den Armen, was aussieht, als schaufele sie die Lehre, die sie aus der Geschichte zieht, direkt aus dem Erdboden des Hamburger Hotelgartens: »Man muss wählen. Man muss den Mut haben, zu glauben, dass das Höchste etwas von dir will. Man muss an das Außer­ ordent­liche glauben.« Später zu Hause habe ich die dramatische Stelle bei Kierkegaard nachgelesen. Bei ihm geht es so: »Ob der Mann genug demütigen Mut hat, das Unglaubliche zu glauben?« Es wird höchste Zeit, diese leidenschaftliche norwegische Existenzialistin zu entdecken. Sie wird die Tiefenbohrung in den vergifteten Beziehungen zwischen Kindern und Eltern weiter fortsetzen. In diesem Jahr hat Vigdis Hjorth in Norwegen schon wieder ­einen neuen Roman veröffentlicht. Er trägt den kierkegaardschen Titel Wiederholung. Und man kann sicher sein, dass es wieder darum gehen wird, den demütigen Mut zu haben, das Unglaubliche zu glauben. Ganz gleich, ob es Dichtung oder Wahrheit ist. Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter Roman; a. d. Norwegischen v. Gabriele Haefs; S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023; 400 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €

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Aus der Welt der Kitzelmonster Barbi Marković schreibt in ihrem Band »Minihorror« hinreißende Erzählungen über Menschenfresser, Doppelgänger und Ungeheuer VON CL E M ENS J. SETZ

Foto: Apollonia Theresa Bitzan

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ch behaupte immer gern, dass mir ja egal sei, was die Leute lesen. Das ist natürlich gelogen. Im Herzen bin ich doch ein mittelalterlicher Prediger, der seinen Mitmenschen mit Freude ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie ein bestimmtes Werk der Gegenwart nicht kennen oder bislang ignoriert haben. Nun hat Barbi Marković ihr fünftes Buch vorgelegt und darin eine Meisterschaft ihres Metiers erreicht, die es mir nicht mehr erlaubt, meine Mitmenschen in Frieden zu lassen. Es war ja schon, ganz unter uns, reichlich albern, dass ihr Meisterwerk Die verschissene Zeit aus dem Jahr 2021, ein formal innovativer und unterhaltsamer Roman, in dem proust­sche Vergangenheitswiederkehr mit der aufwühlenden Poesie einer in Form eines tatsächlich spiel­baren Rollenspiels auftretenden Sci-Fi-Handlung verschmolzen wurde, nicht den Deutschen oder Österreichischen Buchpreis bekommen hat. Ihr neues Buch, Minihorror, ist eine Sammlung zusammenhängender Geschichten aus dem Leben eines in Wien wohnenden Pärchens: Miki, ein aus Ost­tirol stammender Mann, und Mini, eine gebürtige Serbin, die schon lange in Österreich wohnt. In jeder Geschichte erfahren die beiden irgendeine horrorfilmartige, grauenhafte Wendung der Dinge, mal entpuppt sich jemand als Menschenfresser, mal fällt man in der Zeit zurück ins Elternhaus, mal wird man lebendig in einer Grube begraben, mal begegnet man im Einkaufszentrum lauter Doppelgängern, und so weiter. Barbi Marković ist eine Meisterin der elektrisierend neuen Verwendung bekannter GenreElemente, vergleichbar etwa mit den Werken von G ­ eorge Saunders oder Karen Russell. In einer der besten Geschichten besucht das Pärchen einen traditionellen Krampuslauf in Mikis Heimatort. Dort kommt es natürlich, wie es das Horrorgenre vorschreibt, zu unerwarteten Interaktionen mit den als Krampus verkleideten Darstellern. Aber Barbi Marković geht immer tief ins Innere solcher Phänomene: »Miki erklärt Mini den nächsten lokalen Brauch: Männer verkleiden sich als Monster. Ihre Masken heißen Larven, kosten mehrere tausend Euro und werden sorgfältig angefertigt. Mini lernt Folgendes über diese

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»Als sie aufhört, ist es zu spät« BA R BI M A R KOV IĆ

gefährlichen Wesen, und auf eine gewisse Art ist das, was sie lernt, wirklich nichts Neues für sie: Sie muss aufpassen, von den verkleideten Männern nicht geschlagen oder vergewaltigt und von ihren riesigen Accessoires nicht am Kopf getroffen zu werden. Sie muss aber auch dauernd auf diese Wesen aufpassen, weil sie zugleich gewalttätig und zerbrechlich sind. Wenn so ein Monster auf seine Glocke fällt, bricht es sich den Rücken. Man darf es nicht an seiner Larve ziehen, nicht nur, weil diese so teuer ist, sondern auch, weil sein Kopf mit der Maske viel länger ist, was zu einem Hebeleffekt und schließlich zum Genickbruch führen kann.« Und nicht nur das: Einer der Krampusdarsteller kommt auf Miki zu und – umarmt ihn, anstatt ihn mit der Rute zu prügeln. Er tut das jedes Jahr, und Miki wundert sich, wer das wohl sein mag. Was macht er da immer? Die sagenhafte Weinerlichkeit der Gewaltausübenden, wie ist sie hier perfekt eingefangen,

in dem kuriosen Fall des einmal im Jahr seine Umarmungen suchenden Krampusdarstellers! Es erinnert mich auch an meine Kindheitserlebnisse während der Krampusläufe in der Steiermark, wo die besoffenen Jugendlichen, die in den Krampuskostümen steckten, vor Beginn des Laufs oft zu uns Kindern geschlichen kamen und uns mit ernsten, sanften Stimmen und sehr vernünftigen Argumenten baten, dieses Jahr doch bitte keine Feuerwerksböller auf sie zu werfen, denn ihr Fell fange so leicht ­Feuer. Wir sahen das ein, versprachen es und warfen die mitgebrachten Böller weg – und wurden dann wenige Minuten später von denselben Jugendlichen unter Gejohle mit Ketten verprügelt und in den Schneematsch getreten. Ein anderes Meisterstück der Sammlung ist die Geschichte vom »Kitzelmonster«, einer überall auf der Welt erscheinenden mysteriösen Figur ohne Gesicht, die sich immer hilflosen Menschen nähert, um diese zu kitzeln. Mini begegnet dem Wesen immer wieder, und eines Tages, in Gegenwart einer schwerkranken Frau im Krankenhaus, ist sie es sogar selbst. Barbi Markovićs Bücher sind für mich die weitaus bewegendste in deutscher Sprache unternommene Abenteuerfahrt in die Geheimnisse des cartoonhaften Erzählens. Allein, was sie in Minihorror aus der Verwendung stereotyper Erzählformeln aus dem Lustigen Taschenbuch (»Am nächsten Morgen dann ...«, »Und so ...«) macht, ist so originell, dass man am liebsten selber eine Weile nur noch in diesen Formeln denken möchte. Es ist wirklich lange her, dass ich ein Buch lesen durfte, in dem man Satz für Satz so viel Spaß beim Erleben grauenvollster Wendungen und unheimlicher Erscheinungen haben kann. Ich glaube, die meisten von uns fahren, romantechnisch gesehen, noch wacker mit der Draisine über irgendwelche altgedienten Schienen, während Barbi Marković längst mit dem Jetpack unterwegs ist, in völlig neuen Gegenden.

Barbi Marković: Minihorror Residenz Verlag, Salzburg 2023; 192 S., 24,– €, als E-Book 16,99 €

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BELLETRISTIK

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eine Mutter konnte fliegen. Das war schon ziemlich spät im Leben, und wie es dazu ge­ kommen war, das wusste sie auch nicht mehr genau. Erst war sie auf Händen gelaufen, das war schon wunderbar leicht gewesen, dann irgendwann hob sie ab – »Sie flog von irgendwas weg, umflog etwas anderes, damit man sie nicht entdeckte.« Das hat Rada Biller in einer ihrer schönsten Er­ zählungen aufgeschrieben, die heißt Der Flug. Rada Biller, Maxim Billers Mutter, die 1930 in Baku auf die Welt gekommen war, starb 2019 in Hamburg. Sie war eine wundervolle Schriftstellerin. »Mama wurde als Schriftstellerin gebo­ ren, aber sie wurde es zu spät, um wirklich eine zu werden.« Diesen klugen, schönen, traurigen, ein ganzes Leben umspannenden Satz hat Maxim Biller in seinen neuen Ro­ man Mama Odessa hineingeschrieben. Der Roman handelt von dieser Geschichte seiner Mutter, davon, was sie alles erlebte, erlitt, erfand und erlas, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Alles geografisch leicht ver­ schoben, Odessa statt Baku zum Beispiel, aber der Kern ihrer Lebensgeschichte, ihr Überleben im Krieg, ihre Flucht in Richtung Westen und ihr lebenslanges Hadern mit dem falschen Leben im falschen Land, das ist ihre wahre Geschichte. Es ist Maxim Billers liebevollste Liebes­ geschichte, die er bisher geschrieben hat. Und er hat schon einige geschrieben, das vergessen die Leute ja oft, zwischen all dem lauten Hass, mit dem er sich so gern Gehör verschafft. Und darum geht es in Mama Odessa natürlich auch, um den Erzähler selbst. Wie er zum Schriftsteller wurde und wie er sich mit Hass und mit dem bösen Blick wappnete, um am Ende nicht ebenso verletzlich und verletzt und lebensverunsichert zu werden, wie seine Mutter es war. Eigentlich könnte der Roman auch »Der Auftrag« heißen, denn es ist die Geschichte eines Sohnes, der von seiner Mutter los­ geschickt wird, um zu schreiben, das Leben schreibend zu bestehen und eine Wahrheit in die Welt zu bringen. Besonders herzlich be­ geistert ist sie von einer Geschichte ihres Soh­ nes, in der er besonders böse und ehrlich über seinen Vater schreibt. Mit dem seine Mutter in einem lebenslangen, nun ja, liebevollen Ehekrieg lebt. Der Vater hatte die Ge­schichte empörend gefunden. Die Mutter fand sie genial. »Du schreibst ja wie ein Teufel!«, schreibt sie ihm begeistert. Etwas empört ist sie auch, da ihr Sohn mit der Geschichte ­ihren eigenen Erzählstoff gestohlen hat. Denn die Geschichte – es geht um die frühe Ver­

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Der Auftrag Maxim Billers traumhafter Roman »Mama Odessa« – wie Rada Biller ihren Sohn zum Schriftsteller machte VON VOLK ER W EIDER M A N N

Maxim Biller im Berliner Café Einstein in Berlin-Mitte 2020. Und oben im Bild: Seine Mutter Rada Biller (1930-2019) auf einem undatieren Foto

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Fotos: Anna Weise (o.); Julia Steinigeweg

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giftung ihres Mannes durch den russischen Geheimdienst, eine langfristig wirkende Vergiftung, die möglicherweise in Wahrheit sie treffen sollte – wollte eigentlich sie selber schreiben. Aber die Radikalität und Schonungslosigkeit und Ehrlichkeit, mit der sie ihr Sohn geschrieben hatte, gefiel ihr ausgezeichnet. »Wie der Teufel!« So musste man schreiben. Aber nächstes Mal bitte nicht wieder gestohlene Geschichten. Sondern die eigenen: »›Schreib lieber mehr über dich selbst‹, sagte sie, ›schreib über deine Kindheit in Odessa. Dann begreife ich vielleicht, warum du so bist, wie du bist.‹« Das ist ihre erste Hoffnung. Und die zweite? »Und vielleicht wirst du danach sogar ein bisschen freundlicher zu uns allen sein. Und auch nicht so ein Egoist.« In Mama Odessa, diesem unglaublich schönen, manchmal auch rätselhaften, verschachtelten und offenherzigen Roman, lernen wir einen ebensolchen freundlichen und unegoistischen und mitfühlenden Erzähler kennen. Wie Maxim Biller die Geschichte dieser Mutter erzählt, die sich früh mit Büchern umstellte, schon im Krieg, in höchster Not und Lebensangst, in einer Art fliehender Bibliothek ihre liebsten Bücher der Weltliteratur an andere Kinder verschenkte. Wie sie später in Deutschland vor dem Supermarkt im Auto saß und Geschichten in ein Notizheft schrieb und schrieb, ohne Mut und Hoffnung, sie jemals veröffentlicht zu sehen, wie das Lachen sie verließ, nachdem ihre Kinder ausgezogen waren, diese ganze Einsamkeit und Liebe und Rückwärts-Sehnsucht dieser starken und ängstlichen Frau, ihr ganzes ungelebtes Leben – das ist anrührend und wahrhaftig und traurig. Die Mutter im Roman weiß auch, dass ihr Sohn viel besser gewappnet ist für den öffentlichen Kampf, den das Schreiben und das Veröffentlichen auch bedeutet. »Ich selbst habe nie dein Selbstbewusstsein gehabt. Darum weiß ich auch, dass es ein großes Geschenk ist, wenn man sich nicht vor den anderen und ihrem bösen Blick fürchtet.« Auch davon erzählt dieses Buch. Wie der Erzähler sich diesen bösen Blick antrainierte, nachdem deutsche Jungs, die er zu einer Silvesterparty zu sich nach Hause in die elterliche Wohnung nach Hamburg eingeladen hatte, die Wohnung zertrümmerten. Und er danach in seinem Zimmer lag und weinte. Als seine Mutter, die mit ihrem Mann auswärts gefeiert hatte, zurückkam kam und ihn fand und er sie fragte: »›Mama, was ist passiert? Warum haben die das gemacht?‹« Und da diese Ge-

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schichte vielleicht ein wenig rührselig ist, lässt der Erzähler von Mama Odessa diese Geschichte seine Mutter erzählen. Es sind immer wieder kursiv eingeschobene Seiten im Buch, auf denen die Mutter erzählt. Das sind jedoch offensichtlich nicht Erzählungen Rada Billers. Sondern umgeformte Geschichten von ihr, von Maxim Biller neu erzählt. Das ist übrigens nicht nur philologisch interessant, wie Maxim Biller Geschichten seiner Mutter fort- und umschreibt. Die Geschichte der frühen, in die Welt verstreuten Bibliothek zum Beispiel hat sie schon in ihrem Debütroman Melonenschale veröffentlicht. Ihr Sohn greift sie auf, schreibt sie fort. Der Erzählfaden der Familientradition. Wie der Erzähler selbst auf die Erzählung der Mutter von der Silvesternacht reagierte, schreibt er wieder selbst: »Aber sie hatte nicht erwähnt – oder absichtlich weggelassen –, dass ich, ›der Sohn‹ aus der Geschichte, wegen der fürchterlichen Neujahrsparty den meisten Menschen in meinem neuen Land nie mehr wirklich getraut habe, auch wenn das vielleicht ungerecht war.« Und statt mit Muskeln und Waffen hat sich der Junge aus der Geschichte dann mit der neuen Sprache munitioniert, um sich zu wehren. Die anderen Jungs hätten ihn so lange »wie einen Hasen« über den Pausenhof gejagt, »bis ich so gut Deutsch konnte, dass sie Angst vor mir und meinen Beleidigungen hatten«. Der Trick funktioniert ein ganzes Leben lang. Seine Mutter, die in der Erzählung und auch die Rada Biller, deren fantastische Geschichten wir kennen, hatte sich für einen anderen Weg entschieden. Fürs Fliegen. So, wie sie es in Der Flug beschrieben hat: »Beim Fliegen benahm es ihr den Atem, aber nicht unangenehm – Angst hatte sie keine. Denn sie flog nicht hoch, und es gefiel ihr, von oben auf alles herabzublicken.« In dieser Geschichte hat Rada Biller über beides geschrieben: über das Schreiben. Und über das Sterben. In Mama Odessa hat sie nur einen Wunsch an ihren Sohn, den sie einst losgeschickt hat, die Wahrheit zu schreiben und sich nicht zu fürchten: »›Versprich mir, dass du bei mir bist, wenn es so weit ist. Bitte!‹«

Maxim Biller: Mama Odessa Roman; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023; 240 S., 24,– €, als E-Book 19,99 €

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LESENSWERT

SPIEGEL-BESTSELLERAUTORIN EVA VÖLLER HELLE TAGE, DUNKLE SCHULD Ruhrgebiet, 1948. Der Kriminalbeamte Carl Bruns arbeitet für die Abteilung Kapitalverbrechen im Essener Polizeipräsidium. Als die Mutter eines flüchtigen SS-Verbrechers tot aufgefunden wird, erfährt Carl von einer grauenvollen Bluttat, die sich gegen Kriegsende ereignet hat. Als weitere Morde geschehen, gerät nicht nur er selbst ins Fadenkreuz des Täters, sondern auch die Frau, die er liebt. Droemer Verlag, Kriminalroman, 400 Seiten, ISBN 978-3-426-30944-5, Paperback € 16,99

HEIKE BUCHTER WER WIRD MILLIARDÄR? Unser Finanzsystem ist ihre Geldmaschine, unsere Arbeit ist ihr Spielball, unser Land ist ihr Rohstofflager, unsere Umweltschäden sind ihr Profit: Die Milliardäre der Welt bekommen immer mehr Geld und immer mehr Macht. Wall-Street-Korrespondentin Heike Buchter stellt die relevanten Akteure vor. Campus Verlag, Hardcover gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3-59351-793-3, € 28

DARON ACEMOGLU, SIMON JOHNSON MACHT UND FORTSCHRITT Im Laufe der Geschichte wurde der technologische Wandel stets als Haupttriebkraft für das Gemeinwohl angesehen. Doch die Technologie verhilft vor allem den Mächtigen zu noch mehr Reichtum und Einfluss. Acemoglu und Johnson zeigen, wie echter Fortschritt, wie gerechtere Innovation gelingen kann. Campus Verlag, Hardcover gebunden, 560 Seiten, ISBN 978-3-593-51794-0, € 34


Eine Begegnung mit dem russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew, der nach Berlin emigrieren musste und nun in einem epochalen Roman mit Putin abrechnet VON IJOMA MANGOLD

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enige Wochen nachdem im Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, packte der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew seine Koffer. Zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern stieg er ins Auto, fuhr von Moskau über St. Petersburg zur finnischen Grenze, von Finnland nach Estland (wo er, um keine Feindseligkeiten auf sich zu ziehen, einen Aufkleber mit den Farben der Ukraine auf das Heck des Autos klebte) und von dort weiter durch Polen nach Deutschland. Überraschend daran ist e­ igentlich weniger, dass Jerofejew Russland den Rücken kehrte, sondern wie spät er das tat, denn ein prominenter Putin-Kritiker war er schon lange. 2011 entzog das staatliche Fernsehen ihm seine populäre Talkshow Apokryph – und wie das Re­ gime mit Gegnern umgeht, konnte Jerofejew am Beispiel seines Freundes Boris Nemzow beobachten, dem einzigen ernst zu nehmenden Putin-Herausforderer aus dem liberalen Lager, der 2015 auf der Großen Moskwa-Brücke in Sichtweite des Kreml durch vier Schüsse in Rücken und Hinterkopf ermordet wurde.

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Doch Jerofejew ist kein Feigling. Das war er noch nie. 1947 in Moskau geboren, war er einer der Herausgeber des Almanachs Metropol, der 1979 in der Bresch­new-­Ä ra dissidentische Schriftsteller-Stimmen versammelte. Das Politbüro empfand die Publikation damals als ungeheure Provokation und schloss den jungen Jerofejew aus dem Schriftstellerverband aus. Weil er einer Kaderfamilie entstammte, vollstreckte die Partei das Prinzip Sippenhaft, und Jerofejews Vater verlor seinen Posten als UN-Gesandter der Sow­jet­union. Die nächsten zehn Jahre schrieb Jerofejew für die Schublade. Erst mit Gor­ ba­ tschows Perestroika kam seine große Stunde: Mit dem Roman Moskauer Schönheit gelang ihm 1990 ein Welterfolg. Nun war er ein gefragter Mann. Er gab erstmals auf Russisch die Romane Nabokovs heraus, er schrieb für den New Yorker, traf Arthur Miller und Susan Sontag, galt zwischenzeitlich als neuer Joseph Brodsky und erhielt in den USA Lehraufträge. Stets kehrte er aber nach Russland zurück. Wenn man jetzt Viktor Jerofejews jüngsten Roman Der Große Gopnik liest, fragt man sich, wie sein Schicksal wohl ohne den Krieg gegen die Ukraine ausgesehen hätte: Wäre er dann

weiter in Moskau geblieben, obwohl sein Roman eine große, virtuose, phantasmagorische Abrechnung mit Wladimir Putin ist? Schwer vorstellbar – aber vieles in Jerofejews Leben, das immer schrill, kühn und gefährlich war, ist für die behagliche Raumtemperatur des Westens nur schwer vorstellbar. Behaglich präsentiert sich hingegen der Prenzlauer Berg in Berlin in diesen Spätsommertagen, vom warmen Licht der Septembersonne durchdrungen. Hier wohnt Jerofejew seit einem Jahr (seine jüngere Tochter besucht die französischsprachige Schule). Irgendwie kommt er einem zwischen Lastenrädern, Naturwein-Läden und den Bistro-Tischchen vor den Cafés wie ein gestrandeter Wal, wie ein Ozean­damp­fer im Trockendock vor: Noch eindrucksvoll, aber irgendwie kriegt die gewaltige Schiffsschraube gar kein Wasser zu greifen. Auch wir nehmen an einem kleinen Bistro-­ Tisch Platz. »Mein eigentlicher Plan war es«, erzählt Jerofejew, »das Buch zu veröffentlichen und weiter in Russland zu bleiben. Aber der Krieg hat nicht nur meine Pläne geändert, sondern auch den Roman selbst.« Das Problem für einen zeitgenössischen russischen Schriftsteller lässt sich leicht um-

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Fotos: Tobias Kruse/Ostkreuz für ZEIT Literatur

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Er schert sich einen Dreck um nichts


Beim Fototermin in Berlin-Prenzlauer Berg hat Viktor Jerofejew, 76, sein Hemd geöffnet. Die Botschaft versteht sich von selbst

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»Und der Große Gopnik hat einen Traum. Er ist jetzt schon viele Jahre Präsident, aber der Freund, der einzige Freund, er kommt nicht«

BELLETRISTIK

V IK TOR JEROFEJEW

reißen: Immer überbietet die Wirklichkeit die wildesten Ausgeburten der Fantasie. Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen. Einmal heißt es im Großen Gopnik: »Das Leben in Russland ist einfach stärker geworden als jede Kunst.« Der Roman erzählt von Russland als ­einem Land, in dem sich alles zyklisch wiederholt, eine ewige Wiederkehr des Grauens und der Tyrannei, von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis Putin. Der Roman erzählt von einem Land, das sich dieser Geschichtslosigkeit, diesem Fatalismus der ewigen Wiederkehr als der eigentlichen Mystik seiner Nationalseele wohlig ergeben hat: »Die Obrigkeit ist für das Volk etwas Unausweichliches, das sakrale Böse, mit dem man sich abfinden muss«, heißt es im Großen Gopnik. Jerofejew hat sich inzwischen einen frisch gepressten Orangensaft bestellt. Er – ursprünglich der Typ existenzialistischer Playboy – deutet an, dass er ja eigentlich auf der Seite des wüsten Lebens steht (und die Sehnsucht in seinen Augen verrät, dass er weiß, wovon er spricht), aber zuletzt ging es ihm gesundheitlich nicht so gut, er hat einen Krankenhausaufenthalt hinter sich, den man ihm zwar gar nicht ansieht, aber seither eben: Orangensaft. »Es ist«, sagt er nun mit Blick auf seine Heimat, »das Karussell der russischen Geschichte: Die Akteure ändern sich, aber es bleibt dasselbe Karussell.« Es gibt die Sowjet-Zeit, gefolgt von der »Räuber- und Banditen-Zeit« unter Jelzin, bevor dann mit dem KGBler Putin wieder wie unter Stalin eine Tschekisten-Zeit anbrach – aber stets ist es dasselbe Russland. Und weil kein Ende dieses Karussells in Aussicht steht, rechnet Jerofejew auch nicht damit, je in die Heimat zurückzukehren – was ihn ersichtlich schmerzt. Es gibt eine Szene im Großen Gopnik, die von einem Oberst der Weißen Garden erzählt, der nach der Oktoberrevolution verbittert im Pariser Exil lebt und jeden Morgen nach draußen zum Kiosk stürzt, weil er hofft, in der Exilzeitung die Nachricht vom Ende des ganzen Spuks zu lesen: »Und dann plötzlich, ich eile eines Tages wieder zum Kiosk und – was für ein Moment des Glücks: Lenin ist tot! Ohne ihn wird die Sowjetmacht keine Woche überleben.« Doch wir wissen, was nach Lenin kam. Und sogleich muss der Leser natürlich an Prigoschin denken, bei dem es für einen Augenblick so aussah, als könne er auf Putin folgen.

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In Der Große Gopnik schreibt Jerofejew: »Eine schrille Existenz ist nur in Russland möglich.« Wer Jerofejews neuen Roman liest, einen Meilenstein der russischen Literatur, der begreift, dass das Schrille nicht so sehr aus der Literatur und ihren Fieberträumen kommt, sondern direkt aus der Wirklichkeit, die wie eine gewaltige Ozeanwelle in dieses Buch kracht. Alles, was seit der Oktoberrevolution passiert ist, hallt hier wie in einer Echokammer wider, und als Leser erscheinen einem die Geschichtssplitter, aus denen sich der Roman zusammensetzt, extrem unwahrscheinlich – bis man zu googeln anfängt und feststellen muss, dass so gut wie nichts davon Fiktion ist. Der Große Gopnik ist ein Putin-Roman, aber Jerofejew nennt ihn nie beim Namen, immer nur: »der Große Gopnik«. So nennt man im Russischen einen Hinterhof-Schläger, und aus solch einer ehemals Leningrader Hooligan-Szene ist Wladimir Putin hervorgegangen, ähnlich wie sein langjähriger Weggefährte und späterer Gegenspieler Prigoschin. Um Russland zu verstehen, muss man dieses Gopniktum verstehen. Kurz nach Putins Machtantritt initiierten die regierungstreue Jugendorganisation »Die gemeinsam Gehenden« eine Art BuchPogrom: Rechtschaffene Bürger wurden aufgerufen, Bücher von unpatriotischen Autoren wie Jerofejew gegen sittlich wertvolle Literatur einzutauschen. Damals schrieb Jerofejew einen Brief an Putin, in dem er sich diese Art der Behandlung verbat. Natürlich hat dieser nie geantwortet. Doch 2005 ist Russland Gastland auf dem Salon du Livre in Paris. Gerade ist Jerofejews Roman Der gute Stalin erschienen, wieder ein Welterfolg, weshalb es sich Frankreichs Präsident ­Jacques Chirac nicht nehmen lässt, Jerofejew zusammen mit anderen russischen Schriftstellern in den Élysée-Palast einzuladen. Er will sich mit dem berühmten Schriftsteller zeigen. So ist das übrigens oft: Bei den Ereignissen, die Jerofejew in seinem Leben zustoßen, hat man immer den Eindruck, dass sich die Weltgeschichte auch noch schnell mit aufs Foto drängen will. Zurück zum Élysée-­Palast. Plötzlich heißt es: Putin kommt ebenfalls. Kurz ist das Protokoll versucht, die versammelten Schriftsteller in einer Reihe aufzustellen, dann dämmert denen, dass sie Franzosen sind

und Frankreich mit Schriftstellern so nicht umgeht. Also dürfen die Schriftsteller weiter in lockeren Grüppchen zusammenstehen. Auftritt: der Große Gopnik. Es beginnt ein Ballett der Blicke und Machtgesten, des Ignorierens und Umwerbens wie unter Pubertierenden auf dem Schulhof. Sofort hat man Putin leibhaftig vor Augen: »Er stellte sich breitbeinig hin, versteckte die Hände hinter dem Rücken und sah aus wie sein eigener Leibwächter.« Er wirft Jerofejew einen Blick zu, als wollte er ihn damit zu Boden werfen, »so wie Halbstarke mit den Fingern den Rotz aus der Nase wegschleudern«. Doch nachdem der französische Präsident mit Jerofejew geplaudert und sein Buch vor allen Gästen in den höchsten Tönen gerühmt hat, überlegt es sich der Große Gopnik anders und wendet sich ebenfalls Jerofejew zu. Warum er französisch mit dem Präsidenten gesprochen habe, will er mürrisch wissen. Dann schlägt er ihm vor, ihm doch mal wieder einen Brief zu schreiben: »Nein, gegenseitiges Einverständnis wollte er nicht, er wollte mehr, er warb mich an: Er wollte mich als Komplizen anheuern, denn ich stand ja mit dem Präsidenten Frankreichs auf gutem Fuß, und nützlich für ihn wäre gar nicht einmal ein Hofschriftsteller gewesen, sondern ein Staatsschriftsteller, der durch die internationale Arena jetten könnte, so wie jener Dirigent (ein klasse Dirigent übrigens!)« – womit natürlich der ehemalige Chefdirigent der Münchner Philharmoniker und Putin-Freund Valery Gergiev gemeint ist. Jerofejew wird diesen Brief nicht schreiben, aber sein Verhältnis zur Macht ist interessant, denn es erschöpft sich nicht in dem betulichen Gegensatz von Geist und Macht. Jerofejew ist immer ein Widersacher, aber einer, der die Macht nicht nur vom Hörensagen kennt, sondern von klein auf intimen Umgang mit ihr pflegt. Die Geschichte Russlands ist Fleisch von seinem Fleische. Das hängt mit seinem Elternhaus zusammen. Sein Vater war – davon erzählt Der gute Stalin – der persönliche Dolmetscher Stalins. Nach dessen Tod avancierte er unter Chru­ schtschow zum Kulturattaché an der russischen Botschaft in Paris, weshalb Jerofejew dort einige Jahre seiner Kindheit verbrachte. Zu den vielen unnachahmlichen Szenen des Großen Gopnik zählt die Erinnerung an Molotow. Der Zufall will es, dass Molotows

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Garten an den der Jerofejews grenzte. Der ehemalige Außenminister Stalins war inzwischen in Ungnade gefallen und lebt auf seiner Datsche in der Nähe Moskaus. Viktor, damals Teenager, besitzt ein Transistorgerät. Immer in der Abenddämmerung trifft er sich mit Molotow, und sie hören zusammen Die Stimme Amerikas. Einmal ist in diesen Nachrichten die Rede davon, dass Studenten der Universität Beirut die Polizei mit Molotowcocktails beworfen hätten. Viktor fragt Onkel Slawa, so nennt er Molotow, was das sei: »Sein zurückhaltendes, provinzielles Lächeln hatte etwas Katzenhaftes, ungreifbar Angewidertes, als ob gerade jemand ein Stück Scheiße vorbeigetragen hätte. Er drehte sich leicht zu mir, winkte mit einer fließenden Handbewegung ab und brachte heraus: ›Ach, dummes Zeug ist das!‹« Dieser Roman ist poetische Epiphanie und Realsatire zugleich, die einzig angemessene literarische Form, um ein Land zu fassen, dessen politischen Grundmodus Jerofejew treffend »magischen Totalitarismus« nennt. Stawrogin heißt, nach einer berühmten Dostojewski-Figur aus den Dämonen, in diesem Roman ein einflussreicher Minister im Kreml, bei dem der Erzähler antichambriert: Er will seiner Schwester O. den Arsch retten, die als Kunst-Kuratorin von Pornografie be-

sessen ist und eine Ausstellung kuratiert hat, in der Russland als wollüstiger Porno imaginiert wird. Stawrogin schreibt selber Gedichte, und er deutet an, wenn Jerofejew seinen Gedichtband rezensieren würde, könnte er seinen Einfluss geltend machen. Denn sosehr dieses Russland vom »Stalinovirus« befallen ist, so sehr ist es zugleich auch stets berauscht von der Schönheit der Literatur – das muss man irgendwie immer zusammendenken: In Russland glaubt man mehr an Puschkin als an die Menschenrechte. »Sie sind natürlich ein Liberaler«, sagt Stawrogin einmal zu Jerofejew und fügt hinzu: »Aber Sie sind ein irgendwie merkwürdiger Liberaler.« – »Gestatten, ich bin ein Schüler des Marquis de S­ ade«, antwortet dieser bescheiden. Es ist dieser amoralistische Überschuss in Jerofejews Temperament, der dafür sorgt, dass der Große Gopnik auch kein Hohelied auf den aktuellen progressiven Liberalismus des Westens und seine w ­ oken Gesinnungsartigkeiten singt. O., mit der der Erzähler eine komplizierte Inzestbeziehung pflegt und die eine der wenigen wirklich fiktiven Figuren des Buchs ist, sagt einmal mit irgendwie tiefer Befriedigung: »... im Sex gibt es keine Gleichberechtigung. Da kann man sich auf den Kopf stellen.«

Dieser Roman ist in jeder Hinsicht politisch inkorrekt – und vielleicht muss man, als Schüler de ­Sades, sich selbst gegenüber den eigenen Genuss am Sadismus eingestehen, um dort, wo es darauf ankommt, unkorrumpierbar zu bleiben. Im Roman sagt der Erzähler jedenfalls: »Die Moralisten halten mich für einen Pornografen, die Pornografen für einen Ästheten, die Ästheten für einen Existentialisten, die Existentialisten für einen Hedonisten, und die Hedonisten für einen Moralisten.« Während wir Orangensaft in Prenzlauer Berg trinken, kommen wir noch einmal auf Nabokov zu sprechen, der Dostojewski verachtete, weil er ihn für einen miserablen Stilisten hielt. Das sieht Jerofejew anders: Dostojewski sei großartig, auch stilistisch, er sei voller Energie und schere sich einen Dreck um nichts. Sich einen Dreck um nichts zu scheren, das ist Viktor Jerofejews Vorstellung von Freiheit. Viktor Jerofejew: Der Große Gopnik Roman; aus dem Russischen von Beate Rausch; Matthes & Seitz, Berlin 2023; 614 S., 28,– €, als E-Book 20,99 €

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Eine imposante Seele 800 Verehrer erpuzzeln einen Dichter: Zum langsam nahenden Todestag Rainer Maria Rilkes erscheinen schon die ersten Jubiläumsbücher. Auch drei Bände mit Berichten seiner Zeitgenossen

BELLETRISTIK

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ls Rilke gemeinfrei wurde, 1996, hatte Suhrkamp im Vorfeld schnell noch mal ganz viel Rilke hervor­ gewuchtet. Jetzt ward er neu gepusht, im Rilke Projekt, unterlegt mit Harfenspiel und Percussion, eingepökelt in Studioalben, Doppel-CDs, sahnig umdudelt: preisgekrönt (Goldstatus!), Konzertreihen, Edel-Content, Events, Charts. Im Wallstein Verlag läuft eine historisch-kritische Ausgabe an, 26 Bände, beginnend mit den Duineser Elegien. Die Nachricht von der Millio­ nensumme, die neulich für den RilkeNachlass heimlich über den Laden­ tisch des Deutschen Literaturarchivs in Marbach ging, sickerte vielleicht schon durch. Jetzt erscheint schon mal ein weite­ rer Meilenstein: Rilke-Experten trugen Zeugnisse von rund 800 Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zusammen, ent­ legene Quellen, multifon, polyglott, imposant, allumfassend, ein Stimmen­ konzert, ein Gigantpanorama, das zurückzutauchen ermöglicht ins Per­ sonalgetümmel abgesunkener Gefilde und Gefühle, berauschend, bodenlos. 800 Namen fahren nah an Rilkes Aura heran, puzzeln einen Dichter zum An­ fassen zusammen, wenigstens zum An­ gucken – nein: Anschauen. 800 Geister formulieren auffallend druckreif, und siehe, Berühmte schreiben oft nicht lebendiger als bis dato Ungedruckte. Dieser Chorus aus Rilke-Claqueu­ ren wird sanft getragen von Empathie. Im Wohlfühl-Bassin ihrer hochkarätigen Dauer-Laudatio kann Rilke sich gesund ba­ den, das Seelchen erholen von den Tiefschlä­ gen, die Gottfried Benn, Adorno und viele andere ihm grausam versetzten, als sie seine Gebilde »kunstgewerblich« oder »Niveau­ schund« schalten. Als ihn noch keiner kannte, nahm man am belächelbaren Dichterling vor allem Akne und Mundgeruch wahr; als »Serafico« (so taufte ihn die Fürstin Thurn und Taxis) hin­

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gegen schwoll das »Rilkelein« (so nannte ihn der Freund und Schriftsteller Rudolf Kassner) namhaft auf, bis hinauf zu Robert Musil, der befand: Rilke sei der größte Lyriker der Deut­ schen seit dem Mittelalter. Viele stolperten über Rilkes »schwächlich fliehendes Kinn«; andere drückten es huma­ ner aus: »ein wenig fliehend«. »Lila Augen­

Der Natur in Maßen zugetan: Rilke im Alter von 44 Jahren lider« und ein »durstiger Mund« wurden für die Nachwelt festgehalten. Fast jede Hingu­ ckerin blieb erst einmal am Schnurrbart hän­ gen. Der Dichter wurde sogar wacker befragt, warum er diesen Seehundsbart trage. Kaum eine fand ihn schön, doch traf sie sein Blick, dann gossen hellblaue Augen Licht über das übrige Gesicht. Rilkes Handschrift wurde als wunder­ bar empfunden, obwohl sich’s eigentlich um Zierschrift handelte. Die 800 Zeitzeugen und

Zeitzeuginnen weben am Mythos von Rilkes vorgeblicher Weltabgeschiedenheit, mitten im großen Lärm, von dem die Dinge zittern. Sei­ ne Einsamkeit nannte er selbst bereits »groß«, wenn er bloß stundenlang keinem begegnete. Sieben Frauen, mindestens, wetteiferten darin, ihm viel näher gestanden zu haben als die anderen sechs. Wenn die Damenwelt ihn mondän zuquasselte, konnte er nur noch stammeln: »Ja, gewiss doch, Fürs­ tin ...« Hochadels Darling kam ihnen entgegen, kontaktsüchtig wie sie. Er schickte dann das wartende Taxi heim, blieb zum Plausch bis ins Morgengrau­ en, zwölf Stunden am Stück. Einerseits musste er sich auf eine Liebesnacht vier Tage lang vorbereiten; anderseits sprach er von tausend vergessenen Lie­ besnächten. Einerseits lamentierte er, ganztägig würde das Telefon klingeln, stellte es aber nie ab. Seine Briefwech­ sel, klagte er, fräßen ihn auf. Seine leibliche Hülle schien nicht immer zu ihm zu passen, so wenig wie die Welt, abgesehen von Russ­ land, das er idealisierte. Doch in seiner Klei­ derwahl zeigte sich eine große Stimmigkeit. Rilkes Gewan­ dung wurde öfter beschrieben als seine Speisen – hellgrauer Filzhut, Gamaschen, rehlederne Handschuhe. Zwischen lichtgrauen Handschuhen fielen seine flieder­farbenen auf. Max Pulver fand Rilkes Schuhe zu gelb. Die Braue möchte man heben, maliziös, wenn Marie von Thurn und Taxis, statt inhaltlich auf die Duineser Elegien einzugehen, bloß das Schränk­ chen beschreibt, worein sie das Auto­ graphium legte. Rilke zeigte seinerseits ein Gespür für Blumenarrangements. Auch wenn Gas- und Lichtrechnungen ihn bedrängten, stellte der Poet Parmaveilchen auf. Man wandelte gediegen durch Alleen. Man trank im Hofgarten unter ur­a lten Kas­ tanien. Man sah und traf ihn nicht und aß nicht; man gewahrte ihn, durfte ihm be­ gegnen und dinierte. Seine Leibspeise wa­ ren Borschtsch und Topfgrütze. Jede Ein­ bahnstraße hieß Boulevard, jede Sackgasse

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Foto: BD

VON U L R ICH HOLBEI N


­ venue. In seinem Adressbuch standen NaA men wie Nimet Eloui Bey, Cella Delavrancea, Guy de Pourtalès, Monique Saint-Hélier, Adelmina Romanelli, ­Adèle Abruzzesi, Marina Zwetajewa und Valentine Zuloago. Nur in Ausnahmefällen gab es mal eine Hedda Sauer, einen Egon Petri, Hans Leip, Hanns Buchli oder Fritz Klatt. Seine Schmeichlerinnen teilten seinen kostbaren Duktus. Sie tickten, nein, resonierten wie er. Alle rühmten in höchsten Tönen seinen hohen Ton, priesen ihn »unnachahmlich«, obwohl sie in demselben preziösen Sound schwammen, in sanfter Gesellschaftschicht, worin sie alle gemeinsam so feinfühlig wie möglich festhingen, nein: sich ergingen, fern vom Weltgetümmel, eingehüllt in den Mantel der Nacht, herausgehoben aus banaler Wirklichkeit in einen Traum von Schönheit. Um Komplimente zu fischen, musste Rilke auch die Wohlfühllyrik seiner Mitstreiterinnen ästimieren. Nahezu jeder in diesen drei Bänden scheint Chefredaktor, Privatgelehrter, Essayist oder Kunstschriftsteller aus baltischem Adelsgeschlecht gewesen zu sein. Dabei muss jene Epoche doch randvoll gewesen sein mit Untertanen, Schiffsköchen, Bahnwärtern à la Diederich Heßling, Bene-

dikt Grünlich, Klöterjahn & Thiel. Diese Bagage blieb geschlossen draußen vor der Tür solch exquisiter Komfortzonen. Jene, die den »grazilen Mystiker« affektiert fanden, sind in der Minderheit. Termini wie Softie, Memme, Nulpe, Sensibelchen kamen noch nicht in Sicht im Schonraum des Fin de Siècle und der Golden Twenties. Nirgendwo im pastellfarbenen Weltreich erdreisteten sich Häme, Mobbing oder Shit­storm, holzschnittartig herumzupöbeln. Wohl denen, die solcher Ungehobeltheit via Überkultiviertheit illusorisch auszuweichen vermochten! Georg Heym allerdings nannte Rilke »Spatz mit Pfauenfedern«. Und Walter Benjamin setzte noch eins drauf und sprach von Rilkes »verwesender Innerlichkeit«. Bekommt die supersanfte Gebärdung denn nirgendwo Risse, im Porzellan des Abends? Selbst im Automobilstau behielt Rilke Contenance. Einmal aber, als ihm die gute Regina Ullmann ein Gedicht kredenzte, worin sie Rilke-Lyrik-Accessoires kongenial nachempfand, zerriss er’s unsanft: »Tun Sie das nie wieder, verstehen Sie: nie wieder!« Gedichte von Alexander Lernet-Holenia und vielen anderen hingegen fand er, obwohl ihm auch dort sein eigener Tonfall penetrant entgegenschlug, unwiderstehlich.

Gerühmt an ihm ward, dass er nie über andere Menschen ablästerte. Selbst denen, die ihn schmähten, zollte er Respekt, nannte Karl Kraus allenfalls eine Rasierklinge. Manche betonten mit Kloß im Hals, er habe durchaus Humor besessen – als Mensch. Der Rilke dieser drei Bände lässt bisherige Rilke-Bilder nicht wanken, pellt sich aber postum überdeutlicher denn je hervor, lebendiger als zuvor. Aus En ­face plus Nachlasskonvoluten werden neue Editionen hervorsprießen, vielleicht eine Phänomenologie des Kitsches. Gute Menschen werden Rilke Achtsamkeit attestieren, böse Hirne sich über Seelenschmalz mokieren. Schon jetzt steht seinem Weltruhm nichts mehr im Weg. Wie wird er solch Auferstehung verkraften?

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VOR WELCHEN BRÜCHEN UND UMBRÜCHEN STEHEN WIR? HERFRIED MÜNKLER, M ÜNKLER,, EINER E INER DER D ER WICHTIGSTEN W ICHTIGSTEN ZEITDIAGN Z EITDIAGNOSTIKER, NOSTIKER, ÜBER DIE WELTORDNUNG DES 21.. JAHRHUNDERTS.

Curdin Ebneter/ Erich Unglaub (Hrsg.): Erinnerungen an Rainer Maria Rilke En face – Texte von Augenzeugen; Nimbus, Zürich 2022; 1450 S., 98,– € Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien und zugehörige Gedichte 1912–1922; Hrsg. v. Christoph König; Wallstein, Göttingen 2023; 494 S., 39,– €


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Über diese Bücher wird gerade geredet und gestritten. Mit dieser

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Charlotte Gneuß: Gittersee Plastiktüte statt Plastebeutel – solche Ungenauigkeiten hat der Schriftsteller Ingo Schulze im ostdeutschen Zeitkolorit dieses Debütromans per Fernlektorat moniert. Skandal! S. Fischer, 22,– €

Philipp Oehmke: Schönwald Wie geht man mit historischer Schuld um? Die Familie Schönwald zeigt, wie es nicht funktioniert. Ein gnaden­ loser Roman über die lähmende Kraft des schlechten Gewissens. Piper, 26,– €

Daniel Kehlmann: Lichtspiel Die eigenen Überzeugungen opfern, um Kunst machen zu dürfen? Der Regisseur G. W. Pabst ließ sich von den Nazis verführen. Kehlmann erzählt es abgründig nach. Rowohlt, 26,– €

Ferdinand von Schirach: Regen Es wurde beklagt, dass »Regen« nur aus einer etwa 50-seitigen Erzählung und einem Interview mit dem Autor besteht. Liegt nicht auch hier die Kürze in der Würze? Und wenn ja, wie viele? Luchterhand, 20,– €

Sylvie Schenk: Maman Das literarische Thema der »Biografie der eigenen Eltern« liegt momentan im Trend. Das Alleinstellungsmerkmal dieses Mutter-Romans: Die Quelle wird immer wieder bezweifelt. Hanser, 22,– €

Necati Öziri: Vatermal Zu den faszinierendsten Strömungen der deutschen Gegenwart zählt die postmigrantische Literatur. Der ideale Einstieg ist diese bewegende Familiengeschichte. Claassen, 25,– €

Terézia Mora: Muna Wenn Liebe zur Abhängigkeit wird: Magnus ist gewalttätig, Muna bleibt trotzdem bei ihm. Bis er eines Tages stirbt – und ihr klar wird, die Hälfte ihres Lebens verloren zu haben. Luchterhand, 25,– € Walter Moers: Die Insel der Tausend Leuchttürme Der Vater von Käpt’n Blaubär meldet sich mit einem neuen Buch zurück. Abermals geht’s maritim zu, Seeungeheuer und andere Fabelwesen inklusive. Penguin, 42,– €

Tess Gunty: Der Kaninchenstall Jeder spricht über diesen Debütroman, für den Gunty als jüngste Autorin seit Philip Roth den National Book Award erhalten hat. Bitte nicht nur drüber reden, sondern lesen! Kiepenheuer & Witsch, 25,– € Elena Fischer: Paradise Garden Die Geschichte der 14-jährigen Billie, die sich nach dem Tod ihrer Mutter im Nissan auf eine Heldenreise macht, hat die Best­seller­liste gestürmt und die Kritiker glücklich gemacht. Diogenes, 23,– €

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Britney Spears: The Woman in Me Trennung nach einem Jahr Ehe, der halbgare Versuch, mit Elton John einen guten Song herauszubringen. Wird uns Britney Spears verraten, was gegen Probleme hilft? Penguin, 25,– €

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Harald Welzer: Zeiten Ende Wer Frust über die Bahn, den Zustand von Kliniken oder die Verwaltung schiebt, fühlt sich mit diesem Buch pudelwohl. Spoiler: Schuld sind Medien, Politiker und der Kapitalismus. S. Fischer, 24,– €

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III Selbst Sloterdijks Gegner geben im Stillen zu, dass er immerhin der größte deutsche Stilist seit Klopstock sei. Nun erscheinen seine Notizen 2013 bis 2016. Suhrkamp, 34,– €

Sophie Passmann: Pick me Girls Ist das Begehrtwerden die höchste Währung der Frau? Und ist das bei Männern echt anders? Und wer sind überhaupt diese Pick me Girls? Ein Buch mit Antworten. Kiepenheuer & Witsch, 22,– €

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Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten Wurde Russland bei der Nato-Osterweiterung übers Ohr gehauen? Ist der Westen an allem schuld? Hier wird fachkundig aufgeklärt. C. H. Beck, 28,– € Herfried Münkler: Welt in Aufruhr Der bekannte Politologe blickt scharf in die Glaskugel: Wie wird unsere geopolitische Zukunft aussehen? Wie wird sich Russland entwickeln, wie China? Und Klein-Europa? Rowohlt, 30,– €

SACHBUCH

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Illustration: Lisa Carpagnano für ZEIT Literatur

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FRANKFURTER BUCHMESSE 2023 Veranstaltungsprogramm Halle 3.1 · Stand E53

Ausgewählte Gespräche finden Sie im Nachgang auf ZEIT ONLINE

Mittwoch · 18. Oktober 14.00 Uhr Axel Scheffler und Jens Jessen »Tierleben. Oder: Was sucht der Mensch in der Schöpfung?« und »Jims brillante Weihnachten« 15.30 Uhr Herfried Münkler »Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert« Moderation: Alexander Cammann 16.30 Uhr Ulrike Sterblich »Drifter« Moderation: Jens Jessen

Donnerstag · 19. Oktober 11.00 Uhr Armin Nassehi »Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede« Moderation: Maja Beckers 12.00 Uhr Slavoj Žižek »Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten« Moderation: Peter Neumann 14.30 Uhr Terézia Mora »Muna oder Die Hälfte des Lebens« Moderation: Ijoma Mangold

15.30 Uhr Elena Fischer »Paradise Garden« Moderation: Debora Schnitzler

16.30 Uhr Nele Pollatschek »Kleine Probleme« Moderation: David Hugendick


Samstag · 21. Oktober Freitag · 20. Oktober 11.00 Uhr Daniel Kehlmann »Lichtspiel« Moderation: Adam Soboczynski

12.00 Uhr Georgi Gospodinov »Zeitzuflucht« Moderation: Volker Weidermann

13.00 Uhr Sophie Passmann »Pick me Girls« Moderation: Volker Weidermann

14.30 Uhr Navid Kermani »Das Alphabet bis S« Moderation: Volker Weidermann

Im Schauspiel Frankfurt 19.30 Uhr Alice Hasters »Identitätskrise« Moderation: Sascha Chaimowicz

11.00 Uhr Thomas Hettche »Sinkende Sterne« Moderation: Adam Soboczynski

13.00 Uhr Thorsten Schleif »Darf man eigentlich Zombies töten? Unverzichtbares Rechtswissen für Film- und Serienjunkies« Moderation: Katrin Hörnlein 14.00 Uhr Jeannette Walls »Vom Himmel die Sterne« Moderation: Inez Sharp

15.00 Uhr Karl Schlögel »American Matrix« Moderation: Alexander Cammann

16.00 Uhr Cornelia Funke »Tintenwelt 4. Die Farbe der Rache« Moderation: Katrin Hörnlein

17.00 Uhr Susan Neiman »Links ist nicht woke« Moderation: Elisabeth von Thadden

Sonntag · 22. Oktober

Weitere Informationen: www.zeit.de/veranstaltungen

11.30 Uhr Must reads: Best English books this autumn Inez Sharp präsentiert Buchtipps von Spotlight und Business Spotlight (auf Englisch)

Fotos: Liam Jackson, Reiner Zensen, Dorothea Tuch, Hans-Günther Kaufmann, Kai Weidemann/S. Fischer Verlag, Luchterhand, Julia Sellmann/Diogenes Verlag, Urban Zintel, Heike Steinweg, Svetla Stoyanova, Christian Werner, Peter-Andreas Hassiepen, Paula Winkler, Joachim Gern, Inga Jockel, John Taylor, Peter-Andreas Hassiepen, Michael Orth/Dressler, James Starrt, Matthieu Rouil

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S A C H B U C H

Der New Yorker Times Square in den Sechzigern

Sein schönster Kulturschock Karl Schlögel wurde vom Maoisten zum Osteuropa-Experten. Nun hat der Historiker ein faszinierendes Buch über die USA geschrieben – das Land, das er seit einer Reise in jungen Jahren bewundert VON RONALD DÜKER

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Fotos: Andreas Feininger, © Center for Creative Photography, Arizona

Außer Kakteen nicht viel los: Die amerikanische Sonora-Wüste

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merika, als klassenlose Gesellschaft betrachtet, das passt zur Pop-Philosophie von Andy Warhol. Es sei, schrieb der Künstler, das alte Europa gewesen, wo der König Hase aß und der Bauer Haferbrei; in Amerika aber konsumierten die Ärmsten jetzt das Gleiche wie die Reichsten. Zum Glück: »Du weißt, dass der Präsident ­Coke trinkt, Liz Taylor C ­ oke trinkt – und denk nur, auch du kannst ­Coke trinken.« Ein Hotdog ist ein Hotdog, und »je gleicher etwas ist«, schließt Warhol, »desto amerikanischer«. Das höchste Lob, das über Amerika gesungen wurde, war immer schon das Lob der Horizontalen. Dort solle es kein oben geben und kein unten, nur eine einzige Fläche und den ständigen ­Drive, from coast to coast. Dass die amerikanische Gesellschaft erst durch den gigantischen Raum zu verstehen ist, in dem sie entstand und in den sie sich so mühsam hineingefräst hat, das ist auch die Prämisse des neuen Buchs von Karl Schlögel. Es heißt American Matrix und dient, auf nicht weniger als 800 Seiten, der »Besichtigung einer Epoche«. Wie die gelingen kann? Offenbar nicht bloß in der stillen Gelehrten-

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kammer. Schlögel verkündet, »sich auf der Oberfläche zu bewegen, durch den Raum zu navigieren, Landschaften zu erschließen, sich auf Schauplätzen umzusehen, Zeitschichten freizulegen und sichtbar zu machen«. Damit bleibt er dem Programm seines bekanntesten Buches treu: Im Raume lesen wir die Zeit. In eleganter Bruchlosigkeit schließt der Historiker seine Vor-Ort-Beobachtungen an Lektüren vor allem solcher Autoren an, die wie er selbst von Europa aus auf Amerika blicken. Darunter – natürlich – Alexis de Tocque­ville, dessen Buch Über die Demokratie in Amerika stets als politiktheoretischer Klassiker gelesen wird, obwohl es sich eben auch um ein praktisches Unterfangen handelte; Tocque­ville war, wie vor ihm Alexander von Humboldt, ein Amerika-Reisender, der seine ­Ideen aus dem dort Erlebten entwickelte. Der Geograf Friedrich Ratzel an den Niagarafällen, Max Weber in den Schlachthöfen von Chicago, Adorno im kalifornischen Exil – mit ihnen bestaunt Schlögel die Neue Welt aus europäischen Augen oder, ein europäischer Sonderfall, aus sowjetischen. Besonders wichtig: die Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgeni Petrow. Ihr 1936, also im Jahr des großen stalinistischen Terrors, erschiene-

nes Buch Das eingeschossige Amerika war das Resultat einer dreimonatigen Grand Tour, auf der sie die USA von Ost nach West und wieder zurück durchmessen hatten. 10.000 Meilen fuhren sie mit dem Auto durch 25 Staaten und Hunderte Städte, sie querten Wüsten, Prärien und die Rocky Mountains und notierten allabendlich, worüber sie mit Indigenen und Fabrikanten (darunter Henry Ford), mit revolutionären Arbeitern, Schriftstellern und Ingenieuren gesprochen hatten. Das wirklich Typische erkannten sie on the road, wie später die amerikanischen Beat-­ Lite­ra­ten, es war der Highway selbst: »Darüber rollten wir so leicht und geräuschlos, wie ein Regentropfen über eine Glasscheibe rinnt.« Die Wolkenkratzer New Yorks, eine erst halb fertige Golden ­Gate ­Bridge in San Francisco, die prächtigen Denkmäler Washingtons? Was Ilf und Petrow von ihrer Reise im Gedächtnis haftete, war ein Bild aus dem Irgendwo: »... eine Kreuzung und eine Tankstelle vor dem Hintergrund von Telegrafenleitungen und Reklametafeln.« Und, als hätten sie Warhols Coca-Cola-Hymne schon erahnt, die ungemein beruhigende Erfahrung der raumgreifenden Selbstähnlichkeit dieses Landes: »Sie können ein-, zwei- oder dreitausend Mei-

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SACHBUCH

Fiat lux! Ein Stahlarbeiter bedient ein Flutlicht in Utah

len weit fahren, Natur und Klima verändern sich. Sie müssen die Uhr umstellen, aber das Städtchen, in dem Sie übernachten wollen, wird genau sein wie das, in dem Sie vor zwei Wochen waren. Auch dort wird es auf Gehsteigen keine Passanten geben, werden ebenso viele Autos am Straßenrand stehen, höchstens noch mehr, werden Drug­stores und Garagen im Neon- oder Argonlicht erstrahlen. Die Hauptstraße wie unverändert Broadway, Main Street oder ­State Street.« Warum startet ausgerechnet Karl Schlögel zu diesem ausufernden essayistischen Übersee-Trip? Er, der Osteuropa-Historiker und Russland-Kenner, preisgekrönter Verfasser monumentaler Moskau-Bücher (Terror und Traum, Moskau lesen) – ist aber auch UkraineSpezialist (Entscheidung in Kiew), als welcher er sich beherzt in die Debatte einmischte. Man sah Schlögel in Talkshows, wo er den Putinismus geißelte und die, wie er fand, in puncto Waffenlieferungen viel zu zögerliche Haltung der Deutschen. Seine Stimme bebte dabei auf eine unter Talkshows-Profis seltene Weise. Nur stand Schlögel nicht immer schon so entschieden auf der Seite des Westens. Und er spricht in seinem Buch auch von der eigenen biografischen Wandlung. Also davon, wie er

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K A R L SCHLÖGEL

wurde 1948 in Hawangen geboren und gilt als führender Experte für osteuropäische Geschichte in Deutschland. Er hat an den Universitäten von Konstanz und Frankfurt an der Oder gelehrt und mehrere gefeierte Bücher über Russland publiziert

Karl Schlögel: American Matrix Besichtigung einer Epoche; Hanser, München 2023; 832 S., 45,– €, als E-Book 38,99 €

sich als junger Maoist dem antiimperialistischen Kampf verschrieben hatte, zum Beispiel auf dem Berliner Anti-­Viet­namkriegs-­Kon­ gress von 1968, wie es ihn nach China zog, weil ihm der sowjetische Realsozialismus, den er aus eigener Anschauung bereits kannte, zu uninteressant erschien, und wie er dann in die USA reiste, die die Linken als »belly of the beast« faszinierten. Dort hofften sie als Gleichgesinnte auf die Aktivisten der Black Panther Party. Doch schon damals: ein ungeplant schöner Kulturschock, bei dem Schlögels ideologische Blaupause vor der konkreten Anschauung verblasste. Fünf Monate im Greyhound-Bus folgten. Die Landschaften und die Freundlichkeit der Menschen hätten ihn mit einer tiefen und bis heute ungebrochenen Sympathie für dieses Land zurückgelassen, trotz der verrotteten Städte des Rust-Belt, trotz Drogen und Gewalt und der, wie er einräumt, verhängnisvollen Kriege im Irak und in Afghanistan, die Schlögel, wie auch den Viet­nam­k rieg, leider etwas zu kurz kommen lässt. Seine Ost-Expertise habe auch ihren analytischen Nutzen: »Der an den Phänomenen der sowjetischen Welt geschärfte Blick«, sagt Schlögel über Schlögel, »sieht anders und

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© David Elmes | Harvard University

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397 S. | 5 Ktn. | Geb. | € 28,– ISBN 978-3-406-80831-9

Die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung «Wenn sich jemand mit den Beziehungen zwischen der Nato und Russland auskennt, dann Mary Sarotte.» Florian Neuhann, ZDF heute

anderes auch in der amerikanischen Welt.« Schlögels vielleicht aufregendste Erörterungen gelten einer »Wahlverwandtschaft«, die in den 1930er-Jahren tatsächlich die Sow­ jet­union mit den USA verband. Roose­velts New Deal und der Neue Mensch der StalinÄra: Hier wie dort wurden Fabrikanlagen, Kraftwerke, Kanäle und Staudämme errichtet, industrielle Makroprojekte, die der mühsam zu bändigenden Natur abgetrotzt wurden. Akribisch seziert Schlögel die Geschichte einer wechselseitigen Beeinflussung: Wie die Moskauer »All­ unions-­ Aus­ stel­ lung der Errungenschaften der Volkswirtschaft« nach dem Bild der Weltausstellung von Chicago geformt wird; wie Delegationen sowjetischer Techniker an die Fließbänder in Henry Fords Autostadt pilgern, bevor der amerikanische Architekt Albert Kahn in Nischni Nowgorod nach diesem Muster ein »Soviet Detroit an der Wolga« entwirft. Ausführlich widmet sich Schlögel dem Hochhausarchitekten Wja­tsche­slaw Oltarschewski, der die Moskauer Stadtsilhouette prägte. Er hatte sein Handwerk zuvor beim Bau von Wolkenkratzern in New York trainiert. Und wie klingt es, wenn der Schrift-

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steller J. B. Priestley 1937 den kolossalen Hoover-Staudamm bei Las Vegas bestaunt? »Eine Welt gigantischer Maschinen und titanischer gemeinsamer Unternehmungen. Hier, in dieser Wildnis des amerikanischen Westens, hat der neue Mensch, der Mensch der Zukunft, etwas vollbracht, und was er vollbracht, verschlägt einem den Atem.« Genauso sprach man anderswo vom Homo sovieticus. Schlögels Stärke liegt weniger in der thesenhaften Zuspitzung als in skrupulös differenzierender Genauigkeit. Dass sich sein Buch trotz des überbordenen Materials so gut liest, hat mit seiner Begeisterung zu tun und mit seiner großen Erzählkunst. Etwas nostalgisch ist sie aber auch gestimmt, diese »Besichtigung einer Epoche«. Der Historiker konzentriert sich ganz auf das, was gern als das amerikanische Jahrhundert bezeichnet wird. Der Name des heute reichsten Menschen der Welt, Elon Musk, kommt kein einziges Mal vor und der des fürchterlichsten Präsidenten, den dieses Land je hatte und vielleicht bald wieder bekommt, nur am Rande. Vielleicht wollte Karl Schlögel noch einmal festhalten, was bald wirklich nur noch Geschichte ist.

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© Isolde Ohlbaum

Fotos: Andreas Feininger/Buyenlarge/Getty Images (2); Jens Gyarmaty/laif (u.)

Eingang des Willow Creek Canyon in Colorado

377 S. | 24 Abb. | Geb. | € 28,– ISBN 978-3-406-80848-7

«Wir haben von den Dingen gewusst.» Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit

Der C.H.Beck Newsletter: Die Welt im Buch chbeck.de/nl2


Gesucht: Echtes Charisma Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown setzt sich mit dem Soziologen Max Weber auseinander. Was hat sie uns in ihrem Essay Neues zu sagen?

SACHBUCH

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uf den ersten Blick scheint es nicht sonderlich naheliegend, dass eine USamerikanische Politikwissenschaftlerin, die sich selbst in der Tradition der Kritischen Theorie ver­ ortet, Max Weber ein ganzes Buch widmet. Schließlich war dieser ein Gründervater dessen, was Linke bis heute gern »bürgerliche Soziologie« nennen. Auf den zweiten Blick ist es aber durchaus sinnig, dass Wendy Brown in Nihilistische Zeiten ein ­close reading von zwei Schriften Webers unternimmt. Bei diesen handelt es sich um die 1917 sowie 1919 an der Universität München gehaltenen Vorträge Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf. Beide scheinen nicht nur deshalb aktuell, weil sie zwei Bereiche behandeln, die im Zentrum gegenwärtiger Kulturkämpfe stehen. Sondern ebenso, weil Weber sie vor dem Hintergrund einer historischen Situation verfasste, die mit der heutigen zwar keineswegs gleichzusetzen ist, die aber dennoch einige Parallelen aufweist. Damals wie heute vollzog sich eine Verhärtung der politischen Ränder, Universitäten wurden zunehmend zum ideologischen Kampfplatz. In ihrem Buch, das eine überarbeitete Fassung ihrer 2019 in ­Yale gehaltenen Tanner Lec­tures on H ­ uman Value darstellt, teilt Brown mit Weber sodann auch den übergeordneten Gegner. Und das ist jener Nihilismus, der sich laut Brown im »sorglosen, ja sogar fröhlichen Brechen des Gesellschaftsvertrags« oder in der »Gleichgültigkeit gegenüber Widerspruchsfreiheit, Verantwortlichkeit, ja sogar Aufrichtigkeit« zeige. Man darf zwar bezweifeln, ob solch ein philosophischer Staubsaugerbegriff wie Nihilismus eine ausreichende Schärfe für politische Gegenwartsanalysen besitzt, dennoch ist es richtig, dass sich in gegenwärtigen Debatten allzu oft Verantwortungslosigkeit breitmacht. Nach dem Motto: Nach meinem hot ­take die diskursive Sintflut. Als anti-nihilistisches Gegengift bringt die in Berkeley lehrende Brown zunächst jenen charismatischen Politikertypus ins Spiel, den bereits Weber favorisierte. Das mag für manchen kontraintuitiv wirken, weil Charisma

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gerade in deutschen Ohren schon halb nach Demagogie klingt. Doch meinte Weber damit das Gegenteil. Im Ideal­fall hat der charismatische Politiker zwar Ausstrahlung und Leidenschaft für die Sache, kombiniert diese aber mit Nüchternheit, Zurückhaltung, Beharrlichkeit, Mäßigung und Augenmaß. Durch eine ausgebildete Verantwortungsethik ist er gegen Eitelkeit und populistische Verführungen immun. Gleichzeitig bewahrt er sich stets eine Portion Gesinnungsethik, indem er politisches Schei-

»... bereit sein, Unsicherheit zu empfinden« W E N DY BROW N

tern zwar akzeptiert, aber mit einem »dennoch« auf den Lippen weitermacht. Nun mag es dieser Tage zwar tatsächlich lohnen, sich dieses politische Stellenprofil noch einmal in Erinnerung zu rufen. Aber abgesehen davon, dass Brown selbst zugibt, Weber habe mit seiner Version des charismatischen Politikers eine »nahezu unmögliche Figur konstruiert«, beschleicht einen auch das Gefühl, Brown renne hier offene Türen ein. Denn welche demokratische Partei oder Bewegung würde solch eine charismatische Führungsfigur heute nicht mit offenen Armen empfangen? Selbst innerhalb der postmarxistischen Linken, wo die Furcht vorm Personenkult zumindest in Teilen stark ausgeprägt ist, würde man vermutlich gern mehr

als weniger Leute vom Typ Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez haben. Teilt Brown mit Weber im Bereich der Politik also die Sehnsucht nach gleichermaßen charismatischen wie verantwortungsvollen Helden, zeigen sich im Feld der Wissenschaft hingegen zunächst große Differenzen. Denn die Hörsäle wollte Weber vor nihilistischen Versuchungen schützen, indem er eine scharfe Unterscheidung von Werten und Tatsachen einzog und die Wissenschaft strikt auf die nüchterne Vermittlung Letzterer verpflichtete. Doch weist Brown zu Recht darauf hin, dass der Nihilismus dann lediglich durch die universitäre Hintertür wieder hereinkäme. Denn abgesehen davon, dass Tatsachen und Fakten selbst oft nicht völlig wertfrei sind, weil etwa die Ergebnisse einer empirischen Studie auch von der jeweiligen Art der Fragestellungen abhängen, würden Universitäten durch die Webersche Maxime zu bloßen Wissensfabriken degradiert. Ohne Raum für intellektuelle Kreativität und sokratische Neugier stellte sich hier verwaltungsgleich jene Trennung von Mittel und Zweck ein, die der nihilistischen Verantwortungslosigkeit Vorschub leistet. Dennoch stimmt Brown mit Weber in einem entscheidenden Punkt überein. Die Wissenschaft dürfe nicht mit der Politik verschmelzen, der Hörsaal keine permanente Kampfarena werden. Für Brown ist das indes nicht zu erreichen, indem Werturteile aus der Wissenschaft ausgeklammert werden, man müsse sie im Gegenteil immer wieder selbstkritisch überprüfen. Oder wie Brown schreibt: »Wissenschaftler:innen und Studierende müssen ein produktives Aufbrechen ihrer Vermutungen und Axiome zulassen und bereit sein, hin und wieder Unsicherheit, ja sogar zu empfinden.« Nun ist es auch in diesem Fall nicht so, als ob man das nicht schon einmal gelesen hätte. Aber es schadet natürlich auch nicht, es noch einmal zu tun. Wendy Brown: Nihilistische Zeiten Denken mit Max Weber; a. d. Engl. v. Christine Pries; Suhrkamp, Berlin 2023; 187 S., 28,– €, als E-Book 23,99 €

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Foto: Damon Young

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Angemessen exzentrisch Der britische Opernsänger Ian Bostridge singt nicht nur, er denkt auch in einem feinen Essayband über die Musik nach, die ihm etwas bedeutet VON CHR IS T I N E L E M K E-M AT W EY

Foto: Kalpesh Lathigra/NYT/Redux/laif

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s kommt nicht häufig vor, dass klassische Sängerinnen oder Sänger seriöse Sach­ bücher schreiben. Das heißt, Bücher schreiben sie schon (oder lassen sie schreiben), es sind dann Autobiografien und Gesprächsbände oder – wie im Falle Ro­ lando Villazóns – auch lustige Romane. Klassi­ sche Sänger sind in der Regel keine Intellektuel­ len. Sie wollen singen und nicht erklären, was beim Singen so alles passiert in den Noten, auf der Bühne, in den Köpfen und Herzen des Publikums. Wenn sie es denn aber doch wollen, erklären, was sie da tun, dann traut man ihnen oft nicht recht. Als könnte eine Sängerin, ein Sänger zu klug sein, zu reflektiert, um auch noch schön singen zu können. Der britische Tenor Ian Bostridge ist so ein kluger Sänger. Als studierter Historiker und Philosoph, der erst spät zum Gesang fand, mit Ende 20, hat er neben seiner Doktorarbeit (Witch­ craft and its Transformations) mehrere Bücher geschrieben, darunter 2015 einen di­ cken, immens detaillierten, sehr erfolgreichen Wälzer über Schuberts Winterreise, der auch ins Deutsche übersetzt wurde. Als Sänger war Bostridge nie ein Instinkttäter, stilistisch, in der musikalischen Aufführungs- und Re­zep­ tions­ge­schich­te, begreift man ihn eher als eine Mischung zwischen Peter Pears, dem »Orpheus Britannicus« des 20. Jahrhunderts, und dem damaligen Über-Ich des Liedgesangs, Dietrich Fischer-Dieskau. Auch Fischer-Dieskau schrieb zahlreiche Bücher (über Schubert, Zelter, ­Goethe, Nietzsche und Wilhelm Furtwängler), auch er hatte mit dem nicht immer netten ­Image des cantor doctus zu kämpfen, eines ge­ lehrten, bisweilen besserwisserischen, die Welt missionieren wollenden Interpreten. Ian Bostridge liegt alles Missionarische fern. Schreibend versteht er sich nicht als Ama­

Schreibender Tenor: Ian Bostridge wurde 1964 in London geboren teur, sondern als Wissenschaftler, der er war und zu dem er in seinem neuen Buch Das Lied & das Ich nun zurückkehrt. Das schmale Bänd­ chen versammelt drei Essays, die Bostridge im Rahmen der »Berlin Family Lectures« im Früh­ jahr 2021 an der University of Chicago gehal­ ten hat. Und zwar virtuell, Corona grassierte, und der Engländer sah sich in seinem Haupt­ beruf nahezu arbeitslos. In dieser Zeit, erläutert Bostridge im Vorwort, sei er gezwungen ge­ wesen, eine Identität (also seine), ein Selbst (also seines) infrage zu stellen, das sich 20, 30 Jahre lang darüber definiert habe, auf der Bühne zu stehen und dem Publikum Musik »unmittelbar physisch und in Echtzeit« nahezubringen. Von dieser Selbstbefragung, von »Musik, Per­ for­ mance und Identität« handeln die Essays. Die meisten Werke, über die Bostridge spricht, teils kursorisch, teils mit analytischem Blick, hat er selbst gesungen: Werke von Monte­ verdi, Schumann, Schubert, Ravel und vieles von Benjamin Britten (Opern,

den wenig bekannten Liederzyklus The ­Holy Sonnets of John ­Donne, das War Requiem). Das verleiht seinen Betrachtungen Anschauung, eine durchaus sinnliche Authentizität, ohne dass der 58-Jährige je behaupten würde, zu wissen, wie’s geht. Und es liest sich angenehm, auch erhellend, etwa wenn es um Schumanns berüchtigten, gern als misogyn verschrienen Chamisso-Zyklus Frauenliebe und -leben geht und Bostridge die Geschlechterverhältnisse (unterwürfige Frau, erobernder Mann) auf den Kopf stellt. Oder wenn er, historisch etwas arg ausführlich, Ravels exotistische Chansons madé­casses von 1926 ins Licht aktueller kul­ tureller Aneignungsdebatten rückt. Steile Thesen, eine eigene Agenda verfolgt Ian Bostridge nicht. Auch das ist sympathisch, wie leicht können Betrachtungen zur Kon­ struk­tion und De­kon­struk­tion »alterisierter« (andersartiger) Identitäten ins Polemische ab­ driften, gerade in der Musik. Der Brite aber bleibt dezent und ganz bei sich. Die Frage, wer singt, wenn er selbst singt, zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Essays. Geht es um Rollenspiele, die tiefstmögliche Versenkung und Identifikation mit dem jeweiligen Kunst­ werk, ist das lyrische Ich nur eine Behauptung? Ian Bostridge will Anstöße geben, kei­ ne Antworten, was ihm zweifellos gelingt. Seine Referenzen reichen von Michelangelo bis Thomas Piketty, was bisweilen etwas bil­ dungspusselig wirkt. Im Grunde aber – und das ist eine gute Nachricht – schreibt er hier, wie er singt: angemessen exzentrisch, sehr sorgfältig und niemals zu laut. Ian Bostridge: Das Lied & das Ich Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität; a. d. Engl. v. A. Zettel; C. H. Beck, München 2023; 142 S., 22,– €, als E-Book 16,99 €

»Unsere Reaktionen als Interpreten und Zuschauer oder Zuhörer sind offen und nichtbinär« IAN BOSTRIDGE

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Hannah Arendt im New Yorker Exil, hier auf einem Bild von 1944

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Die Fluchthelferin Wie Hannah Arendt sich ganz praktisch für die jüdische Sache engagierte – Thomas Meyers völlig überraschende Biografie der Philosophin

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ielleicht hatte man bisher einfach nicht so genau hingeschaut. Auf die Pariser Jahre der Emigration, in denen Hannah Arendt nicht schrieb, sondern vor allem anderen half. Kindern und Jugendlichen, die sie aus Deutschland rettete und nach Palästina brachte. Am Ende sind es wohl mehrere Hundert jüdische Mädchen und Jungen gewesen, denen Arendt die Flucht ermöglichte. Dieser blinde Fleck steht nun im Zentrum der neuen Biografie von Hannah Arendt. Geschrieben hat sie der Berliner Philosoph Thomas Meyer, der seit 2020 auch eine auf zwölf Bände angelegte Stu­dien­aus­gabe ihrer Schriften herausgibt. Meyers Arendt ist keine Philosophin, sie ist Praktikerin von Anfang an. Nicht nur, weil sich Arendt selbst nie zum

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Kreis der Philosophen zählte. Sondern auch, weil sich nach ihrer Flucht aus Deutschland 1933 die Philosophie als ungenügend erwies, um der Brutalität der jüdischen Wirklichkeit ins Auge zu blicken. Was bisher aus den Jahren des Exils allenfalls in Bruchstücken bekannt war, setzt ­Meyer jetzt wie ein Puzzle zusammen. Nicht das Anekdotische und auch nicht die Aktualitätsgetriebenheit vieler jüngerer Publikationen zu Arendt geht ihn an. Meyer will Arendt »in ihrer Zeit« darstellen. Und so ist diese erste echte, aus den Quellen gearbeitete Biografie 40 Jahre nach dem letzten Annäherungsversuch von Elisabeth Young-Bruehl nicht allein wegen ihrer Materialfülle ein Glücksfall und ein Lesevergnügen, sondern auch, weil sich anhand von neuen oder bislang übersehenen Dokumenten der Pariser Jahre ein neues Bild von Arendts Theorie zeichnen lässt.

Denn dort in Paris beginnt sie sich schon bald aktiv für jüdische Flüchtlingshilfe zu engagieren. Sie arbeitet für die Kinder- und Jugend-Alijah, eine jüdische Organisation, die mit ihren Rettungsaktionen die Zahl der jüdischen Siedler in Palästina erhöhen und sie auf das Leben in den neuen Kibbuzim vorbereiten will. Der Alltag ist beschwerlich: Arendt lernt die Mühlen der Bürokratie kennen, leitet Werbekampagnen, beißt sich durch. Sie agiert in einem Netzwerk aus jüdischen F ­ rauen, zu denen neben der Leiterin Henrietta Szold auch Eva Stern gehört, Schwester ihres damaligen Ehemanns Gün­ther Stern (später Anders), die das Berliner Büro unterhält. Arendts Stellung in der Organisation ist lange unklar. In Briefen aus jener Zeit wird mal ihr Vor-, mal ihr Nachname falsch geschrieben, aber wo sie auch hinkommt und sich mit Aufsätzen und Vorträgen zu Wort meldet, stellt sie »sehr schnell und

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Foto: Fred Stein/Bridgeman Images

VON PET ER N EU M A N N


nahe­zu immer Öffentlichkeit her«. Schon in Paris zeigt sich jene Professionalität im Umgang mit Me­dien und öffentlichen Auftritten, mit der es später eigentlich nur der mit ihr ver­feindete Theodor W. Adorno aufnehmen kann: Arendt hat Witz, kann druckreif formulieren und kommt immer zum Punkt. Die wissenschaftlichen Arbeiten müssen unterdessen pausieren, auch wenn klar ist, dass Arendt keine Sekunde daran denkt, sie aufzugeben. Da ist die noch in Berlin nahezu fertiggestellte Biografie über die jüdische Romantikerin Rahel Varnhagen, die auf ihre Veröffentlichung wartet. Da ist die Studie zum modernen Anti­semi­tis­mus, für die sie seit Anfang der Dreißigerjahre Material in der Staatsbibliothek zu Berlin akribisch zusammengetragen hatte. In einem erstmals zugänglich gemachten Empfehlungsschreiben des Schriftstellers Arnold Zweig aus dem Jahr 1933 zeigt sich nun, wie eng die beiden Projekte von Anfang an für Arendt zusammenhängen. Das Scheitern der jüdischen Eman­zi­pa­tion und die Karriere des modernen Anti­semi­tis­mus sind für sie zwei Seiten ein und derselben Moderne, die ihre ganze zerstörerische Kraft erst noch entfalten sollte. Aber sosehr diese Fragen Arendt in Paris auch innerlich umtreiben, die Wirklichkeit fordert ihr eigenes Recht. Als Arendt sich 1937 für ihre Stu­dien zurückzieht, merkt sie bald, dass diese Art der kontemplativen Tätigkeit nicht an der Zeit ist. Ein Jahr später brennen in Berlin und anderen deutschen Städten die Synagogen. Die Wirklichkeit zwingt sie abermals in die Praxis. Sie kehrt zurück in die Flüchtlingsarbeit. Meyer schildert minutiös, wie aus Arendt Arendt wird. Wie durch die Arbeit in der jüdischen Flüchtlingshilfe aus der Schülerin

Martin Heideggers und Karl Jaspers’, die über den Liebesbegriff bei Augustinus promoviert hat, eine Soziologin, politische Theoretikerin und scharfsinnige public intellectual mit Lust an der Zuspitzung wird. Als der Krieg ausbricht, muss auch das Pariser Büro seine Arbeit einstellen; Arendt gelingt 1941 die Flucht über Lissabon nach New York, zusammen mit ihrem zweiten Mann Heinrich Blücher. Die Erfahrung der Verantwortlichkeit aber wird bleiben. Für Meyer sind es gerade diese Pariser Jahre, die bereits den Ton für den später viel zitierten Satz Arendts vorgeben: »Dies hätte nie geschehen dürfen.« Nun gehört der Verweis von der Theorie auf den Abgrund der Erfahrung zum Einmaleins der Arendt-Biografik. Nur kann Meyer zeigen, dass die Erfahrungswelt nicht etwas ist, was später hinzutritt, sondern dass aus ihr die spätere Analyse der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und das Bild von der Vita activa erst entstehen. War Arendt vor dem Krieg für die Rettung von Kindern und Jugendlichen zuständig, arbeitet sie nach dem Krieg bei der ­Jewish Cultural Reconstruction, die es sich zum Ziel setzt, jüdische Kulturschätze in deutschen Museen, Archiven und Bibliotheken aufzuspüren und nach Amerika oder Israel zu bringen. Sie ist im ständigen Einsatz für die jüdische Sache. Einschließlich dieser Tätigkeit wird Arendt insgesamt 20 Jahre im Dienst jüdischer Organisationen stehen. Und immer geht es ums Leben und Überleben. So stellt es sich dar, als ob Arendts Hinwendung zum politisch-praktischen En­ gage­ ment gerade die Konsequenz aus der fehlgeschlagenen jüdischen Eman­zi­pa­tion in Deutschland war, über die sie in ihrem Varnhagen-Buch erstmals geschrieben hatte, eine Hinwendung, die sich bis zu ihrer ­K ritik

an den Judenräten während der NS-Zeit in ihrem umstrittenen Report Eichmann in Jeru­ salem 1963 erstreckt. Arendt kämpft nicht nur gegen den Vernichtungswillen der Nazis. Sie kämpft vor allem für die Möglichkeit, eine selbstbestimmte jüdische Existenz zu führen. Nur in der Praxis war für Juden jene Souveränität als »Parias«, als Ausgestoßene, zu er­ langen, die ihnen die deutsche Mehrheitsgesellschaft immer vorenthalten hatte. Denn so viel war nach der Arbeit für die Kinder- und Jugend-Alijah klar: Der moderne Anti­semi­ tis­mus richtete sich gegen alle Jüdinnen und Juden. Deshalb war die einzig denkbare Reaktion darauf, nach außen hin jede Distanzierung gegenüber dem jüdischen Kollektiv aufzugeben. Und so lassen die Erfahrungen der Pariser Jahre auch noch die späteren, selbst von engen Freunden wie Ger­shom Scholem gegen sie erhobenen Vorwürfe, sie habe ihre »Liebe zum jüdischen Volk« ver­ raten, in ­neuem Licht erscheinen. Viele Details in dieser Biografie wird man nur richtig einzuordnen wissen, wenn man Vorwissen mitbringt. Das ist der Preis, den Thomas Meyer für seine eingehende Darstellung der vielen Quer- und Netzwerkverbindungen in den Jahren der Emigration zahlt. Der Gewinn ist dagegen beträchtlich. Meyer ist eine völlig überraschende Biografie einer intellektuellen Ikone gelungen, der man im Ringen um das Leben anderer so schmerzlich nahekommt wie noch nie. Thomas Meyer: Hannah Arendt Die Biografie; Piper, München 2023; 528 S., 28,– €, als E-Book 27,99 €

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Befreite Lust?

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Die Ruhe vor dem Sturm: Backstage auf dem Dreh einer Pornoszene

Foto: The Raw Angels

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VON BERIT DIESSELKÄMPER

Werden Frauen durch Sexfilme unterdrückt oder emanzipiert? Zwei Neuerscheinungen stellen sich der Frage, ob Pornos feministisch sein können


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und Aktivistin ist, Paulita Pappel hingegen (1987 im konservativ-katholischen Madrid geboren, später ins sexuell befreite Berlin gezogen) Porno­ darstellerin, -regisseurin und -produzentin ist, die zwei Pornoplattformen betreibt. Denn natürlich geht es wie ansonsten auch immer um Geld und wie es sich mit dem menschlichen Körper ver­ dienen lässt. Aber zunächst noch einmal zu der durchaus berechtigten Frage, wovon F ­ rauen denn nun schon wieder zu befreien sind und wie bitte schön Pornos das tun sollten. Schließlich standen Sexfilme immer im Ver­ dacht der Täterschaft – an den F ­ rauen und ihrer Würde, an den Jugendlichen und ihrer Sexual­ erziehung, an den »süchtigen« Männern und ih­ rer Erektionsfähigkeit. Mitte der Siebziger­jahre während der zweiten Welle des Feminismus wurden Pornos in den sogenannten feminist sex wars selbst zu so etwas wie einem Opfer. Die US-amerikanische Radikalfeministin R ­ obin Morgan erklärte 1974: »Pornografie ist die ­ Theorie und Vergewaltigung die Praxis.« Die ­ ­Filme und Magazine s­eien, so die Argumenta­ tion der A ­ nti-Porno-Feministinnen wie Catha­ rine MacKinnon oder Andrea Dworkin, nicht nur der weiblichen Lust gegenüber gleichgültig, sondern objektifizierend, erniedrigend und ge­ waltvoll. 1981 veröffentlichte Dworkin das Sach­ buch Pornographie. Männer beherrschen Frauen, das mit einem Vorwort von A ­ lice Schwarzer 1987 auch in deutscher Übersetzung erschien. Es gilt als Ausgangspunkt der von Schwarzer an­ geführten PorNo-Kampagne mit der Forderung nach einem Anti-Porno-Gesetz in Deutschland. Die Gegenposition – der sogenannte sex­ positive Feminismus, der sich etwa zeitgleich formierte und dem sich laut Autorinnenvita auch Madita ­Oeming zuordnet – argumentierte gegen die Zensur von Pornografie und für eine andere Darstellung von ­Frauen. In den Folgejahren ent­ wickelte sich daraus das Genre der feministischen Pornografie mit der Absicht, einen »weiblichen Blick auf Sex zu kreieren«, wie Madita ­Oeming schreibt. Zu diesem Blick gehören nicht nur die lieblich-zarten Inhalte, die teilweise auf Porno­ websites unter »frauenfreundlich« firmieren, sondern auch die explizite Hardcore-Sexualität, wie sie die französische Regisseurin Cathe­ rine Breillat (Romance XXX, 1999) oder die Schrift­ stellerinnen Cathe­rine Millet (Das sexuelle Leben der Cathe­rine M., 2001) und Virginie Des­pentes (Baise-moi – Fick mich, 1994) darstellen. In den Büchern von Paulita Pappel und Madita O ­ eming geht es infolge des historischen Gezerres zunächst um die Befreiung der Porno­ grafie von den gängigen Unterdrückungs- und Ausbeutungserzählungen. Sie betreiben ein wenig Sorgearbeit am Gegenstand: definieren, was pornografische Darstellungen ausmachen sollte (im Einvernehmen entstanden, keine Straf­taten), kritisieren, wie das Thema mora­

PAU L I TA PA P PE L

wurde 1987 in Madrid geboren und lebt seit 2005 in Berlin, wo sie als Pornodarstellerin und -produzentin arbeitet. Sie betreibt die Plattformen Lustery und HardWerk Paulita Pappel: Pornopositiv Was Pornografie mit Feminismus, Selbstbestimmung und gutem Sex zu tun hat; Ullstein, Berlin 2023; 208 S., 16,99 €, als E-Book 14,99 €

M A DI TA OE M I NG

1986 in Bonn geboren, bezeichnet sich als »unabhängige Pornowissenschaftlerin« und Aktivistin. Sie arbeitet in sexualwissenschaftlichen Zusammenhängen und ist publizistisch tätig Madita Oeming: Porno Eine unverschämte Analyse; Rowohlt, Hamburg 2023; 256 S., 20,– €, als E-Book 14,99 €

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Fotos: Lukas Papierak (o.); [M] Anna Peschke

SACHBUCH

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önnte kurz etwas unangenehm werden, sich in diese höllisch komplizierte Diskussion um Pornografie zu begeben – und dann auch noch als feminis­ musfreundlicher Mensch. So­ fort fühlt man sich genötigt, irgendeine Po­si­tion zu beziehen und damit auch zu bekennen, während es ja eigentlich niemanden etwas angeht, ob man selbst nun das besonders dreckige oder doch das verklemmte Zeugs konsu­ mieren mag. Oder ob man Pornos grundsätzlich ablehnt, was zunächst als die ehrenhafte Haltung erscheint, weil sich daraus so schön eine moralische Überlegenheit konstruieren lässt – gibt es dafür doch ausreichend Annahmen über Pornografie: Die Darstellerinnen werden ausgebeutet und er­ niedrigt, die Darstellungen sind oft gewaltsam, verstörend, tragen zum Sittenverfall und zum moralischen Verkommen der in erziehungsbe­ rechtigten Institutionen so schlecht aufgeklärten Jugend bei – oder wovon ansonsten noch so aus­ gegangen wird. Wobei die Ablehnung von Porno­ grafie wiederum von einigen Feministinnen kriti­ siert wird, weil sie den Darstellerinnen ihre Selbst­ bestimmtheit abspricht, weshalb man auch das eher nicht vertreten möchte. Lieber aufgeklärt zugewandt erscheinen, nicht zu kenntnisreich und keinesfalls prüde. Das alles ist einigermaßen hei­ kel, aber glücklicherweise gibt es zu diesem ewig umkämpften Thema nun zwei aktuelle Sach­ bücher und mit ihnen auch etwas Orien­tie­rungs­ hil­fe: Pornopositiv – Was Pornografie mit Feminismus, Selbstbestimmung und gutem Sex zu tun hat von Paulita Pappel, was ein Künstlerinnenname ist, im Ullstein Verlag und im Rowohlt Verlag Porno – Eine unverschämte Analyse von Madita­ Oeming, die auch in Wirklichkeit so heißt. Pappel und Oeming sind grob zusammen­ gefasst zwei ­Frauen, was ihnen beim Schreiben über Pornografie in dieser gegenwärtigen Welt, in der es zuweilen weniger um Inhalte zu gehen scheint als um die Sprecherposition, aus der heraus sie geäußert werden, einen Glaubwürdig­ keitsvorschuss gibt. Entlang der gängigen Be­ trachtung, wer (der) Profiteur von Pornografie ist und wer (die) Leidtragende, unterstellt man den Autorinnen automatisch aufrichtigere, beinahe möchte man sagen: »reinere« Motive. Woran sich erneut die Höllenhaftigkeit dieses Themas zeigt, weil man unmittelbar in Männer-sindso-und-Frauen-sind-so-Stereotype verfällt, was man ja eigentlich nicht mehr tun wollte. Jedoch könnte ein Mann vermutlich weniger glaubhaft die Befreiung der Frau und der weiblichen Se­ xualität durch Pornografie behaupten als Pappel und ­Oeming. Nun gibt es trotz dieser gemeinsamen Spre­ cherinnenposition »Frau« noch den Unterschied, dass Madita ­ Oeming (1986 in Bonn geboren) unabhängige Pornowissenschaftlerin, Publizistin


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lisch aufgeladen wird, und beschreiben, welche ­Werte Pornos vertreten können (feministisch, authentisch, ethisch). Beide Autorinnen argumentieren, die Befreiung der weiblichen Sexualität durch Pornografie liege in der durch sie vermittelten Subjektwerdung der Frau – zur Darstellerin und zur Konsumentin. Entlang der Kategorien »Selbstverwirklichung« und »individueller Lustgewinn« würden Darstellerinnen laut Pappel jene Logik unterwandern, die ­Frauen stets als potenzielle Opfer männlicher Sexualität begreift. Die freiwillige Entscheidung, die eigene Sexualität öffentlich abzubilden, könne einer »Wiederaneignung des Körpers« gleichen. Diese Deutung steht im Gegensatz zum bewährten pornografischen Sujet der passiven oder sich wehrenden Frau, deren Widerstand zunächst gebrochen werden muss. Oeming zufolge hat sich dieses Rollenver­ ständnis in den vergangenen Jahren verändert – erkennbar an der zunehmenden Beliebtheit der MILF, der ­mother I’ d ­like to fuck: also die ältere, das heißt über 30-jährige Darstellerin, die in der Rolle der reifen, sexuell erfahrenen Frau weiß, was sie will. Von ihrem nicht durch den männlichen Blick korrumpierten Verlangen geht die sexuelle Initiative aus: Sie ist das Subjekt. Über all das könnte man sich erfreut zeigen, nur wird es erneut kompliziert, sobald es um Orgasmen geht. O ­ eming relativiert in ihrem Buch – das sich im Vergleich zu Pappels durch eine größere Ambivalenz auszeichnet – die generelle Vorstellung von einer selbsterfüllten, durchemanzipierten Darstellerin: Die Forderung nach »echter Lust« und die Erwartungshaltung, dass »Sexarbeit permanent empowernd sein müsste«, sei problematisch, weil sie die Performerinnen nicht als Dienstleisterinnen anerkenne. Man würde schließlich auch nicht verlangen, dass nur eine wahrhaftig verliebte Schauspielerin eine verliebte Figur verkörpere, schreibt O ­ eming. Für Konsumentinnen könnten Pornos eine Befreiung durch das Erleben von Sexualität »jenseits von haushaltsökonomischen, romantischen Verhältnissen« sein. Gemeint ist die Ehe oder »kompulsive Monogamie«, wie Paulita Pappel schreibt, also die gesellschaftliche Idealvorstellung von einer (meist heterosexuellen) Beziehung zu nur einer Person. Ihr würden Eifersucht und Besitzansprüche zugrunde liegen, sodass sie laut Pappel die »eigentliche ultimative Kommerzialisierung von weiblicher Sexualität und Objektifizierung der Frau« ist. Wobei man fragen könnte, ob es sich tatsächlich um eine Kommerzialisierung handelt, wenn es doch um »Eigengebrauch« geht. Passender wäre vermutlich das Zur-Ware-Werden – in jedem Fall ist man damit nun endlich beim schönen

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Geld angelangt. Denn in beiden Büchern wird es zwar immer wieder thematisiert (ökonomische Benachteiligung der Porno­ industrie, »Einschränkung von Vertriebswegen und Finanzierungsmöglichkeiten«, Aufrufe, für Pornografie zu bezahlen), nur nicht mit der mutmaßlichen Frauenbefreiung durch Pornos in Verbindung gebracht. Denn Pornografie ist keinesfalls ein selbstloser, wohltätiger Akt, sondern etwas, mit dem Geld zu verdienen ist. Und Frauen verdienen in der Pornoindustrie mehr als Männer, der Gender-Pay-Gap sei dort »spiegelverkehrt«, wie O ­ eming schreibt, während die Unternehmerin Pappel hinzufügt, was sich gut verkauft: Anal, Cumshots, weibliche Ejakulation. Das Mehr an Geld für ­Frauen wird zwar nicht auf eine Gleichberechtigung im Endstadium zurückgeführt, aber es wird eben auch nicht weiter auf den Umstand eingegangen, dass weibliche Körper und weibliche Sexualität offensichtlich profitabler sind als die von Männern. Womit man in der abschließenden Hölle der Sexualökonomie angelangt ist, eine Theorie der amerikanischen Psychologen Roy Baumeister und Kathleen Vohs aus dem Jahr 2004. Sie beschreibt menschliche Beziehungen als einen Markt, auf dem Sex eine von ­Frauen kontrollierte Ware ist, die von Männern mit nicht sexuellen Ressourcen gekauft wird. Die Theorie ist, wie könnte es anders sein, umstritten, unter anderem wegen der Annahme, Männer hätten ein größeres Interesse an Sex, was wiederum im sexpositiven Feminismus als veraltet-patriarchal gilt. Nur kommt man eben nicht drum herum, wenn im konkreten Fall der Pornografie die Mehrheit der Konsumenten männlich ist (wovon natürlich nicht alle heterosexuell sind, aber von den Konsumentinnen ja auch nicht). Und es sind eben eher Frauen, die (aus Mangel an einem gleichberechtigten Zugang zum kapitalistischen Wirtschaftssystem) ihren Körper und ihre Sexualität in marktfähige Produkte verwandeln, deren Preise durch Angebot und Nachfrage geregelt werden. Natürlich sind sie frei, das zu tun, aber es wäre angemessen, auf die Strukturen zu verweisen, die das überhaupt erst ermöglichen, und darauf, dass Pornografie sie möglicherweise aufrechterhält. Nachdem man sich hiermit also in die Diskussion um Pornografie begeben hat, kommt man zu der Erkenntnis und dem Eingeständnis, dass es eigentlich unmöglich ist, da vernünftig wieder herauszukommen. Es gibt auch nach dieser interessanten, unterhaltenden und teilweise aufgrund der Sprecherinnenpositionen natürlich auch parteiischen Lektüre weiterhin keine bestmögliche Haltung zur Pornografie. Andererseits: auch mal gut, darüber gesprochen zu haben.

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LESENSWERT

Passend zum Gastland Slowenien

DRAGO JANČAR ALS DIE WELT ENTSTAND Danijel weiß nicht, wem er es recht machen soll: dem Vater, der den Sieg über Nazideutschland feiert, oder der Mutter, die ihn zum Religionsunterricht schickt? Alles verändert sich, als die junge Lena ins Erdgeschoss zieht. Eine Geschichte aus dem Maribor der 1950er Jahre, in der sich die Widersprüche der slowenischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg spiegeln. Paul Zsolnay Verlag, Roman, Hardcover mit Schutzumschlag, 272 Seiten, gebunden und als E-Book. ISBN 978-3-552-07358-6, € 26

SARAH RAICH HELL UND LAUT Bevor Hrotsvit in der Literatur ihre Stimme erhebt, erleidet sie Gewalt und Unterdrückung. In ihren Dramen gibt sie brutale Männer dem Spott preis. – #MeToo im Mittelalter, voll Witz und Emotion. S. Marix Verlag, Roman, Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten, ISBN 978-3-7374-1217-9, € 24

LEA SINGER DIE HEILIGE DES TRINKERS Sie war Joseph Roths große Liebe: Andrea Manga Bell, verheiratet mit dem designierten König des Duala-Volkes in Kamerun, Mutter, Redakteurin. Der bald hoch verschuldete Schriftsteller vergötterte und verleumdete sie. Und konnte ohne sie nicht leben. Erstmals wird ihre Geschichte erzählt. Kampa Verlag, Roman, gebunden, 304 Seiten, ISBN 978-3-311-10050-8, € 24


Utopist in Trümmerlandschaft Von Berlin nach Paris und zurück: Nicolaus Sombart war der Paradiesvogel unter den deutschen Intellektuellen. Seine Erinnerungsbücher sollte man dringend wieder lesen

N

icolaus Sombart war ein zu Lebzeiten teils ge­ schätzter, gelegentlich belächelter, aber von den meisten um seine innere Unabhängigkeit doch beneideter Geist. Vor hundert Jahren wurde er als Sohn des National­ ökonomen Werner Sombart geboren, eines Be­ gründers der Soziologie in Deutschland, Spröss­ ling also eines wilhelminischen Geistesmanda­ rins und damit Erbe eines entsprechenden Soh­ nesschicksals – dem er sich entwand, ohne den Vater symbolisch zu töten. Vielmehr führte er sich den Alten und dessen Welt vor Augen und wurde darüber selbst ein soziologischer Autor. Nicolaus Sombarts Autobiografie in mehreren Bänden, sein eigentliches Werk, war immer auch historische Gesellschafts­ beobachtung. Er beobachtete das deutsche Bildungsbürgertum und die eigene Eman­ zi­pa­tion aus diesem Milieu, schöpfte dabei weniger aus Büchern denn aus sinnlichen ­Erfahrungen und lebte lange in Frankreich. Am Ende frappierte er mit Einsichten wie: »Eine Stadt, in der keine Orgien stattfinden, ist eine tote Stadt.« Das meinte er ernst. Paris, wohinein Som­ bart Anfang der Fünfziger als junger Dokto­ rand eintauchte, war eine lebendige Stadt, und Berlin, genauer West-Berlin, wo er seit den Achtzigerjahren wieder lebte, hauchte er selbst einen gewissen Lebensatem ein, bei aller Lust an der Beobachtung nie einen Zweifel daran lassend, dass er Anrecht auf eine bestimmte Gesellschaft hatte, auf eine ausgefallene, ero­ tische, stilvolle, kurz: vollkommen unzeitge­ mäße Lebensumgebung. Die versuchte er sich zu erschaffen. »Schloß oder nicht Schloß. Das ist die soziale Frage«: Mit solchen Sentenzen wird man kein Soziologieprofessor, eher ein

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Schriftsteller des Selbsterlebten mit starken Begeisterungen und Abneigungen, mit einer Zeitzeugenschaft aus persönlicher Perspektive: »Letztlich kann man die gesellschaftliche Welt nur von oben erkennen (wie das Weichbild der Stadt Paris von der Höhe des Eiffelturms).« Sein erstes, 1984 erschienenes Erinne­ rungsbuch handelt von seiner Jugend in Ber­ lin-Grunewald zwischen 1933 und 1943, Porträt der bürgerlichen, eher weniger nazi­ fizierten Hauptstadt mit ihren Kulturheroen und weltanschaulichen Virtuosen. Ein weiteres schildert sein Studium am intellektuellen Hot­ spot der Uni Heidelberg 1945 bis 1951, fas­ zinierend, weil es zeigt, wie der intellektuelle Neuanfang organisiert wurde. Sodann sein grandioses Buch über seine éducation sen­ti­men­ tale in Paris von 1951 bis 1954 – schließlich sein berühmt-berüchtigtes Journal in­time von 2003 über sein Jahr als Fellow des Wissen­ schaftskollegs in Berlin 1982/83. Diese Bücher sind allesamt lesenswert, weil hier jemand über historische Zeiten erzählt, die nicht schon von später maßgeblichen Theorien überformt wur­ den. Sombarts Sicht ist tatsächlich frei, zwar verklärt von Einbildungskraft, aber aufrichtig, eine besondere deutsch-französische Kultur­ geschichte. Das liest man gern, auch wenn man gelegentlich aus dem Kopfschütteln nicht herauskommt. Der kleine Berliner Elfenbein Verlag hat die Bände wieder aufgelegt. Dort erscheint auch die Neuauflage der frühesten Prosa von Sombart, Capriccio Nr. 1, eine Art Novelle, Trümmer- und Nullpunkt­ literatur aus dem kalten Winter 1946/47, als einige überlebende Wehrmachtjünglinge zag­ haft zurückblickten und stockend anfingen zu erzählen. Es geht um einen Soldaten, der auf einem Flugplatz in Frankreich Wache schiebt und darüber in tranceartige Zustände verfällt. Vergessenwollen, Schuld, die Liebe und die

Literatur als neue Lebensform: All das bereitet sich sehnsuchtsvoll im Wachtraum vor, gebiert einen Doppelgänger, einen fiktiven Avatar, der »richtig« lebt und mit dem der Erzähler am Ende so verschmilzt, dass er sich zur Desertion entschließt. Capriccio Nr. 1 ist lakonisch, existenzia­ listisch, sprachlich unausgegoren, große Li­ teratur keineswegs, obgleich das Stück vor der von Sombart mitgegründeten Gruppe 47 vor­ getragen wurde. In der romantischen Doppel­ existenz blitzt bereits ein Sombartsches Grund­ motiv auf: Einer will nach 1945 jemand ganz anderes werden, muss alle seine Werte um­ werten, weil sonst gar keine Zukunft möglich ist. So wurde aus dem Bürgersöhnchen, dessen geistiges Milieu bündisch-nationalkonservativ war und der als Junge mit dem Nazi-Juristen Carl Schmitt lange Spaziergänge unternahm, ein glühender Bewunderer des Westlichen. Nach Erscheinen des Büchleins 1947 ver­ dammte Schmitt den einstigen Schützling in seinem Glossarium: »Er hat einen herrlichen Keim echter wissenschaftlicher Intuition (die Existenz gegen den Apparat) literarisch abge­ trieben, aus Ungeduld, Bequemlichkeit, Ge­ nußsucht; Eitelkeit und Darbietungsbedürfnis seiner knabenhaften Mysterien des Umgangs mit Mädchen.« Das war fies, aber nicht unge­ nau. Sombart trat seither für die Demokratie und für die europäische Einigung ein, vor allem für die Befreiung der Frau – all das aller­ dings in sehr persönlichen Versionen, stets be­ einflusst von den Denk- und Fühlmustern der konservativen Deutschkultur, aus der er kam. Vermutlich gestand er sich erst mit über sechzig ein, als er sein Leben zu beschreiben begann, dass sein Weg keineswegs dem Reedu­ cation-Schema seiner Generation entsprach, sondern eine sehr persönliche, geradezu un­ wahrscheinliche Emanzipationsgeschichte

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Foto: Ute Mahler/Ostkreuz

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VON T HOM A S E . SCH M IDT


Nicolaus Sombart (1923–2008) in seinem Salon in der Berliner Ludwigkirchstraße, 1994

»Eine Stadt, in der keine Orgien stattfinden, ist eine tote Stadt« N IC OL AUS SOM BA RT

darstellte – und genau deswegen erzählenswert war. Er war kein Melancholiker der Bildungsbürgerlichkeit. Von der war nichts zu retten, sie war verbrannt wie die Sombartsche Familienvilla. Mit den Deutschen Männern (so hieß Sombarts Buch über Carl Schmitt) und ihrer ebenso hochmütigen wie verbiesterten Idee von Kultur war es aus. Der Krieg hinterließ eine Leerstelle, die nicht wieder gefüllt werden konnte. Sein Grunewald war untergegangen, endgültig, anders als die Welt der oberen Gesellschaftszirkel in Paris, die sich gegenüber den Zeitläuften als resistent erwiesen hatte. Die deutsche Kulturidee, dieses Bollwerk gegen die westliche »Zivilisation«, war in Wirklichkeit provinziell und schwach gewesen; Frankreich hingegen verfügte über eine gegliederte Gesellschaft mit intakten Le-

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bensformen der Upper Classes, den unteren Schichten als Vorbild dienend und deswegen soziale Dynamik ermöglichend. Nur so war in Sombarts Augen freiheitliches Leben in einer offenen Gesellschaft denkbar. Eine linke Vorstellung war das nicht gerade. Aber anders als andere mit vergleichbarem Gedankenerbe wurde aus ihm kein Reaktionär. Er sank nie in den Unterstrom der Neuen Rechten ab, der die Bundesrepublik von Beginn an begleitete. Gerade weil sich nichts anbot, die Lücke der deutschen Bürgerlichkeit aufzufüllen, konnte der Phantomschmerz sich auch in Phantomlust verwandeln. Voraussetzung dafür waren Offenheit, Spürsinn und die Fähigkeit, Unerwartetes zu finden, über die souverän zu verfügen er nie zweifelte. So verstand er sich gewissermaßen als eine Art Ein-

Mann-Elite, und das »experimentelle Leben«, das er von Jugend an führte, mündete in einem eigensinnigen Versuch, zu retten, was an bürgerlicher und aristokratischer Kultur zu retten war. Das war nicht viel, wie er bald feststellte, aber in Sachen Umgangsformen, Esprit und sexueller Freizügigkeit doch einiges. Von Henri de Saint-Simon borgte Sombart sich einen unschuldigen Utopismus, von Au­ guste ­ Comte eine menschenfreundliche Fortschrittsphilosophie, die in der Idee einer Verehrung des Weiblichen als Grundlage einer neuen Sozialordnung mündete. Bei ­Georges Ba­taille gefiel ihm der Gedanke einer »machtlosen« Souveränität, die das Sexuelle in der Gesellschaft als den Bereich des Sakralen umreißt und es vor den Zugriffen des Politischen und des Geldes schützt. Es gehört zu den

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HÖRPROBE

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HANS SARKOWICZ, ULRICH HERBERT, MICHAEL KRÜGER, INES GEIPEL, CHRISTIANE COLLORIO JAHRHUNDERTSTIMMEN 1945-2000 Die Fortsetzung der hochgelobten Jahrhundertstimmen-Edition beinhaltet große Reden, Gespräche und Mitschnitte aus Politik, Wissenschaft und Kultur und liefert Hintergründe zu den historischen Tonaufnahmen. Nach aufwändigen Recherchen, u. a. im Deutschen Rundfunkarchiv, lässt sich Deutsche Geschichte nun in ca. 400 Originalaufnahmen nachhören.

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FERDINAND VON SCHIRACH REGEN – EINE LIEBESERKLÄRUNG Ein Mann kommt durchnässt aus dem Regen in eine Bar – und denkt nach über Verbrechen und Strafen, die Würde des Menschen, die Einsamkeit, die Liebe, den Verlust und das Scheitern. Ein ebenso mutiges wie sehr persönliches Theaterstück, ein literarisches Spiel an der Grenze zwischen Bühnenfigur und Autor.

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Der Hörverlag, CD oder als Download, Laufzeit: 1h 6min, ISBN 978-3-8445-4979-9, € 20

unauflösbaren Widersprüchen Sombarts, dass er die gepriesene Welt der modernen Freiheit genauso mit Verfall, Verflachung und Vereinheitlichung identifizierte, wie er es bei Carl Schmitt gelernt hatte: »Seitdem hausen wir miserabel in den Ruinen vergangener Pracht.« Die »Herrschaft der Zwerge« ­wurde er nicht müde zu karikieren. Jahrelang arbeitete er als Beamter beim Europäischen Rat in Straßburg – ein Berufsweg, den niemand Geringeres als der Philosoph und Hegel-Exeget Alexandre Kojève angeregt hatte. Irgendwann jedoch musste er sich eingestehen, dass auch dies eine zwergische Existenz war. Das Dilemma konnte nicht theoretisch, sondern nur lebensgeschichtlich aufgelöst werden. Dem Versuch verdanken wir die Neugeburt des Autors Nicolaus Sombart. In literarischer Hinsicht nicht, wohl aber in biografischer, darf als das wichtigste Buch sein Journal in­time gelten. Es ist der Form nach ein Tagebuch, aus Gründen der Schicklichkeit erst 2003 veröffentlicht. Es handelt von einem geschenkten Jahr in der Heimat, am neu gegründeten Wissenschaftskolleg, voller boshafter Miniaturen über die Berliner Kulturschickeria der frühen Achtziger, voll schöner Skizzen von berufsmäßigen Wichtigtuern in einer objektiv unwichtigen Stadt. Eine der besten Szenen schildert den Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker, der im Sound der alten Macht über den Nachrüstungsbeschluss der Bundesregierung schwadroniert, in einem Sombart nur allzu vertrauten Tonfall. Gelehrtenzwerge, Literatenzwerge, Zwerge ohne alle Bestimmung – das Berlin jener Jahre war eine Stadt wahrhaft ohne Gesellschaft: hier das Spießertum der besseren Quartiere, dort die Kreuz- und Schöneberger Gegenkultur, dazwischen nichts. Beinahe bringt man Verständnis dafür auf, dass Sombart sofort damit beginnt, sein Stipendium vom Wissenschaftskolleg im nächstgelegenen Bordell zu investieren – auf der Suche nach besserer, also weiblicher Gesellschaft. Immerhin behandelt er seine Damen gut, zahlt anständig, steht ihnen in schwankenden Lebenslagen bei und führt sie in die Paris Bar aus. Nichts wird versteckt, Berlin ist keine Stadt, die über die Fehlallokation öffentlicher Mittel außer

Fassung gerät; sie rollt mit den Augen und fertig. Als das Buch erschien, war alles längst Anekdote geworden, und Sombart hatte sich für Berlin entschieden, wo er jeden Sonntag Gäste zu dünnem Tee und Keksen empfing: seine persönliche Salonsimulation. Das Journal intime ist das Dokument seines wichtigsten Experiments: Er lotet darin die Möglichkeit einer Existenz in einer Umgebung aus, die sozial eine Trümmerlandschaft geblieben war. Er wählt ein Dasein unter den Bedingungen der Absenz gesellschaftlicher Unterschiede, deren Linien gleichwohl sichtbar bleiben. Er spürt ein sozial verwahrlostes Terrain auf, umgeben von Resten bohemistischer Nischen des Vorkriegsberlins. Irgendwo dort richtet er sich ein. Sein Ideal blieb die ständische Gesellschaft, aber das war beileibe kein politisches Ideal. Er konnte in Berlin träumen und ­ spielen, weil sich auf diesem freien Feld die Frage nach Rang und Macht nicht stellte. Wie das Fehlen der guten Gesellschaft und ihrer Formen den Strom der Erinnerung provozierte, so erzeugte die plebejische Stadt eine neue Pubertät. Lange vor 1989 setzte Sombart auf Berlin als kulturelle Entwicklungsmöglichkeit. Ob aus der Stadt wurde, was dieser Pionier erhoffte, ist eine andere Frage. Ein Leben: eine Utopie der nicht festgelegten Zeit. Alles Weitere war eine Frage der Orgien, genauer der Erinnerung an sie. »Mit kindlicher Freude drehe ich die Glaskugel in meiner Hand – eine in sich geschlossene Welt. Alles ist mikroskopisch klein und mythisch verklärt, ganz weit und doch ganz nah – übergroß und bedeutsam in den Dimensionen des Imaginären.« Sombart lesen heißt, sich mit dem gesellschaftlich Imaginären einzulassen. Rechnet man seine kulturpessimistischen Empfindlichkeiten ab, lässt sich in seinen Büchern eine verschüttete kulturelle Genealogie der Bundesrepublik erkennen, eine mit anderen Idealen und überraschenden Pointen. Dass sie schon zu seinen Lebzeiten keinen Ort mehr im gängigen Diskurs hatte, spürte er. Trotzdem, beharrlich und bereit, dafür belächelt zu werden, führte Nicolaus Sombart vor, dass seine Glaskugel Ausblicke auf eine träumerische Vergangenheit und auf eine fremdartige Gegenwart gleichermaßen gewährt. Man muss sich nur trauen hineinzusehen.

MONIKA HELFER DIE JUNGFRAU Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung Literatur. Einmal mehr zeichnet sie sich als große Stilistin aus – und erzählt in einem funkelnden wie leichthändigen Ton von Intimität und Zugehörigkeit. Nach der Trilogie über ihre Familie ist dies ein atemloser Roman über die Freundschaft zwischen zwei Frauen. Der Hörverlag, 3 CDs oder als Download, Laufzeit: 3h 25min, ISBN 978-3-8445-4986-7, € 22

Nicolaus Sombart: Capriccio Nr. 1 Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang; Elfenbein, Berlin 2023; 104 S., 22,– €

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Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin Ein Bericht. 1933–1943; Elfenbein, Berlin 2022; 320 S., 24,– €

Nicolaus Sombart: Journal intime 1982/83 Rückkehr nach Berlin; Elfenbein, Berlin 2003; 213 S., 18,– €

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Was man alles essen kann In ihrem 1970 erschienenen Buch über »Die Küche der Armen« erweist sich Huguette Couffignal als erstaunlich hellsichtig, was unsere heutigen Ernährungsweisen betrifft VON RONA L D DÜ K ER

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um Beispiel der Igel: Er wird, »nach Sinti-und-Roma-Art«, mit Lehm bedeckt und dann zwischen zwei heiße Steine gepresst. »Nach dem Backvorgang wird die hart gewordene Lehmschicht mit Steinen zerbrochen, wobei sich die Stacheln ganz leicht abheben lassen.« Man kann, fügt Huguette Couffignal hinzu, »auf dieselbe Weise Hühnchen und anderes Geflügel zubereiten. Wenn die Erdschale aufgebrochen wird, ist das Huhn gleichzeitig auch gerupft!« Mehr Arbeit macht das Gürteltier. Es muss erst ausgenommen, noch im Körperpanzer mariniert und anschließend gekocht werden. So gesehen in Argentinien. Und wie isst man einen Elefanten? Huguette Couffignal: Man erfährt fast nichts über diese Autorin, deren Buch Die Küche der Armen 1970 im Original erschien, acht Jahre danach auf Deutsch. Jetzt kommt es überarbeitet noch einmal heraus. Couffignal hat über die baskische und die okzitanische Küche geschrieben, auch über das Brotbacken, sowie ein Buch mit dem verstörenden Titel Astrologie auf Ihrem Teller. Sonst aber, beteuert der Verlag, lässt sich weder ein Foto von ihr auftreiben noch ein Geburtsdatum. HUGUET TE COUFFIGNA L Die Küche der Armen ist eine für den Hausgebrauch teils nützliche Rezepte-­ Sammlung sowie ein ethnologischer Essay, der die Beobachtungen seziert, die Couffignal auf ihren Reisen über alle Kontinente (außer zu ertragen, Mittel, die natürlich nicht die Australien) zusammengetragen hat. Streng gleichen sein können von einem Polarkreis klingt das Motto, das ihren Blick fokussiert. zum anderen.« Sie hat es Cervantes’ Don Quijote ent­nommen: Sogar der blasse Begriff des »Grund»Es gibt nur zwei Familien auf der Welt: Die nahrungsmittels« trägt das noch in sich: ErReichen und die Armen.« Die Armen, und nährung setzt keine kulinarische Veredelung nur sie, interessieren diese weit gereiste Frau. voraus, sie ist zuallererst und noch im ScheiCouffignal macht uns mit den brasilianischen tern Überlebenstechnik. »Manche Chinesen«, »Flagellados« (die Geschlagenen) bekannt und berichtet Couffignal, »wurden Legenden weden chilenischen »Rotos« (die Zerlumpten) gen ihrer falschen Leibesfülle, bei der es sich sowie den »Lerchen«, italienischen Wander- in Wahrheit um eine Aufschwemmung des arbeitern, die sich im Sommer als Erntehelfer Körpers handelte, die sie ihrer Ernährung aus in Südamerika verdingten. Gras verdankten. Als sogar dieses Gras knapp Im Licht der 1960er-Jahre beobachtet wurde, waren die Chinesen gezwungen, ›gute sie »Städter, Bauern, sogenannte Primitive – Erde‹ zu essen, sprich Dreck; Dreck, der zudie gleiche Armut hält sie in ihren unerbitt- nächst den Hunger einschläferte und dann lichen Pranken. Nur die Mittel wechseln, sie den Bauch aufblähte und immer weiter auf-

Foto: Marco Arguello/Connected Archives

»Affen, Büffel und Elefanten sind eine Hauptquelle für tierisches Eiweiß«

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blähte, bis der Tod durch Ersticken eintrat.« Vom Erde-Essen hat Couffignal in allen möglichen Weltgegenden erfahren. Bei den amerikanischen Indigenen, in Guyana, Venezuela, Sibirien, Indonesien und im subsaharischen Afrika. 1970, in demselben Jahr, in dem Die Küche der Armen erstmals erschien, gründete Paul Bo­ cuse die Association de la ­ Grande Cui­sine Fran­çaise, eine Gesellschaft zur Interessenvertretung der französischen DreiMichelin-Sterne-Köche. Die Nou­ velle Cui­ sine wurde damals aus der Taufe gehoben. Heute scheint es, als hätte Couffignal tiefer in die Glaskugel geschaut als diese Küchenmeister. Sie schildert, wie mit Couscous, Bulgur, Hirse, Polenta, Kichererbsen, Tofu et cetera zu kochen sei, Lebensmitteln, die hierzulande damals kaum zu bekommen waren, aber heute den Grundstock eines jeden BioladenEinkaufs ausmachen. Aus bitterer Not entstand, was inzwischen als gesund, vernünftig und schmackhaft gilt. In einem ist Couffignal auch heute ihrer Zeit voraus: Ihr Plädoyer für den Verzehr von Insekten, darunter Heuschrecken, Termiten, Raupen, Larven und Würmer, lässt wohl nur wenigen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dabei, weiß die Autorin, gelten die bei uns mit Ekel behafteten Vielbeiner nicht nur in anderen Ländern als Leckerbissen; sie gehörten schon aus Vernunftgründen auf den Teller. Gekochte Wanderheuschrecken, so rechnet sie vor, enthalten fünfzig Prozent Protein, gekochtes Rindfleisch nur siebzehn. Wer immer sie auch sein mag, Huguette Couffignal schreibt so ungerührt und lakonisch über Irres, dass gerade die unrealistischen Re­zept­ideen die Lektüre lohnen: »Neben den Affen, den Büffeln und der Antilope ist der Elefant eine Hauptquelle für tierisches Eiweiß in Afrika.« Und wie erlegt und wie zerlegt man ihn? Steht alles drin. Huguette Couffignal: Die Küche der Armen A. d. Franz. v. M. Junker-John u. H. Junker; März, Berlin 2023; 384 S., 26,– €

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Kleine Dinge, große Angst Spinnen, Knöpfe oder weite Plätze: Die britische Autorin Kate Summerscale geht der Geschichte unserer Phobien und Manien nach VON M AJA BECK ER S

Ein Knopf. Aber wann soll ich ihn zumachen? unter einer phobischen Störung leiden. Dazu kommen starke Aversionen, die man vor allem heute gern Phobien nennt. In den USA geben circa 70 Prozent der Menschen an, an irgendeiner »unverhältnismäßigen Angst« zu leiden. Sum­ mer­ scale unterscheidet hier nicht sehr: Manche der von ihr aufgeführten Phobien sind vielfach therapiert; andere sind eher ein Witz, wie die Geschichte einer Britin, die einmal ihre Kirchenspende mit dem Argument zurückforderte, sie leide unter dem Gegenteil von Kleptomanie: »Gebomanie«. Phobien und Manien ist also vor allem eine Anekdotensammlung, aber eine sehr unterhaltsame und gut informierte. Die in London lebende Autorin und Journalistin Sum­ mer­

scale hat bereits einige Bücher geschrieben, die von Geistergeschichten (The Haunting of Alma Fielding, 2021) oder von echten Morden handeln (The ­Wicked Boy, 2016), aber immer auch viel vom Verhältnis einer Gesellschaft zu ihren Ängsten erzählen. Auch diesmal scheint die Botschaft mitzulaufen, wenn man denn nach einer Ausschau halten will: Phobien und Manien mögen sich noch so persönlich anfühlen, sie bleiben gesellschaftliche Phänomene. Neben persönlichen Traumata und evolutionsbiologischen Gründen, von denen manche glauben, dass sie Phobien hervorbringen, beschreibt Sum­ mer­scale immer wieder ihre gesellschaftlichen Bedingungen. Wenn in europäischen Städten im 19. Jahrhundert verschlungene Gassen zunehmend verschwanden, um Platz für breite Boulevards zu machen, dann konnten die für einige plötzlich wie ein Abgrund wirken (Agoraphobie). Auch die Definitionen dessen, was als pathologisch gilt, ändern sich natürlich: Leidet hier jemand unter zwanghaftem Spazierengehen (Dromomanie), oder ist er ein Flaneur? Wer dieses Buch liest, hat auf jeden Fall jahrelang Stoff für Partytalk. Aber man sei auch gewarnt: Es könnte einem auffallen, wie fies tatsächlich das Geräusch ist, das Watte beim Aus­ein­an­der­zie­hen macht (Bambakomallophobie). Und sind Katzen nicht wirklich ganz teuflische Viecher (Ailurophobie)? Es besteht Ansteckungsgefahr. Und von außen mögen diese Ticks lächerlich aus­sehen, von innen sind sie es nicht. Da ergeben sie plötzlich verdammt viel Sinn, und so gern man die Angst auch los wäre, so sehr will man anderen beweisen, wie recht man mit ihr hat. Die Tragikomik, die in diesen Überkonkretisierungen von Ängsten und Sehnsüchten liegt, stellt sich aber auch, bei aller unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausprägung, als eine Art menschliche Konstante dar. Das zeigt Sum­mer­scale eben auch: Niemand ist per se geschützt vor der Seltsamkeit des Menschseins, nicht fernab der Moderne, nicht fernab von Großstädten, nicht fernab von therapeutischen Diskursen. Die Inuit in Grönland befällt die Kajakphobie, und der römische Kaiser Augustus verkroch sich vor Donnergrollen im Keller. Das kann man nun beruhigend finden – es war immer so – oder beunruhigend – wir werden sie nie los –, je nach eigener phobischer Verfassung. Kate Summerscale: Das Buch der Phobien und Manien A. d. Engl. v. Maria Zettner u. Caroline Weißbach; Klett-Cotta, Stuttgart 2023; 352 S., 22,– €, als E-Book 17,99 €

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s gibt Menschen, die tun sich schwer mit Entscheidungen, und dann taucht es plötzlich auf, das Phänomen der Aboulomanie. Der amerikanische Neurologe William Alexander Hammond gab ihm 1883 seinen Namen, nachdem er einen Patienten beobachtet hatte, den etwa beim An- und Ausziehen eine erstaunliche Unentschlossenheit überkam. Sobald er begann, einen seiner Schuhe auszuziehen, fragte er sich, ob er nicht den anderen zuerst ausziehen sollte. Minutenlang wechselte er von einem Schuh zum anderen und ging schließlich im Zimmer auf und ab, um über die Sache nachzudenken. Kam er dabei an einem Spiegel vorbei, sah er seine Krawatte und dachte: »Ah, natürlich, damit sollte ich anfangen.« Sobald er allerdings begann, die Krawatte zu lockern, zögerte er wieder und verlor jede Energie. »Überließ man ihn sich selbst, ging das so weiter«, schrieb Hammond, »es ist bereits mehrmals passiert, dass er beim ersten Tageslicht immer noch vollständig angezogen war.« Wer unter einer Aboulomanie – aus dem Griechischen a (ohne), boulē (Wille), mania (Wahn) – leidet, ist nicht nur ein wenig entscheidungsschwach, weil er womöglich fürchtet, einen Fehler zu machen. Sondern Hammond beschreibt die »Paralyse des Willens« als Folge einer aktiven Manie, nämlich eines zwanghaften Selbstreflektierens. Alles wird wieder und wieder durchdacht, man ringt mit verschiedenen zukünftigen Realitäten, ohne dass man eine ausschließen könnte. Spätestens mit dieser Geschichte wird klar, warum ­Kate Sum­mer­scales Buch der Phobien und Manien genau das sein muss, ein Buch über beide Phänomene, Phobien und Manien. Die inneren Zusammenhänge zwischen dem, »wovor wir zurückschrecken oder worauf wir zuschlittern«, wie Sum­mer­scale sagt, leuchten immer wieder auf in diesem Kompendium. Von A bis Z sortiert Sum­ mer­ scale hier 99 Obsessionen, von der Agoraphobie, der Angst vor offenen Räumen, bis zur Zoophobie, der Angst vor Tieren. Man liest von der Angst vor Knöpfen (Koumpounophobie), die angeblich der Grund dafür war, dass ­Steve Jobs nur Rollkragenpullover trug, der Angst vor Eiern (Ovophobie), unter der Alfred Hitchcock sein Leben lang litt, der Angst vor dem Er­röten (Erythrophobie) und vor Wasser (Hydrophobie) oder der Besessenheit von einem bestimmten Wort (Onomatomanie). Weil Phobiker die Auslöser ihrer Angst meist meiden und sich keine Hilfe holen, sei es unglaublich schwer zu sagen, wie viele Menschen betroffen sind, erklärt Sum­ mer­ scale. Größere Stu­dien kämen häufig zum Ergebnis, wonach sieben Prozent der Menschen


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Von Augstein zu Brandt, von Anna Seghers zu Honecker: Wir hören eine grandiose Sammlung deutscher Reden

Die abendländische Geistesgeschichte sei, so lautete der Vorwurf ­Jacques Derridas, phonozentrisch, sie privilegiere die lebendige Stimme des gesprochenen Worts gegenüber den toten Buchstaben der erstarrten Schrift. Nun ja, geben wir es zu: Angesichts des Riesenwerks Jahrhundertstimmen, mit dem der Hörverlag die deutsche Geschichte zwischen 1945 und 2000 in über 400 Originaltonaufnahmen vergegenwärtigt, haben auch wir uns freudig der phonozentrischen Illusion hingegeben, den historischen Protagonisten im Klang ihrer Stimmen besonders nahe zu sein. Es ist tatsächlich eine berauschende Zeitreise durch 55 Jahre Geschichte und 40 Stunden Tonmaterial. Dabei kommen die Staatenlenker ebenso zu Wort wie die Schriftsteller und Philosophen. Die großen politischen Weichenstellungen werden nach-

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vollzogen, aber auch der Wandel der Lebensformen. Und immer hat man den Eindruck, dass die Stimme noch etwas mehr vermittelt an Wahrheit, als es die bloßen historischen Fakten tun. Ludwig Erhards Rede zu seinem Rücktritt hat ihre e­igene Würde, weil sie sich jede Weinerlichkeit verkneift. Nicht unähnlich dem Statement Willy Brandts, wenn dieser, knapp zehn Jahre später, seinen Rücktritt wegen der Guillaume-Affäre erklärt: »Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten.« Mit welcher parlamentarischen Ernsthaftigkeit redet umgekehrt der CDU-Politiker Ernst Benda auf die Bundestagsabgeordneten ein, um zu verhindern, dass es zu einer Verjährung der Nazi-Verbrechen kommen könnte. Und live muss man hören, wie Erich Honecker

auf dem 11. ZK-Plenum der SED 1965 vor den zersetzenden Gefahren der Beat-Musik für den siegreichen Sozialismus warnt, um die DDR als die Diktatur nicht der Arbeiter und Bauern, sondern der kleinbürgerlichen Borniertheit zu begreifen. Wie quält sich Anna Seghers in ihrer Rede über »Die Aufgaben des Schriftstellers heute« 1966 mit Phrasen und Gedankenverrenkungen, um die SED-Diktatur zur Menschheitshoffnung zu verklären. Wie lässig und unerschrocken fordert Rudolf Augstein die Studenten in der Debatte über die Notstandsgesetze heraus, die ihm das Wort abschneiden wollen – genau das scheint seine Kampfeslust zu steigern. All diese Stimmen haben ihre eigene Materialität, sie sind historisch imprägniert. So wie Frisuren sofort verraten, aus welcher Epoche sie stammen, so haben

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auch Stimmen ihren zeitabhängigen Tonfall. Die übertrieben theatralische Dramatik, die wir mit Hitler- und Goebbels-Reden verbinden, war offensichtlich ein Breitenphänomen, das sich noch bis in die Sechzigerjahre hielt, bevor dieses Pathos auf erfrischende Art durch einen lümmelhaften Pro­vo­ka­tions­ton abgelöst wurde. Nur etwas fällt auf: Im phono­zen­tri­schen Kosmos gibt es so gut wie keinen Humor. Um das Wort zu ergreifen, braucht es offenbar immer einen ernsten Anlass – und so wird stets das pathetische, das kämpferische oder das moralisierende Register gezogen, so gut wie nie jedoch das ironischverspielte. Ijoma Mangold

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Jahrhundertstimmen 1945–2000 Der Hörverlag, München 2023; 4 MP3-CDs, 65,– €

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IMPRESSUM Redaktionsleitung: Christine Lemke-Matwey/ Volker Weidermann (verantwortlich) Chef/in vom Dienst: Dorothée Stöbener (verantwortlich), Mark Spörrle, Imke Kromer Textchef: Dr. Christof Siemes Redaktion: Dr. Adam Soboczynski (verantwortlich), Alexander Cammann, Iris Radisch Redaktionsassistenz: Tanja Kemna

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Art-Direktion: Haika Hinze (verantwortlich) Gestaltung: Annett Osterwold Bildredaktion: ­ Amélie Schneider (verantwortlich), Navina Reus Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich) Korrektorat: Thomas Worthmann (verantwortlich)

Verlag und Redaktion: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang ­Speersort 1, 20095 Hamburg Telefon: 040/32 80-0 Fax: 040/32 71 11 E-Mail: DieZeit@zeit.de © Zeitverlag Gerd ­Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser

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Foto: Peter Rigaud für ZEIT Literatur

Was bedeutet es, Ossi zu sein? Oder jüdisch zu sein? Und was dürfen Frauen alles ertragen? Ratgeber gehen einfach immer

Sagt jemandem der Name »Dölerich Hirnfidler« etwas? Klar, es handelt sich um ein Anagramm von »Friedrich Hölderlin«, merkt man sofort, oder? Und es ist eine Figur im Kosmos des Walter Moers, dessen neuer Roman Die Insel der Tausend Leuchttürme erwartungsgemäß weit oben steht in den Bestseller-Listen. Moers ist einer der wenigen Autoren, die ihr Erfolgsrezept allen verraten: »Lass die langweiligen Sachen aus, erzähle nur die spannenden Teile.« Im Gespräch mit dem Kritiker Denis Scheck äußert sich Moers, den ich immer noch unterschätzt finde, auch über den moralischen Rigorismus der Gegenwart: »Mit dem Humor ist das wie mit dem Alkohol. Wenn man ihn nicht verträgt, sollte man die Finger davon lassen.« Seine älteren, sehr lustigen Mega­seller wie Das kleine Arschloch würden heute, böte ein junger Autor sie an, keinen Verlag mehr finden. Sagt Moers. Aus wessen Kosmos aber stammt dieser Bestseller? Erster Satz des Pressetextes: »In einer Villa am Zürichberg wohnt AltNationalrat Dr. Stotz, umgeben von Porträts einer jungen Frau.« Klar, das kann nur Martin Suter sein, diesmal mit Melody. Im unverwechselbaren Suter-Sound und auch von dem Genie Moers werden wohl noch in 50 Jahren Romane erscheinen. Denn von Stieg

Larsson, verstorben 2004, liegt auch wieder ein brandneues Werk in den Buchläden, Verderben. Nach David Lagercrantz hat jetzt Karin Smirnoff (nicht das Pseudonym eines Wodkaliebhabenden, es gibt sie wirklich) das Ghost­ writing übernommen. In ein paar Jahren wird so etwas sicher von der KI erledigt. Ich bin gespannt auf Thomas Manns postumes Die Buddenbrooks kaufen Bullerbü, für junge Thomas-Mann-Leser gemeinsam verfasst mit der Avatarin von Astrid Lindgren. Der Sachbuchtitel When You’re Ready, This Is How You

Heal gehört einem durchaus ins Deutsche übersetzten Werk, dem neuen Bestseller der Lebensratgeberin Brianna Wiest. Mein Rat: Mit solchen Covern kannst du in der U-Bahn so tun, als könntest du gut Englisch. Im Sachbuchbereich boomen im Herbst die »Was bedeutet«-Titel. Deborah Feldman fragt »Was bedeutet Jüdischsein heute?«, in Judenfetisch, Dirk Oschmann fragt, was das OssiSein bedeutet, in Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Sophie Passmann fragt in Pick Me Girls, was F ­ rauen heutzutage noch alles ertragen müssen. Zum Beispiel

hat sie »immer bei ersten ­Dates bezahlt« und dann »den Mann insgeheim dafür verachtet«, dass er sie nicht daran gehindert hat. Herbert Grönemeyers Satz »Männer sind allzeit bereit« gilt offenbar nicht für Rechnungen. Weil man das Geschlecht heute einmal jährlich ändern kann, gehören solche nachdenklich machenden Verlustgeschichten gottlob sicher bald der Vergangenheit an. Welchen Sinn das Amt »Bundespräsident« hat, habe ich leider nie kapiert, außer bei meinem Lieblingspräsidenten Joachim Gauck. Sein neues, erwartungsgemäß kluges Buch Erschütterungen beschreibt, wie man in Deutschland von naiven Leitartiklern als »Säbelrassler« beschimpft werden konnte zur Strafe dafür, dass man schon 2014 davor warnte, Putin über den Weg zu trauen. Gauck wagt sich auch an heiße Themen wie »Critical ­R ace Theory«, »selektive Solidarität« oder »Konkurrenz der Opfer«, womit wir wieder bei Hölderlin alias Dölerich Hirnfidler und den F ­ rauen sind. Würde Joachim Gauck beim ersten ­Date Sophie Passmann daran hindern, zu zahlen? Irgendwie bin ich mir sicher, er würde es tun. Hölderlin aber schrieb: »Immer hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.«

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